Vierter Teil

I

Ist es wirklich eine Fortsetzung des Traumes? – dachte Raskolnikow noch einmal.

Vorsichtig und mißtrauisch betrachtete er den unerwarteten Gast.

»Swidrigailow? Welch ein Unsinn! Es kann nicht sein!« sagte er schließlich laut, ganz verständnislos.

Der Gast schien über diesen Ausruf gar nicht erstaunt.

»Ich bin aus zwei Gründen heraufgekommen; erstens wollte ich Sie persönlich kennenlernen, da ich schon längst viel Interessantes und Vorteilhaftes über Sie gehört habe, und zweitens bilde ich mir ein, daß Sie sich vielleicht nicht weigern werden, mir in meinem Unternehmen zu helfen, das direkt die Interessen Ihrer Schwester Awdotja Romanowna berührt. Mich selbst, ohne Empfehlung, wird sie vielleicht nicht über die Schwelle lassen, infolge eines Vorurteils, doch mit Ihrer Hilfe rechne ich.«

»Sie rechnen schlecht«, unterbrach ihn Raskolnikow.

»Die Damen sind doch erst gestern angekommen, wenn ich fragen darf?«

Raskolnikow gab keine Antwort.

»Gestern, ich weiß es. Ich bin ja selbst erst vorgestern angekommen. Nun will ich Ihnen folgendes darüber sagen, Rodion Romanowitsch; mich zu rechtfertigen, halte ich für überflüssig, gestatten Sie mir aber, eines zu bemerken: was habe ich in dieser ganzen Sache verbrochen, natürlich wenn man es ohne Vorurteile, sondern vernünftig betrachtet?«

Raskolnikow fuhr fort, ihn schweigend zu betrachten.

»Daß ich in meinem Hause ein wehrloses junges Mädchen verfolgt und ›mit meinen gemeinen Anträgen beleidigt‹ habe, nicht wahr? (Ich nehme es selbst vorweg!) – Denken Sie doch nur daran, daß auch ich Mensch bin, et nihil humanum ... mit einem Worte, daß auch ich imstande bin, einer Versuchung zu unterliegen und mich zu verlieben (was natürlich nicht nach unserem Wunsche geschieht), – und dann läßt sich alles auf die natürlichste Weise erklären. Dann ist es noch eine Frage: bin ich ein Scheusal oder selbst ein Opfer? Was, wenn ich ein Opfer bin? Indem ich dem Gegenstande meiner Leidenschaft den Vorschlag machte, mit mir nach Amerika oder in die Schweiz zu fliehen, hatte ich vielleicht die respektvollsten Gefühle und glaubte sogar unser gemeinsames Glück zu begründen! Die Vernunft dient doch der Leidenschaft; vielleicht richtete ich mich dabei selbst noch mehr zugrunde, ich bitte Sie! ...«

»Es handelt sich aber gar nicht darum«, unterbrach ihn Raskolnikow angeekelt. »Sie sind einfach widerlich, ob Sie recht haben oder nicht, man will mit Ihnen nichts zu tun haben und jagt Sie fort, also gehen Sie doch! ...«

Swidrigailow lachte plötzlich auf.

»Aber Sie ... Sie lassen sich nicht aus dem Konzept bringen!« sagte er und lachte auf die offenste Weise. »Ich wollte schon schwindeln, aber Sie haben gleich den richtigen Punkt getroffen!«

»Sie schwindeln auch jetzt.«

»Was ist denn dabei? Was ist denn dabei?« wiederholte Swidrigailow, aufrichtig lachend. »Es ist doch, was man so nennt, bonne guerre und eine durchaus erlaubte List! ... Sie haben mich aber unterbrochen; so oder anders, ich erkläre noch einmal: es hätte nicht die geringste Unannehmlichkeit gegeben, wenn nicht der Fall im Garten. Marfa Petrowna ...«

»Man sagt, Sie haben auch Marfa Petrowna umgebracht?« unterbrach ihn Raskolnikow grob.

»Sie haben auch davon schon gehört? Wie sollte man übrigens davon nicht hören ... Nun, was Ihre Frage betrifft, so weiß ich wirklich nicht, was ich Ihnen darauf sagen soll, obwohl mein eigenes Gewissen in dieser Beziehung äußerst ruhig ist. Glauben Sie aber nicht, daß ich etwas befürchte: alles ist in vollkommener Ordnung und mit peinlicher Genauigkeit erledigt: die ärztliche Untersuchung ergab einen Herzschlag, der infolge eines sofort nach einem reichlichen Mittagessen, bei dem fast eine ganze Flasche Wein getrunken wurde, genommenen Bades eingetreten ist, und sie konnte auch gar nichts anderes ergeben ... Nein, ich habe mir eine Zeitlang, besonders unterwegs, im Eisenbahnwagen, folgendes gedacht: ob ich zu diesem ... Unglück nicht irgendwie moralisch durch eine Reizung oder sonstwie beigetragen habe? Doch ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß dies ganz bestimmt nicht der Fall sein konnte.«

Raskolnikow lachte.

»Was machen Sie sich auch Sorgen darüber!«

»Warum lachen Sie denn! Bedenken Sie doch: ich habe sie nur zweimal mit der Gerte geschlagen, und man fand später auch gar keine Spuren ... Halten Sie mich bitte nicht für einen Zyniker; ich weiß doch sehr gut, wie gemein das von mir war, und so weiter; ich weiß aber auch ganz bestimmt, daß Marfa Petrowna vielleicht sogar froh war, daß ich, sagen wir, mich so hinreißen ließ. Die Geschichte mit Ihrer Schwester war bis auf den Rest erschöpft. Marfa Petrowna mußte schon den dritten Tag zu Hause sitzen; sie hatte nichts mehr in unserem Städtchen auszuposaunen, auch waren schon alle ihrer und dieses Briefes überdrüssig (über das Vorlesen des Briefes haben Sie wohl schon gehört?). Und plötzlich fallen ihr diese beiden Gertenschläge wie vom Himmel in den Schoß! Zu allererst läßt sie natürlich den Wagen anspannen! ... Ich spreche nicht mal davon, daß es bei Frauen Fälle gibt, wo es ihnen überaus angenehm ist, beleidigt worden zu sein, trotz der scheinbaren Entrüstung. Bei allen gibt es solche Fälle; der Mensch liebt es überhaupt sehr, beleidigt zu sein; haben Sie es schon bemerkt? Doch die Frauen ganz besonders. Man kann sogar sagen, daß sie nur davon leben.«

Raskolnikow hatte eine Zeitlang die Absicht, aufzustehen und fortzugehen und damit dem Gespräch ein Ende zu machen. Aber eine gewisse Neugier und sogar eine Berechnung hielten ihn für einen Augenblick zurück.

»Schlagen Sie gerne los?« fragte er zerstreut.

»Nein, nicht sehr«, antwortete Swidrigailow ruhig. »Marfa Petrowna habe ich fast nie geschlagen. Wir lebten in großer Eintracht, und sie war mit mir immer zufrieden. Die Gerte habe ich in den sieben Jahren unseres Zusammenlebens bloß zweimal gebraucht (wenn man von einem dritten Fall, der übrigens recht zweifelhaft ist, absieht). Das erstemal zwei Monate nach unserer Heirat, gleich nach unserer Ankunft auf dem Gut, und dann dieser letzte Fall. Sie glaubten wohl schon, ich sei so ein Scheusal, ein Rückschrittler und Verfechter der Leibeigenschaft? He-he ... A propos: können Sie sich vielleicht noch erinnern, Rodion Romanowitsch, wie man bei uns vor einigen Jahren, noch in der Zeit der segensreichen Pressefreiheit, einen gewissen Edelmann – ich habe seinen Namen vergessen – öffentlich und in der ganzen Presse gebrandmarkt hat, weil er irgendeine Deutsche im Eisenbahnwagen mit einer Peitsche geschlagen hat? Im gleichen Jahr hat sich auch, wenn ich nicht irre, der unerhörte Fall mit der Zeitung ›Zeit‹ abgespielt (nun, die öffentliche Vorlesung von Puschkins ›Agyptischen Nächten‹, können Sie sich daran erinnern? Die schwarzen Augen! Oh, wo bist du, goldene Zeit unserer Jugend!). Das ist also meine Ansicht: für den Herrn, der die Deutsche mit der Peitsche geschlagen hat, habe ich nicht die geringste Sympathie, denn in der Tat, warum soll man mit ihm ... Sympathie haben?! Bei dieser Gelegenheit kann ich aber nicht verschweigen, daß manche ›Deutsche‹ so aufreizend ist, daß wohl kein einziger Fortschrittler für sich selbst bürgen könnte. Von diesem Standpunkte aus hatte damals niemand die Sache betrachtet, und doch ist eben dieser Standpunkt der wahrhaft humane, es ist wirklich so!«

Nach diesen Worten begann Swidrigailow wieder zu lachen. Raskolnikow war es jetzt klar, daß dieser Mensch sich etwas fest vorgenommen hatte und etwas im Schilde führte.

»Sie haben wohl einige Tage nacheinander mit niemand gesprochen?« fragte er ihn.

»Es ist beinahe so. Warum? Sie staunen wohl, daß ich so vernünftig rede?«

»Nein, ich staune nur, daß Sie allzu vernünftig reden.«

»Weil ich mich durch Ihre groben Fragen nicht gekränkt fühle? Nicht wahr? Was soll ich mich auch gekränkt fühlen? Wie Sie mich fragen, so antworte ich Ihnen auch«, fügte er auffallend treuherzig hinzu. »Ich habe doch fast für nichts besonders Interesse, bei Gott«, fuhr er nachdenklich fort. »Besonders jetzt bin ich mit nichts beschäftigt ... Es ist übrigens verzeihlich, wenn Sie annehmen, daß ich mich bei Ihnen mit einem bestimmten Ziel einzuschmeicheln suche, um so mehr, als ich etwas von Ihrer Schwester will: ich habe es Ihnen ja selbst gesagt. Aber ich sage es Ihnen aufrichtig: es ist furchtbar langweilig ... Nehmen Sie mir es nicht übel, Rodion Romanowitsch, aber Sie selbst kommen mir so furchtbar merkwürdig vor. Sie können sagen, was Sie wollen, aber es ist etwas an Ihnen; und gerade jetzt, das heißt nicht nur in diesem Augenblick, sondern überhaupt jetzt ... Na, na, ich rede nicht mehr davon, machen Sie nicht gleich ein finsteres Gesicht! Ich bin doch nicht so ein Bär, wie Sie glauben.«

Raskolnikow blickte ihn finster an.

»Sie sind vielleicht gar kein Bär«, sagte er. »Mir scheint sogar, daß Sie zur guten Gesellschaft gehören oder wenigstens verstehen, bei Gelegenheit auch ein anständiger Mensch zu sein.«

»Ich interessiere mich auch nicht für irgend wessen Meinung«, antwortete Swidrigailow trocken, sogar mit einem Anfluge von Hochmut. »Warum soll ich auch nicht gemein sein, wenn dieses Kleid in unserem Klima so bequem ist und ... und besonders wenn man eine natürliche Neigung dazu hat«, fügte er hinzu und lachte wieder.

»Ich hörte aber, daß Sie viele Bekannte haben. Sie sind doch, was man so nennt, ›nicht ohne Verbindungen‹. Was brauchen Sie dann mich, wenn nicht zu einem bestimmten Zweck?«

»Das stimmt, daß ich Bekannte habe«, fiel ihm Swidrigailow ins Wort, ohne jedoch die Hauptfrage zu beantworten. »Einige habe ich auch schon getroffen; ich treibe mich ja schon den dritten Tag hier herum; ich erkenne die Leute wieder, und auch sie scheinen mich zu erkennen. Allerdings bin ich anständig gekleidet und gelte als vermögender Mann; uns hat auch die Aufhebung der Leibeigenschaft nicht geschadet: wir haben Wälder und Flußwiesen, das Einkommen ist nicht geschmälert; aber ... ich will die Leute nicht aufsuchen; sie waren mir auch früher schon langweilig; den dritten Tag gehe ich herum und gebe mich niemand zu erkennen ... Und erst diese Stadt! Sagen Sie mir, bitte, wer hat sie erdacht? Es ist die Stadt von Kanzlisten und allen möglichen Seminaristen! Ich habe hier früher wirklich vieles nicht bemerkt, vor acht Jahren, als ich mich hier herumtrieb ... Jetzt setze ich alle meine Hoffnungen nur noch auf die Anatomie, bei Gott!«

»Auf was für eine Anatomie?«

»Was aber alle diese Klubs, die Restaurants von Dussot und die schönen Aussichtspunkte auf den Inseln, vielleicht auch den Fortschritt betrifft, so habe ich kein Interesse dafür«, fuhr er fort, wieder ohne die Frage zu beachten. »Was für ein Vergnügen ist es auch, Falschspieler zu sein!«

»Waren Sie denn auch Falschspieler?«

»Ja, natürlich! Wir waren eine ganze höchst anständige Gesellschaft, vor acht Jahren; wir vertrieben uns die Zeit; und, wissen Sie, lauter Menschen mit Manieren, Dichter waren dabei, auch Kapitalisten. Überhaupt haben bei uns, in der russischen Gesellschaft die besten Manieren gerade solche Menschen, die schon einmal Prügel bekommen haben –, wissen Sie es noch nicht? Ich bin nur auf dem Lande so verbauert. Und doch hatte mich damals ein Grieche aus Njeschin wegen Schulden ins Gefängnis gesperrt. Da kam gerade Marfa Petrowna dazwischen, sie handelte mit dem Mann und löste mich für dreißigtausend Silberlinge aus. (Im ganzen schuldete ich siebzigtausend.) Wir gingen eine legitime Ehe ein, und sie brachte mich sofort wie einen kostbaren Schatz zu sich aufs Gut. Sie war ja um fünf Jahre älter als ich. Liebte mich sehr. Sieben Jahre verließ ich das Gut nicht. Und beachten Sie, bitte: Ihr ganzes Leben hatte sie ein Dokument gegen mich, einen auf einen fremden Namen ausgestellten Wechsel über diese dreißigtausend Rubel in Händen, so daß, wenn ich nur wagte, mich gegen sie zu empören, sie mich sofort ins Loch bringen konnte! Und sie hätte es auch getan!«

»Und wenn sie den Wechsel nicht gehabt hätte, so wären Sie wohl durchgebrannt?«

»Ich weiß nicht, was ich Ihnen darauf sagen soll. Dieses Dokument genierte mich fast gar nicht. Ich hatte keine Lust, irgendwohin zu gehen, und Marfa Petrowna hat mir sogar selbst zweimal eine Auslandsreise angeboten, als sie sah, daß ich mich langweilte. Aber, was! Im Auslande war ich schon vorher gewesen und hatte mich da immer gelangweilt. Es war weniger Langweile, aber so ein Sonnenaufgang, der Golf von Neapel, das Meer –, wenn ich es sehe, so ist es mir so traurig zumute. Das Gemeinste ist, daß man tatsächlich Trauer empfindet! Nein, in der Heimat ist es doch besser: hier schiebt man wenigstens die Schuld den anderen zu und rechtfertigt sich selbst. Vielleicht würde ich noch an einer Nordpolexpedition teilnehmen, denn – j'ai le vin mauvais, das Trinken ist mir zuwider, aber außer dem Wein bleibt mir nichts übrig. Ich habe es schon versucht. Man sagt, daß Berg am Sonntag im Jussupowschen Garten mit einem großen Luftballon aufsteigen wird und Reisebegleiter gegen eine bestimmte Bezahlung sucht, ist das wahr?«

»Nun, würden Sie mitfliegen?«

»Ich? Nein ... ich frage nur so ...« murmelte Swidrigailow und schien wirklich nachdenklich zu werden.

– Ist es sein Ernst? – dachte Raskolnikow.

»Nein, das Dokument hat mich niemals geniert,« fuhr Swidrigailow nachdenklich fort, »ich wollte selbst nicht das Gut verlassen. Auch hat mir Marfa Petrowna vor einem Jahr zu meinem Namenstag das Dokument zurückerstattet und mir außerdem noch eine nennenswerte Summe geschenkt. Sie hatte ja Vermögen. – ›Sehen Sie, wie ich Ihnen vertraue, Arkadij Iwanowitsch‹ –, so drückte sie sich aus, wahrhaftig. Sie glauben wohl nicht, daß sie sich so ausdrückte? Wissen Sie: ich bin auf dem Lande ein tüchtiger Landwirt geworden, man kennt mich im ganzen Umkreis. Ich ließ mir auch Bücher kommen. Marfa Petrowna billigte es zuerst, fürchtete aber dann immer, ich könnte mich beim Studium überanstrengen.«

»Marfa Petrowna geht Ihnen wohl sehr ab?«

»Mir? Mag sein. Sogar sehr möglich. Übrigens, glauben Sie an Gespenster?«

»An was für Gespenster?«

»An ganz gewöhnliche Gespenster, was tragen Sie noch!«

»Und glauben Siean Gespenster?«

»Vielleicht auch nicht, pour vous plaire ... Das heißt, eigentlich wohl ...«

»Erscheinen sie Ihnen?«

Swidrigailow sah ihn sonderbar an.

»Marfa Petrowna hat die Güte, mich zu besuchen«, sagte er, den Mund zu einem sonderbaren Lächeln verziehend.

»Was heißt, sie hat die Güte, Sie zu besuchen?«

»Sie ist schon dreimal dagewesen. Das erstemal sah ich sie am Tage der Beerdigung, eine Stunde nach der Beisetzung. Das war am Tage vor meiner Abreise hierher. Das zweite Mal war es vorgestern, in der Morgendämmerung, auf der Station Malaja Wischera; das dritte Mal aber vor zwei Stunden, in der Wohnung, wo ich abgestiegen bin, in meinem Zimmer; ich war allein.«

»Im Wachen?«

»Vollkommen! Alle dreimal sah ich sie im Wachen. Sie kommt, spricht mit mir eine Weile und geht dann durch die Tür hinaus: immer durch die Tür. Es ist sogar zu hören.«

»Warum habe ich mir nur gleich gedacht, daß Sie Erlebnisse dieser Art haben müssen!« sagte plötzlich Raskolnikow.

Schon im nächsten Augenblick staunte er, daß er das gesagt hatte. Er war sehr erregt.

»So? Sie haben es sich gedacht?« fragte Swidrigailow erstaunt. »Nein, wirklich? Hab ich denn nicht gesagt, daß es zwischen uns einen Berührungspunkt geben muß, wie?«

»Niemals haben Sie das gesagt!« antwortete Raskolnikow scharf und hitzig.

»Habe ich es nicht gesagt?«

»Nein!«

»Mir schien, ich hätte es gesagt. Vorhin, als ich eintrat und sah, daß Sie mit geschlossenen Augen lagen und sich schlafend stellten, sagte ich mir gleich: ›Es ist derselbe!‹«

»Was heißt das: derselbe? Was meinen Sie damit?« rief Raskolnikow.

»Was ich damit meine? Ich weiß wirklich nicht, was ...« murmelte Swidrigailow offenherzig und irgendwie selbst verwirrt.

Eine Minute schwiegen sie. Sie starrten einander unverwandt an.

»Das ist alles Unsinn!« rief Raskolnikow geärgert. »Was sagt denn Marfa Petrowna, wenn sie kommt?«

»Was sie sagt? Denken Sie sich nur, sie spricht nur von den nichtigsten Bagatellen. Sie werden über mich staunen: dies ärgert mich gerade. Das erste Mal kam sie (wissen Sie, ich war so müde: der Trauergottesdienst, die Totenmesse, das Totenmahl, endlich war ich allein in meinem Arbeitszimmer, steckte mir eine Zigarre an, wurde nachdenklich), sie trat durch die Tür ein und sagte: ›Arkadij Iwanowitsch, Sie haben im Tummel heute vergessen, die Uhr im Eßzimmer aufzuziehen.‹ Diese Uhr pflegte ich aber die ganzen sieben Jahre jede Woche selbst aufzuziehen, und wenn ich es vergaß, so erinnerte sie mich immer daran. Am nächsten Tag bin ich schon auf der Reise hierher. Ich trete beim Morgengrauen ins Stationsgebäude – in der Nacht hatte ich ein bißchen geschlafen, bin ganz zerschlagen, die Augen fallen mir zu –, ich lasse mir Kaffee geben; plötzlich sehe ich: Marfa Petrowna setzt sich neben mich, hat ein Spiel Karten in der Hand. ›Soll ich Ihnen die Karte schlagen, Arkadij Iwanowitsch, für die Reise?‹ Sie war aber eine große Meisterin im Kartenschlagen. Jetzt kann ich es mir nicht verzeihen, daß ich mir nicht die Karten schlagen ließ. Ich erschrak und lief davon, und da kam auch das Glockenzeichen. Heute sitze ich nach einem abscheulichen Essen in einer Garküche mit schwerem Magen; ich sitze, rauche, und plötzlich sehe ich wieder Marfa Petrowna; sie kommt schön geputzt in einem neuen grünseidenen Kleid mit langer Schleppe. ›Guten Tag, Arkadij Iwanowitsch! Wie gefällt Ihnen mein Kleid? Anißjka bringt so was nicht fertig.‹ (Anißjka hieß unsere Näherin auf dem Lande, eine frühere Leibeigene, war in Moskau in der Lehre gewesen, ein recht hübsches Mädel.) Sie steht da und dreht und wendet sich hin und her. Ich betrachtete ihr Kleid und sah ihr sehr aufmerksam ins Gesicht. ›Was ist's für ein Vergnügen, Marfa Petrowna,‹ sage ich ihr, ›sich diese Mühe zu machen und wegen eines solchen Unsinns zu mir zu kommen!‹ – ›Ach, mein Gott, Väterchen, darf man dich denn gar nicht aufsuchen?‹ Um sie zu necken, sage ich ihr: › Marfa Petrowna, ich will wieder heiraten.‹ – ›Das sieht Ihnen ähnlich, Arkadij Iwanowitsch; es bringt Ihnen aber wenig Ehre ein, daß Sie, gleich nachdem Sie Ihre Frau beerdigt haben, schon wieder auf die Brautschau fahren. Und wenn Sie noch wenigstens was Rechtes wählten, aber ich weiß: es wird für beide Teile nichts Gescheites sein. Sie machen sich bloß lächerlich.‹ Sie ging hinaus und raschelte mit der Schleppe. Das ist doch Unsinn, wie?«

»Vielleicht ist das alles gelogen?« bemerkte Raskolnikow.

»Ich lüge selten«, antwortete Swidrigailow nachdenklich. Er schien die Grobheit der Frage gar nicht bemerkt zu haben.

»Und früher, vordem, haben Sie niemals Gespenster gesehen?«

»N-nein, nur ein einziges Mal im Leben, vor sechs Jahren. Ich hatte einen leibeigenen Diener Filjka; kaum hatte man ihn beerdigt, da rief ich in meiner Vergeßlichkeit: ›Filjka, die Pfeife!‹ Und er kam herein und ging zum Pfeifenständer. Ich sitze und denke mir: ›Das tut er, um sich an mir zu rächen‹; denn es hat zwischen uns vor seinem Tode einen heftigen Streit gegeben. ›Wie wagst du‹, sage ich ihm, ›mit einem zerrissenen Ellbogen zu mir zu kommen?! Marsch, hinaus, Taugenichts!‹ Er machte kehrt, ging hinaus und kam nie wieder. Ich habe es Marfa Petrowna nicht erzählt. Ich wollte eine Totenmesse lesen lassen, genierte mich aber.«

»Gehen Sie doch mal zu einem Arzt.«

»Das verstehe ich auch ohne Sie, daß ich nicht ganz gesund bin, obwohl ich auch nicht weiß, was mir fehlte; ich meine, ich bin fünfmal gesünder als Sie. Aber ich habe Sie nicht gefragt, ob Sie glauben, daß die Gespenster erscheinen, ich habe gefragt: Glauben Sie, daß es Gespenster gibt

»Nein, das glaube ich um nichts in der Welt!« rief Raskolnikow sogar wütend.

»Was sagt man gewöhnlich?« murmelte Swidrigailow wie vor sich hin, zur Seite blickend und den Kopf etwas geneigt. »Man sagt: ›Du bist krank, und darum ist alles, was du zu sehen glaubst, ein nichtexistierender Wahn.‹ Darin fehlt aber die strenge Logik. Ich gebe zu, daß die Gespenster nur Kranken erscheinen; das beweist aber doch nur, daß die Gespenster niemand anderem als Kranken erscheinen können, doch nicht, daß es sie an sich nicht gibt.«

»Natürlich gibt es sie nicht!« widersprach Raskolnikow gereizt.

»Nicht? Sie glauben es?« fuhr Swidrigailow fort, nachdem er ihn langsam angeblickt hatte. »Nun, und wie ist es, wenn man es so betrachtet (nun, helfen Sie mir mal): Die Gespenster sind sozusagen Fetzen und Bruchstücke anderer Welten, ihr Anfang. Ein gesunder Mensch braucht sie natürlich nicht zu sehen, denn der gesunde Mensch ist der am meisten irdische Mensch und muß also der Vollständigkeit und der Ordnung wegen nur das eine hiesige Leben leben; kaum ist er aber erkrankt, kaum ist die normale irdische Ordnung im Organismus gestört, als sich sofort die Möglichkeit einer anderen Welt zeigt, und je kränker er ist, um so mehr Berührungspunkte hat er mit den anderen Welten, so daß, wenn der Mensch ganz stirbt, er direkt in die andere Welt eingeht. Darüber habe ich schon seit langem nachgedacht. Wenn Sie an das zukünftige Leben glauben, so können Sie auch an diese meine Theorie glauben.«

»Ich glaube nicht an ein zukünftiges Leben«, sagte Raskolnikow.

Swidrigailow saß nachdenklich da.

»Und was, wenn dort nur Spinnen oder dergleichen sind?« sagte er plötzlich.

– Er ist verrückt – dachte Raskolnikow.

»Uns erscheint die Ewigkeit als eine Idee, die man nicht erfassen kann, als etwas furchtbar Großes! Aber warum muß sie unbedingt groß sein? Und denken Sie sich nur, wenn plötzlich statt alles dessen dort nur ein kleines Zimmer sein wird, so in der Art einer Badestube auf dem Lande, verräuchert, und in allen Ecken Spinnen, und das ist die ganze Ewigkeit. Wissen Sie, mir schwebt zuweilen so etwas vor.«

»Können Sie sich denn wirklich nichts Tröstlicheres und Gerechteres als dies vorstellen?!« rief Raskolnikow mit einem schmerzvollen Gefühl.

»Gerechteres? Wer kann das wissen, vielleicht ist das auch die Gerechtigkeit, und wissen Sie, ich würde es unbedingt absichtlich so einrichten«, antwortete Swidrigailow mit einem unbestimmten Lächeln.

Bei dieser häßlichen Antwort überlief es Raskolnikow plötzlich kalt. Swidrigailow hob den Kopf, sah ihn durchdringend an und lachte plötzlich auf.

»Nein, bedenken Sie doch nur,« rief er aus, »vor einer halben Stunde erst hatten wir einander noch nicht gesehen, wir hielten uns für Feinde; zwischen uns stand noch eine unerledigte Angelegenheit; und nun schoben wir diese Angelegenheit zur Seite und sind in diese literarische Diskussion geraten! Nun, hatte ich nicht recht, als ich sagte, daß wir beide vom gleichen Holze sind?«

»Tun Sie mir den Gefallen,« fuhr Raskolnikow gereizt fort, »gestatten Sie mir, Sie zu bitten, sich schneller zu erklären und mir mitzuteilen, weshalb Sie mir die Ehre Ihres Besuches erwiesen haben ... und ... und ... ich habe Eile, ich habe keine Zeit, ich will fortgehen ...«

»Ich bitte sehr. Ihre Schwester Awdotja Romanowna heiratet doch den Herrn Pjotr Petrowitsch Luschin?«

»Können Sie nicht irgendwie jede Frage über meine Schwester vermeiden und ihren Namen überhaupt nicht nennen? Ich verstehe wirklich nicht, wie Sie es wagen, ihren Namen in meiner Gegenwart auszusprechen, wenn Sie tatsächlich Swidrigailow sind!«

»Ich bin ja gekommen, um über sie zu sprechen; wie soll ich da ihren Namen nicht nennen?«

»Gut. Sprechen Sie, doch schneller!«

»Ich bin überzeugt, daß Sie sich über diesen Herrn Luschin, mit dem ich durch meine Frau verwandt bin, schon Ihre Meinung gebildet haben, wenn Sie ihn nur eine halbe Stunde lang gesehen oder etwas Sicheres und Genauers über ihn gehört haben. Für Awdotja Romanowna ist er nicht der richtige Mann. Meiner Ansicht nach bringt sich Awdotja Romanowna in diesem Falle höchst großmütig und selbstlos zum Opfer für ... für ihre Familie. Nach allem, was ich über Sie gehört habe, nahm ich an, daß Sie Ihrerseits sehr zufrieden sein würden, wenn diese Heirat ohne Verletzung der Interessen nicht zustande käme. Und jetzt, wo ich Sie persönlich kennengelernt habe, bin ich davon sogar überzeugt.«

»Ihrerseits ist das alles sehr naiv, entschuldigen Sie mich, ich wollte sagen: unverschämt«, sagte Raskolnikow.

»Das heißt, Sie wollen damit sagen, daß ich an meinen eigenen Nutzen denke. Seien Sie unbesorgt, Rodion Romanowitsch; wenn ich an meinen Nutzen dächte, so würde ich nicht so offen sprechen, ich bin doch nicht ganz dumm. In dieser Beziehung will ich Ihnen ein gewisses psychologisches Kuriosum mitteilen. Als ich vorhin meine Liebe zu Awdotja Romanowna rechtfertigte, sagte ich, daß ich selbst das Opfer gewesen sei. Nun sage ich Ihnen, daß ich jetzt gar keine Liebe empfinde, nicht die geringste, so daß ich mich sogar selbst darüber wundere, denn ich habe früher doch wirklich etwas empfunden ...«

»Das kommt von Müßiggang und Ausschweifung«, unterbrach ihn Raskolnikow.

»Das stimmt, ich bin ein liederlicher und ausschweifender Mensch. Ihre Schwester hat aber so viele Vorzüge, daß ich einem gewissen Eindruck unbedingt unterliegen mußte. Aber das alles ist Unsinn, wie ich es jetzt selbst einsehe.«

»Ist es lange her, daß Sie es eingesehen haben?«

»Ich fing schon früher an, es zu merken, aber die endgültige Überzeugung gewann ich erst vorgestern, fast im Augenblick meiner Ankunft in Petersburg. Übrigens hatte ich mir noch in Moskau eingebildet, daß ich herreise, um um die Hand Awdotja Romanownas zu werben und mit Herrn Luschin in Wettbewerb zu treten.«

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, aber tun Sie mir den Gefallen: können Sie sich nicht kürzer fassen und direkt auf den Zweck Ihres Besuches kommen? Ich habe Eile, ich muß fortgehen ...«

»Mit dem größten Vergnügen. Nachdem ich hier angekommen war und den Entschluß gefaßt hatte, einen gewissen ... Ausflug zu unternehmen, wollte ich vorher einige notwendige Anordnungen treffen. Meine Kinder sind bei der Tante geblieben; sie sind reich; mich persönlich brauchen sie nicht. Was bin ich auch für ein Vater! Für mich selbst habe ich nur das genommen, was Marfa Petrowna mir vor einem Jahre geschenkt hat. Für mich langt es. Entschuldigen Sie, gleich komme ich auf die Sache selbst. Vor dem Ausflug, der vielleicht wirklich zustande kommt, will ich auch mit dem Herrn Luschin ein Ende machen. Ich will nicht sagen, daß er mir unausstehlich wäre, doch seinetwegen war mein Streit mit Marfa Petrowna entstanden, als ich erfuhr, daß sie diese Heirat eingefädelt habe. Ich möchte jetzt durch Ihre Vermittlung mit Awdotja Romanowna zusammenkommen und ihr, vielleicht sogar in Ihrer Anwesenheit, vor allen Dingen erklären, daß sie von Herrn Luschin nicht nur nicht den geringsten Vorteil, sondern sogar einen sicheren Schaden zu erwarten hat. Dann würde ich sie um Entschuldigung wegen all der Unannehmlichkeiten, die ich ihr vor kurzem zugefügt habe, bitten und sie um Erlaubnis ersuchen, ihr zehntausend Rubel anzubieten, um ihr auf diese Weise den Bruch mit Herrn Luschin zu erleichtern, den Bruch, gegen den auch sie selbst, wie ich überzeugt bin, nichts einzuwenden hätte, wenn sie nur die geringste Möglichkeit sähe.«

»Sie sind doch wirklich, wirklich verrückt!« rief Raskolnikow, »weniger erbost als erstaunt. Wie wagen Sie nur, so zu sprechen!«

»Ich wußte es, daß Sie schreien werden. Ich bin zwar nicht reich, habe aber diese zehntausend Rubel gerade frei und brauche sie gar nicht. Wenn Awdotja Romanowna sie nicht annimmt, so werde ich sie vielleicht auf eine noch dümmere Weise ausgeben. Das ist das eine. Zweitens: mein Gewissen ist vollkommen rein; ich biete ihr das Geld ohne irgendwelche Nebenabsicht an. Sie mögen es mir glauben oder nicht, aber mit der Zeit werden Sie und Awdotja Romanowna es erfahren. Es handelt sich doch nur darum, daß ich Ihrer verehrten Schwester tatsächlich einige Mühe und Unannehmlichkeiten bereitet habe; indem ich also eine aufrichtige Reue empfinde, möchte ich von Herzen – nicht etwa mich loskaufen, nicht die Unannehmlichkeiten bezahlen, sondern ganz einfach ihr einen Vorteil erweisen, und zwar aus dem Grunde, weil ich doch schließlich und endlich kein Privilegium habe, nur Böses zu tun. Wäre in meinem Anerbieten auch nur ein Millionstel Berechnung, so würde ich das Geld nicht so offen hergeben: auch würde ich ihr nicht bloß zehntausend Rubel anbieten, wo ich ihr doch vor fünf Wochen viel mehr angeboten habe. Außerdem werde ich vielleicht sehr, sehr bald ein junges Mädchen heiraten, und folglich muß jeder Verdacht, daß ich gegen Awdotja Romanowna etwas vorhabe, in sich selbst zusammenstürzen. Schließlich möchte ich noch sagen, daß Awdotja Romanowna, wenn sie Herrn Luschin heiratet, doch dasselbe Geld nimmt, nur von einer anderen Seite ... Seien Sie, bitte, nicht böse, Rodion Romanowitsch, beurteilen Sie die Sache ruhig und kaltblütig.«

Als Swidrigailow das sagte, war er selbst äußerst kaltblütig und ruhig.

»Ich bitte Sie, zu Ende zu sprechen«, sagte Raskolnikow. »Jedenfalls ist es unverzeihlich frech.«

»Keineswegs. Dann kann der Mensch seinem Mitmenschen in dieser Welt nur Böses allein zufügen und hat dagegen kein Recht, ihm auch ein bißchen Gutes zu erweisen, wegen leerer konventioneller Formalitäten. Das wäre unsinnig. Wenn ich zum Beispiel gestorben wäre und diese Summe Ihrer Schwester testamentarisch vermacht hätte –, würde sie sich denn auch dann weigern, das Geld anzunehmen?«

»Sehr möglich.«

»Nein, ganz gewiß nicht! Übrigens – wenn nicht, dann nicht; aber zehntausend Rubel sind unter Umständen keine üble Sache. Jedenfalls bitte ich Sie, Awdotja Romanowna das Gesagte mitzuteilen.«

»Nein, ich werde es nicht mitteilen.«

»In diesem Falle, Rodion Romanowitsch, werde ich gezwungen sein, eine persönliche Zusammenkunft zu erzwingen, und das wurde eine Belästigung bedeuten.«

»Und wenn ich es ihr mitteile, werden Sie dann eine persönliche Zusammenkunft nicht zu erzwingen suchen?«

»Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen darauf sagen soll. Einmal sehen möchte ich sie doch gerne.«

»Hoffen Sie nicht darauf.«

»Schade. Sie kennen mich übrigens nicht. Es ist möglich, daß wir uns noch näherkommen.«

»Sie glauben, daß wir uns noch näherkommen wer den?«

»Warum auch nicht?« sagte Swidrigailow lächelnd, stand auf und nahm seinen Hut. »Ich wollte Sie gar nicht so belästigen und rechnete, als ich herging, sehr wenig darauf, obwohl mir übrigens Ihr Gesicht schon vorhin, heute früh auffiel ...«

»Wo haben Sie mich denn heute früh gesehen?« fragte Raskolnikow unruhig.

»Zufällig ... Mir scheint immer, als wäre in Ihnen etwas mit mir Verwandtes ... Beunruhigen Sie sich, bitte, nicht, ich bin nicht zudringlich; mit den Falschspielern kam ich gut aus, bin dem Fürsten Swirbej, meinem entfernten Verwandten und Würdenträger, nie zur Last gefallen; habe es verstanden, der Frau Prilukowa ins Album einige Zeilen über die Madonna Raffaels zu schreiben; habe mit Marfa Petrowna sieben Jahre ununterbrochen gelebt, ohne je das Gut zu verlassen, habe vor vielen Jahren im Asyl Wjasemskijs auf dem Heumarkte genächtigt und werde vielleicht mit Berg im Luftballon fliegen.«

»Schön. Gestatten Sie die Frage: werden Sie bald Ihre Reise unternehmen?«

»Was für eine Reise?«

»Nun, den ›Ausflug‹, von dem Sie sprachen ... Sie haben es doch selbst gesagt.«

»Den Ausflug? Ach, ja! ... in der Tat, ich habe vom Ausflug gesprochen ... Nun, das ist noch eine große Frage ... Wenn Sie aber nur wüßten, wonach Sie fragen!« fügte er hinzu und lachte laut und kurz auf. »Statt diesen Ausflug zu unternehmen, werde ich vielleicht heiraten; man bietet mir eine Partie an.«

»Hier?«

»Ja.«

»Wann haben Sie schon Zeit dazu gefunden?«

»Awdotja Romanowna will ich aber doch noch einmal sehen. Ich bitte Sie ernsthaft darum. Nun, auf Wiedersehen ... Ach ja! Ich hätte es beinahe vergessen! Rodion Romanowitsch, teilen Sie, bitte, Ihrer Schwester mit, daß Marfa Petrowna sie in ihrem Testamente mit dreitausend Rubeln bedacht hat. Das ist positiv wahr. Marfa Petrowna hat diese Anordnung eine Woche vor ihrem Tode getroffen, ich war dabei. Awdotja Romanowna kann das Geld nach zwei oder drei Wochen erhalten.«

»Sprechen Sie die Wahrheit?«

»Die Wahrheit. Teilen Sie es ihr mit. Ergebenster Diener. Ich wohne ja nicht weit von Ihnen.«

Beim Hinausgehen stieß Swidrigailow in der Tür mit Rasumichin zusammen.

II

Es war schon fast acht Uhr; beide eilten zu Bakalejew, um vor Luschin dort zu sein.

»Nun, wer war es eben?« fragte Rasumichin, sobald sie auf die Straße getreten waren.

»Es war Swidrigailow, derselbe Gutsbesitzer, in dessen Hause meine Schwester beleidigt wurde, als sie dort als Gouvernante diente. Infolge seiner leidenschaftlichen Nachstellungen mußte sie, von seiner Frau Marfa Petrowna hinausgejagt, das Haus verlassen. Diese Marfa Petrowna bat nachher Dunja um Verzeihung, und jetzt ist sie plötzlich gestorben. Es war ja auch schon vorhin von ihr die Rede. Ich weiß nicht warum, aber ich habe vor diesem Menschen große Angst. Er kam sofort nach der Beerdigung seiner Frau hergefahren. Er ist sehr sonderbar und hat sich für etwas entschlossen ... Er scheint etwas zu wissen. Man muß Dunja vor ihm beschützen ... das wollte ich dir sagen, hörst du?«

»Beschützen! Was kann er denn gegen Awdotja Romanowna unternehmen? Ich danke dir, Rodja, daß du so zu mir sprichst ... Gut, wir wollen sie schon schützen ... Wo wohnt er denn?«

»Ich weiß nicht.«

»Warum hast du nicht gefragt? Wie schade! Ich werde es übrigens erfahren!«

»Hast du ihn gesehen?« fragte Raskolnikow nach einer Pause.

»Nun ja, ich habe ihn mir gemerkt; ich habe ihn mir gut gemerkt.«

»Hast du ihn wirklich gesehen? Deutlich gesehen?« fragte Raskolnikow eindringlich.

»Gewiß, ich erinnere mich seiner ganz deutlich; unter tausend erkenne ich ihn wieder, ich habe ein gutes Personengedächtnis.«

Beide schwiegen.

»Hm! ... Ja, so ...« murmelte Raskolnikow. »Weißt du ... mir kam es vor ... mir scheint immer ... daß es vielleicht nur Einbildung ist.«

»Was meinst du denn? Ich verstehe dich nicht recht.«

»Ihr sagt ja alle,« fuhr Raskolnikow fort, den Mund zu einem Lächeln verziehend, »daß ich verrückt sei; und es kam mir eben vor, daß ich tatsächlich verrückt bin und nur ein Gespenst gesehen habe!«

»Was fällt dir ein?«

»Wer kann es wissen! Vielleicht bin ich wirklich verrückt, vielleicht besteht auch alles, was ich in diesen Tagen erlebt habe, nur in meiner Einbildung ...«

»Ach, Rodja! Man hat dich wieder ganz konfus gemacht! ... Was hat er gesagt, wozu ist er gekommen?«

Raskolnikow antwortete nicht. Rasumichin überlegte eine Weile.

»Höre also meinen Bericht«, begann er. »Ich war schon einmal bei dir, aber du schliefst. Dann aßen wir zu Mittag, und dann ging ich zu Porfirij. Samjotow sitzt noch immer bei ihm. Ich wollte schon anfangen, aber es wurde nichts daraus. Es gelang mir immer nicht, richtig zu beginnen. Sie scheinen nichts zu verstehen und können nichts verstehen, genieren sich aber gar nicht. Ich führte Porfirij zum Fenster und versuchte zu sprechen, aber es wurde wieder nichts daraus: er blickte zur Seite, und auch ich blickte zur Seite. Endlich zeigte ich ihm die Faust und sagte, daß ich ihn zermalmen werde, auf verwandtschaftliche Manier. Er sah mich bloß an. Ich spuckte aus und ging fort. Das ist alles. Es war furchtbar dumm. Mit Samjotow sprach ich kein Wort. Siehst du aber: Ich glaubte, ich hätte die Sache verdorben, als ich aber die Treppe hinunterging, erleuchtete mich plötzlich ein Gedanke: was regen wir uns beide eigentlich auf? Wenn dir noch eine Gefahr drohte oder ähnliches, dann natürlich. Aber was geht es dich an! Du hast mit dieser Sache nichts zu tun, also spucke auf sie; wir werden ja später über sie lachen, an deiner Stelle würde ich sie noch mystifizieren. Sie werden sich doch nachher schämen! Spucke drauf! Später werden wir sie auch noch verprügeln können, aber jetzt wollen wir lachen.«

»Natürlich!« antwortete Raskolnikow.

– Und was wirst du morgen sagen? – dachte er bei sich. Seltsam, bisher war ihm noch kein einziges Mal der Gedanke gekommen: Was wird Rasumichin sagen, wenn er es erfährt? Nachdem er sich dies gedacht hatte, blickte er Rasumichin durchdringend an. Der Bericht Rasumichins über seinen Besuch bei Porfirij interessierte ihn sehr wenig: so vieles war seit jener Zeit verschwunden, und so vieles war neu hinzugekommen! ... Im Korridor stießen sie mit Luschin zusammen: dieser war Punkt acht erschienen und suchte das Zimmer, und so traten sie alle drei zugleich ein, doch ohne einander anzusehen oder zu begrüßen. Die jungen Leute gingen zuerst hinein, Luschin blieb aber des Anstandes halber noch im Vorzimmer, wo er seinen Mantel auszog. Pulcheria Alexandrowna kam gleich heraus, um ihn auf der Schwelle zu empfangen. Dunja begrüßte ihren Bruder.

Pjotr Petrowitsch trat ein und verbeugte sich vor den Damen recht liebenswürdig, doch mit betonter Gesetztheit. Im übrigen sah er so aus, als wäre er noch ein wenig verwirrt und hätte die Fassung noch nicht ganz wiedererlangt. Pulcheria Alexandrowna, die gleichfalls etwas verlegen schien, beeilte sich, alle um den runden Tisch herum zu verteilen, auf dem schon der Samowar kochte. Dunja und Luschin setzten sich einander gegenüber. Rasumichin und Raskolnikow kamen gegenüber Pulcheria Alexandrowna zu sitzen –, Rasumichin neben Luschin und Raskolnikow neben seiner Schwester.

Es trat kurzes Schweigen ein. Pjotr Petrowitsch zog langsam ein Battisttaschentuch hervor, das einen Duft von Parfüm verbreitete, und schneuzte sich mit der Miene eines, wenn auch tugendhaften, doch in seiner Würde gekränkten Menschen, der dazu auch fest entschlossen ist, Erklärungen zu verlangen. Ihm war schon im Vorzimmer der Gedanke gekommen, den Mantel nicht abzulegen und fortzugehen und so die Damen streng und eindringlich zu bestrafen, damit sie gleich alles fühlten. Aber er konnte sich dazu nicht entschließen. Außerdem liebte dieser Mensch keine Ungewißheit, hier aber harrte alles der Aufklärung: wenn sein Befehl so offensichtlich verletzt worden war, so mußte sicher etwas Besonderes vorliegen; darum war es besser, alles gleich zu erfahren; zu bestrafen hatte er immer noch Zeit, und es lag ja auch in seiner Hand.

»Ich hoffe, die Reise ist glücklich verlaufen?« wandte er sich sehr offiziell an Pulcheria Alexandrowna.

»Gott sei Dank, Pjotr Petrowitsch.«

»Sehr angenehm. Auch Awdotja Romanowna sind nicht ermüdet?«

»Ich bin jung und kräftig und werde nicht müde, aber die Mama hatte es sehr schwer«, antwortete Dunjetschka.

»Was ist zu machen; unsere Nationalbahnen haben so lange Strecken. Groß ist das sogenannte ›Mütterchen Rußland‹ ... Ich konnte aber gestern beim besten Willen nicht auf den Bahnhof kommen. Ich hoffe, alles ist doch ohne besondere Ungelegenheiten abgelaufen?«

»Ach nein, Pjotr Petrowitsch, wir waren sehr entmutigt«, erklärte Pulcheria Alexandrowna schnell und mit besonderer Betonung, »und wenn uns gestern der liebe Gott selbst nicht den Dmitrij Pokrofjitsch geschickt hätte, so wären wir verloren. Das ist Herr Dmitrij Pokrofjitsch Rasumichin«, fügte sie hinzu, ihn Luschin vorstellend.

»Ich hatte schon das Vergnügen ... gestern«, murmelte Luschin und schielte feindselig nach Rasumichin. Dann machte er ein finsteres Gesicht und verstummte.

Pjotr Petrowitsch gehörte überhaupt zu den Leuten, die in der Gesellschaft außerordentlich liebenswürdig erscheinen und auch besonderen Anspruch auf liebenswürdige Behandlung erheben, die aber, wenn ihnen etwas nicht paßt, sofort alle ihre Vorzüge verlieren und eher Mehlsäcken gleichen, als gewandten und die Gesellschaft belebenden Kavalieren. Alle verstummten wieder: Raskolnikow schwieg hartnäckig, Awdotja Romanowna wollte das Schweigen zunächst nicht brechen, Rasumichin wußte nicht, was zu sagen, so daß Pulcheria Alexandrowna wieder unruhig wurde.

»Marfa Petrowna ist gestorben, haben Sie es schon gehört?« fing sie an, gleich zum Hauptthema greifend.

»Gewiß, ich habe es schon gehört. Mich erreichte gleich das erste Gerücht, und ich bin sogar jetzt hergekommen, um Ihnen mitzuteilen, daß Arkadij Iwanowitsch Swidrigailow sich sofort nach der Beerdigung seiner Gattin nach Petersburg begeben hat. So lauten wenigstens die zuverlässigen Nachrichten, die ich erhalten habe.«

»Nach Petersburg? Hierher?« fragte Dunjetschka unruhig und wechselte mit der Mutter einen Blick.

»Jawohl, und natürlich nicht ohne Absichten, wenn man die Schnelligkeit seiner Abreise und überhaupt alle vorhergegangenen Umstände in Betracht zieht.«

»Mein Gott! Wird er denn auch hier Dunjetschka nicht in Ruhe lassen?« rief Pulcheria Alexandrowna aus.

»Mir scheint, daß Sie und Awdotja Romanowna keinen besonderen Grund zur Aufregung haben, natürlich, wenn Sie nicht selbst in irgendwelche Beziehungen zu ihm treten wollen. Was mich betrifft, so forsche ich jetzt nach, wo er abgestiegen ist.«

»Ach, Pjotr Petrowitsch, Sie werden mir nicht glauben, wie Sie mich erschreckt haben!« fuhr Pulcheria Alexandrowna fort. »Ich habe ihn nur zweimal gesehen, und er erschien mir so schrecklich, so schrecklich! Ich bin überzeugt, daß er die Ursache von Marfa Petrownas Tode ist.«

»Darüber kann man nichts sagen. Ich habe die genauesten Berichte. Ich will nicht bestreiten, vielleicht hat er den Gang der Ereignisse sozusagen durch den moralischen Einfluß einer Kränkung beschleunigt; was aber das Benehmen und überhaupt die sittliche Charakteristik dieses Menschen betrifft, so bin ich mit Ihnen einverstanden. Ich weiß nicht, ob er jetzt reich ist und was ihm Marfa Petrowna vermacht hat; das werde ich in kürzester Zeit in Erfahrung bringen; doch hier in Petersburg wird er, wenn er nur irgendwelche Geldmittel hat, natürlich sofort seine alte Lebensweise wieder aufnehmen. Er ist der ausschweifendste und in alle Laster versunkenste Mensch von allen Menschen dieser Art! Ich habe einen triftigen Grund zur Annahme, daß Marfa Petrowna, die das Unglück hatte, sich in ihn zu verlieben und ihn aus dem Schuldgefängnis loszukaufen, ihm auch noch einen anderen Dienst erwiesen hat: ausschließlich dank ihren Bemühungen und Opfern wurde eine kriminelle Sache mit dem Beigeschmack einer tierischen und sozusagen phantastischen Mordtat, für die er höchstwahrscheinlich einen Ausflug nach Sibirien hätte ma chen müssen, gleich im Keime erstickt. So ein Mensch ist er, wenn Sie es wissen wollen.«

»Ach, mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna aus.

Raskolnikow hörte aufmerksam zu.

»Ist es wahr, daß Sie darüber sichere Nachrichten besitzen?« fragte Dunja streng und mit Nachdruck.

»Ich sage nur das, was ich selbst unter Diskretion von der seligen Marfa Petrowna gehört habe. Es ist zu bemerken, daß die Sache vom juristischen Standpunkte aus sehr dunkel ist. Hier lebte und lebt, glaube ich, auch jetzt noch eine gewisse Rößlich, eine Ausländerin, die nicht nur kleine Wuchergeschäfte betreibt, sondern sich auch noch mit anderen Diagen befaßt. Zu dieser Rößlich unterhielt Herr Swidrigailow seit langem gewisse, sehr intime und geheimnisvolle Beziehungen. Bei ihr wohnte eine entfernte Verwandte von ihr, ich glaube eine Art Nichte, ein taubstummes Mädchen von vierzehn oder fünfzehn Jahren, die diese Rößlich grenzenlos haßte und der sie jeden Bissen vorwarf; sie schlug sie auch unmenschlich. Eines Tages fand man das Kind erhängt auf dem Dachboden. Man stellte Selbstmord fest. Nach Erledigung der üblichen Formalitäten war die Sache begraben, aber später kam eine Denunziation, daß das Kind von Herrn Swidrigailow ... grausam mißhandelt worden sei. Die Sache war allerdings sehr dunkel, die Denunziation rührte von einer anderen Deutschen her, einer übelbeleumundeten und kein Vertrauen genießenden Person; schließlich wurde auch die Denunziation dank den Bemühungen und dem Gelde Marfa Petrownas zurückgezogen; alles beschränkte sich auf ein leeres Gerücht. Dieses Gerücht war aber sehr vielsagend. Sie haben wohl sicher von der Geschichte gehört, Awdotja Romanowna, die er mit seinem Diener Philipp hatte, der vor sechs Jahren, noch zur Zeit der Leibeigenschaft, infolge von Mißhandlungen gestorben ist.«

»Ich hörte im Gegenteil, daß dieser Philipp sich selbst erhängt habe.«

»Das stimmt, doch nur das ununterbrochene System von Verfolgungen und Strafen des Herrn Swidrigailow hat ihn zum Selbstmorde bewogen oder vielmehr gezwungen.«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Dunja trocken. »Ich habe nur eine sehr merkwürdige Geschichte gehört, daß dieser Philipp ein Hypochonder gewesen sei, ein hausbackener Philosoph; die Leute sagten, er hätte zu viel gelesen und habe sich eher wegen der Verhöhnung als wegen der Mißhandlung durch Herrn Swidrigailow erhängt. Als ich in seinem Hause war, behandelte er die Leute sehr gut, und die Leute liebten ihn, obwohl sie ihm die Schuld am Tode Philipps zuschrieben.«

»Ich sehe, Awdotja Romanowna, daß Sie plötzlich irgendwie geneigt sind, ihn zu verteidigen«, bemerkte Luschin, den Mund zu einem doppelsinnigen Lächeln verziehend. »Er ist in der Tat ein schlauer und für die Frauen verführerischer Mensch, wofür Marfa Petrowna, die auf eine so sonderbare Art gestorben ist, ein beklagenswertes Beispiel bietet. Ich wollte nur Ihnen und Ihrer Mama angesichts seiner neuen, von ihm zweifellos zu erwartenden Attentate mit meinem Ratschlage dienen. Was aber mich betrifft, so bin ich fest überzeugt, daß dieser Mensch ganz sicher wieder im Schuldgefängnis verschwinden wird. Marfa Petrowna hatte durchaus nicht die Absicht, ihr Vermögen ihm zu verschreiben, da sie ihre Kinder im Auge hatte, und wenn sie ihm überhaupt etwas vermacht hat, dann nur das Notwendigste, eine Kleinigkeit, etwas Ephemeres, was einem Menschen mit seinen Gewohnheiten auch nicht für ein Jahr langen wird.«

»Pjotr Petrowitsch, ich bitte Sie,« sagte Dunja, »sprechen wir nicht mehr von Herrn Swidrigailow. Das macht mich trübsinnig.«

»Er hat mich soeben besucht«, sagte plötzlich Raskolnikow, zum erstenmal das Schweigen brechend.

Von allen Seiten tönten Ausrufe, und alle wandten sich an ihn. Selbst Pjotr Petrowitsch wurde unruhig.

»Vor anderthalb Stunden, als ich schlief, trat er ein, weckte mich und stellte sich mir vor«, fuhr Raskolnikow fort. »Er war recht heiter und ungezwungen und hofft sicher darauf, daß wir uns noch näherkommen werden. Unter anderem bittet er sehr um eine Zusammenkunft mit dir, Dunja, und ersucht mich, der Vermittler bei dieser Zusammenkunft zu sein. Er will dir ein Anerbieten machen; worin dieses Anerbieten besteht, hat er mir mitgeteilt. Außerdem hat er mir positiv erklärt, daß Marfa Petrowna eine Woche vor ihrem Tode Zeit gefunden habe, dir, Dunja, dreitausend Rubel testamentarisch zu vermachen, und daß du dieses Geld in kürzester Zeit bekommen kannst.«

»Gott sei Dank!« rief Pulcheria Alexandrowna aus und bekreuzte sich. »Bete für sie, Dunja, bete für sie!«

»Es ist wirklich wahr«, entschlüpfte es Luschin.

»Nun, und was weiter?« drängte Dunjetschka.

»Dann sagte er mir, daß er selbst nicht reich sei und daß das ganze Gut seinen Kindern zufalle, die jetzt bei der Tante sind. Dann, daß er irgendwo nicht weit von mir abgestiegen sei, doch wo – weiß ich nicht, ich habe ihn nicht gefragt ...«

»Aber was, was will er Dunjetschka anbieten?« fragte Pulcheria Alexandrowna erschrocken. »Hat er es dir gesagt?«

»Ja, er hat es mir gesagt.«

»Was ist es denn?«

»Das werde ich später sagen.«

Raskolnikow verstummte und wandte sich seinem Tee zu.

Pjotr Petrowitsch holte seine Uhr hervor und sah nach der Zeit.

»Ich muß geschäftlich fortgehen, und so werde ich nicht länger stören«, fügte er etwas pikiert hinzu und erhob sich von seinem Stuhl.

»Bleiben Sie, Pjotr Petrowitsch«, sagte Dunja. »Sie hatten doch die Absicht, den ganzen Abend bei uns zu bleiben. Außerdem schrieben Sie doch selbst, daß Sie mit Mama etwas zu besprechen hätten.«

»Das stimmt, Awdotja Romanowna«, versetzte Pjotr Petrowitsch mit Nachdruck, indem er sich wieder auf den Stuhl setzte, aber den Hut in der Hand behielt. »Ich wollte mich wirklich mit Ihnen und Ihrer hochverehrten Frau Mama über einige sogar sehr wichtige Punkte aussprechen. Doch ebenso wie Ihr Bruder sich in meiner Anwesenheit nicht über einige Vorschläge des Herrn Swidrigailow äußern kann, so will auch ich mich nicht ... in Gegenwart anderer ... über gewisse außerordentlich wichtige Punkte aussprechen. Außerdem wurde meine wichtigste und eindringlichste Bitte nicht beachtet ...«

Luschin nahm eine bittere Miene an und verstummte würdevoll.

»Ihre Bitte, daß mein Bruder unserer Zusammenkunft nicht beiwohne, wurde einzig auf mein inständiges Verlangen nicht erfüllt«, sagte Dunja. »Sie schrieben, daß Sie von meinem Bruder beleidigt worden seien; ich glaubte, das sollte sofort aufgeklärt werden, und Sie müßten sich vertragen. Wenn Rodja Sie wirklich beleidigt hat, so mußund wirder Sie um Entschuldigung bitten.«

Pjotr Petrowitsch stieg sofort aufs hohe Roß.

»Es gibt gewisse Beleidigungen, Awdotja Romanowna, die man beim besten Willen nicht vergessen kann. Alles hat seine Grenze, die zu überschreiten gefährlich ist; denn hat man sie einmal überschritten, so kann man nicht mehr zurück.«

»Ich sprach eigentlich nicht davon, Pjotr Petrowitsch«, unterbrach ihn Dunja mit einiger Ungeduld. »Begreifen Sie doch, daß unsere ganze Zukunft nur davon abhängt, ob dies alles sich möglichst schnell aufklärt und in Ordnung kommt oder nicht. Ich sage Ihnen gleich, daß ich die Sache anders nicht ansehen kann, und wenn Sie mich auch nur ein wenig schätzen, so muß diese ganze Geschichte, und wenn es Ihnen auch noch so schwer fällt, erledigt werden. Ich wiederhole: wenn mein Bruder die Schuld hat, so wird er Sie um Verzeihung bitten.«

»Ich wundere mich, daß Sie die Frage so stellen, Awdotja Romanowna«, sagte Luschin, der immer gereizter wurde. »Wenn ich Sie schätze und sozusagen verehre, so kann ich doch zugleich auch jemand von Ihren Angehörigen gar nicht schätzen. Wenn ich mich um das Glück, Ihre Hand zu besitzen, bewerbe, brauche ich doch nicht Verpflichtungen auf mich zu nehmen, die unvereinbar sind mit – –«

»Ach, lassen Sie diese Empfindlichkeit, Pjotr Petrowitsch,« unterbrach ihn Dunja mit Gefühl, »und seien Sie jener kluge und edle Mensch, für den ich Sie immer hielt und immer halten will. Ich gab Ihnen ein großes Versprechen, ich bin Ihre Braut; vertrauen Sie sich mir in dieser Sache an und glauben Sie mir, daß ich die Kraft haben werde, unparteiisch zu richten. Daß ich das Richteramt übernehme, ist für meinen Bruder ebenso überraschend wie für Sie. Als ich ihn heute, nach Ihrem Brief, aufforderte, unbedingt zu dieser Zusammenkunft zu kommen, teilte ich ihm nichts von meinen Absichten mit. Begreifen Sie doch, daß, wenn Sie sich nicht vertragen, ich gezwungen sein werde, zwischen Ihnen beiden zu wählen! Entweder Sie oder er! So lautet nun die Frage wie von Ihrer so auch von meiner Seite. Ich will und darf mich nicht in der Wahl irren. Ihretwegen muß ich mit meinem Bruder brechen; und meines Bruders wegen muß ich mit Ihnen brechen. Ich will und kann jetzt sicher feststellen: ob er mir ein Bruder ist. Und von Ihnen: ob ich Ihnen teuer bin, ob Sie mich schätzen, ob Sie der passende Gatte für mich sind.«

»Awdotja Romanowna,« sagte Luschin peinlich berührt, »Ihre Worte sind für mich zu bedeutungsvoll, ich sage mehr: sie sind sogar kränkend in Anbetracht der Stellung, die ich Ihnen gegenüber einzunehmen die Ehre habe. Schon ganz abgesehen von der sonderbaren und für mich kränkenden Gegenüberstellung zwischen mir ... und einem anmaßenden Jüngling, lassen Sie in Ihren Worten auch die Möglichkeit zu, daß Sie das mir gegebene Versprechen brechen. Sie sagen: ›Entweder Sie oder er‹, – damit zeigen Sie mir, wie wenig ich für Sie bedeute ... Das kann ich nicht dulden bei den Beziehungen und ... Verpflichtungen, die zwischen uns bestehen.«

»Wie!« fuhr Dunja auf. »Ich setze Ihre Interessen auf eine Stufe mit allem, was mir bisher im Leben teuer war, was bisher mein ganzesLeben ausmachte, und plötzlich sind Sie gekränkt, daß ich Sie zu wenigschätze?!«

Raskolnikow lächelte schweigend und giftig, Rasumichin war ganz außer sich, aber Pjotr Petrowitsch nahm diese Entgegnung nicht an; im Gegenteil, er wurde mit jedem Worte zudringlicher und gereizter, als bekäme er allmählich Geschmack daran.

»Die Liebe zum künftigen Lebensgefährten, zum Gatten muß die Liebe zum Bruder überwiegen,« sagte er sentenziös, »aber ich kann in keinem Falle auf der gleichen Stufe mit ihm stehen ... Obwohl ich vorhin darauf bestand, daß ich in Gegenwart Ihres Bruders das, weswegen ich gekommen bin, zu erklären weder wünsche noch kann, habe ich dennoch die Absicht, mich jetzt gleich an Ihre hochverehrte Frau Mutter zu wenden, um eine notwendige Aufklärung über einen sehr wichtigen und für mich verletzenden Punkt herbeizuführen. Ihr Sohn«, wandte er sich an Pulcheria Alexandrowna, »hat mich gestern in Gegenwart des Herrn Rassudkin« (oder ... ich glaube, Sie heißen so? Entschuldigen Sie, ich habe Ihren Namen vergessen, wandte er sich mit einer höflichen Verbeugung an Rasumichin), »hat mich gestern durch die Verdrehung eines Gedankens von mir verletzt, den ich Ihnen damals in einem Privatgespräch am Kaffeetisch mitgeteilt habe, nämlich, daß die Heirat mit einem armen jungen Mädchen, das das Ungemach des Lebens schon gekostet hat, in ehelicher Beziehung meiner Ansicht nach viel vorteilhafter sei als die Verbindung mit einem Mädchen, das im Wohlstand aufgewachsen ist, denn das erstere ist für die Moral zuträglicher. Ihr Sohn hat die Bedeutung meiner Worte absichtlich ins Sinnlose übertrieben und mir die böswilligsten Absichten zugeschrieben, und dies, wie ich glaube, auf Grund Ihrer Korrespondenz. Ich werde mich glücklich schätzen, Pulcheria Alexandrowna, wenn es Ihnen gelingt, mich vom Gegenteil zu überzeugen und dadurch zu beruhigen. Sagen Sie mir nun, bitte: in welchen Ausdrücken haben Sie meine Worte in Ihrem Briefe an Rodion Romanowitsch wiedergegeben?«

»Ich erinnere mich nicht mehr,« antwortete Pulcheria Alexandrowna verwirrt, »ich habe sie ihm so wiedergegeben, wie ich sie selbst verstanden hatte. Ich weiß nicht, wie Rodja sie Ihnen wiedergegeben hat ... Vielleicht hat er einiges übertrieben.«

»Ohne Beeinflussung durch Sie konnte er doch nichts übertreiben.«

»Pjotr Petrowitsch,« sagte Pulcheria Alexandrowna mit Würde, »der Beweis dafür, daß Dunja und ich Ihre Worte nicht in einem sehr schlimmen Sinne aufgefaßt haben, ist, daß wir hiersind.«

»Sehr gut, Mamachen!« billigte Dunja ihre Worte.

»Also bin ich auch daran schuld!« versetzte Luschin gekränkt.

»Nun sehen Sie, Pjotr Petrowitsch, Sie beschuldigen immer Rodion, haben aber neulich selbst über ihn in Ihrem Briefe die Unwahrheit geschrieben«, fügte Pulcheria Alexandrowna ermutigt hinzu.

»Ich kann mich nicht erinnern, irgendeine Unwahrheit geschrieben zu haben.«

»Sie haben geschrieben,« sagte Raskolnikow scharf, ohne sich zu Luschin umzuwenden, »ich hätte gestern das Geld nicht der Witwe des Überfahrenen, wie es in Wirklichkeit war, gegeben, sondern seiner Tochter (die ich bis gestern nie gesehen habe). Sie schrieben es, um mich mit meinen Angehörigen zu entzweien, und äußerten sich zu diesem Zwecke in den gemeinsten Ausdrücken auch über den Lebenswandel des jungen Mädchens, das Sie nicht kennen. Das ist Klatsch und eine Gemeinheit.«

»Entschuldigen Sie, mein Herr«, antwortete Luschin, vor Wut zitternd. »In meinem Briefe äußerte ich mich über Ihre Eigenschaften und Handlungen, nur um die Bitte Ihrer Schwester und Mutter zu erfüllen, die mich baten, ihnen zu berichten, wie ich Sie gefunden hätte und welchen Eindruck Sie auf mich gemacht hätten. Was aber den Inhalt meines Briefs betrifft, so zeigen Sie mir wenigstens eineunwahre Zeile, das heißt, daß Sie das Geld nicht ausgegeben haben und daß in jener, wenn auch unglücklichen Familie, sich keine unwürdigen Personen befinden.«

»Meiner Ansicht nach sind Sie mit allen Ihren Vorzügen auch nicht den kleinen Finger des unglücklichen jungen Mädchens wert, auf das Sie einen Stein werfen.«

»Sie wären demnach bereit, sie in die Gesellschaft Ihrer Mutter und Schwester einzuführen?«

»Ich habe es schon getan, wenn Sie es wissen wollen. Ich habe sie heute neben meine Mama und Dunja gesetzt.«

»Rodja!« rief Pulcheria Alexandrowna aus.

Dunjetschka errötete; Rasumichin zog die Brauen zusammen; Luschin lächelte giftig und hochmütig.

»Nun belieben Sie es selbst zu sehen, Awdotja Romanowna,« sagte er, »ist hier eine Verständigung möglich? Ich hoffe jetzt, daß die Sache für immer aufgeklärt und erledigt ist. Ich aber ziehe mich jetzt zurück, um das weitere angenehme verwandtschaftliche Beisammensein und den Austausch von Geheimnissen nicht zu stören.« (Er erhob sich von seinem Stuhl und nahm den Hut.) »Bevor ich aber weggehe, erlaube ich mir die Hoffnung auszusprechen, in Zukunft von solchen Begegnungen und, sozusagen, Kompromissen befreit zu sein. Ganz besonders bitte ich Sie darum, hochverehrte Pulcheria Alexandrowna, um so mehr, als mein Brief an Sie und niemand anders adressiert war.«

Pulcheria Alexandrowna fühlte sich etwas verletzt.

»Sie wollen uns wohl ganz in Ihre Gewalt bekommen, Pjotr Petrowitsch. Dunja sagte Ihnen den Grund, warum Ihr Wunsch nicht erfüllt wurde. Sie hatte doch gute Absichten. Auch schreiben Sie mir so, als erteilten Sie mir Befehle. Müssen wir denn jeden Ihrer Wünsche als einen Befehl auffassen? Ich möchte Ihnen aber im Gegenteil sagen: Sie müssen jetzt gegen uns besonders feinfühlend und nachsichtig sein, weil wir alles im Stich gelassen haben und, im Vertrauen auf Sie, hergekommen sind, uns also schon ohnehin in Ihrer Gewalt befinden.«

»Das ist nicht ganz richtig, Pulcheria Alexandrowna, und am allerwenigsten in diesem Augenblick, wo Sie die Nachricht von den von Marfa Petrowna vermachten dreitausend Rubeln erhalten haben, die Ihnen anscheinend sehr zustatten kommen, wenigstens nach dem neuen Ton zu urteilen, in dem Sie mit mir sprechen«, fügte er bissig hinzu.

»Nach dieser Bemerkung könnte man wirklich annehmen, daß Sie auf unsere Hilflosigkeit gerechnet haben«, bemerkte Dunja gereizt.

»Jetzt wenigstens kann ich nicht mehr auf sie rechnen, am allerwenigsten möchte ich aber der Mitteilung der geheimen Anerbieten des Arkadij Iwanowitsch Swidrigailow im Wege sein, mit denen er Ihren Bruder betraut hat und die, wie ich sehe, für Sie eine gewichtige und vielleicht auch höchst angenehme Bedeutung haben.«

»Ach, mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna aus.

Rasumichin konnte kaum stillsitzen.

»Schämst du dich jetzt nicht, Schwester?« fragte Raskolnikow.

»Ich schäme mich, Rodja«, sagte Dunja. »Pjotr Petrowitsch, gehen Sie hinaus!« wandte sie sich an ihn, ganz blaß vor Wut.

Pjotr Petrowitsch hatte mit einem solchen Ende wohl nicht gerechnet. Er hatte zu sehr auf sich selbst, auf seine Macht und auf die Hilflosigkeit seiner Opfer gebaut. Er konnte es auch jetzt noch nicht glauben. Er erbleichte, und seine Lippen zitterten.

»Awdotja Romanowna, wenn ich jetzt durch diese Tür, mit diesen Ihren Abschiedsworten das Zimmer verlasse, so – rechnen Sie darauf – komme ich nie wieder. Überlegen Sie es sich gut! Mein Wort ist unabänderlich!«

»Was für eine Frechheit!« rief Dunja und erhob sich schnell von ihrem Platz. »Ich will ja auch gar nicht, daß Sie wiederkommen!«

»Wie! So stehen also die Sachen!« rief Luschin, der bis zum letzten Augenblick an einen solchen Ausgang nicht geglaubt und daher nun den Faden vollkommen verloren hatte. »So stehen also die Sachen! Wissen Sie aber, Awdotja Romanowna, daß ich auch protestieren könnte?!«

»Welch ein Recht haben Sie, so mit ihr zusprechen?!« mischte sich Pulcheria Alexandrowna hitzig ein. »Womit können Sie protestieren? Und was haben Sie für Rechte? Werde ich denn meine Dunja einem solchen Menschen, wie Sie es sind, geben? Gehen Sie, verlassen Sie uns ganz! Wir sind selbst schuld, daß wir auf eine solche ungerechte Sache eingegangen sind, und am meisten ich ...«

»Pulcheria Alexandrowna,« ereiferte sich Luschin in seiner Wut, »Sie haben mich aber durch Ihr gegebenes Wort gebunden, von dem Sie sich jetzt lossagen ... und, und schließlich ... schließlich habe ich auch sozusagen Unkosten gehabt ...«

Dieser letzte Einwand entsprach dermaßen dem Charakter Pjotr Petrowitschs, daß Raskolnikow, der vor Wut und vor Anstrengung, die Wut zurückzuhalten, ganz blaß geworden war, sich plötzlich nicht mehr beherrschen konnte und laut auflachte. Aber Pulcheria Alexandrowna geriet ganz aus der Fassung.

»Unkosten? Was für Unkosten? Sprechen Sie vielleicht von unserem Koffer? Den hat ja ein Schaffner umsonst hergebracht! Mein Gott, jetzt sollen wir Sie auch noch gebunden haben! Bedenken Sie doch, Pjotr Petrowitsch, daß Sieuns an Händen und Füßen gebunden haben, und nicht wir Sie!«

»Genug, Mamachen, bitte, genug!« flehte Awdotja Romanowna. »Pjotr Petrowitsch, tun Sie mir den Gefallen und gehen Sie weg!«

»Ich gehe schon weg, aber nur noch ein letztes Wort!« sagte er außer sich. »Ihre Frau Mama scheint ganz vergessen zu haben, daß ich mich entschlossen hatte, Sie zu nehmen, obwohl im ganzen Kreise Gerüchte über Ihren Ruf im Umlauf waren. Indem ich um Ihretwillen die öffentliche Meinung mißachtete und Ihren Ruf wiederherstellte, durfte ich natürlich durchaus auf eine Vergeltung hoffen und sogar Dankbarkeit von Ihnen verlangen ... Jetzt erst sind mir die Augen aufgegangen! Ich sehe selbst, daß ich vielleicht äußerst leichtsinnig gehandelt habe, als ich mich über die öffentliche Meinung hinwegsetzte ...«

»Hat er denn einen Kopf zuviel?!« rief Rasumichin, vom Stuhl aufspringend, bereit, mit Luschin abzurechnen.

»Sie sind ein gemeiner und böser Mensch!« sagte Dunja.

»Kein Wort! Keine Bewegung!« rief Raskolnikow, Rasumichin zurückhaltend. Dann trat er ganz dicht an Luschin heran und sagte leise und jedes Wort betonend: »Gehen Sie sofort hinaus! Und kein Wort mehr, oder ...«

Pjotr Petrowitsch sah ihn einige Sekunden mit bleichem, vor Wut verzerrtem Gesicht an, drehte sich um und ging hinaus, und sicher hat kaum je ein Mensch in seinem Herzen so viel Haß und Bosheit davongetragen wie dieser Luschin gegen Raskolnikow. Ihm und nur ihm allein schob er die ganze Schuld zu. Merkwürdig ist, daß er, als er die Treppe hinunterging, sich immer noch einbildete, daß die Sache vielleicht noch gar nicht verloren und, in bezug auf die Damen allein, sogar noch sehr reparabel sei.

III

Er hatte nämlich bis zuletzt einen solchen Ausgang nicht erwartet. Er benahm sich bis zum letzten Augenblick herausfordernd, ohne sogar die Möglichkeit anzunehmen, daß die beiden armen und schutzlosen Frauen sich seiner Macht entziehen könnten. Zu dieser Uberzeugung trugen sehr seine Eitelkeit und sein übertriebenes Selbstvertrauen bei, das am besten Selbstverliebtheit zu nennen wäre. Pjotr Petrowitsch, der sich seinen Weg aus kleinen Verhältnissen selbst gebahnt hatte, besaß die krankhafte Angewohnheit, sich selbst zu bewundern, schätzte seinen Verstand und seine Fähigkeiten hoch ein und betrachtete sogar zuweilen, wenn er allein war, sein Gesicht mit Wohlgefallen im Spiegel. Über alles in der Welt liebte und schätzte er aber sein durch Arbeit und alle möglichen Mittel erworbenes Geld: es stellte ihn auf die gleiche Stufe mit allem, was höher war als er.

Als er Dunja mit solcher Bitterkeit daran erinnerte, daß er sich entschlossen habe, sie trotz des schlechten Rufes zu nehmen, sprach Pjotr Petrowitsch vollkommen aufrichtig und empfand sogar eine tiefe Empörung über solchen »schwarzen Undank«. Und doch war er, als er um Dunja freite, vollkommen von der Haltlosigkeit aller Klatschgeschichten überzeugt, die schon von Marfa Petrowna öffentlich widerrufen und vom ganzen Städtchen, das warm für Dunja eintrat, vergessen worden waren. Er würde auch jetzt nicht bestreiten, daß er dies alles schon damals gewußt hatte. Und doch bildete er sich auf seinen Entschluß, Dunja zu sich emporzuheben, sehr viel ein und hielt ihn für eine Heldentat. Als er dies eben Dunja sagte, äußerte er nur seinen geheimen, längst gehegten Gedanken, der ihm schon mehr als einmal Freude gemacht hatte, und konnte nicht verstehen, wie die anderen seiner Tat ihre Bewunderung versagen konnten. Als er damals Raskolnikow besuchte, war er mit den Gefühlen eines Wohltäters gekommen, welcher bereit ist, die Früchte zu ernten und äußerst angenehme Komplimente zu hören. Natürlich hielt er sich jetzt, als er die Treppe hinunterging, für im höchsten Grade beleidigt und verkannt.

Dunja hatte er einfach notwendig; auf sie zu verzichten, erschien ihm undenkbar. Schon längst, seit mehreren Jahren spielte er mit dem Gedanken, sich zu verheiraten, sparte aber noch immer Geld und wartete. Er dachte im geheimen mit Wonne an ein wohlgesittetes und armes (unbedingt armes), sehr junges, sehr hübsches, edles und gebildetes, sehr eingeschüchtertes Mädchen, das viel Ungemach erfahren habe und sich vor ihm in Demut beuge, an eines, das ihn ihr ganzes Leben lang als ihren Retter ansehen, ihn anbeten, sich ihm unterwerfen und ihn bewundern würde, nur ihn allein. Wieviel Szenen, wieviel süßeste Episoden schuf er in seiner Phantasie über dieses verführerische und aufregende Thema, wenn er in der Stille von seinen Geschäften ausruhte! Und nun sollte der Traum so vieler Jahre bald in Erfüllung gehen: die Schönheit und die Bildung Awdotja Romanownas hatten ihn überrascht, und ihre hilflose Lage reizte ihn aufs äußerste. Hier lag sogar noch mehr vor, als er sich ausmalte: es war ein stolzes, charakterfestes, tugendhaftes junges Mädchen, das an Erziehung und Intelligenz viel höher stand als er (er fühlte das), und dieses Wesen würde ihm ihr ganzes Leben lang für seine Tat dankbar sein und sich demütig vor ihm beugen, er aber würde grenzenlos und unbeschränkt über sie herrschen! ... Zufällig hatte er kurz vorher nach vielen Überlegungen und langem Warten sich entschlossen, seine Karriere zu ändern und in einen größeren Wirkungskreis zu treten, zugleich aber allmählich in die höheren Gesellschaftskreise zu gelangen, an die er schon lange mit Wollust dachte ... Mit einem Worte, er hatte sich entschlossen, die Annehmlichkeiten Petersburgs zu kosten. Er wußte, daß man durch Frauen sehr viel erreichen kann. Der Zauber einer schönen, tugendhaften und gebildeten Frau würde seinen Weg außerordentlich verschönen, andere Leute an ihn heranziehen und ihm eine Glorie schaffen ... und dieses stürzte jetzt zusammen! Dieser plötzliche häßliche Bruch wirkte auf ihn wie ein Donnerschlag. Was war das doch für ein häßlicher Scherz, was für ein Unsinn! Er hatte doch nur ein bißchen wichtig getan, er hatte nicht mal Zeit gehabt, sich ganz auszusprechen, er hatte bloß gescherzt, hatte sich hinreißen lassen, und alles nahm plötzlich ein so ernstes Ende! Schließlich hatte er doch Dunja sogar auf seine Art geliebt, hatte schon über sie in seinen Träumen geherrscht, und plötzlich! ... Nein! Morgen, morgen schon muß er alles wiederherstellen, reparieren, in Ordnung bringen, vor allen Dingen aber diesen anmaßenden grünen Jungen, der an allem die Schuld hat, vernichten. Mit schmerzvollem Unbehagen erinnerte er sich plötzlich unwillkürlich Rasumichins ... aber in dieser Beziehung beruhigte er sich bald wieder: Es fehlte noch, daß man auch diesen Kerl auf eine Stufe mit ihm stellte! Wen er aber ernsthaft fürchtete, das war Swidrigailow ... Mit einem Wort: es standen ihm noch viele Scherereien bevor. –

»Nein, ich hin mehr als alle schuld!« sagte Dunjetschka, indem sie ihre Mutter umarmte und küßte. »Ich ließ mich von seinem Gelde verlocken, aber ich schwöre, Bruder, ich ahnte gar nicht, daß er ein so unwürdiger Mensch ist. Hätte ich ihn vorher durchschaut, so hätte ich mich um keinen Preis verlocken lassen! Klage mich nicht an, Bruder!«

»Gott hat uns errettet! Gott hat uns errettet!« murmelte Pulcheria Alexandrowna, doch irgendwie unbewußt, als hätte sie noch nicht ganz erfaßt, was sich eben zugetragen hatte.

Alle freuten sich, und nach fünf Minuten lachten sie sogar. Nur Dunjetschka erbleichte noch ab und zu und runzelte die Brauen, wenn sie sich des Vorgefallenen erinnerte. Pulcheria Alexandrowna hätte sich niemals gedacht, daß auch sie sich freuen würde: der Bruch mit Luschin war ihr noch heute früh als ein schreckliches Unglück erschienen, Rasumichin aber war entzückt. Er wagte noch nicht, es ganz zu äußern, zitterte aber am ganzen Leibe wie im Fieber, als wäre ihm eine fünf Zentner schwere Last vom Herzen gefallen. Nun hatte er das Recht, ihnen sein ganzes Leben hinzugeben, ihnen zu dienen ... Und überhaupt jetzt! ... Übrigens jagte er jetzt noch ängstlicher alle Zukunftsgedanken von sich und fürchtete sich vor seiner Phantasie. Nur Raskolnikow allein saß noch immer auf dem gleichen Fleck, fast düster und sogar zerstreut. Er, der auf die Entfernung Luschins mehr als alle bestanden hatte, schien sich jetzt weniger als alle für das Vorgefallene zu interessieren. Dunja mußte unwillkürlich denken, daß er ihr noch immer sehr zürne, und Pulcheria Alexandrowna beobachtete ihn ängstlich.

»Was hat dir denn Swidrigailow gesagt?« fragte Dunja, an ihn herantretend.

»Ach, ja, ja!« rief Pulcheria Alexandrowna aus.

Raskolnikow hob den Kopf.

»Er will dir unbedingt zehntausend Rubel schenken und äußert zugleich den Wunsch, dich einmal in meiner Gegenwart zu sprechen.«

»Sie sprechen! Um nichts in der Welt!« rief Pulcheria Alexandrowna aus. »Und wie wagt er nur, ihr Geld anzubieten!«

Raskolnikow teilte darauf (ziemlich trocken) sein ganzes Gespräch mit Swidrigailow mit, verschwieg aber das von den Besuchen der verstorbenen Marfa Petrowna, um nicht auf ein abseits liegendes Thema abzuschweifen und da er einen Widerwillen empfand, über irgend etwas außer dem Notwendigsten zu sprechen.

»Was hast du ihm darauf geantwortet?« fragte Dunja.

»Zuerst sagte ich ihm, daß ich dir nichts mitteilen würde. Darauf erklärte er, daß er selbst mit allen Mitteln versuchen würde, eine Zusammenkunft herbeizuführen. Er behauptete, daß seine Leidenschaft zu dir eine Dummheit gewesen sei und daß er jetzt dir gegenüber nichts mehr empfinde ... Er will nicht, daß du Luschin heiratest ... Er sprach überhaupt sehr verworren.«

»Wie erklärst du es dir selbst, Rodja? Wie kam er dir vor?«

»Offen gestanden, verstehe ich ihn nicht recht. Er bietet dir zehntausend Rubel an, sagt aber dabei, daß er nicht reich sei. Er sagt, daß er eine Reise unternehmen möchte, und vergißt schon nach zehn Minuten, daß er das gesagt hat. Plötzlich sagt er auch, daß er heiraten wolle und daß man ihm schon eine Partie anbiete ... Sicherlich hat er seine Absichten und wahrscheinlich recht schlimme. Andererseits wäre es doch sonderbar, anzunehmen, daß er die Sache so dumm anfassen würde, wenn er schlimme Absichten dir gegenüber hätte ... Ich habe mich natürlich in deinem Namen ein für allemal geweigert, das Geld anzunehmen. Überhaupt kam er mir sehr merkwürdig vor und ... sogar ... mit Anzeichen von Geistesstörung. Ich kann mich aber auch geirrt haben; vielleicht ist das Ganze eine Art Schwindel. Der Tod Marfa Petrownas scheint aber einen Eindruck auf ihn gemacht zu haben ...«

»Gott schenke ihrer Seele die ewige Ruhe!« rief Pulcheria Alexandrowna aus. »Ewig, ewig werde ich für sie zu Gott beten! ... Was wäre jetzt mit uns ohne diese dreitausend Rubel, Dunja! Mein Gott, das Geld ist wie vom Himmel gefallen! Ach, Rodja, heute früh hatten wir nur noch drei Rubel und dachten beide daran, wie wir die Uhr irgendwo versetzen könnten, um nur kein Geld von ihm zu erbitten, bis es ihm selbst einfallen würde ...«

Dunja war vom Anerbieten Swidrigailows überrascht. Sie stand die ganze Zeit nachdenklich da.

»Er hat wieder etwas Schreckliches im Sinn!« sagte sie fast im Flüsterton zu sich selbst und fuhr zusammen.

Raskolnikow bemerkte diese übertriebene Furcht.

»Ich glaube, ich werde ihn noch mehr als einmal sehen«, sagte er zu Dunja.

»Wir wollen auf der Hut sein! Ich werde ihm schon auf die Spur kommen!« rief Rasumichin energisch. »Ich lasse ihn nicht aus den Augen! Rodja hat es erlaubt. Er hat mir vorhin selbst gesagt: ›Beschütze meine Schwester!‹ Und Sie, werden Sie es mir erlauben, Awdotja Romanowna?«

Dunja lächelte und reichte ihm die Hand, aber der besorgte Ausdruck wich nicht von ihrem Gesicht. Pulcheria Alexandrowna blickte sie ab und zu schüchtern an; die dreitausend Rubel hatten sie übrigens sichtlich beruhigt.

Nach einer Viertelstunde befanden sich alle in lebhaftester Unterhaltung. Sogar Raskolnikow beteiligte sich zwar nicht am Gespräch, hörte aber einige Zeit aufmerksam zu. Rasumichin führte das große Wort.

»Aber warum, warum sollen Sie fortreisen?« ergoß er sich berauscht in begeisterter Rede. »Und was werden Sie in Ihrem kleinen Nest treiben? Die Hauptsache ist doch, daß Sie hier alle zusammen sind und einander brauchen. – Sie brauchen einander so notwendig, begreifen Sie mich doch! Nun, wenigstens eine Zeitlang ... Mich aber nehmen Sie als einen Freund, als einen Kompagnon auf, und ich versichere Ihnen, wir gründen ein ausgezeichnetes Unternehmen. Hören Sie, ich will Ihnen alles ganz genau erklären, – das ganze Projekt! Es schwebte mir schon am Morgen, als noch nichts geschehen war, vor ... Es handelt sich um folgendes: Ich habe einen Onkel (ich will Sie mit ihm bekannt machen: ein sehr vernünftiger und sehr achtbarer alter Herr!), und dieser Onkel besitzt tausend Rubel Kapital; er selbst lebt von seiner Pension und braucht sonst nichts. Schon das zweite Jahr setzt er mir zu, daß ich mir diese tausend Rubel nehme und ihm sechs Prozent Zinsen dafür zahle. Ich weiß ja, was er sich dabei denkt: er will mir einfach helfen; im vorigen Jahre brauchte ich das Geld nicht, aber in diesem Jahre wartete ich nur auf seine Ankunft und entschloß mich, das Geld zu nehmen. Dann geben Sie das zweite Tausend von Ihrem Geld her, das genügt für den Anfang, und wir gründen ein Kompagniegeschäft. Was fangen wir nun an?«

Rasumichin begann sein Projekt zu entwickeln und redete viel davon, wie wenig fast alle unsere Buchhändler und Verleger von ihrer Ware verstünden und daß sie darum auch gewöhnlich schlechte Verleger seien, während gute Bücher sich im allgemeinen bezahlt machten und zuweilen einen nicht unbedeutenden Nutzen abwürfen. Rasumichin dachte an die Verlegertätigkeit, da er schon seit zwei Jahren für andere Verleger gearbeitet hatte und recht gut drei europäische Sprachen beherrschte, obwohl er Raskolnikow vor sechs Tagen erklärt hatte, daß er im Deutschen »schwach« sei; doch nur um ihn zu überreden, die Hälfte der Übersetzungsarbeit und die drei Rubel Vorschuß anzunehmen; er hatte damals gelogen, und Raskolnikow wußte es.

»Warum, warum sollen wir uns die Gelegenheit entgehen lassen, wenn wir eines der wichtigsten Mittel, nämlich Geld besitzen?« ereiferte sich Rasumichin. »Natürlich, man muß auch viel arbeiten, und wir werden auch viel arbeiten, Sie, Awdotja Romanowna, ich, Rodion ... manche Bücher werfen jetzt einen schönen Nutzen ab! Die Grundlage des Unternehmens aber ist, daß wir wissen werden, was zu übersetzen ist. Wir werden übersetzen und verlegen und studieren, alle zusammen. Jetzt kann ich nützlich sein, denn ich habe die Erfahrung. Seit zwei Jahren laufe ich von einem Verleger zum anderen und kenne ihr ganzes Geschäft: es sind keine Heiligen, die die Töpfe brennen, glauben Sie es mir! Und warum soll man auch den Bissen an seinem Munde vorbeigehen lassen? Ich selbst kenne zwei oder drei Werke, die ich geheim halte: für die Idee allein, sie zu übersetzen und herauszugeben, kann man hundert Rubel für jedes Buch bekommen; für die eine Idee würde ich nicht mal fünfhundert Rubel nehmen. Und was glauben Sie: wenn ich es jemand sage, so wird er vielleicht noch Zweifel haben, es sind doch solche Dummköpfe! Und was die eigentlichen geschäftlichen Scherereien betrifft mit der Druckerei, dem Papier und Verkauf, so überlassen Sie es mir! Ich kenne alle Schliche. Wir fangen mit Kleinem an und erreichen Großes, wir werden davon wenigstens leben können und unser Geld auf jeden Fall zurückerhalten.«

Dunjas Augen leuchteten.

»Was Sie da sagen, gefällt mir sehr, Dmitrij Pokrofjitsch!« sagte sie.

»Ich verstehe davon natürlich gar nichts,« versetzte Pulcheria Alexandrowna, »vielleicht ist es auch sehr schön, aber Gott allein weiß es. Die Sache ist neu und unbekannt. Natürlich müssen wir noch hier bleiben, wenigstens eine Zeitlang ...«

Sie blickte Rodja an.

»Was denkst du darüber, Bruder?« fragte Dunja.

»Ich denke, daß er einen sehr guten Gedanken hat«, antwortete er. »An eine Firma soll man natürlich vorher nicht denken, aber fünf oder sechs Bücher kann man wirklich mit sicherem Erfolg herausgeben. Ich kenne auch selbst ein Werk, das unbedingt gehen wird. Und was die Frage betrifft, ob er das Geschäft zu leiten versteht, so kann darüber kein Zweifel sein; er versteht die Sache ... Übrigens habt ihr noch Zeit, euch über alles zu einigen ...«

»Hurra!« rief Rasumichin. »Wartet nur, es gibt hier in diesem selben Hause bei denselben Wirtsleuten eine freie Wohnung. Es ist eine abgeschlossene Wohnung, die mit diesen möblierten Zimmern nicht zusammenhängt, drei Stuben mit Möbeln, der Preis ist mäßig. Für den Anfang nehmen Sie diese Wohnung. Die Uhr will ich morgen für Sie versetzen und Ihnen das Geld bringen, und das Weitere wird schon werden. Die Hauptsache aber ist, daß Sie jetzt alle drei zusammen wohnen können, und auch Rodja mit Ihnen. Wo willst du denn hin, Rodja?«

»Wie, Rodja, du gehst schon weg?« fragte Pulcheria Alexandrowna sogar erschrocken.

»In einem solchen Augenblick!« rief Rasumichin aus.

Dunja sah ihren Bruder mit mißtrauischem Erstaunen an. Er hatte die Mütze in der Hand und wollte fortgehen.

»Es ist, als ob ihr mich beerdigt oder euch von mir für alle Ewigkeit verabschiedet«, sagte er sonderbar.

Er schien zu lächeln, aber es war anscheinend gar kein Lächeln.

»Wer weiß, vielleicht sehen wir uns wirklich zum letztenmal«, entschlüpfte es ihm plötzlich.

Eigentlich dachte er es nur, aber die Worte kamen ihm ganz von selbst von den Lippen.

»Was ist mit dir?« rief die Mutter.

»Wo gehst du denn hin, Rodja?« fragte Dunja eigentümlich.

»So, ich muß dringend gehen«, sagte er verlegen, als schwankte er noch, was er zu sagen hätte; doch sein bleiches Gesicht drückte eine feste Entschlossenheit aus.

»Ich wollte sagen ... als ich herging ... ich wollte Ihnen sagen, Mamachen ... und auch dir, Dunja, daß es für uns das beste wäre, uns für eine Zeitlang zu trennen. Ich fühle mich nicht wohl und bin unruhig ... ich werde später wiederkommen, ich werde selbst kommen, wenn ... wenn ich es kann. Ich denke an euch und liebe euch ... Laßt mich! Laßt mich allein! So habe ich schon früher beschlossen ... Ich habe es fest beschlossen ... Was mit mir auch geschieht, ob ich zugrunde gehe oder nicht, jedenfalls will ich allein sein. Vergeßt mich ganz. So ist es besser ... Erkundigt euch nicht nach mir. Wenn es mal nötig ist, werde ich selbst kommen ... oder euch rufen. Vielleicht wird es noch eine Auferstehung geben! ... Jetzt aber, wenn ihr mich liebt, sagt euch von mir los ... Sonst werde ich euch hassen, ich fühle es ... Lebt wohl!«

»Mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna.

Mutter und Schwester waren furchtbar erschrocken; Rasumichin ebenfalls.

»Rodja, Rodja! Versöhne dich mit uns, wir wollen die Früheren sein!« rief die arme Mutter.

Er wandte sich langsam zur Tür und verließ langsam das Zimmer. Dunja holte ihn ein.

»Bruder! Was tust du unserer Mutter an!« flüsterte sie, und ihre Augen funkelten vor Empörung.

Er sah sie starr an.

»Macht nichts, ich werde kommen, ich werde euch besuchen!« murmelte er halblaut, als wäre er sich nicht ganz bewußt, was er sagen wolle, und verließ das Zimmer.

»Gefühlloser, böser Egoist!« rief Dunja aus.

»Er ist verrückt und nicht gefühllos! Er ist geisteskrank! Sehen Sie es denn nicht? Dann sind Sie selbst gefühllos!« flüsterte Rasumichin ihr erregt ins Ohr und druckte ihre Hand fest zusammen.

»Ich komme gleich!« rief er der vor Schreck erstarrten Pulcheria Alexandrowna zu und lief aus dem Zimmer.

Raskolnikow erwartete ihn am Ende des Korridors.

»Ich habe ja gewußt, daß du gleich herauslaufen wirst«, sagte er ihm. »Kehre zu ihnen zurück und bleibe bei ihnen ... Sei auch morgen mit ihnen ... und immer. Ich ... werde vielleicht kommen ... wenn es geht. Lebe wohl!«

Und er verließ ihn, ohne ihm die Hand zu reichen.

»Wo willst du denn hin? Was hast du? Was ist mit dir? Kann man denn so! ...« murmelte der ganz fassungslose Rasumichin.

Raskolnikow blieb noch einmal stehen.

»Ein für allemal: frage mich nicht und über nichts. Ich habe dir nichts zu antworten ... Komme auch nicht zu mir. Vielleicht werde ich herkommen ... Laß mich ... sie aber verlasse nicht! Verstehst du mich?«

Im Korridor war es dunkel; sie standen neben der Lampe. Eine Minute lang sahen sie einander stumm an. Rasumichin erinnerte sich später sein Leben lang dieses Augenblicks. Der brennende und unverwandte Blick Raskolnikows wurde jeden Moment gespannter und drang in seine Seele, in sein Bewußtsein ein. Plötzlich fuhr Rasumichin zusammen. Es war, als wäre zwischen ihnen etwas Seltsames vorbeigeschwebt ... Ein Gedanke, eine leise Ahnung; etwas Schreckliches und Häßliches, das von beiden Seiten plötzlich verstanden wurde ... Rasumichin wurde bleich wie ein Toter.

»Verstehst du jetzt!?« sagte plötzlich Raskolnikow mit krankhaft verzerrtem Gesicht. »Kehre zurück, gehe zu ihnen«, fügte er plötzlich hinzu. Dann drehte er sich schnell um und verließ das Haus.

Ich will nicht beschreiben, wie es an diesem Abend bei Pulcheria Alexandrowna zuging, wie Rasumichin zu ihnen zurückkehrte, wie er sie beruhigte, wie er ihnen schwur, daß man Rodja nach seiner Krankheit Ruhe gönnen müsse, wie er schwur, daß Rodja unbedingt wiederkommen, daß er jeden Tag herkommen würde, daß er sehr, sehr heruntergekommen sei und daß man ihn nicht reizen dürfe; daß er, Rasumichin, auf ihn aufpassen werde, daß er einen guten, den besten Arzt, ein ganzes Konsilium für ihn bringen werde ... Mit einem Wort: Rasumichin wurde von diesem Abend an ihr Sohn und Bruder.

IV

Raskolnikow ging aber direkt zum Hause am Kanal, wo Ssonja wohnte. Es war ein altes, grüngestrichenes zweistöckiges Haus. Er fand nicht ohne Mühe den Hausknecht und bekam von ihm eine recht unbestimmte Auskunft, wo der Schneider Kapernaumow wohne. Er fand in einer Hofecke den Eingang zu einer engen und dunklen Treppe, stieg endlich in den ersten Stock hinauf und gelangte in eine Galerie, die das Stockwerk auf der Hofseite umgab. Während er im Dunkeln herumirrte und sich fragte, wo der Eingang zu Kapernaumow sein könne, ging plötzlich drei Schritte vor ihm eine Tür auf; er griff mechanisch nach ihr.

»Wer ist da?« fragte ängstlich eine weibliche Stimme.

»Das bin ich ... zu Ihnen«, antwortete Raskolnikow und trat in ein winziges Vorzimmer.

Hier stand auf einem durchgedrückten Stuhle ein verbogener Messingleuchter mit einer Kerze.

»Das sind Sie! Mein Gott!« rief Ssonja mit schwacher Stimme und blieb wie angewurzelt stehen.

»Wie kommt man in Ihr Zimmer? Hier?«

Raskolnikow bemühte sich, sie nicht anzusehen, und trat schnell in ihr Zimmer.

Nach einer Minute kam Ssonja mit der Kerze. Sie stellte die Kerze hin und blieb vor ihm stehen, ganz fassungslos, in unbeschreiblicher Erregung und durch seinen unerwarteten Besuch sichtbar erschreckt. Ihr bleiches Gesicht rötete sich plötzlich, und Tränen traten ihr sogar in die Augen ... Sie empfand peinliches Unbehagen, und Scham, und eine süße Wonne ... Raskolnikow wandte sich schnell weg und setzte sich auf den Stuhl vor dem Tisch. Mit einem flüchtigen Blick hatte er schon das ganze Zimmer gestreift.

Es war ein großes, doch außerordentlich niedriges Zimmer, das einzige, das die Kapernaumows vermieteten; die verschlossene Tür in der Wand links führte zu ihnen. An der gegenüberliegenden Wand rechts war noch eine andere Tür, die immer fest verschlossen war. Hinter dieser Tür befand sich die Nachbarwohnung mit einer anderen Nummer. Ssonjas Zimmer glich einer Scheune; es hatte die Form eines unregelmäßigen Vierecks, was ihm etwas Häßliches verlieh. Die Wand mit den auf den Kanal hinausgehenden drei Fenstern durchschnitt das Zimmer irgendwie schief, und eine Ecke war daher sehr spitz und verlief in die Tiefe, so daß man in sie bei der schwachen Beleuchtung nicht mal ordentlich hinausschauen konnte; die andere Ecke war dafür häßlich stumpf. In diesem ganzen großen Zimmer waren fast keine Möbel. In der Ecke rechts befand sich das Bett; neben ihm, näher zur Tür, stand ein Stuhl. An der gleichen Wand, wo das Bett war, standen dicht neben der Tür, die in die fremde Wohnung führte, ein einfacher ungestrichener Tisch mit einer blauen Decke und daneben zwei Rohrstühle. An der entgegengesetzten Wand, in der Nähe des spitzen Winkels, stand eine kleine Kommode aus einfachem Holz, die wie im Leeren verloren aussah. Das war alles, was sich im Zimmer befand. Die gelblichen, schmierigen und abgerissenen Tapeten waren in allen Ecken schwarz geworden; im Winter war es hier sicher feucht und dunstig. Die Armut war ganz offensichtlich, selbst vor dem Bett war kein Vorhang.

Ssonja blickte schweigend auf ihren Gast, der so aufmerksam und ungeniert ihr Zimmer betrachtete, und fing sogar schließlich an, vor Angst zu zittern, als stünde sie vor einem Richter, vor einem, der über ihr Schicksal zu entscheiden hatte.

»Ich komme spät ... Ist schon elf?« fragte er, sie noch immer nicht ansehend.

»Ja, es ist schon elf«, murmelte Ssonja. »Ach ja, gewiß!« beeilte sie sich zu sagen, als wäre es ein Ausweg für sie. »Die Uhr bei den Wirtsleuten hat eben geschlagen ... ich habe es selbst gehört ... Es ist schon elf.«

»Ich komme zu Ihnen zum letztenmal,« fuhr Raskolnikow fort, »und wenn es auch das erste Mal ist, – ich sehe Sie vielleicht nie wieder ...«

»Reisen Sie fort? ...«

»Ich weiß nicht ... es wird sich morgen zeigen ...«

»So kommen Sie morgen nicht zu Katerina Iwanowna?« fragte Ssonja mit bebender Stimme.

»Ich weiß es nicht. Es wird sich morgen früh zeigen ... Aber es handelt sich jetzt nicht darum: ich komme, um Ihnen ein Wort zu sagen ...«

Er richtete auf sie seinen nachdenklichen Blick und merkte plötzlich, daß er saß, während sie vor ihm stand.

»Warum stehen Sie? Setzen Sie sich!« sagte er plötzlich mit veränderter, stiller und freundlicher Stimme.

Sie setzte sich. Er sah sie eine Minute lang freundlich und fast mitleidvoll an.

»Wie mager Sie sind! Was haben Sie für eine Hand! Ganz durchsichtig ist sie. Die Finger wie bei einer Toten.«

Er ergriff ihre Hand. Ssonja lächelte schwach.

»Ich war immer so«, sagte sie.

»Auch als Sie zu Hause lebten?«

»Ja.«

»Nun, selbstverständlich!« sagte er kurz, und sein Gesichtsausdruck und der Ton seiner Stimme veränderten sich wieder.

Er sah sich noch einmal um.

»Sie mieten das Zimmer von Kapernaumow?«

»Ja ...«

»Wohnen die dort hinter der Tür?«

»Ja ... Sie haben das gleiche Zimmer.«

»Wohnen sie alle in einem Zimmer?«

»Ja, in einem.«

»In Ihrem Zimmer würde ich mich nachts fürchten«, bemerkte er düster.

»Die Wirtsleute sind sehr gut, sehr freundlich«, erwiderte Ssonja, die immer noch nicht zu sich gekommen war und die Situation noch nicht erfaßt hatte. »Auch die Möbel und alles ... alles gehört den Wirtsleuten. Und sie sind sehr gute Menschen, und ihre Kinder kommen oft zu mir her ...«

»Die stotternden?«

»Ja ... Er stottert und hinkt auch noch. Auch seine Frau ... Eigentlich stottert er nicht, sondern spricht bloß nicht alles aus. Sie ist aber sehr gut. Er ist ein früherer Leibeigener. Es sind sieben Kinder da ... bloß der älteste stottert, die anderen sind aber einfach krank ... und stottern nicht ... Woher wissen Sie das von ihnen?« fügte sie mit einigem Erstaunen hinzu.

»Mir hat das damals Ihr Vater erzählt. Er hat mir alles von Ihnen erzählt ... Auch, daß Sie um sechs Uhr fortgingen und um neun Uhr wiederkamen, und auch daß Katerina Iwanowna an Ihrem Bette auf den Knien lag.«

Ssonja wurde verlegen.

»Es schien mir heute, als hätte ich ihn gesehen«, flüsterte sie unentschlossen.

»Wen denn?«

»Den Vater. Ich ging über die Straße, dort, nebenan, an der Ecke, gegen zehn, und es war mir, als sähe ich ihn vor mir gehen. Er sah ganz so aus. Ich wollte schon zu Katerina Iwanowna hinaufgehen ...«

»Waren Sie spazieren gegangen?«

»Ja,« flüsterte Ssonja kurz, wieder verlegen und mit gesenkten Augen.

»Katerina Iwanowna hat Sie doch beinahe geschlagen, als Sie noch beim Vater lebten?«

»Ach nein, was fällt Ihnen ein, nein!« sagte Ssonja und blickte ihn erschrocken an.

»Sie lieben sie also?«

»Sie? Aber gewiß!« antwortete Ssonja gedehnt und klagend und faltete plötzlich mit schmerzlichem Ausdruck die Hände. »Ach, Sie kennen sie nicht ... Wenn Sie nur wüßten, sie ist doch ganz wie ein Kind ... Sie ist ja geistesgestört ... vor Kummer. Wie klug sie aber war ... und wie großmütig ... wie gut! Sie wissen nichts, nichts ... ach!«

Ssonja sagte dies wie in Verzweiflung, erregt, schmerzvoll und händeringend. Ihre bleichen Wangen glühten wieder, in ihren Augen drückte sich eine Qual aus. Es war ihr anzusehen, daß er in ihr vieles aufgewühlt hatte, daß sie furchtbar gern etwas aussprechen, sagen, für die Stiefmutter eintreten wollte. Ein unersättlichesMitleid, wenn man so sagen darf, drückte sich plötzlich in ihren Gesichtszügen aus.

»Die soll mich geschlagen haben! Was sagen Sie bloß! Mein Gott, sie soll mich schlagen! Und wenn sie mich auch geschlagen hätte, was wäre denn dabei? Sie wissen nichts, gar nichts ... Sie ist so unglücklich, ach, wie unglücklich! Und krank ... Sie sucht Gerechtigkeit ... Sie ist rein. Sie glaubt so fest, daß in allen Dingen Gerechtigkeit sein muß, und sie verlangt sie ... Man kann sie noch so quälen, sie wird nichts Ungerechtes tun. Sie merkt selbst nicht, daß im Leben nicht immer alles gerecht sein kann, und sie ist so gereizt ... Wie ein Kind, wie ein Kind! Sie ist gerecht, sie ist gerecht!«

»Und was wird mit Ihnen geschehen?«

Ssonja sah ihn fragend an.

»Sie haben sie jetzt nun ganz auf dem Halse. Allerdings war es auch früher so, und der Verstorbene kam sogar zu Ihnen, um Geld für einen Schnaps zu bitten. Nun, und was wird jetzt sein?«

»Ich weiß nicht«, versetzte Ssonja traurig.

»Bleiben die dort?«

»Ich weiß nicht, sie schulden noch für die Wohnung; aber ich habe gehört, die Wirtin hätte heute gesagt, daß sie ihr kündigen will, und Katerina Iwanowna sagt, daß sie selbst keinen Augenblick länger in der Wohnung bleiben will.«

»Warum tut sie so stolz? Baut sie auf Sie?«

»Ach, nein, sprechen Sie nicht so! ... Wir leben sowieso vom gleichen Geld.« Ssonja regte sich wieder auf und zürnte sogar; es war genau so, wie wenn ein Kanarienvogel oder ein anderes kleines Vögelchen in Wut gerät. »Was soll sie nun machen? Was, was soll sie tun?« fragte sie hitzig und erregt. »Und wieviel, wieviel hat sie heute geweint! Sie ist ganz verstört, haben Sie es noch nicht bemerkt? Sie ist ganz verstört; bald regt sie sich wie ein Kind darüber auf, daß morgen alles anständig sei, der Imbiß und das übrige ... bald ringt sie die Hände, spuckt Blut, weint, schlägt plötzlich die Stirne gegen die Wand wie in Verzweiflung. Dann tröstet sie sich wieder, sie hofft immer auf Sie: sie sagt, daß Sie jetzt ihr Helfer seien; daß sie sich irgendwo etwas Geld leihen und mit mir in ihre Heimatstadt reisen wird; dort will sie ein Pensionat für junge Mädchen aus guten Familien gründen und mich als Aufseherin anstellen; dann wird für uns ein neues schönes Leben beginnen. Und sie küßt, sie umarmt und tröstet mich –, und wie fest sie an alle diese Phantasien glaubt! Nun, kann man ihr denn widersprechen? Und heute wäscht, scheuert und flickt sie den ganzen Tag, hat den Waschtrog ganz allein mit ihrer schwachen Kraft ins Zimmer hereingeschleppt, da ging ihr aber der Atem aus, und sie fiel aufs Bett. Und morgens gingen wir zusammen in die Läden, um Poljetschka und Lena neue Schuhchen zu kaufen, denn die alten waren ganz auseinandergefallen; doch das Geld reichte uns nicht, um die Rechnung zu bezahlen, es fehlte uns noch sehr viel dazu; sie hat aber so hübsche kleine Schuhchen ausgesucht, denn sie hat Geschmack, Sie wissen es nicht ... Und sie fing im Laden, vor dem Kaufmann zu weinen an, weil das Geld ihr nicht gereicht hatte ... Es war ein Jammer, es zu sehen.«

»Nun, nach alledem ist es begreiflich, daß Sie ... so leben«, sagte Raskolnikow mit bitterem Lächeln.

»Und haben Sie denn kein Mitleid? Gar kein Mitleid?« fuhr Ssonja wieder auf. »Ich weiß ja, Sie haben selbst Ihr Letztes hergegeben, noch ehe Sie überhaupt etwas gesehen haben. Und wenn Sie es erst gesehen hätten, mein Gott! Und wie oft, wie oft habe ich sie zu Tränen gebracht! Erst in der vorigen Woche ... Ach, ich! ... Bloß eine Woche vor seinem Tode. Es war grausam von mir! Und wie oft, wie oft habe ich es schon getan. Ach, wie weh tat es mir, heute den ganzen Tag daran zu denken!«

Als Ssonja das sagte, rang sie in schmerzlicher Erinnerung die Hände.

»Sie wollen grausam sein?«

»Ja, ich, ich! Ich kam damals hin,« fuhr sie weinend fort, »und der Verstorbene sagte mir: ›Lies mir was vor, Ssonja, mein Kopf tut mir so weh ... hier ist ein Buch ...‹ Er hatte irgendein Buch von Andrej Ssemjonowitsch Lebesjatnikow; der wohnt hier und hat immer solch komische Bücher. Ich aber sagte: ›Ich muß gehen‹, und las ihm nichts vor; ich war aber hauptsächlich darum zu ihnen gekommen, um Katerina Iwanowna meine neuen Kragen zu zeigen; die Händlerin Lisaweta hatte mir Kragen und Manschetten zu billigem Preise gebracht, hübsche, ganz neue Sachen, mit einem Muster. Und Katerina Iwanowna gefielen sie sehr gut: sie legte einen an, besah sich im Spiegel, und er gefiel ihr sehr, sehr gut. ›Schenk mir so einen Kragen, Ssonja,‹ sagte sie, ›bitte!‹ Sie sagte sogar ›bitte‹ – so gut gefiel er ihr. Wann soll sie aber solche Kragen tragen? Sie erinnerte sich eben der alten, glücklichen Zeiten. Sie besieht sich im Spiegel und freut sich; sie hat aber gar keine Kleider, gar keine Sachen, so viele Jahre schon! Niemals bittet sie aber jemand um etwas; so stolz ist sie, eher gibt sie selbst ihr Letztes weg, aber diesmal bat sie mich: so sehr gefiel ihr der Kragen! Mir aber tat es leid, ihr den Kragen zu schenken. ›Was brauchen Sie ihn, Katerina Iwanowna?‹ Wörtlich so sagte ich ihr: ›Was brauchen Sie ihn?‹ Das hätte ich nicht sagen sollen! Sie sah mich so an und wurde so traurig, weil ich es ihr abgeschlagen hatte, und es war so ein Jammer, sie anzusehen ... Nicht des Kragens wegen war sie so traurig, sondern weil ich ihn ihr abgeschlagen hatte, das sah ich. Ach, wenn ich das alles ändern, wenn ich meine Worte zurücknehmen könnte ... Ach, ich ... Aber was soll ich davon sprechen? Ihnen ist es doch gleichgültig!«

»Haben Sie die Händlerin Lisaweta gekannt?«

»Ja ... Haben Sie sie denn auch gekannt?« fragte Ssonja mit einigem Erstaunen.

»Katerina Iwanowna hat die Schwindsucht, es steht sehr schlimm um sie, sie wird bald sterben«, sagte Raskolnikow nach einem Schweigen, ohne ihre Frage beantwortet zu haben.

»Ach, nein, nein, nein!«

Und Ssonja ergriff mit unbewußter Gebärde seine beiden Hände, als flehte sie ihn an, daß es nicht so schlimm sei.

»Es ist doch besser, wenn sie stirbt.«

»Nein, es ist nicht besser, nicht besser, gar nicht besser!« wiederholte sie erschrocken, halb unbewußt.

»Und die Kinder? Wo wollen Sie denn die hintun, wenn nicht zu sich nehmen?«

»Ach, ich weiß es nicht!« rief Ssonja fast in Verzweiflung und griff sich an den Kopf.

Es war ihr anzusehen, daß dieser Gedanke ihr schon oft gekommen war und daß er ihn in ihr wieder aufgewühlt hatte.

»Nun, und wenn Sie noch bei Katerina Iwanownas Lebzeiten krank werden und ins Krankenhaus kommen, was wird dann sein?« drang er erbarmungslos in sie ein.

»Ach was sagen Sie, was sagen Sie! Das kann nicht sein! ...«

Und Ssonjas Gesicht verzerrte sich vor furchtbarem Schrecken.

»Warum kann es nicht sein?« fuhr Raskolnikow mit trockenem Lächeln fort. »Sie sind doch nicht gefeit! Was wird dann mit ihnen geschehen? Sie werden alle zusammen auf die Straße gehen, sie wird husten und betteln und irgendwo mit dem Kopf an eine Mauer schlagen, wie heute, und die Kinder werden weinen ... Dann wird sie umfallen, man wird sie aufs Revier und dann ins Krankenhaus schaffen, sie wird sterben, und die Kinder ...«

»Ach, nein! ... Gott wird es nicht zulassen!« entrang es sich plötzlich der zusammengepreßten Brust Ssonjas.

Sie hörte zu, sah ihn dabei flehend an und faltete in stummem Gebet die Hände, als hinge alles von ihm ab.

Raskolnikow stand auf und begann auf und ab zu gehen. Es verging eine Minute. Ssonja stand mit gesenktem Kopf und herabhängenden Armen, in schrecklichem Grame da.

»Kann man denn nicht sparen? Etwas auf die Seite tun, um es in der Not zu haben?« fragte er, plötzlich vor ihr stehenbleibend.

»Nein«, flüsterte Ssonja.

»Natürlich, nein! Haben Sie es schon versucht?« fügte er beinahe spöttisch hinzu.

»Ich habe es versucht.«

»Und es gelang Ihnen nicht! Na, natürlich! Was ist da noch zu fragen?«

Und er ging wieder durchs Zimmer. Es verstrich noch eine Minute.

»Sie nehmen wohl nicht jeden Tag was ein?«

Ssonja wurde noch mehr verlegen, und ihr Gesicht rötete sich wieder.

»Nein«, flüsterte sie mit schmerzlicher Anstrengung.

»Poljetschka wird es sicher ebenso gehen«, sagte er plötzlich.

»Nein! Nein! Es kann nicht sein! Nein!« schrie Ssonja laut, ganz verzweifelt, als hätte man sie mit einem Messer verwundet. »Gott, Gott wird diesen Schrecken nicht zulassen! ...«

»Bei anderen läßt er es doch zu.«

»Nein, nein! Gott wird sie schützen, Gott! ...« wiederholte sie ganz außer sich.

»Ja, vielleicht gibt es gar keinen Gott«, antwortete Raskolnikow mit Schadenfreude und sah sie lachend an.

Ssonjas Gesicht veränderte sich furchtbar und verzerrte sich wie in einem Krampfe. Mit einem unsagbaren Vorwurf sah sie ihn an, wollte schon etwas sagen, konnte aber kein Wort herausbringen und begann nur bitterlich zu weinen, das Gesicht mit den Händen bedeckend.

»Sie sagen, Katerina Iwanowna werde verrückt; Sie werden selbst verrückt«, sagte er nach einem Schweigen.

Es vergingen fünf Minuten. Er ging immer schweigend auf und ab und sah sie nicht an. Endlich ging er auf sie zu, seine Augen funkelten. Er ergriff sie mit beiden Händen an den Schultern und sah ihr gerade ins weinende Gesicht. Sein Blick war trocken, fieberhaft, durchdringend, seine Lippen bebten ... Plötzlich beugte er sich ganz nieder, warf sich zu Boden und küßte ihren Fuß. Ssonja taumelte entsetzt vor ihm zurück, wie vor einem Verrückten. Er sah wirklich ganz wie ein Verrückter aus.

»Was tun Sie, was tun Sie? Vor mir!« murmelte sie erbleichend, und ihr Herz krampfte sich plötzlich schmerzhaft zusammen.

Er erhob sich bleich wie der Tod.

»Ich habe mich nicht vor dir verbeugt, ich habe mich vor dem ganzen menschlichen Leid verbeugt«, sagte er wie wahnsinnig und ging zum Fenster. »Hör mal,« fügte er hinzu, als er nach einem Augenblick zu ihr zurückkehrte, »ich habe vorhin einem Menschen, der mich beleidigt hat, gesagt, daß er deinen kleinen Finger nicht wert sei ... und daß ich meiner Schwester heute eine Ehre erwiesen habe, indem ich sie neben dich setzte!«

»Ach, wozu haben Sie das gesagt! Und war sie dabei?« rief Ssonja erschrocken. »Neben mir zu sitzen – eine Ehre! Ich bin doch ... ehrlos ... Ach, was haben Sie gesagt!«

»Ich habe das von dir nicht wegen der Ehrlosigkeit und der Sünde gesagt, sondern wegen deines großen Leides. Daß du aber eine große Sünderin bist, das stimmt«, fügte er begeistert hinzu. »Am meisten bist du aber darum Sünderin, weil du dich umsonstgetötet und verkauft hast. Ob das entsetzlich ist! Ob das kein Grauen ist, daß du in diesem Schmutze lebst, den du so haßt, und zugleich weißt (man braucht nur die Augen zu öffnen), daß du damit niemand hilfst und niemand rettest! So sage mir doch endlich,« sagte er beinahe rasend, »wie bloß diese Schande und Gemeinheit neben den entgegengesetzten, heiligen Gefühlen in dir wohnen können?! ... Es wäre doch gerechter, tausendmal gerechter und vernünftiger, sich kopfüber ins Wasser zu stürzen und allem auf einmal ein Ende zu machen!«

»Und was wird mit ihnen geschehen?« fragte Ssonja mit schwacher Stimme und blickte ihn gequält an; zugleich schien sie aber über seinen Vorschlag gar nicht erstaunt.

Raskolnikow blickte sie eigentümlich an.

Er hatte in ihrem Blicke alles gelesen. Also hatte sie auch schon selbst diesen Gedanken gehabt. Vielleicht hatte sie in der Verzweiflung schon oft und ernsthaft überlegt, wie sie diesem Leben schnell ein Ende machen könnte, – so ernsthaft, daß sie jetzt über seinen Vorschlag fast gar nicht erstaunt war. Sie hatte sogar die Grausamkeit seiner Worte nicht bemerkt (den Sinn seiner Vorwürfe und seine eigentümliche Ansicht über ihre Schande hatte sie natürlich auch nicht begriffen, das konnte er sehen). Er aber begriff vollkommen, bis zu welchem grauenhaften Schmerz sie schon seit langem der Gedanke an ihre ehrlose und schmachvolle Lage gequält hatte. Was konnte aber, fragte er sich, sie in ihrem Entschluß, allem auf einmal ein Ende zu machen, aufhalten? Und jetzt erst begriff er vollkommen, was für sie diese kleinen armen Waisenkinder, diese unglückliche, halbverrückte Katerina Iwanowna mit ihrer Schwindsucht und mit ihrem Kopfandiewandschlagen bedeuteten.

Und doch war es ihm klar, daß Ssonja mit ihrem Charakter und der Bildung, die sie immerhin genossen hatte, unmöglich in dieser Lage bleiben durfte. Doch war es ihm noch immer unbegreiflich: Wie hatte sie so lange schon diese Lage ertragen können, ohne verrückt zu werden, wenn sie schon nicht die Kraft besaß, ins Wasser zu gehen? Er begriff natürlich, daß Ssonjas Lage in der Gesellschaft eine zufällige war, wenn auch leider bei weitem keine vereinzelte und ausschließliche. Doch diese Zufälligkeit, ihre Bildung und ihr ganzes vorheriges Leben hätten sie doch sofort beim ersten Schritt auf diesem häßlichen Wege töten müssen. Was stützte sie denn? Doch nicht das Laster? Diese ganze Schande hatte sie offenbar nur mechanisch berührt; die echte Verderbtheit war noch mit keinem Tropfen in ihr Herz gedrungen; das sah er; sie stand wie durchsichtig vor ihm ...

– Sie hat drei Wege vor sich – dachte er –, entweder in den Kanal zu springen, oder ins Irrenhaus zu kommen, oder ... oder sich schließlich ganz ins Laster, das den Verstand betäubt und das Herz versteinert, zu stürzen. –

Der letzte Gedanke war ihm am widerwärtigsten; er war aber schon skeptisch, er war jung, pflegte abstrakt zu denken und war folglich grausam; darum mußte er glauben, daß der letzte Ausweg, das heißt das Laster, der wahrscheinlichste sei.

– Aber ist es denn wirklich wahr?! – rief er innerlich aus, – wird auch dieses Geschöpf, das noch die Reinheit des Geistes bewahrt hat, sich bewußt in diese schreckliche, stinkende Kloake hineinziehen lassen?! Hat denn dieses Hineinziehen schon angefangen, hat sie es bisher vielleicht nur darum aushalten können, weil das Laster ihr nicht mehr so abscheulich schien? Nein, nein, es kann nicht sein! – wiederholte er vor sich hin, wie Ssonja früher. – Nein, vom Kanal hat sie bisher der Gedanke an die Sünde zurückgehalten und das Unglück jener... Und wenn sie bisher noch nicht verrückt geworden ist ... Wer sagt aber, daß sie es noch nicht ist? Ist sie denn bei klarem Verstand? Kann man denn so sprechen, wie sie spricht? Kann man denn bei klarem Verstand so urteilen, wie sie urteilt? Kann man denn so über dem Abgrund, über der stinkenden Kloake, in die man schon hineingezogen wird, sitzen, abwehrend mit den Händen winken und sich die Ohren zuhalten, wenn man zu ihr von der Gefahr spricht? Wartet sie vielleicht auf ein Wunder? Es ist sicher so. Sind das nicht schon Anzeichen von Wahnsinn? –

Er klammerte sich hartnäckig an diesen Gedanken. Dieser Ausweg erschien ihm sogar besser als jeder andere. Er fing an, sie aufmerksam zu betrachten.

»Also betest du viel zu Gott, Ssonja?« fragte er sie.

Ssonja schwieg. Er stand neben ihr und wartete auf Antwort.

»Was wäre ich denn ohne Gott?« flüsterte sie schnell und energisch, indem sie ihn flüchtig mit funkelnden Augen ansah und seine Hand fest drückte.

– Gewiß ist es so! – dachte er.

»Und was tut dir Gott dafür?« fragte er sie weiter aus.

Ssonja schwieg lange, als wüßte sie keine Antwort. Ihre schwache Brust hob und senkte sich vor Erregung.

»Schweigen Sie! Fragen Sie nicht! Sie sind es nicht wert ...« rief sie plötzlich und sah ihn streng und zornig an.

– Es ist sicher so! Es ist sicher so! – wiederholte er hartnäckig vor sich hin.

»Alles tut er!« flüsterte sie schnell und senkte wieder die Augen.

– Das ist der Ausweg! Das ist die Erklärung des Ausweges! – sagte er sich, indem er sie mit gierigem Interesse betrachtete.

Mit einem neuen, seltsamen, fast krankhaften Gefühl betrachtete er dieses bleiche, magere, unregelmäßige, eckige Gesichtchen, diese sanften blauen Augen, die in solchem Feuer, in so strengem, energischem Gefühl zu funkeln verstanden, diesen kleinen Körper, der noch immer vor Empörung und Zorn bebte, und dies alles erschien ihm immer sonderbarer, beinahe unmöglich. – Sie ist wahnsinnig, eine Närrin in Christo! – wiederholte er vor sich hin.

Auf der Kommode lag ein Buch. So oft er im Auf-und Abgehen vorbeikam, sah er es; jetzt nahm er es in die Hand. Es war ein Neues Testament in russischer Übersetzung. Das Buch war alt und gebraucht, in Leder gebunden.

»Wo hast du es her?« rief er ihr vom anderen Ende des Zimmers zu.

Sie stand noch immer auf dem gleichen Fleck, drei Schritte vom Tisch.

»Man hat es mir gebracht«, antwortete sie unwillig und ohne ihn anzublicken.

»Wer hat es gebracht?«

»Lisaweta hat es gebracht, ich habe sie darum gebeten.«

– Lisaweta! Seltsam! – dachte er.

Bei Ssonja erschien ihm alles von Augenblick zu Augenblick sonderbarer und wunderlicher. Er ging mit dem Buch zur Kerze und begann darin zu blättern.

»Wo steht hier die Geschichte von Lazarus?« fragte er.

Ssonja blickte starr zu Boden und antwortete nicht. Sie stand seitwärts vom Tisch.

»Wo steht es von der Auferstehung des Lazarus? Such es mir, Ssonja.«

Sie streifte ihn mit einem Blick.

»Sie suchen nicht an richtiger Stelle ... es steht im vierten Evangelium ...« flüsterte sie streng, ohne sich ihm zu nähern.

»Such es und lies mir vor«, sagte er. Er setzte sich, legte die Ellbogen auf den Tisch, stützte den Kopf in eine Hand, richtete den ernsten Blick zur Seite und schickte sich an, zuzuhören.

– Nach drei Wochen ist sie im Irrenhause! Ich glaube, ich komme auch selbst hin, wenn es nicht noch schlimmer wird – murmelte er vor sich hin.

Nachdem Ssonja den sonderbaren Wunsch Raskolnikows mißtrauisch angehört hatte, trat sie unentschlossen an den Tisch. Sie nahm aber das Buch in die Hand.

»Haben Sie es denn nicht gelesen?« fragte sie ihn, indem sie ihn über den Tisch finster ansah.

Ihre Stimme klang immer strenger und ernster.

»Vor langer Zeit ... Als ich noch lernte. Lies!«

»Haben Sie es denn nicht in der Kirche gehört?«

»Ich ... ich ging nie zur Kirche. Gehst du oft hin?«

»N-ein«, flüsterte Ssonja.

Raskolnikow lächelte.

»Ich verstehe ... Wirst also auch morgen zur Beerdigung des Vaters nicht hingehen?«

»Ich werde gehen. Ich war auch in der vorigen Woche da ... habe eine Totenmesse lesen lassen.«

»Für wen?«

»Für Lisaweta. Man hat sie mit einem Beil erschlagen.«

Seine Nerven wurden immer gereizter. Der Kopf begann ihm zu schwindeln.

»Warst du mit Lisaweta befreundet?«

»Ja ... Sie war gerecht ... sie besuchte mich ... selten ... es ging nicht gut ... Wir lasen zusammen und ... sprachen. Sie wird Gott schauen.«

So seltsam klangen diese aus den Büchern geschöpften Worte, und diese Neuigkeit: sie hatte mit Lisaweta irgendwelche geheimnisvolle Zusammenkünfte gehabt, und beide waren wahnsinnig, Närrinnen in Christo.

– Hier kann man selbst verrückt werden! Es ist ansteckend! – dachte er.

»Lies!« rief er plötzlich trotzig und gereizt.

Ssonja schwankte noch immer. Ihr Herz klopfte. Sie hatte keinen Mut, ihm vorzulesen. Fast mit Qual sah er die »unglückliche Verrückte« an.

»Warum wollen Sie es? Sie glauben doch nicht! ...« flüsterte sie leise und um Atem ringend.

»Lies! Ich will es so!« bestand er. »Du hast doch der Lisaweta vorgelesen.«

Ssonja schlug das Buch auf und fand die Stelle. Ihre Hände zitterten, ihre Stimme versagte. Zweimal fing sie an und stockte immer beim ersten Wort.

»Es lag aber einer krank mit Namen Lazarus von Bethanien ...« sagte sie endlich mit Anstrengung, doch beim dritten Wort erzitterte plötzlich ihre Stimme und riß wie eine überspannte Saite. Der Atem stockte, und die Brust schnürte sich zusammen.

Raskolnikow begriff zum Teil, warum Ssonja sich nicht entschließen konnte, ihm vorzulesen, und je mehr er es begriff, um so roher und gereizter bestand er darauf. Er begriff zu gut, wie schwer es ihr jetzt fiel, das Eigenezu verraten und zu enthüllen. Er begriff, daß diese Gefühle tatsächlich ihr wahres Geheimnis bildeten, daß sie vielleicht schon seit langem, seit der Kindheit, schon in der Familie neben dem unglücklichen Vater und der vor Kummer wahnsinnig gewordenen Stiefmutter, unter den hungrigen Kindern, den häßlichen Schreien und Vorwürfen gehegt hatte. Zugleich erfuhr er aber jetzt, erfuhr es ganz sicher, daß sie, so sehr sie sich auch grämte und etwas fürchtete, als sie jetzt zu lesen begann, dabei doch eine schmerzvolle Lust empfand, ihm vorzulesen, trotz ihres Grams und trotz aller Befürchtungen; und gerade ihm, damit er es höre, und unbedingt jetzt– was später auch kommen mochte! ... Er las es in ihren Augen, er erkannte es an ihrer verzückten Erregung! ... Sie überwand sich, überwand den Krampf im Halse, der am Anfang des Verses ihr die Stimme benommen hatte, und las weiter im elften Kapitel des Evangeliums Johannis. Und so kam sie bis zum 19. Vers:

»Und viel Juden waren zu Martha und Maria gekommen, sie zu trösten über ihren Bruder. Als Martha nun hörte, daß Jesus kommt, gehet sie ihm entgegen; Maria aber blieb daheim sitzen. Da sprach Martha zu Jesus: Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben; aber ich weiß auch noch, das, was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben.«

Hier hielt sie wieder inne, da sie schamhaft ahnte, daß ihre Stimme wieder zittern und versagen würde ...

»Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder soll auferstehen. Martha spricht zu ihm: Ich weiß wohl, daß er aufstehen wird in der Auferstehung am Jüngsten Tage. Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubet, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? Sie spricht zu ihm (Ssonja holte wie mit Schmerz Atem und las deutlich und mit Kraft, als verkündete sie es selbst allen Ohren): Herr, ja! Ich glaube, daß du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen ist.«

Sie hielt wieder inne, sah ihnschnell an, überwand sich aber und las weiter. Raskolnikow saß und hörte zu, ohne sich zu rühren, ohne sich umzuwenden, die Ellbogen auf dem Tisch, den Blick auf die Seite gerichtet. So kamen sie zum 32. Vers:

»Als nun Maria kam, da Jesus war, und sah ihn, fiel sie zu seinen Füßen und sprach zu ihm: Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. Als Jesus sie sah weinen und die Juden auch weinen, die mit ihr kamen, ergrimmte er im Geist und betrübte sich selbst und sprach: Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie sprachen zu ihm: Herr, komm und sieh es. Und Jesus gingen die Augen über. Da sprachen die Juden: Siehe, wie hat er ihn so lieb gehabt! Etliche aber unter ihnen sprachen: Konnte, der dem Blinden die Augen aufgetan hat, nicht verschaffen, daß auch dieser nicht stürbe?«

Raskolnikow wandte sich zu ihr um und sah sie erregt an. Ja, so ist es! Sie zitterte schon ganz in wirklichem, echtem Fieber. Er hatte es erwartet. Sie näherte sich der Stelle vom wirklichen und unerhörten Wunder, und das Gefühl des größten Triumphes umfing sie ganz. Ihre Stimme klang hell wie Metall; Triumph und Freude klangen in ihr und machten sie stark. Die Zeilen vermischten sich vor ihr, denn es wurde ihr dunkel vor den Augen, aber sie kannte auswendig, was sie las. Bei dem letzten Vers: »Konnte, der dem Blinden die Augen aufgetan hat ...« dämpfte sie die Stimme und gab heiß und leidenschaftlich den Zweifel, Vorwurf und das Schmähen der ungläubigen, blinden Juden wieder, die gleich, wie vom Donner getroffen, niederfallen und schluchzen und glauben werden ... Auch er, erist blind und ungläubig, auch er wird es gleich hören – und glauben – ja! jetzt gleich, jetzt gleich – sagte sie sich, und sie zitterte in freudiger Erregung.

»Da ergrimmte Jesus abermals in ihm selbst, und kam zum Grabe. Es war aber eine Kluft, und ein Stein darauf gelegt. Jesus sprach: Hebt den Stein ab! Spricht zu ihm Martha, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er stinkt schon, denn er ist vierTage gelegen.«

Sie betonte energisch das Wort vier.

»Jesus spricht zu ihr: Hab ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest, du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen? Da huben sie den Stein ab, da der Verstorbene lag. Jesus aber hub seine Augen empor und sprach: Vater, ich danke dir, daß du mich erhöret hast; doch ich weiß, daß du mich allezeit hörest; aber um des Volks willen, das umherstehet, sage ich's, daß sie glauben, du habest mich gesandt. Da er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! Und der Verstorbene kam heraus« (laut und begeistert las sie es, zitternd und erschauernd, als sähe sie es mit eigenen Augen), »gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Angesicht verhüllet mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löset ihn auf und lasset ihn gehen.«

» Viel nun der Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn

Weiter las sie nicht und konnte auch nicht lesen. Sie schloß das Buch und stand schnell vom Stuhle auf.

»Das ist alles über die Auferstehung des Lazarus«, flüsterte sie kurz und streng und blieb unbeweglich stehen, zur Seite blickend, als wagte sie nicht oder schämte sich, die Augen zu ihm zu erheben. Sie zitterte noch immer wie im Fieber. Der Lichtstumpf im verbogenen Leuchter war schon längst heruntergebrannt und flackerte, sein trübes Licht über dieses armselige Zimmer und den Mörder und die Dirne ergießend, die sich so seltsam beim Lesen des ewigen Buches zusammengefunden hatten. Es vergingen noch fünf Minuten oder mehr.

»Ich bin gekommen, um über etwas Wichtiges zu sprechen«, sagte plötzlich Raskolnikow laut und düster. Er stand auf und ging auf Ssonja zu.

Sie erhob schweigend die Augen zu ihm. Sein Blick war besonders streng, und eine wilde Entschlossenheit drückte sich in seinen Augen aus.

»Ich habe heute die Meinigen verlassen,« sagte er, »Mutter und Schwester ... Ich gehe nicht mehr zu ihnen ... Ich habe alles zerrissen.«

»Warum?« fragte Ssonja ganz bestürzt.

Ihre Begegnung mit seiner Mutter und der Schwester am Morgen hatte auf sie einen ungewöhnlichen Eindruck gemacht, über den sie sich selbst nicht klar war. Die Nachricht vom Bruche mit ihnen hörte sie fast mit Entsetzen.

»Jetzt habe ich dich allein«, fügte er hinzu. »Laß uns zusammen gehen ... Ich bin zu dir gekommen. Wir sind zusammen verdammt und wollen nun auch zusammen gehen!«

Seine Augen funkelten. – Wie ein Verrückter! – dachte nun Ssonja ihrerseits.

»Wohin gehen?« fragte sie erschrocken und wich unwillkürlich einen Schritt zurück.

»Woher soll ich's wissen? Ich weiß nur, daß wir den gleichen Weg haben, das weiß ich sicher, und sonst nichts. Das gleiche Ziel!«

Sie sah ihn an und verstand nicht. Sie begriff nur, daß er entsetzlich, grenzenlos unglücklich war.

»Keiner von ihnen wird etwas verstehen, wenn du zu ihnen sprichst,« fuhr er fort, »ich aber habe dich verstanden. Ich brauche dich, und darum bin ich zu dir gekommen.«

»Ich verstehe nicht ...« flüsterte Ssonja.

»Du wirst später verstehen. Hast du denn nicht dasselbe getan? Auch du hast es übertreten ... hast es übertreten können ... Du hast Hand an dich gelegt, du hast ein Leben zugrunde gerichtet ... deinLeben (es ist dasselbe!). Du hättest von Geist und Verstand leben können, du wirst aber auf dem Heumarkte enden ... Du wirst es aber nicht aushalten können, und wenn du alleinbleibst, wirst du den Verstand verlieren wie ich auch. Du bist auch jetzt schon wie wahnsinnig: also müssen wir zusammen gehen, den gleichen Weg! Laß uns gehen!«

»Warum? Wozu das alles?« sagte Ssonja, durch seine Worte seltsam tief bewegt.

»Wozu? Weil es nicht so bleiben darf – dazu! Man muß doch endlich ernst und offen überlegen, statt wie ein Kind zu weinen und zu klagen, daß Gott es nicht zulassen werde! Nun, was wird sein, wenn man dich morgen tatsächlich ins Krankenhaus schleppt? Jene ist nicht bei Verstand und schwindsüchtig, sie wird bald sterben. Und die Kinder? Wird nicht auch Poljetschka zugrundegehen? Hast du denn hier an den Straßenecken nicht die Kinder gesehen, die von ihren Müttern zum Betteln geschickt werden? Ich habe mich erkundigt, wo diese Mütter wohnen und wie sie leben. Dort können die Kinder nicht Kinder bleiben. Dort ist der Siebenjährige verdorben und ein Dieb. Die Kinder sind aber Abbilder Christi: ›Ihrer ist das Himmelreich.‹ Er hat geboten, sie zu achten und zu lieben, sie sind die künftige Menschheit ...«

»Was, was soll man tun?« fragte Ssonja, indem sie hysterisch weinte und die Hände rang.

»Was man tun soll? Was nötig ist, ein für allemal brechen und sonst nichts: und das Leid auf sich nehmen! Was? Du verstehst es nicht? Wirst es später verstehen ... Die Freiheit und die Macht, vor allen Dingen die Macht! Die Macht über alle zitternde Kreatur und über den ganzen Ameisenhaufen ... Das ist das Ziel! Begreife das! Diese Worte gebe ich dir auf den Weg! Vielleicht spreche ich jetzt zum letztenmal mit dir. Wenn ich morgen nicht komme, wirst du selbst alles hören, und dann gedenke meiner heutigen Worte. Und irgendwann, später, nach Jahren, wenn du noch länger gelebt hast, wirst du vielleicht begreifen, was sie bedeuteten. Wenn ich aber morgen komme, so werde ich dir sagen, wer Lisaweta ermordet hat. Lebe wohl!«

Ssonja erbebte vor Schreck am ganzen Leibe.

»Wissen Sie denn, wer sie ermordet hat?« fragte sie, vor Entsetzen erschauernd und ihn wie wahnsinnig anblickend.

»Ich weiß es und werde es sagen ... Dir, nur dir allein. Ich habe dich auserwählt. Ich werde nicht zu dir kommen, um um Verzeihung zu bitten, sondern ich werde es einfach sagen. Ich habe dich schon längst auserwählt, um es dir zu sagen; damals noch, als dein Vater mir von dir erzählte und als Lisaweta noch lebte, dachte ich es mir. Lebe wohl! Gib mir nicht die Hand. Morgen!«

Er ging hinaus. Ssonja sah ihm wie einem Wahnsinnigen nach; sie war aber auch selbst wie wahnsinnig, und sie fühlte es. Der Kopf schwindelte ihr. – Mein Gott! Wie kann er wissen, wer Lisaweta ermordet hat? Was bedeuten diese Worte? Es ist so schrecklich! – Aber der Gedankekam ihr nicht in den Sinn. Nein, er wollte nicht kommen! ... – Oh, er muß furchtbar unglücklich sein! ... Er hat Mutter und Schwester verlassen. Warum? Was ist geschehen? Und was hat er im Sinn? Was hat er ihr gesagt? Er hat ihr den Fuß geküßt und gesagt ... gesagt (ja, er hat es deutlich gesagt), daß er ... ohne sie nicht mehr leben kann ... O Gott! –

Ssonja verbrachte die ganze Nacht in Fieber und Fieberträumen. Sie sprang zuweilen auf, weinte, rang die Hände und verfiel dann wieder in fieberhafte Träume. Sie träumte von Poljetschka, Katerina Iwanowna, Lisaweta, von der Vorlesung aus dem Evangelium und von ihm ... von ihm mit dem bleichen Gesicht und den brennenden Augen ... Er küßt ihr die Füße, weint ... O Gott!

Hinter der Tür rechts, hinter derselben Tür, die Ssonjas Wohnung von der Wohnung der Gertrude Karlowna Rößlich trennte, befand sich ein seit langem leerstehendes Durchgangszimmer, das zur Wohnung der Frau Rößlich gehörte und das zu vermieten war, wie es auch die am Tore und an den Scheiben der auf den Kanal hinausgehenden Fenster angeklebten Zettel besagten. Ssonja war seit langem gewöhnt, dieses Zimmer für unbewohnt zu halten. Und doch hatte während der ganzen Zeit an der Tür des leeren Zimmers Herr Swidrigailow gestanden und heimlich zugehört. Als Raskolnikow fortgegangen war, stand er noch eine Weile sinnend da, ging dann auf den Fußspitzen in sein Zimmer, das neben dem leeren lag, holte einen Stuhl und brachte ihn leise zur Tür, die in Ssonjas Zimmer führte. Das Gespräch erschien ihm sehr unterhaltend und bedeutungsvoll, es gefiel ihm sehr gut –, es gefiel ihm so sehr, daß er den Stuhl hinbrachte, um in Zukunft, zum Beispiel morgen, sich nicht wieder der Unannehmlichkeit auszusetzen, eine ganze Stunde stehen zu müssen, sondern um sich komfortabler einzurichten, um in jeder Beziehung volle Befriedigung zu finden.

V

Als Raskolnikow am nächsten Morgen punkt elf Uhr in das Haus des -schen Polizeireviers, in die Abteilung des Untersuchungsrichters kam und sich bei Porfirij Petrowitsch anmelden ließ, war er sogar erstaunt, daß er so lange warten mußte: es vergingen mindestens zehn Minuten, ehe man ihn endlich eintreten ließ. Nach seiner Berechnung mußte man sich aber sofort auf ihn stürzen. Indessen stand er im Warteraum, und verschiedene Menschen, die sich um ihn gar nicht zu kümmern schienen, gingen an ihm vorbei, auf und ab. Im nächsten Zimmer, das wie eine Kanzleistube aussah, saßen einige Schreiber bei ihrer Arbeit, und es war ihnen anzusehen, daß keiner von ihnen auch nur eine Ahnung davon hatte, wer und was Raskolnikow sei. Mit unruhigen und argwöhnischen Blicken beobachtete er alles um sich her und spähte aus, ob nicht irgendwo ein Wachtposten stehe, ob ihn nicht irgendein geheimnisvoller Blick bewache, daß er nicht weggehe. Es war aber nichts dergleichen: er sah bloß beschäftigte Kanzleigesichter und auch andere Menschen, aber keiner kümmerte sich um ihn: er hätte leicht wieder weggehen können. Immer mehr befestigte sich in ihm der Gedanke, daß, wenn dieser geheimnisvolle Mensch von gestern, dieses aus der Erde hervorgestiegene Gespenst wirklich alles wußte und alles gesehen hatte, – man ihm, Raskolnikow, doch nicht gestatten würde, hier so zu stehen und zu warten. Und hätte man auch bis elf Uhr gewartet, bis es ihm selbst einfallen würde, herzukommen? Also hatte jener Mensch noch keine Anzeige erstattet, oder ... oder er wußte selbst nichts und hatte mit eigenen Augen gar nichts gesehen (wie hätte er auch etwas sehen können?); folglich war alles, was er gestern erlebt hatte, nur eine von seiner gereizten und kranken Phantasie übertriebene Vision. Nachdem er sich dies alles wieder überlegt hatte und sich auf einen neuen Kampf gefaßt machte, fühlte er plötzlich, daß er zitterte, und er empörte sich bei dem Gedanken, daß er aus Furcht vor dem verhaßten Porfirij Petrowitsch zittere. Das Schrecklichste für ihn war ein Wiedersehen mit diesem Menschen; er haßte ihn grenzenlos, maßlos und fürchtete sogar, sich durch diesen Haß irgendwie zu verraten. Und so groß war seine Empörung, daß sie das Zittern sofort unterdrückte; er schickte sich an, mit einer kalten und herausfordernden Miene einzutreten, und gab sich das Wort, möglichst viel zu schweigen, zu beobachten und zu horchen und, wenigstens dieses eine Mal, um jeden Preis, seine krankhaft gereizte Natur zu überwinden. In diesem Augenblick rief man ihn zu Porfirij Petrowitsch.

Es zeigte sich, daß Porfirij Petrowitsch gerade ganz allein in seinem Arbeitszimmer war. Das Arbeitszimmer war weder klein noch groß; es befanden sich darin ein großer Schreibtisch vor einem mit Wachstuch bezogenen Sofa, ein Pult, ein Eckschrank und mehrere Stühle – lauter Staatseigentum aus poliertem gelben Holze. In einer Ecke an der Hinterwand oder, besser gesagt, an einem Bretterverschlage war eine verschlossene Tür: also befanden sich wohl hinter diesem Verschlag noch andere Räume. Als Raskolnikow eintrat, schloß Porfirij Petrowitsch sofort die Tür, durch die er gekommen war, und sie blieben allein. Er empfing seinen Gast scheinbar außerordentlich lustig und freundlich, und Raskolnikow merkte erst nach einigen Minuten an einigen Anzeichen, daß er irgendwie verlegen war, als hätte man ihn plötzlich aus dem Konzept gebracht oder auf etwas Geheimem ertappt.

»Ah, Verehrtester! Da sind Sie ja ... in unserem Reiche ...« begann Porfirij, ihm beide Hände entgegenstreckend. »Nun, nehmen Sie Platz, Väterchen! Oder Sie haben es vielleicht nicht gern, daß man Sie Verehrtester und Väterchen nennt – so ›tout court‹? Halten Sie es, bitte, nicht für eine Familiarität! Hierher, auf das Sofa.«

Raskolnikow setzte sich, ohne die Augen von ihm zu wenden.

›In unserem Reiche‹, die Entschuldigung wegen der Familiarität, das französische »tout court« usw ... das waren lauter charakteristische Anzeichen. – Er hat mir beide Hände entgegengestreckt, doch keine einzige gegeben, hat sie rechtzeitig zurückgezogen, – ging es ihm mißtrauisch durch den Sinn. Sie beobachteten einander; kaum aber trafen sich ihre Blicke, als sie beide so schnell wie ein Blitz voneinander wegsahen.

»Ich bringe Ihnen das Papier ... wegen der Uhr ... hier ist es. Ist es richtig aufgesetzt, oder muß ich es umschreiben?«

»Was? Ein Papierchen? So, so, machen Sie sich keine Sorgen, es ist richtig,« sagte Porfirij Petrowitsch, als hätte er große Eile; erst nachdem er das gesagt hatte, nahm er das Papier in die Hand und sah es durch. »Ja, es ist richtig. Mehr ist nicht nötig«, bestätigte er, sich überstürzend, und legte das Papier auf den Tisch.

Später, nach einer Minute, als er schon von etwas ganz anderem sprach, nahm er es vom Tisch und legte es auf das Pult.

»Sie sagten, glaube ich, gestern, daß Sie mich fragen möchten ... in aller Form ... über meine Bekanntschaft mit dieser ... Ermordeten?« fing Raskolnikow von neuem an.

– Nun, wozu habe ich dieses ›glaube ich‹ eingefügt? – durchfuhr es ihn wie der Blitz. – Und warum mache ich mir solche Sorge darüber, daß ich dieses ›glaube ich‹ eingefügt habe? – durchzuckte ihn wie der Blitz ein zweiter Gedanke.

Und plötzlich fühlte er, wie sein Argwohn nur infolge der bloßen Berührung mit Porfirij, nur nach zwei Worten, nur nach zwei Blicken in einem Nu ins Ungeheure gewachsen war ... und daß dies gefährlich werden könne: die Nerven werden gereizt, die Erregung wächst an. – Schlecht! Schlecht! ... Ich werde mich wieder versprechen.

»Ja, ja, ja! Machen Sie sich keine Sorgen! Wir haben Zeit, wir haben Zeit«, murmelte Porfirij Petrowitsch, indem er vor dem Tische auf und ab ging, doch ohne jedes Ziel: bald wandte er sich zum Fenster, bald zum Pult, bald wieder zum Tisch; bald wich er den mißtrauischen Blicken Raskolnikows aus, bald blieb er unbeweglich stehen und sah ihn unverwandt an.

Einen seltsamen Eindruck machte dabei seine kleine, dicke, runde Figur, die wie ein Gummiball hin und her rollte und von allen Wänden und Ecken abprallte.

»Wir haben Zeit, wir haben Zeit! ... Rauchen Sie nicht? Haben Sie nichts bei sich? Hier haben Sie ein Zigarettchen«, fuhr er fort, indem er dem Gast eine Zigarette reichte. »Wissen Sie, ich empfange Sie hier, meine Wohnung ist aber gleich hier hinter dem Verschlag ... es ist eine Dienstwohnung, ich wohne jetzt aber vorläufig in der Stadt. Es sind hier einige Reparaturen nötig. Nun ist fast alles fertig ... so eine Dienstwohnung ist eine feine Sache, nicht wahr? Wie meinen Sie?«

»Ja, eine feine Sache«, antwortete Raskolnikow und sah ihn fast spöttisch an.

»Eine feine Sache, eine feine Sache ...« wiederholte Porfirij Petrowitsch, als dächte er dabei an etwas ganz anderes. »Ja, eine feine Sache!« schrie er schließlich fast auf, indem er plötzlich Raskolnikow anblickte und zwei Schritte vor ihm stehen blieb.

Diese häufige, dumme Wiederholung, daß die Dienstwohnung eine feine Sache sei, widersprach in ihrer Banalität zu sehr dem ernsten, sinnenden und rätselhaften Blicke, den er jetzt auf seinen Gast richtete.

Dies aber stachelte die Wut Raskolnikows noch mehr auf, und er konnte sich unmöglich einer höhnischen und recht unvorsichtigen Herausforderung enthalten:

»Wissen Sie was?« fragte er plötzlich, indem er ihn fast frech anblickte und sich seiner Frechheit gleichsam freute. »Es gibt, glaube ich, so eine juristische Regel, so einen juristischen Kunstgriff – für alle Untersuchungsrichter, – zuerst von weither, mit Bagatellen, oder sogar mit etwas Ernstem, doch ganz Abseitsliegendem zu beginnen, um den zu Verhörenden sozusagen zu ermutigen oder richtiger zu zerstreuen, um seine Vorsicht einzuschläfern und ihn dann plötzlich auf ganz unerwartete Weise mit einer verhängnisvollen und gefährlichen Frage zu überfallen; stimmt das? Ich glaube, das steht auch heute noch in allen Vorschriften und Instruktionen als ein heiliges Gebot?«

»Ja, gewiß ... Sie glauben also, ich hätte Sie mit der Dienstwohnung ... wie?«

Als Porfirij Petrowitsch das sagte, kniff er die Augen zusammen und zwinkerte ihm zu; ein lustiger und verschlagener Ausdruck huschte über sein Gesicht, die Runzeln auf seiner Stirn glätteten sich, die Auglein wurden schmäler, die Gesichtszüge dehnten sich, und er brach plötzlich in ein nervöses, langandauerndes Lachen aus, das seinen ganzen Körper erzittern ließ; dabei blickte er Raskolnikow gerade in die Augen. Jener fing mit einiger Selbstüberwindung auch zu lachen an; als aber Porfirij ihn lachen sah und in so schallendes Gelächter ausbrach, daß er beinahe blau wurde, ließ Raskolnikow in seinem Widerwillen alle Vorsicht außer acht: er hörte zu lachen auf, runzelte die Stirne und sah Porfirij lange und gehässig an, ohne ihn während seines ganzen langen, anscheinend mit Absicht in die Länge gezogenen Lachanfalls aus den Augen zu lassen. Die Unvorsichtigkeit war übrigens beiderseits offensichtlich: es sah so aus, als lache Porfirij Petrowitsch über seinen Gast, der dieses Lachen mit Haß aufnahm, kümmere sich aber wenig um diesen Umstand. Das letztere war aber für Raskolnikow sehr vielsagend: er begriff, daß Porfirij Petrowitsch sich wahrscheinlich auch vorhin gar nicht verlegen gefühlt habe und daß im Gegenteil er selbst, Raskolnikow, in eine Falle geraten sei, daß hier unbedingt etwas dabei sei, was er noch nicht wußte, irgendein Ziel; daß vielleicht schon alles vorbereitet sei und sich im nächsten Augenblick zeigen und über ihn hereinbrechen werde ...

Er ging nun sofort auf die Sache los, indem er sich von seinem Platz erhob und seine Mütze nahm.

»Porfirij Petrowitsch«, fing er an, entschlossen, doch ziemlich gereizt, »Sie äußerten gestern den Wunsch, daß ich zu Ihnen zu irgendeinem Verhör komme. (Er betonte besonders das Wort ›Verhör‹.) Ich bin gekommen, und wenn Sie von mir etwas wollen, so fragen Sie mich, und wenn nicht, so gestatten Sie, daß ich weggehe. Ich habe keine Zeit, ich habe zu tun ... Ich muß zur Beerdigung eines verunglückten Beamten, von dem ... Sie auch schon wissen ...« fügte er hinzu, ärgerte sich aber gleich über diesen Zusatz und wurde infolgedessen noch gereizter. »Mir ist die Sache zu dumm, hören Sie, und zwar seit langem ... ich bin zum Teil deswegen krank gewesen ... mit einem Worte«, schrie er beinahe auf, da er fühlte, daß die Bemerkung über seine Krankheit noch überflüssiger war, »mit einem Worte: wollen Sie mich entweder vernehmen oder entlassen, und zwar sofort ... und wenn Sie mich vernehmen wollen, so nicht anders als in aller Form! Anders erlaube ich es nicht; und darum verabschiede ich mich einstweilen von Ihnen, da wir jetzt beide miteinander nichts zu schaffen haben.«

»Mein Gott! Was fällt Ihnen ein?! Worüber soll ich denn Sie vernehmen?« gackerte auf einmal Porfirij Petrowitsch, der plötzlich seinen Ton und seine Miene änderte und zu lachen aufhörte. »Regen Sie sich, bitte, nicht auf«, rief er, indem er wieder bald im Zimmer auf und ab lief und bald Raskolnikow zum Sitzen nötigte. »Wir haben ja Zeit, wir haben Zeit, und alles ist Unsinn! Im Gegenteil, ich freue mich so, daß Sie endlich zu uns gekommen sind ... Ich empfange Sie als einen Gast. Und dieses verfluchte Lachen müssen Sie mir schon verzeihen, Väterchen, Rodion Romanowitsch. Rodion Romanowitsch – so heißen Sie doch mit Ihren Vatersnamen? ... Ich hin so nervös, Sie haben mich durch Ihre geistreiche Bemerkung zum Lachen gebracht; zuweilen schüttele ich mich vor Lachen wie ein Stück Gummi, und das dauert eine halbe Stunde ... Ich bin leicht zum Lachen zu bringen. Bei meiner Körperfülle fürchte ich sogar einen Schlaganfall. Setzen Sie sich doch, was haben Sie denn? Ich bitte Sie, Väterchen, sonst muß ich glauben, daß Sie mir böse sind ...«

Raskolnikow schwieg, hörte zu und beobachtete, immer noch mit vor Zorn finsterem Gesicht. Er setzte sich übrigens hin, behielt aber die Mütze in der Hand.

»Ich will Ihnen etwas über mich selbst mitteilen, Väterchen, Rodion Romanowitsch, sozusagen zu meiner Charakteristik«, fuhr Porfirij Petrowitsch fort, indem er im Zimmer hin und her lief und wie früher den Blicken seines Gastes auszuweichen schien. »Wissen Sie, ich bin Junggeselle, ein ganz unbekannter Mensch, ohne gesellschaftlichen Schliff, ein abgeschlossener, reifer Charakter und ... und ... und haben Sie es schon bemerkt, Rodion Romanowitsch: wenn bei uns, das heißt in Rußland, und besonders in unseren Petersburger Kreisen, zwei kluge Menschen, die miteinander noch nicht gut bekannt sind, aber sich gegenseitig sozusagen achten, wie wir beide, zusammenkommen, so können sie eine geschlagene halbe Stunde kein Thema für ein Gespräch finden, – sie erstarren voreinander, sitzen da und genieren sich. Alle Menschen haben einen Gesprächsstoff, zum Beispiel die Damen ... auch die Salonmenschen aus den höheren Gesellschaftskreisen haben stets ein Gesprächsthema, c'est de rigueur; aber Menschen aus mittleren Schichten, wie wir beide – werden immer leicht verlegen und sind nicht gesprächig ... ich meine die denkenden Menschen. Woher kommt das nur, Väterchen? Haben wir keine gesellschaftlichen Interessen, oder sind wir so ehrlich, daß wir einander nicht betrügen wollen, – das weiß ich nicht. Nun, was glauben Sie? Legen Sie aber Ihre Mütze weg, es sieht so aus, als wollten Sie schon weggehen, ich muß mich genieren, wenn ich es sehe ... Ich bin im Gegenteil so froh ...«

Raskolnikow legte seine Mütze weg und hörte schweigend und ernst, mit finsterem Gesicht dem leeren und verworrenen Geschwätz Porfirijs zu. – Will er vielleicht wirklich meine Aufmerksamkeit mit seinem dummen Geschwätz ablenken? –

»Ich biete Ihnen keinen Kaffee an, denn es ist hier nicht der passende Ort dafür; aber so an die fünf Minuten kann ich doch mit einem guten Freunde sitzen, zum Zeitvertreib«, schwatzte Porfirij unermüdlich weiter. »Und wissen Sie, alle diese dienstlichen Pflichten ... aber nehmen Sie es mir, bitte, nicht übel, Väterchen, daß ich immer hin und her renne; entschuldigen Sie, Väterchen, ich fürchte sehr, Sie zu kränken; aber ich muß unbedingt Bewegung haben. Ich sitze immer auf einem Fleck und bin froh, wenn ich mal fünf Minuten herumgehen kann ... es sind die Hämorrhoiden ... ich habe immer die Absicht, mich mit Gymnastik zu behandeln; man sagt, daß in einer solchen Turnanstalt Staatsräte, Wirkliche Staatsräte und sogar Geheimräte gern über eine Schnur springen; so vorgeschritten ist die Wissenschaft in unserem Jahrhundert ... Was aber die hiesigen Pflichten betrifft, die Verhöre und alle Formalitäten ... Sie sprachen eben, Väterchen, von den Verhören ... so muß ich Ihnen sagen, Väterchen, Rodion Romanowitsch, daß so ein Verhör den Verhörer oft mehr verwirrt als den zu Verhörenden. Das haben Sie, Väterchen, eben sehr richtig und geistreich bemerkt. (Raskolnikow hatte nichts dergleichen bemerkt.) Man wird verwirrt, wirklich, man wird verwirrt! Und immer ein und dasselbe, ein und dasselbe, wie eine Trommel! Die Reform steht vor der Tür, wir werden wenigstens eine neue Benennung bekommen, he-he-he! Und was unsere juristischen Kunstgriffe betrifft – wie Sie es so geistreich genannt haben –, so bin ich vollkommen der gleichen Meinung. Aber wer von den Angeklagten, selbst von den dümmsten Bauern weiß nicht, daß man zunächst anfangen wird, ihn zum Beispiel mit abseitsliegenden Fragen einzuschläfern, wie Sie sich so glücklich ausgedrückt haben, um ihn dann plötzlich zu betäuben, wie mit einem Beilhieb auf den Scheitel, he-he-he! mit einem Beilhieb auf den Scheitel, wie Sie sich so treffend ausgedrückt haben! He-he! Sie haben also wirklich geglaubt, daß ich die Absicht hatte, Sie mit der Dienstwohnung ... he-he! Sie sind aber ein ironischer Mensch! Nun, ich rede nicht mehr davon! Ach ja, à propos, ein Wort ruft das andere herbei, ein Gedanke ruft den andern – Sie haben vorhin auch die Form erwähnt, wissen Sie? – die Form des Verhörs ... Ja, was ist die Form? Die Form ist, wissen Sie, in vielen Fällen ein Unsinn. Manchmal ist ein einfaches freundschaftliches Gespräch viel vorteilhafter. Die Form läuft nicht davon, in dieser Beziehung kann ich Sie beruhigen; und was ist auch im Grunde genommen die Form, ich bitte Sie? Man darf nicht den Untersuchungsrichter auf jedem Schritt an die Form binden. Die Tätigkeit des Untersuchungsrichters ist sozusagen eine freie Kunst ihrer Art, oder etwas von dieser Art. He-he-he! ...«

Porfirij Petrowitsch hielt inne und holte Atem. Er redete drauflos, unermüdlich; bald schüttete er sinnlose, leere Phrasen hin, bald ließ er rätselhafte Anspielungen fallen, um dann wieder mit albernem Geschwätz zu beginnen. Er lief schon fast hin und her, bewegte seine dicken Beinchen immer schneller und blickte fortwährend zu Boden; die rechte Hand hielt er im Rücken und machte mit der linken Bewegungen, die immer auffallend wenig zu seinen Worten paßten. Raskolnikow merkte plötzlich, daß er bei seinem Hin-und Herlaufen einigemal für einen Augenblick an der Tür stehen blieb und hinauszuhorchen schien ...

– Wartet er vielleicht auf etwas? –

»In dieser Beziehung hatten Sie vollkommen recht«, fing Porfirij wieder an, wobei er Raskolnikow lustig und ungewöhnlich treuherzig anblickte (so daß jener zusammenfuhr und sich sofort auf alles gefaßt machte) – »vollkommen recht, als Sie über die juristischen Formen so witzig spotteten, he-he! Diese tiefsinnig psychologischen Kunstgriffe – natürlich nur manche von ihnen – sind furchtbar komisch und vielleicht auch nutzlos, wenn sie durch die Form zu sehr beschränkt werden. Jawohl ... ich komme wieder auf die Form: wenn ich also in irgendeiner Sache, mit der ich betraut bin, den einen oder den anderen sozusagen für den Verbrecher halte, oder besser gesagt, des Verbrechens verdächtige ... Sie wollen doch Jurist werden, Rodion Romanowitsch ...?«

»Ja, ich hatte die Absicht ...«

»Da haben Sie also ein kleines Beispiel für die Zukunft, das heißt, glauben Sie nur nicht, daß ich es wage, Sie zu belehren: Sie schreiben doch selbst so fabelhafte Aufsätze über das Verbrechen! Nein, ich erlaube mir nur, Ihnen als Tatsache, als Beispiel, anzuführen ... Wenn ich also den einen oder anderen für den Verbrecher halte – warum soll ich ihn, frage ich Sie, vor der Zeit beunruhigen, wenn ich auch Beweise gegen ihn habe? Den einen muß ich zum Beispiel so schnell als möglich verhaften lassen, ein anderer ist aber ganz anders geartet, warum soll er nicht noch etwas in der Stadt herumspazieren, he-he-he! Nein, ich sehe, Sie verstehen es gar nicht, darum will ich es Ihnen klarer darstellen: wenn ich ihn zum Beispiel zu früh einsperre, so gebe ich ihm damit vielleicht eine moralische Stütze, he-he! Sie lachen? (Raskolnikow dachte gar nicht daran, zu lachen: er saß mit zusammengebissenen Zähnen da und wandte seinen fieberhaften Blick nicht von den Augen Porfirij Petrowitschs.) Und doch ist es so, bei manchen Subjekten ganz besonders, denn die Menschen sind verschieden, über alles geht aber die Praxis. Sie werden jetzt sagen: Indizien; ja, nehmen wir sogar an, daß Indizien vorliegen, aber die Indizien, Väterchen, haben in den meisten Fällen zwei Enden, ich aber bin Untersuchungsrichter, also ein schwacher Mensch und muß gestehen: wie gern möchte ich meine Untersuchung mathematisch klar darstellen, einen Beweis erbringen, daß alles so klar sei, wie zweimal zwei vier ist! Daß es einer direkten und unbestreitbaren Deduktion gleiche! Wenn ich ihn aber vor der Zeit einsperre – und wenn ich auch noch so überzeugt bin, daß eres ist –, so kann ich mich vielleicht auch selbst der Mittel zur weiteren Überführung berauben, und warum? Weil ich ihm sozusagen eine bestimmte Position gebe, ihn sozusagen psychologisch bestimme und beruhige, und er sich dann vor mir in seine Schale verkriecht: er begreift schließlich, daß er ein Gefangener ist. Man sagt, daß in Sebastopol, gleich nach der Schlacht bei Alma, die klugen Leute furchtbare Angst gehabt hätten, daß der Feind die Stadt in offenem Sturm attackieren und nehmen würde; als sie aber sahen, daß der Feind eine regelrechte Belagerung vorzog und die erste Parallele aufstellte, so hatten sich die klugen Leute, wie man sagt, so furchtbar gefreut und vollkommen beruhigt; die Sache zieht sich also wenigstens noch zwei Monate hin, denn es dauert noch eine Weile, bis sie die Stadt durch eine regelrechte Belagerung nehmen. Sie lachen wieder, Sie glauben wieder nicht? Sie haben natürlich recht. Tausendmal recht! Das sind lauter Einzelfälle, ich bin mit Ihnen einverstanden; der von mir angeführte Fall ist tatsächlich ein Einzelfall! Es ist aber dabei folgendes zu beachten, mein bester Rodion Romanowitsch: den allgemeinen Fall, auf den alle juristischen Formen und Vorschriften passen, für den sie, wie sie in den Büchern stehen, berechnet sind, gibt es in Wirklichkeit gar nicht, denn jede Sache, ohne Ausnahme, sogar zum Beispiel das Verbrechen, wird, sobald es in Wirklichkeit geschieht, zu einem ausgesprochenen Einzelfall; zuweilen sogar zu einem solchen, der unter den vorhergehenden nicht seinesgleichen hat. In dieser Beziehung gibt es zuweilen sehr komische Fälle. Wenn ich manchen Herrn vollkommen in Ruhe lasse, ihn nicht verhafte und nicht belästige, aber dafür sorge, daß er jede Stunde und jede Minute wisse oder wenigstens vermute, daß ich alles weiß, daß ich alle Fäden aufgedeckt habe, ihn Tag und Nacht beobachte und bewache, und wenn er sich bewußt unter ewigem Verdachte und in ständiger Angst fühlt, so wird er, bei Gott, ganz verrückt; dann kann er auch selbst zu mir kommen und vielleicht noch etwas anstellen, was dem Zweimalzwei ähnlich sieht, was sozusagen ein mathematisches Aussehen hat – und das ist höchst angenehm. Das kann auch mit einem dummen Bauern geschehen, mit unsereinem aber, einem modern gebildeten und in einer bestimmten Richtung entwickelten Menschen erst recht! Darum ist es, mein Lieber, so wichtig, festzustellen, in welcher Richtung der Mensch entwickelt ist. Und erst die Nerven, die Nerven, die haben Sie ganz vergessen! Alle diese Menschen sind heutzutage krank, heruntergekommen und gereizt! ... Und wieviel Galle sie alle haben! Das ist doch, sage ich Ihnen, eine Goldgrube ihrer Art! Und was soll ich mich beunruhigen, wenn er ungefesselt in der Stadt herumspaziert!? Soll er nur vorläufig spazierengehen, soll er nur; ich weiß auch ohnehin, daß er mein Opferchen ist und nirgends durchbrennt! Wohin soll er auch durchbrennen? He-he! Vielleicht ins Ausland? Ins Ausland wird der Pole durchbrennen, doch nicht er, um so mehr, als ich ihn beobachte und auch Maßregeln ergriffen habe. Wird er vielleicht in die Tiefe des Vaterlandes fliehen? Dort leben aber die Bauern, die echten, einfachen, russischen Bauern; so ein modern gebildeter Mensch wird eher das Zuchthaus vorziehen, als mit solchen Ausländern, wie es unsere Bauern sind, zu leben, he-he! Dies alles ist aber Unsinn und nur äußerlich. Was heißt das: er wird durchbrennen? Das ist ja nur Form, und nicht Hauptsache; er wird mir nicht nur deshalb nicht durchbrennen, weil er nirgendhin durchbrennen kann, – er wird mir psychologischnicht durchbrennen, he-he! Das ist doch ein netter Ausdruck! Er wird mir schon nach dem Naturgesetz nicht durchbrennen, selbst wenn er wüßte, wohin. Haben Sie mal einen Schmetterling vor einer Kerze gesehen? So wird auch er immer um mich wie um eine Kerze herumschwirren; seine Freiheit wird ihn nicht mehr freuen, er wird nachdenklich werden, sich verwirren, wird sich selbst wie in ein Netz verstricken und Todesangst leiden! ... Und noch mehr als das: er wird mir selbst eine mathematische Überraschung, wie zweimal zwei liefern, wenn ich ihm nur eine möglichst lange Spanne Zeit dazu lasse ... Und er wird immer, immer seine Kreise um mich ziehen, mit immer kleinerem Radius, und – hat ihn schon! Er wird mir direkt in den Mund fliegen, und ich werde ihn verschlucken, das ist schon sehr angenehm, he-he-he! Sie glauben es nicht?«

Raskolnikow gab keine Antwort. Er saß bleich und unbeweglich da und blickte Porfirij mit der gleichen Spannung ins Gesicht.

– Das ist eine gute Lehre! – dachte er erschauernd. – Das ist nicht mehr das Spiel der Katze mit der Maus, wie gestern. Er wird mir doch nicht nutzlos seine Kraft zeigen und ... mir etwas suggerieren; er ist viel zu klug dazu ... Er hat ein anderes Ziel, doch was für eins? Ach, Unsinn, Bruder, du schwindelst und willst mir nur Angst machen: Du hast gar keine Beweise, und der gestrige Mann existiert nicht! Du willst mich einfach aus dem Konzept bringen, mich vorzeitig reizen und in diesem Zustande einfangen; aber du irrst, es wird dir nicht gelingen! Aber warum suggeriert er mir alles mit solcher Energie? ... Er spekuliert auf meine kranken Nerven! ... Nein, Bruder, du irrst, es wird dir nicht gelingen, und wenn du auch etwas vorbereitet hast ... Nun, wollen wir sehen, was du vorbereitet hast.

Und er nahm alle seine Kräfte zusammen, um auf eine schreckliche und unbekannte Katastrophe bereit zu sein. Zuweilen spürte er Lust, sich auf Porfirij zu stürzen und ihn auf der Stelle zu erwürgen. Er hatte schon beim Eintreten diese Wut gefürchtet. Er fühlte, daß seine Lippen ausgetrocknet waren, daß sein Herz klopfte und daß an seinen Lippen der Schaum trocknete. Und doch entschloß er sich, zu schweigen und kein Wort vor der Zeit zu sprechen. Er begriff, daß dies die beste Taktik in seiner Lage sei, weil er sich auf diese Weise nicht bloß nicht versprechen könne, sondern im Gegenteil den Gegner durch sein Schweigen reizen könnte, so daß vielleicht jener sich versprechen würde. Jedenfalls hoffte er darauf.

»Nein, ich sehe, Sie glauben mir nicht, Sie denken, daß ich Ihnen harmlose Späße auftische«, fuhr Porfirij fort, immer lustiger werdend, vor Vergnügen ununterbrochen kichernd und dann wieder im Zimmer kreisend. »Sie haben natürlich recht; meine Gestalt ist schon von Gott selbst so geschaffen, daß sie nur komische Gedanken beim andern weckt; ein Hanswurst bin ich! Aber ich sage Ihnen noch einmal, entschuldigen Sie mich alten Mann, Väterchen, Rodion Romanowitsch; Sie sind noch ein junger Mensch, stehen sozusagen in der Blüte des Lebens, und darum schätzen Sie, wie unsere ganze Jugend, den menschlichen Verstand über alles. Die pikante Schärfe des Geistes und die abstrakten Vernunftschlüsse reizen Sie. Es ist genau so wie zum Beispiel mit dem früheren österreichischen Hofkriegsrat, soweit ich über die kriegerischen Ereignisse zu urteilen vermag: auf dem Papier hatten sie Napoleon geschlagen und gefangengenommen, in ihrem Schreibzimmer hatten sie alles auf die geistreichste Weise berechnet und ausgetüftelt – aber, sieh mal an: der General Mack ergibt sich mit seiner ganzen Armee, he-he-he! Ich sehe, ich sehe, Väterchen, Rodion Romanowitsch, Sie lachen über mich, daß ich, der ich Zivilist bin, lauter Beispiele aus der Kriegsgeschichte anführe. Aber was soll ich machen, es ist eine Schwäche von mir, ich liebe die Kriegswissenschaft und lese leidenschaftlich gern alle die Kriegsberichte ... ich habe entschieden meinen eigentlichen Beruf verfehlt. Ich hätte doch wirklich im Militärressort dienen sollen. Zu einem Napoleon hätte ich es vielleicht nicht gebracht, aber zu einem Major ganz sicher, he-he-he! Nun will ich Ihnen, mein Bester, die ganze Wahrheit vom Einzelfallenthüllen; die Wirklichkeit und die Natur sind wichtige Dinge, verehrter Herr, und schmeißen zuweilen die scharfsinnigste Berechnung um! Hören Sie nur auf mich alten Mann, ich meine es ernst, Rodion Romanowitsch (der kaum fünfunddreißigjährige Porfirij Petrowitsch schien bei diesen Worten tatsächlich gealtert zu sein: selbst seine Stimme hatte sich verändert, und er selbst war wie eingeschrumpft); außerdem bin ich ein aufrichtiger Mensch ... Bin ich aufrichtig oder nicht? Wie glauben Sie? Ich meine doch, ich bin durchaus aufrichtig, wenn ich Ihnen solche Dinge umsonst mitteile und dafür sogar keine Belohnung verlange, he-he! Ich fahre also fort: Scharfsinn ist meines Erachtens eine ausgezeichnete Sache; er ist sozusagen eine Zierde der Natur, ein Trost des Lebens; er kann zuweilen solche Rätsel aufgeben, daß so ein armer Untersuchungsrichter unmöglich dahinter kommen kann; der wird ja außerdem auch von seiner eigenen Phantasie hingerissen, was doch immer der Fall ist, denn er ist doch auch nur ein Mensch! Aber die Natur hilft dem armen Untersuchungsrichter, das ist das Unglück! Daran denkt aber nie die vom Scharfsinn hingerissene Jugend, ›die sich über alle Hindernisse hinwegsetzt‹ (wie Sie sich gestern so geistreich und scharfsinnig auszudrücken beliebten). Er wird vielleicht auch lügen, das heißt: der Mensch, der Einzelfall, das Inkognito wird lügen und wird es sogar ausgezeichnet und sehr schlau machen; nun sollte man meinen, er triumphiert und kann die Früchte seines Scharfsinns genießen, aber gefehlt! – an der interessantesten und skandalösesten Stelle fällt er in Ohnmacht. Allerdings ist er krank, in seinem Zimmer ist es wohl so dumpf, aber immerhin! Immerhin hat er einen Gedanken gegeben! Gelogen hat er unvergleichlich, hat aber nicht verstanden, die Natur mit in Betracht zu ziehen. Darin liegt eben die Tücke! Ein andermal läßt er sich von den Launen seines Scharfsinns hinreißen und beginnt, einen, der ihn verdächtigt, zum Narren zu halten: er erbleicht wie absichtlich, wie im Spiel, erbleicht aber gar zu natürlich, zu wahrheitsgetreu, und damit gibt er wieder einen Gedanken! Wenn es ihm zum erstenmal auch glückt, den andern zu betrügen, so kann sich der andere über Nacht die Sache überlegen, wenn er nicht zu dumm ist. Und so ist es auf Schritt und Tritt! Und noch mehr als das: Er fängt an, vorauszueilen, steckt überall seine Nase hinein, redet ununterbrochen davon, wovon er eigentlich schweigen müßte, läßt allerlei Andeutungen los, he-he! – kommt auch selbst und fragt: Warum nimmt man mich so lange nicht fest? He-he-he! Und das kann auch dem geistreichsten Menschen passieren, einem Psychologen und Literaten! Die Natur ist ein Spiegel, der beste Spiegel! Sieh nur hinein und erfreue dich, ja, so ist es! Warum sind Sie aber so blaß geworden, Rodion Romanowitsch? Ist es hier nicht zu dumpf, soll ich nicht das Fensterchen aufmachen?«

»Oh, bemühen Sie sich, bitte, nicht!« rief Raskolnikow und lachte plötzlich auf. »Bemühen Sie sich, bitte, nicht!«

Porfirij blieb vor ihm stehen, wartete eine Weile und fing selbst zu lachen an; Raskolnikow erhob sich vom Sofa und brach plötzlich seinen krampfartigen Lachanfall ab.

»Porfirij Petrowitsch!« sagte er laut und deutlich, obwohl er sich auf den zitternden Füßen kaum halten konnte. »Ich sehe endlich klar, daß Sie mich des Mordes an dieser Alten und ihrer Schwester Lisaweta verdächtigen. Meinerseits erkläre ich Ihnen, daß mir das alles schon längst zu dumm ist. Wenn Sie glauben, daß Sie ein Recht haben, mich gesetzlich zu verfolgen, so verfolgen Sie mich, – zu verhaften, so verhaften Sie mich. Aber daß man mir ins Gesicht lacht und mich quält, das erlaube ich nicht ...«

Plötzlich zitterten seine Lippen, seine Augen funkelten vor Wut, und die bisher zurückgehaltene Stimme klang hell und laut.

»Das erlaube ich nicht!« schrie er plötzlich auf und schlug aus aller Kraft mit der Faust auf den Tisch. »Hören Sie es, Porfirij Petrowitsch? Ich erlaube es nicht!«

»Ach, mein Gott, was haben Sie wieder!« rief Porfirij Petrowitsch, der wirklich erschreckt schien. »Väterchen, Rodion Romanowitsch! Liebster! Väterchen! Was haben Sie nur?«

»Ich erlaube es nicht!« rief Raskolnikow noch einmal.

»Väterchen, seien Sie still! Man wird es ja hören und herkommen! Was sollen wir dann sagen, bedenken Sie es doch!« flüsterte Porfirij Petrowitsch ganz entsetzt, indem er sein Gesicht dem Raskolnikows näherte.

»Ich erlaube es nicht, ich erlaube es nicht!« wiederholte Raskolnikow mechanisch, aber plötzlich im Flüsterton.

Porfirij wandte sich schnell um und lief zum Fenster, um es zu öffnen.

»Frische Luft! Sie müßten auch etwas Wasser trinken, mein Liebster, es ist ja ein Anfall!«

Er stürzte schon zur Tür, um Wasser bringen zu lassen, aber in der Ecke fand sich zum Glück eine Wasserkaraffe.

»Väterchen, trinken Sie doch,« flüsterte er, mit der Karaffe zu ihm stürzend, »vielleicht wird es Ihnen helfen ...«

Der Schreck und selbst die Teilnahme Porfirij Petrowitschs waren so natürlich, daß Raskolnikow verstummte und ihn mit wahnsinniger Neugier zu betrachten begann. Das Wasser nahm er jedoch nicht an.

»Rodion Romanowitsch! Liebster! So können Sie noch den Verstand verlieren! Ach! Trinken Sie doch, trinken Sie doch wenigstens etwas!«

Er zwang ihn dabei, das Glas Wasser in die Hand zu nehmen. Jener führte es mechanisch an die Lippen, besann sich aber und stellte es angeekelt auf den Tisch.

»Ja, Sie haben einen kleinen Anfall gehabt. So werden Sie, mein Lieber, wieder die alte Krankheit kriegen!« gackerte mit freundschaftlicher Teilnahme Porfirij Petrowitsch, der übrigens noch immer fassungslos schien. »Mein Gott, wie kann man sich nur so gar nicht schonen? Auch Dmitrij Prokofjitsch war gestern bei mir – ich gebe zu, ich gebe zu, daß ich einen unangenehmen, schlechten Charakter habe, aber was Sie daraus für Schlüsse gezogen haben! ... Mein Gott! Er kam gestern zu mir, gleich als Sie gegangen waren, wir aßen zu Mittag, er redete und redete, ich starrte ihn bloß an; und ich denke mir ... du lieber Gott! War er etwa in Ihrem Auftrage gekommen? Setzen Sie sich doch, Väterchen, setzen Sie sich um Christi willen!«

»Nein, nicht in meinem Auftrage! Aber ich wußte, daß er zu Ihnen gegangen war und warum er gegangen war«, antwortete Raskolnikow scharf.

»Sie wußten es?«

»Ich wußte es. Was ist denn dabei?«

»Ja, Väterchen, Rodion Romanowitsch, ich weiß noch ganz andere Dinge von Ihnen; alles ist mir bekannt! Ich weiß ja, wie Sie eine Wohnung mietengingen, spät am Abend, als es schon dunkelte; wie Sie klingelten und nach dem Blute fragten und die Arbeiter und Hausknechte ganz konfus machten. Ich verstehe ja vollkommen Ihren Seelenzustand, das heißt den damaligen ... So werden Sie sich aber einfach um den Verstand bringen, bei Gott! Der Kopf wird Ihnen schwindeln! Eine Empörung kocht in Ihnen, eine edle Empörung über die Beleidigungen, die Sie zuerst vom Schicksal und dann von den Beamten auf dem Polizeirevier erlitten haben; und darum werfen Sie sich hin und her, um alle sozusagen schneller zum Sprechen zu zwingen und damit allem ein Ende zu machen, denn Sie sind schon aller dieser Dummheiten und Verdächtigungen überdrüssig geworden. Es ist doch so? Ich habe doch die Stimmung erraten? ... Sie werden aber so nicht nur sich selbst, sondern auch den Rasumichin verrückt machen; er ist doch ein viel zu guterMensch dazu, das wissen Sie selbst. Sie haben die Krankheit, er aber hat die Tugend, darum ist die Krankheit für ihn ansteckend ... Ich werde Ihnen, Väterchen, wenn Sie sich beruhigt haben, etwas erzählen ... Setzen Sie sich doch, Väterchen, um Christi willen! Bitte, ruhen Sie aus, Sie sind blaß wie ein Toter. Setzen Sie sich doch!«

Raskolnikow setzte sich; das Zittern hörte auf, und er fühlte am ganzen Körper Fieberhitze. Mit tiefem Erstaunen hörte er gespannt dem erschrockenen Porfirij Petrowitsch zu, der sich so freundschaftlich um ihn bemühte. Er glaubte aber keinem seiner Worte, obwohl er auch eine seltsame Versuchung empfand, ihm zu glauben. Die unerwarteten Worte Porfirijs über die Wohnung machten ihn ganz bestürzt: – Wie ist es nun, er weiß es also, das von der Wohnung? – dachte er plötzlich: – und erzählt es mir selbst! –

»Ja, wir hatten einen fast ebensolchen psychologischen Fall in unserer Gerichtspraxis, einen krankhaften Fall«, fuhr Porfirij sich überstürzend fort. »Da hat sich auch einer eines Mordes bezichtigt, und wie: eine ganze Halluzination tischte er auf, brachte Tatsachen, erzählte alle Umstände, machte alle und jeden ganz konfus, und was stellte sich heraus? Er selbst war ganz ohne Absicht und nur zum Teil mit die Ursache des Mordes gewesen; als er aber erfuhr, daß er den Mördern die Gelegenheit zum Morde gegeben hatte, wurde er schwermütig und melancholisch, bekam Halluzinationen, wurde ganz verrückt und redete sich ein, daß er der Mörder sei! Aber der Regierende Senat klärte schließlich die Sache ganz auf, und der Unglückliche wurde freigesprochen und in ärztliche Pflege gegeben. Dank dem Regierenden Senate! Ach ja, wie ist es nun, Väterchen? So kann man leicht ein Nervenfieber kriegen, wenn man schon solche Anwandlungen hat, seine Nerven zu reizen, nachts auszugehen, um die Klingel zu ziehen und nach dem Blut zu fragen! Die psychischen Zustände habe ich ja in der Praxis gut studiert. So hat der Mensch manchmal auch eine Anwandlung, aus einem Fenster oder von einem Glockenturme zu springen, es ist eine so verführerische Empfindung. Auch das mit der Klingel ... Es ist eine Krankheit, Rodion Romanowitsch, eine Krankheit! Sie haben angefangen, Ihre Krankheit allzusehr zu vernachlässigen. Sie hätten doch einen ordentlichen Medikus zu Rate ziehen sollen, was ist denn dieser Dicke wert! ... Sie phantasieren! Alles tun Sie im Fieber! ...«

Einen Augenblick lang drehte sich alles vor Raskolnikows Augen wie im Wirbel.

– Lügt er denn auch jetzt? – ging es ihm durch den Sinn, – auch jetzt? Es ist unmöglich, unmöglich! – Er stieß den Gedanken von sich, da er im voraus wußte, bis zu welchem Grade von Raserei und Wut ihn dieser Gedanke bringen könnte, und da er fühlte, daß er nahe daran sei, vor Wut verrückt zu werden.

»Es war nicht im Fieber, es war bei vollem Bewußtsein!« schrie er, indem er alle Kräfte seines Verstandes anspannte, um in das Spiel Porfirijs einzudringen. »Bei vollem Bewußtsein! Hören Sie es?!«

»Ja, ich verstehe und höre es! Sie haben auch gestern gesagt, daß es nicht im Fieber gewesen sei! Sie haben sogar besonders betont, daß es nicht im Fieber gewesen sei! Ich verstehe alles, was Sie nur sagen können! Ach ja! ... Hören Sie mal, Rodion Romanowitsch, mein Wohltäter, nehmen Sie zum Beispiel diesen Umstand. Wenn Sie in der Tat der Verbrecher oder in diese verfluchte Sache irgendwie verwickelt wären, würden Sie dann, ich bitte Sie, selbst betonen, daß Sie es nicht im Fieber, sondern bei vollem Bewußtsein getan hätten? Und dazu noch so trotzig mit solcher Hartnäckigkeit betonen, ich bitte Sie! Ich meine, Sie würden sich ganz anders verhalten. Wenn Sie sich irgendeiner Schuld bewußt wären, so müßten Sie unbedingt betonen, daß alles im Fieber gewesen sei! Nicht wahr? Es ist doch so?«

In dieser Frage glaubte Raskolnikow etwas Heimtückisches zu hören. Er rückte von Porfirij, der ihn schweigend, unverwandt und fragend beobachtete, zur Sofalehne zurück.

»Oder zum Beispiel das mit Herrn Rasumichin, das heißt, ob er gestern ganz von selbst kam oder auf Ihre Veranlassung? Sie müßten doch unbedingt sagen, daß er von selbst gekommen wäre, und verheimlichen, daß er es auf Ihre Veranlassung getan hätte! Sie verheimlichen es aber nicht! Sie betonen doch, daß er auf Ihre Veranlassung gekommen war!«

Raskolnikow hatte dies niemals betont. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.

»Sie lügen immerfort!« sagte er langsam und mit schwacher Stimme, während sich seine Lippen zu einem krankhaften Lächeln verzerrten. »Sie wollen mir wieder zeigen, daß Sie mein ganzes Spiel durchschauen und alle meine Antworten im voraus wissen«, sagte er und fühlte selbst fast nicht, daß er seine Worte nicht mehr ordentlich abwog. »Sie wollen mich einschüchtern ... oder Sie lachen einfach über mich ...«

Er fuhr fort, ihn unverwandt anzusehen, als er das sagte, und plötzlich leuchtete grenzenloser Haß wieder in seinen Augen auf.

»Sie lügen immer!« rief er aus. »Sie wissen doch selbst sehr gut, daß es der beste Ausweg für den Verbrecher ist, nach Möglichkeit die Wahrheit zu sprechen ... nach Möglichkeit nicht zu verheimlichen, was man nicht verheimlichen kann! Ich glaube Ihnen nicht!«

»Wie Sie sich aber hin und her winden!« kicherte Porfirij. »Mit Ihnen kann man gar nicht fertig werden, Väterchen: eine Monomanie hat sich in Ihnen festgesetzt. Sie glauben mir also nicht? Ich aber will Ihnen sagen, daß Sie mir schon glauben, daß Sie mir schon einen Viertel Arschin glauben, und ich werde es bald erreichen, daß Sie mir einen ganzen Arschin glauben, denn ich habe Sie aufrichtig gern und wünsche Ihnen von Herzen alles Gute.«

Raskolnikows Lippen zitterten.

»Jawohl, das wünsche ich Ihnen, und ich will Ihnen endgültig sagen«, fuhr er fort, indem er Raskolnikows Arm leicht und freundschaftlich oberhalb des Ellbogens ergriff. »Ich will Ihnen endgültig sagen: geben Sie doch auf Ihre Krankheit acht. Außerdem haben Sie ja Besuch von Ihren Angehörigen; denken Sie doch auch an sie. Sie sollten sie beruhigen und zartfühlend behandeln, Sie machen ihnen aber nur Angst ...«

»Was geht Sie das an? Wie können Sie das wissen? Warum interessieren Sie sich so dafür? Folglich beobachten Sie mich und wollen es mir zeigen?«

»Väterchen! Das habe ich doch von Ihnen selbst erfahren, von Ihnen selbst! Sie merken ja gar nicht, daß Sie das alles in Ihrer Erregung mir und auch den anderen erzählen. Auch von Herrn Dmitrij Prokofjitsch Rasumichin habe ich gestern viele interessante Einzelheiten erfahren. Nein, Sie haben mich unterbrochen, ich aber will Ihnen sagen, daß Sie durch Ihren Argwohn bei all Ihrem Scharfblick selbst das gesunde Verhältnis zu den Dingen verloren haben. Nehmen wir als Beispiel wieder das mit der Klingel: so einen wertvollen Schatz, eine solche Tatsache (es ist doch eine ganze Tatsache!) habe ich, der Untersuchungsrichter, Ihnen mit Haut und Haaren ausgeliefert! Sehen Sie denn nichts darin? Wenn ich Sie doch nur ein wenig verdächtigte, dürfte ich so handeln? Im Gegenteil, ich müßte zuerst Ihren Argwohn einschläfern und durch keine Miene verraten, daß ich über diese Tat schon unterrichtet bin. Ich müßte Sie in eine entgegengesetzte Richtung ablenken und dann plötzlich wie mit einem Beilhieb auf den Scheitel (wie Sie sich selbst ausdrückten) betäuben: ›Was haben Sie, verehrter Herr, gestern in der Wohnung der Ermordeten gemacht, um zehn Uhr abends, oder vielleicht gar um elf? Und warum haben Sie an der Klingel gezogen? Und warum haben Sie nach dem Blute gefragt? Und warum haben Sie die Hausknechte konfus gemacht und aufgefordert, aufs Revier zum Polizeileutnant zu gehen?‹ So hätte ich vorgehen müssen, wenn ich auch den geringsten Verdacht gegen Sie hätte! Ich müßte Sie in aller Form vernehmen, eine Haussuchung bei Ihnen abhalten und Sie vielleicht auch verhaften ... Folglich hege ich doch nicht den Verdacht gegen Sie, wenn ich anders vorgehe! Sie aber haben jedes gesunde Verhältnis zu den Dingen verloren und sehen nichts, wiederhole ich!«

Raskolnikow fuhr am ganzen Körper zusammen, so daß Porfirij Petrowitsch es allzu deutlich merkte.

»Sie lügen immer!« rief er aus. »Ich kenne Ihre Absichten nicht, aber Sie lügen ... Vorhin haben Sie nicht in diesem Sinne gesprochen, und ich kann mich nicht irren ... Sie lügen!«

»Ich lüge?« fiel ihm Porfirij ins Wort, scheinbar erregt, doch mit der gleichen lustigen und spöttischen Miene; er schien sich nicht im geringsten darum zu kümmern, welche Ansicht über ihn Herr Raskolnikow hatte. »Ich lüge? ... Wie habe ich mich aber vorhin Ihnen gegenüber benommen (ich, der Untersuchungsrichter), – indem ich Ihnen selbst alles suggerierte, alle Mittel zur Verteidigung lieferte und Ihnen selbst die ganze Psychologie erklärte: ›Es war die Krankheit, ein Fieberwahn, ich war beleidigt; die Melancholie und die Beamten auf dem Polizeirevier‹, und dergleichen! Wie? He-he-he! Obwohl ich Ihnen bei dieser Gelegenheit sagen möchte, daß alle diese psychologischen Mittel zur Verteidigung, alle diese Ausflüchte und Finten wenig nützen und zwei Enden haben: ›Es war die Krankheit, das Delirium, Träume, es kam mir nur so vor, ich weiß nichts mehr,‹ – das stimmt alles, aber warum sind Ihnen, Väterchen, in der Krankheit, im Fieber gerade solche Träume gekommen und keine anderen? Es hätten ja auch andere kommen können? Nicht wahr? He-he-he!«

Raskolnikow blickte ihn stolz und mit Verachtung an.

»Mit einem Worte,« sagte er eindringlich und laut, indem er aufstand und Porfirij dabei ein wenig zur Seite stieß, »ich möchte wissen: halten Sie mich für endgültig frei von jedem Verdacht – oder nicht? Sagen Sie es, Porfirij Petrowitsch, sagen Sie es positiv und endgültig, und schnell, sofort!«

»Ist das ein Kreuz! Was Sie einem für Schwierigkeiten machen!« rief Porfirij mit vollkommen lustiger, verschlagener und durchaus nicht besorgter Miene. »Ja, was brauchen Sie das zu wissen, warum wollen Sie so vieles wissen, wenn man noch nicht mal angefangen hat, Sie irgendwie zu belästigen? Sie sind doch wie ein Kind: Sie wollen unbedingt, daß man Ihnen das Feuer in die Hand gibt! Und warum regen Sie sich so auf? Warum drängen Sie sich uns so auf, aus welchem Grunde? Wie? He-he-he!«

»Ich sage Ihnen noch einmal,« rief Raskolnikow, außer sich vor Wut, »daß ich es nicht länger ertragen kann!«

»Was denn? Die Ungewißheit?« unterbrach ihn Porfirij.

»Verhöhnen Sie mich nicht! Ich will es nicht! ... Ich sage Ihnen ja, daß ich es nicht will! ... Ich kann und will es nicht! ... Hören Sie! Hören Sie!« schrie er und schlug wieder mit der Faust auf den Tisch.

»Stiller doch, stiller! Man wird Sie hören! Ich warne Sie ernsthaft: Schonen Sie sich. Ich spaße nicht!« flüsterte Porfirij Petrowitsch; diesmal war aber in seinem Gesicht nicht mehr der frühere weibisch-gutmütige und erschrockene Ausdruck, im Gegenteil, jetzt befahler streng, mit gerunzelten Brauen, als ließe er alle Geheimnisse und Zweideutigkeiten auf einmal fallen.

Das dauerte aber nur einen Augenblick. Der anfangs bestürzte Raskolnikow geriet plötzlich in echte Wut; aber seltsam: er folgte wieder dem Befehl, leiser zu sprechen, obwohl er auch in höchster Raserei war.

»Ich lasse mich nicht quälen!« flüsterte er wie vorhin und merkte zugleich mit Schmerz und Haß, daß er nicht umhin konnte, dem Befehle zu folgen, und dieser Gedanke versetzte ihn in eine noch größere Raserei. »Verhaften Sie mich, durchsuchen Sie mich, aber behandeln Sie mich nach der gesetzlichen Form, und spielen Sie nicht mit mir! Unterstehen Sie sich nicht ...«

»Kümmern Sie sich doch nicht um die Form«, unterbrach ihn Porfirij mit dem früheren verschlagenen Lächeln, indem er Raskolnikow mit scheinbarem Vergnügen betrachtete. »Ich habe Sie, Väterchen, ganz privat und freundschaftlich eingeladen!«

»Ich will Ihre Freundschaft nicht, und ich spucke auf sie! Hören Sie es? Und sehen Sie; ich nehme meine Mütze und gehe fort. Nun, was wirst du jetzt sagen, wenn du mich verhaften willst?«

Er ergriff seine Mütze und ging zur Tür.

»Wollen Sie denn nicht die kleine Überraschung sehen?« kicherte wieder Porfirij, indem er ihn wieder am Arm oberhalb des Ellbogens nahm und an der Tür festhielt.

Er wurde sichtlich lustiger und vergnügter, was Raskolnikow endgültig aus der Fassung brachte.

»Was für eine Überraschung? Was ist los?« fragte er plötzlich, stehen bleibend und Porfirij erschrocken anblickend.

»Die kleine Überraschung habe ich hier hinter der Tür sitzen, he-he-he! (Er zeigte mit dem Finger auf die verschlossene Tür in der rückwärtigen Wand, die in seine Dienstwohnung führte.) Ich habe Sie eingeschlossen, damit Sie nicht davonlaufen.«

»Was ist? Wo? Was? ...«

Raskolnikow ging zu der Tür und wollte sie öffnen, sie war aber verschlossen.

»Sie ist verschlossen, hier ist der Schlüssel!«

Und er holte in der Tat aus der Tasche einen Schlüssel hervor und zeigte ihn ihm.

»Du lügst immer!« schrie Raskolnikow, der sich nicht länger beherrschte. »Du lügst, verfluchter Hanswurst!« Und mit diesen Worten stürzte er sich auf Porfirij, der sich zur Tür retiriert hatte, aber gar nicht erschrocken schien.

»Ich verstehe alles, alles!« rief er, indem er auf ihn zusprang. »Du lügst und reizt mich, damit ich mich selbst verrate ...«

»Sie können sich doch nicht mehr verraten, Väterchen, Rodion Romanowitsch! Sie rasen ja schon. Schreien Sie nicht, sonst rufe ich Leute herbei.«

»Du lügst, nichts wird geschehen! Rufe nur deine Leute! Du wußtest, daß ich krank bin, und wolltest mich rasend machen, damit ich mich verrate, das ist deine Absicht! Nein, zeige mir Tatsachen! Ich habe alles verstanden! Du hast keine Tatsachen, du hast nur elende, wertlose Hypothesen im Samjotowschen Stile! ... Du kanntest meinen Charakter, du wolltest mich in Raserei versetzen, um mich dann plötzlich mit Popen und Delegierten zu überfallen ... Du wartest doch auf sie? Wie? Was wartest du? Wo? Zeig sie mir doch!«

»Was für Delegierte meinen Sie denn, Väterchen? Was so ein Mensch sich nicht alles einbildet! Nach den Vorschriften darf man gar nicht so vorgehen, wie Sie sagen, Sie verstehen überhaupt nichts von der Sache ... Und die Form wird uns nicht davonlaufen, Sie werden es selbst sehen! ...« murmelte Porfirij, an der Tür lauschend.

In diesem Augenblick ließ sich wirklich im anderen Zimmer dicht hinter der Tür etwas wie ein Geräusch vernehmen.

»Ah, sie kommen!« schrie Raskolnikow. »Du hast nach ihnen geschickt! ... Du hast sie erwartet! Du hast es berechnet ... Nun, zeig sie her alle: die Delegierten, die Zeugen, wenn du willst ... Zeig sie her! Ich bin bereit! Bereit!«

Hier trat aber ein sonderbares Ereignis ein, etwas beim normalen Gang der Dinge so Unerwartetes, daß weder Raskolnikow noch Porfirij Petrowisch auf einen solchen Ausgang hatten rechnen können.

VI

Raskolnikows Erinnerung an diesen Moment stellte sich später wie folgt dar:

Das Geräusch hinter der Tür nahm schnell zu, und die Tür wurde ein wenig geöffnet.

»Was ist los?!« schrie Porfirij Petrowitsch ärgerlich. »Ich habe doch gesagt ...«

Es erfolgte keine sofortige Antwort, man merkte aber, daß hinter der Tür sich mehrere Menschen befanden und jemand fortzuziehen suchten.

»Was ist denn los?« fragte Porfirij Petrowitsch beunruhigt.

»Wir haben den Arrestanten gebracht, den Nikolai«, antwortete eine Stimme.

»Nicht nötig! Fort! Warten! ... Was will er hier! Was ist das für eine Wirtschaft!« rief Porfirij, zur Tür stürzend.

»Ja, er ...« begann wieder dieselbe Stimme und brach plötzlich ab.

Zwei Sekunden, nicht länger dauerte ein richtiger Kampf; dann schien jemand einen anderen aus aller Kraft zurückgestoßen zu haben, und gleich darauf trat ein sehr bleicher Mann direkt ins Arbeitszimmer Porfirij Petrowitschs.

Das Aussehen dieses Menschen war auf den ersten Blick sehr sonderbar. Er sah gerade vor sich hin, schien aber niemand zu sehen. In seinen Augen leuchtete Entschlossenheit, zugleich aber bedeckte eine Totenblässe sein Gesicht, als hätte man ihn zur Richtstätte gebracht. Seine blutleeren Lippen zuckten leicht.

Er war noch sehr jung, gekleidet wie ein Mann aus dem Volke, von mittlerem Wuchse, hager, mit auf Bauernart rund beschnittenen Haaren und feinen, trockenen Gesichtszügen. Der Mann, den er so plötzlich zurückgestoßen hatte, stürzte als erster ihm ins Zimmer nach und packte ihn an der Schulter; es war ein Wachsoldat; Nikolai zog den Arm zurück und riß sich wieder los.

In der Tür drängten sich mehrere Neugierige. Einige von ihnen wollten hereinkommen. Das alles spielte sich in einem Augenblick ab.

»Fort, es ist noch zu früh! Wart', bis man dich ruft! ... Warum hat man ihn so früh hergebracht?« murmelte höchst ärgerlich und scheinbar verlegen Porfirij Petrowitsch.

Nikolai kniete aber plötzlich nieder.

»Was hast du?« rief Porfirij erstaunt.

»Ich bin schuldig! Die Sünde ist mein! Ich bin der Mörder!« sagte plötzlich Nikolai, um Atem ringend, doch mit ziemlich lauter Stimme.

An die zehn Sekunden schwiegen alle wie erstarrt; selbst der Wachsoldat taumelte zurück und trat nicht mehr an Nikolai heran; er retirierte mechanisch zur Tür und blieb unbeweglich stehen.

»Was ist los?« schrie Porfirij Petrowitsch, aus der Erstarrung erwachend.

»Ich bin ... der Mörder ...« wiederholte Nikolai nach kurzem Schweigen.

»Wie ... du ... Wie ... Wen hast du ermordet?«

Porfirij Petrowitsch verlor sichtlich die Fassung. Nikolai schwieg wieder eine Weile.

»Aljona Iwanowna und ihre Schwester, Lisaweta Iwanowna habe ich ... mit einem Beil ... ermordet. Es war eine Verblendung«, fügte er plötzlich hinzu und schwieg wieder.

Er lag noch immer auf den Knien.

Porfirij Petrowitsch stand noch einige Augenblicke wie sinnend da, dann fuhr er plötzlich auf und winkte den ungebetenen Zeugen zu, fortzugehen. Jene verschwanden sofort, und die Tür wurde zugemacht. Dann blickte er Raskolnikow an, der in der Ecke stand und Nikolai mit wahnsinnigen Augen ansah, und ging auf ihn zu; plötzlich blieb er aber stehen, sah ihn an, richtete den Blick wieder auf Nikolai, dann wieder auf Raskolnikow, dann wieder auf Nikolai und stürzte plötzlich, wie von einem neuen Gedanken erleuchtet, auf Nikolai.

»Was drängst du dich nur mit deiner Verblendung auf!« rief er ihm beinahe gehässig zu. »Ich habe dich noch nicht gefragt, ob es eine Verblendung war oder nicht! Sag: hast du gemordet?«

»Ich bin der Mörder ... ich gestehe ...« sagte Nikolai.

»Ah! Womit hast du gemordet?«

»Mit einem Beil. Ich hatte mir eines vorbereitet.«

»Ach, wie der eilt! Du allein?«

Nikolai verstand die Frage nicht.

»Hast du allein gemordet?«

»Allein. Mitjka ist aber unschuldig und hat damit nichts zu tun.«

»Komm mir noch nicht mit dem Mitjka! Ach! ...«

»Wie bist du aber, nun, wie bist du damals die Treppe hinuntergelaufen? Die Hausknechte haben doch euch beide gesehen?«

»Das war, um den Verdacht abzulenken ... damals ... als ich mit dem Mitjka lief ...« antwortete Nikolai hastig, als hätte er diese Antwort schon vorher vorbereitet.

»Da haben wir es!« rief Porfirij böse. »Es sind nicht seine eigenen Worte, die er spricht!« murmelte er wie vor sich hin und sah im selben Augenblick wieder Raskolnikow an.

Er hatte sich so ganz dem Nikolai gewidmet, daß er für einen Augenblick sogar Raskolnikow vergaß. Jetzt kam er zu sich und wurde sogar verlegen ...

»Rodion Romanowitsch, Väterchen! Entschuldigen Sie!« rief er, zu ihm stürzend. »So geht es nicht; ich bitte Sie ... hier haben Sie nichts zu suchen ... ich bin auch selbst ... sehen Sie, was für Überraschungen! ... Ich bitte Sie! ...«

Und er nahm ihn bei der Hand und zeigte auf die Tür.

»Es scheint, Sie haben es nicht erwartet?« sagte Raskolnikow, der natürlich noch nichts klar begriff, aber schon neuen Mut gefaßt hatte.

»Aber auch Sie, Väterchen, haben es nicht erwartet. Wie nur Ihr Händchen zittert! He-he-he!«

»Aber auch Sie zittern, Porfirij Petrowitsch.«

»Auch ich zittere; ich habe es nicht erwartet! ...«

Sie standen schon in der Tür. Porfirij wartete ungeduldig, daß Raskolnikow hinausgehe.

»Und Ihre Überraschung werden Sie mir gar nicht zeigen?« fragte plötzlich Raskolnikow höhnisch.

»Er spricht, und die Zähnchen im Munde klappern ihm nur so, he-he! Sie sind ein ironischer Mensch! Also auf Wiedersehen!«

»Oder besser: leben Sie wohl

»So Gott will, so Gott will«, murmelte Porfirij Petrowitsch mit einem schiefen Lächeln.

Beim Passieren der Kanzlei merkte Raskolnikow, daß viele ihn aufmerksam ansahen. In der Menge im Vorzimmer bemerkte er auch die beiden Hausknechte aus jenemHause, die er damals am Abend zum Revieraufseher schicken wollte. Sie standen da und warteten auf etwas. Kaum war er aber auf die Treppe getreten, als er hinter sich wieder die Stimme Porfirij Petrowitschs hörte. Er wandte sich um und sah, daß dieser ihm ganz außer Atem nachlief.

»Nur ein Wort, Rodion Romanowitsch; alles weitere hängt von Gott ab, aber ich werde Sie auch ein wenig in aller Form vernehmen müssen ... Wir sehen uns also noch, nicht wahr?«

Und Porfirij blieb vor ihm lächelnd stehen.

»Nicht wahr?« fügte er noch einmal hinzu.

Man konnte annehmen, daß er noch etwas sagen wollte, es aber nicht über die Lippen bringen konnte.

»Sie müssen mich wegen des Früheren entschuldigen, Porfirij Petrowitsch ... ich ließ mich hinreißen«, begann Raskolnikow, der die Fassung schon so weit gewonnen hatte, daß er den unüberwindlichen Wunsch empfand, seine Unbefangenheit zur Schau zu stellen.

»Macht nichts, macht nichts«, erwiderte Porfirij fast freudig. »Auch ich selbst ... Einen giftigen Charakter habe ich, ich gestehe es, ich gestehe es! Wir sehen uns aber noch. So Gott will, sogar sehr! ...«

»Und werden einander endgültig erkennen?« fiel Raskolnikow ein.

»Und werden einander endgültig erkennen«, bestätigte Porfirij Petrowitsch, die Augen zusammenkneifend und ihn sehr ernst anblickend. »Und jetzt zum Namenstag?«

»Zu einer Beerdigung.«

»Ja, richtig, zur Beerdigung! Schonen Sie aber Ihre Gesundheit, Ihre Gesundheit ...«

»Ich aber weiß gar nicht, was ich Ihnen meinerseits wünschen soll!« entgegnete Raskolnikow, der schon die Treppe hinunterging, sich aber plötzlich wieder zu Porfirij Petrowitsch umwandte. »Ich würde Ihnen mehr Erfolg wünschen, aber Ihr Amt ist doch gar zu komisch!«

»Warum ist es denn komisch?« fragte Porfirij Petrowitsch, der sich schon auch umgewandt hatte, sofort die Ohren spitzend.

»Aber gewiß! Diesen armen Mikolka haben Sie doch sicher ordentlich gequält, auf Ihre psychologische Manier gepeinigt, bis er mit dem Geständnis kam! Tag und Nacht haben Sie ihm wohl zugeredet: ›Du bist der Mörder, du bist der Mörder! ...‹ Und jetzt, wo er es gestanden hat, werden Sie ihn wohl wieder auf die Folter spannen: ›Du lügst, du bist nicht der Mörder! Kannst nicht der Mörder sein! Es sind nicht deine eigenen Worte, die du sprichst!‹ Ist denn nach alledem Ihr Amt nicht komisch?«

»He-he-he! Und Sie haben es schon bemerkt, wie ich eben sagte: ›Es sind nicht seine eigenen Worte, die er spricht‹?«

»Warum soll man es nicht merken?«

»He-he! Sie sind scharfsinnig, sehr scharfsinnig! Ein lebhafter Geist! Und Sie treffen immer die komischste Seite ... he-he! ... Man sagt doch, daß unter den Schriftstellern diese Eigenschaft bei Gogol am stärksten ausgeprägt war?«

»Ja, bei Gogol.«

»Richtig, bei Gogol ... auf angenehmes Wiedersehen.«

»Auf angenehmes Wiedersehen ...«

Raskolnikow ging direkt nach Hause. Er war dermaßen konfus und verwirrt, daß er, als er schon zu Hause war und sich aufs Sofa warf, eine Viertelstunde sitzen mußte, um auszuruhen und seine Gedanken zu sammeln. An Nikolai versuchte er nicht mal zu denken: er fühlte sich wie niedergeschmettert: er fühlte, daß im Geständnis Nikolais etwas Unbegreifliches lag, etwas Erstaunliches, das er jetzt unmöglich erfassen konnte. Doch das Geständnis Nikolais war eine unumstößliche Tatsache. Die Folgen dieser Tatsache wurden ihm auch sofort klar: die Lüge mußte unbedingt mal ans Licht kommen, und dann würde man wieder ihn vornehmen. Aber bis dahin war er wenigstens frei und mußte unbedingt etwas für sich unternehmen, denn die Gefahr war unvermeidlich.

Doch in welchem Maße? Die Lage begann sich zu klären. Als er sich der ganzen Szene bei Porfirij, die er vorhin erlebt hatte, im Rohen, im allgemeinen Zusammenhange erinnerte, mußte er noch einmal erschauern. Natürlich kannte er noch nicht alle Absichten Porfirijs und konnte nicht alle seine Berechnungen von vorhin durchschauen. Doch ein Teil des Spiels war nun aufgedeckt, und gewiß konnte niemand besser als er verstehen, wie gefährlich für ihn dieser »Zug« im Spiele Porfirijs war. Noch ein wenig, und er hätte sich vollkommen verraten können. Da Porfirij seinen krankhaften Charakter kannte und ihn auf den ersten Blick richtig eingeschätzt und durchschaut hatte, ging er vielleicht allzu entschlossen, doch mit fast unfehlbarer Sicherheit vor. Allerdings hatte sich Raskolnikow schon früher stark kompromittiert, aber zu Tatsachenwar es doch nicht gekommen; alles war nur noch relativ. Faßt er aber jetzt alles wirklich richtig auf? Irrt er auch nicht? Auf welche Resultate ging Porfirij heute aus? Hatte er für heute wirklich etwas vorbereitet? Was denn? Hatte er heute wirklich auf etwas gewartet, und worauf? Wie würden sie sich heute getrennt haben, wenn nicht die unerwartete Katastrophe mit Nikolai dazwischengekommen wäre?

Porfirij hatte fast sein ganzes Spiel aufgedeckt, wenn auch mit einem gewissen Risiko, aber er hatte es aufgedeckt: wenn er noch mehr gehabt hätte (glaubte Raskolnikow), so würde er auch das aufgedeckt haben. Was war das für eine »Überraschung«? War es nur eine Verhöhnung? Hatte das etwas zu bedeuten oder nicht? Konnte etwas dahinter stecken, was auch nur irgendwie einer Tatsache, einer positiven Anklage ähnlich sähe? Der Mann von gestern? Ist der wieder in die Erde versunken? Wo war er heute? Wenn Porfirij überhaupt etwas Positives in Händen hat, so kann es nur mit dem Mann von gestern zusammenhängen ...

Er saß auf dem Sofa, den Kopf tief gesenkt, die Ellbogen in die Knie gestemmt, das Gesicht in die Hände vergraben. Das nervöse Zittern am ganzen Körper dauerte an. Schließlich stand er auf, nahm die Mütze, dachte eine Weile nach und ging zur Tür.

Er hatte ein Vorgefühl, daß er wenigstens diesen ganzen Tag fast ganz sicher sein durfte. Plötzlich erfüllte ein beinahe freudiges Gefühl sein Herz. Er wollte so schnell als möglich zu Katerina Iwanowna. Zur Beerdigung kam er selbstverständlich zu spät, doch zum Totenmahl konnte er noch zurechtkommen, und dort würde er sofort Ssonja wiedersehen.

Er blieb stehen, dachte nach, und ein schmerzvolles Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen.

»Heute! Heute!« wiederholte er vor sich hin. »Ja, heute! So muß es ...«

Kaum wollte er die Tür öffnen, als sie plötzlich von selbst aufging. Er fuhr zusammen und prallte zu rück. Die Tür ging langsam und allmählich auf, und plötzlich zeigte sich eine Gestalt: es war der gestrige Mann von unter der Erde.

Der Mann blieb an der Schwelle stehen, blickte Raskolnikow schweigend an und trat einen Schritt ins Zimmer. Er sah genau so aus wie gestern, hatte die gleiche Figur und die gleiche Kleidung, aber in seinem Gesicht und Blick war eine große Veränderung vorgegangen: er blickte jetzt traurig drein und seufzte, nachdem er eine Weile dagestanden hatte, schwer auf. Es fehlte nur, daß er eine Wange auf eine Hand stützte und den Kopf zur Seite neigte, um ganz wie ein altes Weib auszusehen.

»Was wollen Sie?« fragte Raskolnikow, mehr tot als lebendig.

Der Mann schwieg und verneigte sich plötzlich tief, fast bis zur Erde. Jedenfalls berührte er die Erde mit einem Finger der rechten Hand.

»Was wollen Sie?« rief Raskolnikow aus.

»Ich habe mich an Ihnen vergangen«, sagte leise der Mann.

»Womit?«

»Mit bösen Gedanken.«

Beide sahen einander an.

»Es ärgerte mich. Als Sie damals hinkamen, vielleicht im Rausche, und die Hausknechte aufs Revier schickten und nach dem Blute fragten, ärgerte es mich, daß man Sie gehen ließ und für einen Betrunkenen hielt. Ich ärgerte mich so, daß ich den Schlaf verlor. Und da ich mir Ihre Adresse merkte, kam ich gestern her und fragte nach ...«

»Wer kam her«, unterbrach ihn Raskolnikow, dem nun ein Licht aufging.

»Ich, das heißt, ich habe Sie gekränkt.«

»Wohnen Sie in jenem Hause?«

»Ja, im selben Hause, und ich stand damals im Tore mit den andern, haben Sie es vergessen? Ich betreibe auch mein Handwerk dort. Ich bin Kürschner und Kleinbürger, nehme die Arbeit ins Haus ... und noch mehr ärgerte ich mich ...«

Und Raskolnikow erinnerte sich plötzlich der ganzen Szene von vorgestern im Tore; er erinnerte sich, daß außer den Hausknechten dort damals noch einige Menschen gestanden hatten, auch Frauen. Er entsann sich einer Stimme, die vorschlug, ihn gleich aufs Revier zu führen. Auf das Gesicht desjenigen, der das gesagt hatte, konnte er sich nicht besinnen und erkannte es auch jetzt nicht wieder, aber er erinnerte sich noch, daß er ihm sogar etwas geantwortet und sich nach ihm umgewandt hatte ...

So fand also der ganze Schrecken von gestern seine Lösung. Am entsetzlichsten war der Gedanke, daß er wegen eines so nichtigenUmstandes beinahe zugrundegegangen wäre, sich beinahe zugrundegerichtet hätte. Folglich wußte dieser Mensch außer des Versuches, die Wohnung zu mieten, und des Gesprächs über das Blut nichts zu erzählen. Folglich wußte auch Porfirij nichts außer diesem Fieberwahnund der Psychologie, die zwei Endenhat, nichts Positives, keine Tatsachen. Wenn folglich keine Tatsachen mehr auftauchen (und es dürfen keine auftauchen, sie dürfen nicht, sie dürfen nicht!), so ... was kann man ihm dann anhaben? Womit kann man ihn endgültig überführen, selbst wenn man ihn verhaftet? Folglich hat Porfirij das von der Wohnung erst jetzt, soeben erfahren und hat bisher nichts gewußt.

»Haben Sie es heute dem Porfirij gesagt ... daß ich in die Wohnung kam?« rief er aus, durch den plötzlichen Einfall überrascht.

»Was für einem Porfirij?«

»Dem Untersuchungsrichter.«

»Ich hab' es ihm gesagt. Die Hausknechte wollten damals nicht hingehen, darum ging ich selbst hin.«

»Heute?«

»Ein Weilchen vor Ihnen war ich dort. Und ich hörte alles, wie er Sie quälte.«

»Wo? Was? Wann?«

»Gleich nebenan, hinter dem Verschlag habe ich die ganze Zeit gesessen.«

»Wie? Also waren Sie die Überraschung? Wie ist es nur möglich? Ich bitte Sie!«

»Als ich sah,« begann der Kleinbürger, »daß die Hausknechte auf meine Worte hin nicht hingehen wollten, weil es, wie sie sagten, spät sei und er vielleicht auch böse werden könnte, daß sie um eine solche Stunde gekommen sind, ärgerte ich mich und konnte nicht mehr schlafen und begann mich zu erkundigen. Und nachdem ich mich gestern erkundigt hatte, ging ich heute hin. Wie ich zum erstenmal kam, war er nicht da; eine Stunde später – ließ man mich nicht vor, und wie ich zum drittenmal kam, da empfing er mich. Ich fing an, ihm alles zu erzählen, und er fing an, im Zimmer hin und her zu rennen und sich mit der Faust vor die Brust zu schlagen. ›Was macht ihr mit mir,‹ sagte er, ›ihr Räuber? Hätte ich das gewußt, so würde ich ihn durch die Polizei geholt haben!‹ Dann lief er hinaus, rief einen anderen herbei und redete mit ihm in einer Ecke, und dann wandte er sich wieder an mich, und fing an, mich auszufragen und zu schimpfen. Er machte mir viele Vorwürfe; ich aber berichtete ihm alles und sagte, daß Sie mir auf meine gestrigen Worte nichts zu antworten wagten und daß Sie mich nicht wiedererkannt hätten. Und er fing wieder an, hin und her zu laufen und sich mit der Faust vor die Brust zu schlagen und zu wüten; als man aber Sie anmeldete, sagte er mir: ›Geh hinter den Verschlag, sitze da und rühr dich nicht, was du auch hörst!‹ Und er brachte mir auch einen Stuhl hin und schloß mich ein; ›vielleicht werde ich dich noch brauchen‹, sagte er mir. Als man aber den Nikolai brachte, ließ er mich gleich nach Ihnen heraus und sagte: ›Ich werde dich noch mal vorladen und werde dich noch verhören ...‹«

»Hat er den Nikolai in deinem Beisein verhört?«

»Gleich nachdem er Sie herausließ, ließ er auch mich heraus und fing den Nikolai zu verhören an.«

Der Kleinbürger hielt inne und verbeugte sich plötzlich wieder, wobei er mit dem Finger den Boden berührte.

»Verzeihen Sie mir die Verleumdung und die Bosheit.«

»Gott wird's verzeihen.«

Kaum hatte er das gesagt, verneigte sich der Kleinbürger wieder tief, doch diesmal nicht bis zur Erde; dann wandte er sich langsam um und verließ das Zimmer.

– Alles hat zwei Enden, jetzt hat alles zwei Enden! – wiederholte Raskolnikow vor sich hin und ging aus dem Zimmer, rüstiger denn je. – Jetzt wollen wir noch kämpfen! – sagte er sich mit boshaftem Lächeln, als er die Treppe hinunterging. Sein Ärger richtete sich gegen ihn selbst; mit Verachtung und Beschämung erinnerte er sich seiner »Kleinmütigkeit«.