Zweiter Teil

I

So lag er sehr lange. Ab und zu kam er gleichsam zu sich und merkte in diesen Augenblicken, daß es schon längst Nacht war, und doch fiel ihm nicht ein, aufzustehen. Endlich sah er, daß es so hell war, wie am Tage. Er lag auf dem Sofa, rücklings, noch starr von seiner Ohnmacht. Ein fürchterliches, verzweifeltes Geschrei drang von der Straße zu ihm herauf; er hörte es übrigens jede Nacht gegen drei Uhr unter seinem Fenster. Dieses Geschrei hatte ihn auch jetzt geweckt. – Ah! Da kommen schon die Betrunkenen aus den Schenken, – dachte er sich: – also ist es bald drei! – Er setzte sich auf, und da fiel ihm alles ein! Plötzlich, in einem Augenblick fiel ihm alles ein!

Im ersten Augenblick glaubte er, er würde verrückt werden. Eine furchtbare Kälte ergriff ihn; die Kälte kam aber vom Fieber, das schon längst, als er noch schlief, angefangen hatte. Und jetzt erfaßte ihn ein Schüttelfrost, daß ihm beinahe die Zähne heraussprangen und alles in ihm bebte. Er öffnete die Tür und lauschte hinaus: im Hause schlief alles. Mit Erstaunen betrachtete er sich und alles, was ihn umgab, und konnte es nicht begreifen: wie konnte er nur gestern, als er heimgekommen, die Tür nicht zuhaken und sich auf das Sofa nicht nur in den Kleidern, sondern auch mit dem Hute werfen; der Hut war herabgerollt und lag auf dem Fußboden, neben dem Kissen. – Wenn jemand gekommen wäre, was hätte er sich gedacht? Daß ich betrunken bin, aber ... – Er stürzte zum Fenster. Es war genügend hell, und er beeilte sich, seine ganze Kleidung vom Kopfe bis zu den Füßen zu untersuchen, ob keine Spuren da seien. So ging es aber nicht; zitternd vor Schüttelfrost, fing er an, alles auszuziehen und sorgfältig von allen Seiten zu besehen. Er drehte alles um, bis zum letzten Faden und Fetzen, und da er sich selbst nicht traute, wiederholte er die Untersuchung an die dreimal. Es war aber anscheinend nichts zu sehen, auch nicht die geringste Spur; nur ganz unten an der Hose, wo diese ausgefranst war, waren an den Fransen noch Spuren eingetrockneten Blutes geblieben. Er griff nach seinem großen Taschenmesser und schnitt die Fransen ab. Sonst war anscheinend nichts zu sehen. Plötzlich fiel ihm ein, daß der Beutel und alle die Sachen, die er aus der Truhe der Alten genommen hatte, noch immer in seinen Taschen lagen. Es war ihm bisher gar nicht eingefallen, sie herauszunehmen und zu verstecken! Auch jetzt eben, als er seine Kleider untersuchte, hatte er an diese Sachen gar nicht gedacht! Was ging denn mit ihm vor? Augenblicklich begann er sie herauszunehmen und auf den Tisch zu werfen. Nachdem er alles hervorgeholt und selbst die Taschen herausgekehrt hatte, um sich zu überzeugen, ob nicht doch etwas zurückgeblieben sei, trug er diesen ganzen Haufen in die Ecke. Unten in dieser Ecke war die von der Wand abstehende Tapete zerrissen, und er begann sofort alles in das Loch unter der Tapete zu stecken: »Alles hat Platz gefunden! Alles bin ich los und auch den Beutel!« dachte er sich erfreut. Er stand auf und blickte stumpf in die Ecke auf die Tapete, die über dem Loch noch mehr abstand. »Mein Gott,« flüsterte er in Verzweiflung, »was ist mit mir los? Ist denn das versteckt? Versteckt man denn so?«

Allerdings hatte er mit den Gegenständen nicht gerechnet; er hatte geglaubt, daß er nur Geld finden würde, und darum keinen Platz vorher vorbereitet. »Aber jetzt, jetzt, worüber freue ich mich denn?« dachte er. »Versteckt man denn so? Wirklich, mein Verstand läßt mich im Stich!« Erschöpft setzte er sich aufs Sofa und wurde wieder von einem unerträglichen Schüttelfrost gepackt. Mechanisch zog er den neben ihm auf dem Stuhl liegenden früheren Studentenmantel, der warm gefüttert, doch völlig zerlumpt war, zu sich heran, bedeckte sich mit ihm und fiel wieder in einen Schlaf mit schweren Fieberträumen. Die Sinne verließen ihn.

Doch schon nach höchstens fünf Minuten sprang er von neuem auf und stürzte sich in größter Erregung wieder zu seinen Kleidern. »Wie konnte ich bloß einschlafen, wo noch nichts getan ist! Richtig: die Schlinge unter der Achsel habe ich noch nicht abgetrennt! Ich hatte es vergessen, eine so wichtige Sache vergessen! Ein so wichtiges Indizium!« Er riß die Schlinge mit einem Ruck ab und begann sie eilig in Stücke zu reißen und diese unter das Kissen in die Wäsche zu stopfen. »Zerrissene Leinwandfetzen werden keinen Verdacht erregen; ich glaube, ich glaube, es stimmt!« wiederholte er, während er mitten im Zimmer stand und mit schmerzvoll gespannter Aufmerksamkeit von neuem um sich, auf den Fußboden und überallhin blickte, ob er nicht noch etwas vergessen hätte. Die Überzeugung, daß alles, selbst das Gedächtnis, selbst die einfachste Überlegung ihn verließen, begann ihn unerträglich zu quälen. »Was, fängt es denn schon an, beginnt denn schon die Strafe? Ja, so ist es, so ist es!« Und in der Tat, die Fransen, die er von der Hose abgeschnitten hatte, lagen auf dem Fußboden, mitten im Zimmer, damit sie jeder Eintretende sofort sehe! »Was ist denn mit mir los?!« rief er wieder, wie verloren.

Da kam ihm ein seltsamer Gedanke: daß vielleicht auch seine ganzen Kleider blutig seien, daß vielleicht viele Blutflecken da seien, die er bloß nicht sehe, nicht bemerke, weil seine Sinne geschwächt und gleichsam zersplittert seien ... sein Verstand verdüstert sei ... Plötzlich erinnerte er sich, daß auch an dem Beutel Blut war. »Ach! Also muß auch in meiner Tasche Blut sein, weil ich den noch nassen Beutel in die Tasche steckte!« Augenblicklich kehrte er die Tasche heraus, und, in der Tat, auf dem Futter der Tasche waren noch Blutflecken! »Also hat mich die Vernunft noch nicht ganz verlassen, also kann ich noch überlegen, habe noch ein Gedächtnis, wenn ich von selbst darauf kam!« sagte er sich triumphierend und atmete freudig aus voller Brust auf. »Es war nur ein fieberhafter Schwächeanfall, ein kurzer Fiebertraum.« Er riß das ganze Futter aus der linken Hosentasche heraus. In diesem Augenblick fiel ein Sonnenstrahl auf seinen linken Stiefel; auf dem Strumpf, der aus dem Stiefel hervorlugte, glaubte er Spuren zu sehen. Er zog den Stiefel aus. »In der Tat, Spuren! Die ganze Strumpfspitze ist mit Blut durchtränkt!« Wahrscheinlich war er damals aus Versehen in die Pfütze getreten ...

»Was soll ich jetzt damit anfangen? Wo soll ich diesen Strumpf, die Fransen und die Tasche hintun?«

Er raffte alles in eine Hand zusammen und blieb mitten im Zimmer stehen. »In den Ofen? Aber im Ofen wird man doch zu allererst suchen. Verbrennen? Womit soll ich es verbrennen? Ich habe nicht mal Streichhölzer. Nein, besser wäre es, auszugehen und alles fortzuwerfen!« wiederholte er. »Ja! Das Beste ist Fortwerfen!« wiederholte er, sich wieder auf das Sofa setzend: »Und zwar sofort, augenblicklich, ohne Zeit zu verlieren ...« Statt dessen fiel sein Kopf wieder auf das Kissen; wieder durchschauerte ihn eisige Kälte, wieder zog er seinen Mantel über sich. Lange, mehrere Stunden hintereinander durchzuckte ihn im Schlafe der Gedanke: »Sofort, ohne aufzuschieben, weggehen und alles wegwerfen, damit ich es ein für allemal los bin!« Er versuchte einige Male vom Sofa aufzustehen, konnte es aber nicht mehr. Endgültig geweckt wurde er durch ein starkes Klopfen an der Tür.

»Mach doch auf, lebst du oder nicht? Immer schläft er!« schrie Nastasja, mit der Faust an die Tür schlagend. »Ganze Tage schläft er wie ein Hund! Ist auch ein Hund! Mach doch auf! Ist ja bald elf.«

»Vielleicht ist er gar nicht zu Hause«, versetzte eine Männerstimme.

»Gott, das ist doch die Stimme des Hausknechts ... Was will er bloß?«

Er sprang auf und setzte sich aufs Sofa. Das Herz pochte so stark, daß es sogar wehtat.

»Wie wäre dann die Tür zugehakt?« entgegnete Nastasja. »Sieh mal an, er hat angefangen sich einzuschließen! Fürchtet er, daß man ihn selbst stiehlt? Mach doch auf, du kluger Kopf, mach auf!«

»Was wollen die? Warum ist der Hausknecht dabei? Sie wissen alles. Soll ich Widerstand leisten oder öffnen? Ist ja alles eins ...«

Er stand halb auf, beugte sich vor und nahm den Haken ab.

Seine Kammer war gerade so groß, daß er den Türhaken abnehmen konnte, ohne von seinem Lager aufzustehen.

Es stimmte: vor ihm standen der Hausknecht und Nastasja.

Nastasja sah ihn etwas eigentümlich an. Er warf einen herausfordernden und verzweifelten Blick auf den Hausknecht. Jener reichte ihm schweigend ein graues, doppelt gefaltetes und mit Flaschenlack versiegeltes Papier.

»Eine Vorladung aus dem Bureau,« sagte er, als er ihm das Papier einhändigte.

»Aus welchem Bureau? ...«

»Sie sollen auf die Polizei kommen, ins Bureau. Man weiß doch, was es für ein Bureau ist.«

»Auf die Polizei?! ... Wozu? ...«

»Woher soll ich das wissen? Wenn man vorgeladen wird, muß man hingehen.« Er blickte ihn aufmerksam an, sah sich im Zimmer um und wandte sich zum Gehen.

»Ich glaube, er ist ganz krank!« bemerkte Nastasja, die ihn nicht aus den Augen ließ. Auch der Hausknecht wandte für einen Augenblick den Kopf um. »Seit gestern liegt er im Fieber«, fügte sie hinzu.

Er gab keine Antwort und hielt das Papier in den Händen, ohne es zu öffnen.

»Bleib nur liegen,« fuhr Nastasja etwas milder fort, als sie sah, daß er die Füße vom Sofa herabließ. »Wenn du krank bist, so brauchst du nicht zu gehen: es brennt nicht. Was hast du in den Händen?«

Er blickte hin: in der rechten Hand hielt er noch die abgeschnittenen Fransen, den Strumpf und die Fetzen des herausgerissenen Taschenfutters. So hatte er mit diesen Dingen in der Hand geschlafen. Als er später darüber nachdachte, erinnerte er sich, daß er, auch als er im Fieber lag und ab und zu zum Bewußtsein kam, dies alles fest in der Hand zusammendrückte und dann wieder einschlief.

»Sieh nur an, was er für Lumpen angesammelt hat! Und er schläft mit ihnen, als wäre es eine Kostbarkeit ...«

Nastasja fing zu lachen an. Es war ein krankhaftes, nervöses Lachen.

Sofort stopfte er alles unter den Mantel und heftete auf sie seinen gespannten Blick. Obwohl er in diesem Augenblick kaum klar denken konnte, fühlte er doch, daß man einen Menschen anders behandeln würde, wenn man zu ihm käme, um ihn zu verhaften. – Aber ... die Polizei? –

»Solltest doch etwas Tee trinken! Willst du? Ich bringe dir welchen; ist noch übriggeblieben ...«

»Nein ... ich gehe; ich gehe gleich hin«, murmelte er, aufstehend.

»Wirst wohl die Treppe nicht hinuntergehen können?«

»Ich gehe ...«

»Wie du willst.«

Sie ging mit dem Hausknecht hinaus. Er stürzte sofort zum Fenster, um den Strumpf und die Fransen zu untersuchen. »Flecken sind wohl da, aber kaum zu sehen; alles ist schmutzig geworden, abgerieben und hat schon die Farbe verändert. Wer es nicht vorher weiß, der wird nichts bemerken. Also kann auch Nastasja aus der Ferne nichts gesehen haben, Gott sei Dank!« Jetzt erst entfaltete er zitternd die Vorladung und begann zu lesen; lange las er das Papier, bis er es endlich begriff. Es war eine gewöhnliche Vorladung vom Revier, heute um halb zehn ins Bureau des Revieraufsehers zu kommen.

»Wann hat man so was gesehen? Ich habe doch mit der Polizei nichts zu schaffen! Und warum gerade heute!« dachte er in schmerzvoller Verwirrung. »Mein Gott, wäre das doch schneller zu Ende!« Er wollte schon niederknien, um zu beten, fing aber zu lachen an, nicht über das Gebet, sondern über sich selbst. Dann begann er, sich eilig anzukleiden. »Wenn ich zugrundegehe, so gehe ich eben zugrunde! Ich muß aber den Strumpfanziehen!« fiel es ihm plötzlich ein: »Er wird vom Staub noch schmieriger werden, und dann verschwinden alle Spuren.« Kaum aber hatte er ihn angezogen, als er ihn gleich wieder angeekelt und entsetzt herunterriß. Er riß ihn herunter, überlegte sich aber gleich, daß er keinen anderen hatte, zog ihn wieder an und begann wieder zu lachen. »Alles ist Konvention, alles ist relativ, das sind ja bloß leere Formen!« ging es ihm flüchtig durch den Kopf, streifte nur die äußerste Oberfläche seines Hirns, doch er zitterte am ganzen Leibe. »Nun hab ich ihn doch angezogen! Schließlich hab ich es doch getan!« Sein Lachen ging aber sogleich in Verzweiflung über. »Nein, das geht über meine Kraft ...« dachte er sich. Seine Füße zitterten. »Das kommt von der Angst«, murmelte er vor sich hin. Der Kopf schwindelte ihm und schmerzte vor Fieber. »Das ist eine List! Sie wollen mich mit List einfangen und plötzlich überrumpeln!« fuhr er fort, als er auf die Treppe hinausging. »Es ist schlimm, daß ich im Fieber bin ... ich kann leicht irgendeine Dummheit sagen ...«

Auf der Treppe erinnerte er sich, daß er alle Sachen im Loche hinter der Tapete liegengelassen hatte. »Vielleicht werden sie aber gerade jetzt, wo ich weg bin, eine Haussuchung machen«, ging es ihm plötzlich durch den Sinn, und er blieb stehen. Seiner bemächtigten sich aber eine solche Verzweiflung und ein solcher, man darf wohl sagen, Zynismus des Unterganges, daß er gleichgültig mit der Hand winkte und seinen Weg fortsetzte.

»Wenn es doch nur schneller zu Ende wäre! ...«

Draußen war es unerträglich heiß; an allen diesen Tagen hatte es keinen Tropfen geregnet. Wieder der Staub, die Ziegelsteine und Kalk, wieder der Gestank aus den Läden und Schenken, wieder jeden Augenblick Betrunkene, finnische Hausierer und schlafende Droschkenkutscher. Die Sonne leuchtete ihm grell in die Augen, so daß sie ihm schmerzten, und der Kopf schwindelte ihm, – das gewöhnliche Gefühl eines Fieberkranken, wenn er plötzlich bei grellem Sonnenlichte auf die Straße tritt.

Als er die gestrigeStraße erreichte, blickte er mit qualvoller Unruhe um die Ecke, auf jenesHaus ... und sah sofort wieder weg.

»Wenn sie mich fragen, so werde ich es vielleicht sagen«, dachte er sich, als er sich dem Polizeibureau näherte.

Das Bureau lag eine Viertelwerst von seiner Wohnung entfernt. Es war kürzlich umgezogen und befand sich im dritten Stock eines neuen Hauses. In den alten Räumen war er einmal flüchtig gewesen, doch vor sehr langer Zeit. Als er in den Torweg trat, erblickte er rechts eine Treppe, die gerade ein Mann mit einem Buche in der Hand herunter kam. »Ein Hausknecht; also ist hier auch das Polizeibureau!« sagte er sich und stieg die Treppe aufs Geratewohl hinauf. Er wollte sich bei niemand und nach nichts erkundigen.

»Ich trete ein, knie nieder und erzähle alles ...« dachte er sich, während er zum dritten Stock hinaufstieg.

Die Treppe war schmal, steil, mit Schmutzwasserpfützen auf jeder Stufe. Alle Küchen von allen Wohnungen in allen vier Stockwerken gingen auf diese Treppe hinaus und standen den ganzen Tag offen. Daher war die Luft im Treppenhause furchtbar dumpf. Hinauf und hinunter kamen und gingen Hausknechte mit Büchern unterm Arm, Boten und allerlei Volk beiderlei Geschlechts. Auch die Tür zu dem Polizeibureau stand weit auf. Er trat ein und blieb im Vorzimmer stehen. Hier standen und warteten allerlei einfache Menschen. Auch hier war es außerordentlich dumpf, außerdem roch es zum Übelwerden nach frischer, noch nicht ausgetrockneter, mit verdorbenem Öl zubereiteter Farbe, mit der die Böden neu gestrichen waren. Nachdem er eine Weile gewartet hatte, entschloß er sich, weiter vorzugehen, in das nächste Zimmer. Es waren lauter winzige und niedrige Zimmerchen. Eine schreckliche Ungeduld trieb ihn immer weiter und weiter. Niemand bemerkte ihn. Im zweiten Zimmer saßen bei der Arbeit einige Schreiber, die vielleicht ein wenig besser gekleidet waren als er, dem Außern nach recht merkwürdige Menschen. Er wandte sich an einen von ihnen.

»Was willst du?«

Er zeigte die Vorladung vom Bureau.

»Sind Sie Student?« fragte jener mit einem Blick auf die Vorladung.

»Ja, gewesener Student.«

Der Schreiber musterte ihn, übrigens ganz ohne Neugier. Es war ein besonders zerzauster Mensch, der so unbeweglich blickte, als sei er von einer fixen Idee besessen.

»Von diesem erfahre ich nichts, denn ihm ist alles gleich,« dachte sich Raskolnikow.

»Gehen Sie hin zum Sekretär,« sagte der Schreiber und deutete mit dem Finger auf das allerletzte Zimmer.

Er trat in dieses Zimmer (das vierte vom Eingang), das eng und voller Menschen war; das Publikum war hier etwas besser gekleidet, als in den anderen Zimmern. Unter den Besuchern waren auch zwei Damen. Die eine, in Trauer, ärmlich gekleidet, saß vor dem Tisch, dem Sekretär gegenüber, und schrieb etwas nach seinem Diktat. Die andere Dame, eine sehr volle, puterrote Person mit Flecken im Gesicht, sehr pompös gekleidet, mit einer Brosche in der Größe einer Untertasse an der Brust, stand abseits und schien auf etwas zu warten. Raskolnikow schob dem Sekretär seine Vorladung hin. Jener blickte sie flüchtig an, sagte: »Warten Sie!« und wandte sich wieder der Dame in Trauer zu.

Er atmete erleichtert auf. »Es ist sicher nicht das!« Allmählich faßte er Mut und ermahnte sich selbst, sich zu beherrschen und zu sich zu kommen.

»Eine einzige Dummheit, irgendeine lächerliche Unvorsichtigkeit, und ich kann mich verraten! Hm! ... schade, daß hier so wenig Luft ist,« fügte er hinzu, »so schwül ... Der Kopf schwindelt mir noch mehr ... und der Verstand auch ...«

Er fühlte, daß in seinem Innern alles durcheinandergeraten war. Er fürchtete, sich nicht beherrschen zu können. Er bemühte sich, sich an etwas festzuklammern, an etwas zu denken, an etwas vollkommen Abseitsliegendes, allein das gelang ihm nicht. Der Sekretär interessierte ihn übrigens außerordentlich: er wollte gern in seinem Gesicht etwas lesen, ihn durchschauen. Es war ein junger Mann von etwa zweiundzwanzig Jahren, mit dunklem Teint und beweglichem Gesicht, das ihn älter erscheinen ließ, nach der Mode und etwas geckenhaft gekleidet, mit einem bis zum Nacken durchgezogenen Scheitel, frisiert und pomadisiert, mit einer Menge von Ringen an den weißen, sorgfältig mittels Bürste gereinigten Fingern und mit goldenen Kettchen auf der Weste. An einen anwesenden Ausländer richtete er sogar ein paar französische Worte, und zwar gar nicht schlecht.

»Luisa Iwanowna, warum setzen Sie sich nicht?« wandte er sich nebenbei an die pompöse puterrote Dame, die noch immer stand, als wagte sie es nicht, sich hinzusetzen, obwohl ein Stuhl dicht neben ihr stand.

»Ich danke«, sagte jene leise auf deutsch und ließ sich auf den Stuhl nieder, wobei ihre seidenen Röcke rauschten. Ihr hellblaues, mit weißen Spitzen garniertes Kleid bauschte sich wie ein Luftballon um ihren Stuhl auf und nahm beinahe das halbe Zimmer ein. Ein Geruch von Parfüm verbreitete sich im Zimmer. Die Dame genierte sich wohl, daß sie das halbe Zimmer einnahm und daß sie so stark nach Parfüm roch, obwohl sie zugleich ängstlich und frech, doch mit sichtlicher Unruhe lächelte.

Die Dame in Trauer war endlich fertig und machte Anstalten, aufzustehen. Plötzlich trat mit einigem Geräusch recht schneidig und bei jedem Schritte eigentümlich die Schultern bewegend, ein Offizier ins Zimmer; er warf seine Mütze mit der Kokarde auf den Tisch und setzte sich in einen Sessel. Als die pompöse Dame ihn erblickte, sprang sie auf und begann mit besonderer Begeisterung zu knicksen; der Offizier schenkte ihr aber nicht die geringste Beachtung, sie aber wagte es nicht mehr, sich in seiner Gegenwart hinzusetzen. Es war der Gehilfe des Revieraufsehers, ein Mann mit einem horizontal nach beiden Seiten abstehenden rötlichen Schnurrbart und außerordentlichen Gesichtszügen, die übrigens außer einer gewissen Frechheit nichts ausdrückten. Er blickte Raskolnikow von der Seite mit einer gewissen Entrüstung an: sein Anzug war gar zu schäbig, während seine Haltung, trotzdem er sichtlich heruntergekommen war, diesem Aufzuge gar nicht entsprach: Raskolnikow blickte ihn unvorsichtigerweise zu lange an, so daß jener sich sogar verletzt fühlte.

»Was willst du?« schrie er ihn an und war wohl nicht wenig erstaunt, als der zerlumpte Kerl gar nicht daran dachte, vor seinem blitzeschleudernden Blicke zu verschwinden.

»Ich bin vorgeladen ... schriftlich ...« brachte Raskolnikow mit Mühe hervor.

»Es ist die Geldforderung an den Studenten«, mischte sich eilig der Sekretär hinein, seinen Blick von den Akten losreißend. »Hier!« Er warf Raskolnikow ein Heft zu und zeigte ihm die Stelle. »Lesen Sie es!«

»Eine Geldforderung? Was für eine Geldforderung?« dachte sich Raskolnikow. »Es ist also sicher was anderes!« Er fuhr vor Freude zusammen. Er fühlte sich plötzlich unsagbar erleichtert. Die ganze Last war ihm vom Herzen gefallen.

»Und welche Stunde ist in Ihrer Vorladung angegeben, verehrter Herr?« schrie der Leutnant, der sich, man wußte nicht warum, immer mehr verletzt fühlte. »Man bestellt Sie für neun, jetzt ist es aber beinahe zwölf!«

»Man hat es mir erst vor einer Viertelstunde gebracht«, antwortete Raskolnikow laut und über die Schulter hinweg. Auch er war plötzlich und für sich selbst unerwartet böse geworden und fand darin sogar einen gewissen Genuß. »Es genügt wohl schon, daß ich krank, im Fieber hergekommen bin.«

»Schreien Sie bitte nicht!«

»Ich schreie nicht, ich spreche ruhig; Sie schreien mich aber an; doch ich bin Student und werde es nicht dulden, daß man mich anschreit.«

Der Gehilfe geriet in solche Wut, daß er im ersten Augenblick kein Wort hervorbringen konnte und nur so um sich spritzte. Er sprang von seinem Platze auf.

»Wollen Sie den Mu-und halten! Sie befinden sich in einem Amtsbureau. Sie dürfen sich keine Grrrobheiten erlauben, Herr!«

»Auch Sie befinden sich in einem Amtsbureau,« schrie Raskolnikow auf. »Sie schreien nicht nur, Sie rauchen auch noch eine Zigarette und benehmen sich also respektlos gegen uns alle.«

Als er es sagte, empfand er einen unbeschreiblichen Genuß.

Der Sekretär sah die beiden lächelnd an. Der hitzige Leutnant war sichtlich bestürzt.

»Das ist nicht Ihre Sache!« schrie er schließlich unnatürlich laut. »Geben Sie lieber die Erklärung ab, die man von Ihnen verlangt. Zeigen Sie es ihm, Alexander Grigorjewitsch. Es laufen Klagen gegen Sie ein! Sie zahlen Ihre Schulden nicht! Das ist mir mal ein netter Vogel!«

Raskolnikow hörte aber nicht mehr zu und griff gierig nach dem Papier, um endlich die Lösung zu finden. Er las es einmal und ein zweites Mal und begriff nichts.

»Was ist es denn?« fragte er den Sekretär.

»Man verlangt von Ihnen die Bezahlung eines Schuldscheins, es ist eine Geldforderung. Sie müssen sie entweder mit allen Kosten, Strafgeldern usw. bezahlen oder eine schriftliche Erklärung abgeben, wann Sie es bezahlen können, und sich zugleich verpflichten, vor der Bezahlung die Hauptstadt nicht zu verlassen und Ihr Eigentum weder zu verkaufen noch auf die Seite zu tun. Der Gläubiger ist aber berechtigt, Ihr Eigentum zu veräußern und mit Ihnen nach den Gesetzen zu verfahren.«

»Ja, aber ... ich schulde doch keinem Menschen etwas!«

»Das ist nicht unsere Sache. Uns wurde ein verfallener und gesetzlich protestierter Schuldschein über hundertundfünfzehn Rubel, den Sie auf den Namen der Kollegienassessorswitwe Sarnizyna vor neun Monaten ausgestellt haben und der von der Witwe Sarnizyna an den Hofrat Tschebarow durch Kauf übergegangen ist, zwecks Eintreibung übergeben, und wir fordern Sie auf, die Erklärung abzugeben.«

»Sie ist doch meine Wirtin!«

»Was macht das, daß sie Ihre Wirtin ist?«

Der Sekretär blickte ihn mit herablassendem, mitleidigem Lächeln an, zugleich auch mit dem Ausdruck einer gewissen Überlegenheit, wie einen Neuling, der zum erstenmal ins Feuer kommt, als wollte er ihm sagen: »Nun, wie fühlst du dich jetzt?« Doch was ging ihn jetzt der Schuldschein und die Eintreibung an? Verdiente denn diese Sache auch die geringste Unruhe, auch die geringste Beachtung? Er stand da, las, hörte zu, gab Antworten, stellte sogar selbst Fragen, machte aber alles mechanisch. Der Triumph des Selbsterhaltungstriebes, die Errettung vor der bedrückenden Gefahr – das erfüllte in diesem Augenblick sein ganzes Wesen, ohne daß er in die Zukunft blickte, analysierte, ohne daß er die Zukunft zu enträtseln versuchte, ohne Zweifel und ohne Fragen. Es war ein Augenblick einer vollständigen, unmittelbaren, rein animalischen Freude. Doch in diesem selben Augenblick ereignete sich im Bureau etwas wie die Entladung eines Gewitters. Der Leutnant, der durch die Unehrerbietigkeit Raskolnikows noch immer erschüttert war, vor Empörung glühte und offenbar sein gekränktes Ehrgefühl wiederherstellen wollte, stürzte sich mit einem richtigen Donnerwetter auf die unglückliche pompöse Dame, die ihn während der ganzen Zeit, seit er das Lokal betreten, mit dem dümmsten Lächeln angesehen hatte.

»Ach du, so eine und so eine!« schrie er plötzlich aus vollem Halse (die Dame in Trauer war schon weggegangen). »Was hat es bei dir in der vorigen Nacht schon wieder gegeben? Wieder eine Schande, ein Skandal in der ganzen Straße? Wieder eine Schlägerei und eine Sauferei? Du willst wohl ins Gefängnis? Ich habe dir doch schon gesagt, ich habe dich schon zehnmal gewarnt, daß ich es das elftemal nicht dulden werde! Und du fängst wieder an, du so eine und so eine!«

Raskolnikow entfiel sogar das Papier, und er blickte ganz bestürzt die pompöse Dame an, die man so ungeniert behandelte; bald begriff er jedoch den Sachverhalt, und die ganze Geschichte fing an, ihm zu gefallen. Er hörte mit Vergnügen zu und spürte sogar Lust, zu lachen, zu lachen, zu lachen. Alle seine Nerven zitterten förmlich.

»Ilja Petrowitsch!« versuchte der Sekretär sich vorsichtig einzumischen, hielt aber inne und wartete, denn der Leutnant ließ sich bei solchen Wutausbrüchen nur auf die Weise besänftigen, daß man ihm die Hände festhielt, was er aus eigener Erfahrung wußte.

Was aber die pompöse Dame betrifft, so fing sie zuerst vor den Donnern und Blitzen zu zittern an; doch seltsam! – je zahlreicher und kräftiger die Schimpfwörter fielen, um so freundlicher blickte sie, um so bezaubernder wurde ihr Lächeln, das dem wütenden Leutnant galt. Sie trippelte auf einem Fleck, knickste ununterbrochen und wartete ungeduldig, daß er endlich auch sie zu Worte kommen lasse, was sie schließlich auch erlebte.

»Gar kein Lärm und Schlägerei bei mir, Herr Kapitän«, schnatterte sie plötzlich drauf los, auf russisch, doch mit einem starken deutschen Akzent; es klang, wie wenn man Erbsen ausgeschüttet hätte: »Und gar kein, gar kein Skandal, aber der Herr war betrunken, und ich werde alles erzählen, Herr Kapitän, aber ich nicht schuld ... ich habe anständiges Haus, Herr Kapitän, und anständige Manieren, Herr Kapitän, und ich wollte immer, immer keinen Skandal haben. Der Herr kam aber betrunken und verlangte dann wieder drei Flaschen, und dann hob einen Fuß und spielte mit Fuß Klavier, und das ist gar nicht schön in vornehmes Haus, und er hat Klavier kaputt gemacht, und das ist keine Manier, und ich ihm das gesagt. Aber er nahm Flasche und fing an alle mit Flaschen hinten zu stoßen. Ich bald Hausknecht gerufen und Karl gekommen, da hat er Karl Auge geschlagen, und auch Henriette Auge geschlagen, und hat mich fünfmal Backe geschlagen. Und das ist nicht schön in anständiges Haus, Herr Kapitän, und ich habe geschrien, aber er hat Fenster zu dem Kanal aufgemacht und hat geschrien wie kleines Schwein, und das ist Schande. Wie kann man aus dem Fenster auf die Straße wie kleines Schwein schreien? Pfui, pfui, pfui! Und Karl schleppte ihn am Frack von hinten vom Fenster und hat ihm, das ist wahr, Herr Kapitän, seinen Rock zerrissen. Und da hat er geschrien, daß man ihm fünfzehn Rubel Strafe zahlen muß. Und ich fünf Rubel für seinen Rock bezahlt, Herr Kapitän. Das ist nicht anständiger Gast, Herr Kapitän, und macht jeden Skandal! Er sagt: in allen Zeitungen eine große Satire über Sie gedruckt werden, weil ich in allen Zeitungen über Sie schreiben kann.«

»Ist also auch einer von den Schriftstellern?«

»Jawohl, Herr Kapitän, was ist das für ein unanständiger Gast, Herr Kapitän, wenn er in anständiges Haus ...«

»Nun, nun, genug! Ich habe dir schon gesagt, ich habe dir schon gesagt ...«

»Ilja Petrowitsch!« begann der Sekretär wieder bedeutungsvoll. Der Leutnant warf ihm einen schnellen Blick zu: der Sekretär nickte leicht mit dem Kopf.

»... Also das ist mein letztes Wort, verehrteste Lawisa Iwanowna, zum allerletzten Mal«, fuhr der Leutnant fort: »Wenn es in deinem anständigen Hause nur noch ein einziges Mal Skandal gibt, so werde ich dich beim Schlafittchen nehmen, wie es in der Dichtersprache heißt. Hast du es gehört? Also hat sich ein Literat, ein Schriftsteller in einem anständigen Hause fünf Rubel für einen zerrissenen Frack bezahlen lassen? So sind sie alle, diese Herren Schriftsteller!« Er warf Raskolnikow einen verächtlichen Blick zu. »Vorgestern gab es in einem Wirtshause die gleiche Geschichte: so einer aß zu Mittag, wollte aber nicht bezahlen und sagte: ›Ich schreibe über euch eine Satire.‹ Ein anderer hat in der vorigen Woche auf einem Dampfschiffe eine ehrbare Staatsratsfamilie mit den gemeinsten Worten beschimpft. Einen anderen hat man dieser Tage aus einer Konditorei an die Luft gesetzt. So sind sie alle diese Schriftsteller, Literaten, Studenten, Apostel ... Pfui! Du aber scher dich zum Teufel! Ich werde mal selbst bei dir nachschauen ... dann nimm dich in acht! Hast du es gehört?«

Luisa Iwanowna begann mit beschleunigter Freundlichkeit nach allen Seiten hin zu knicksen und zog sich, immer knicksend, zur Tür zurück: doch in der Tür stieß sie von hinten mit einem stattlichen Offizier zusammen, der ein offenes frisches Gesicht und einen wunderbaren, dichten, blonden Backenbart hatte. Es war Nikodim Fomitsch, der Revieraufseher in eigener Person. Luisa Iwanowna beeilte sich, bei nahe bis zum Boden zu knicksen, und flog mit schnellen Schritten, hüpfend aus dem Bureau hinaus.

»Wieder ein Ungewitter, wieder Donner und Blitz, Sturm und Orkan!« wandte sich Nikodim Fomitsch liebenswürdig und freundschaftlich an Ilja Petrowitsch. »Wieder hat man Ihr Herz in Unruhe versetzt, wieder sind Sie in Wut geraten! Ich habe es schon auf der Treppe gehört!«

»Ach, was!« versetzte Ilja Petrowitsch mit nobler Nonchalance (er sagte sogar nicht »was« sondern: »wa-«), indem er mit einigen Papieren zu einem anderen Tisch ging; dabei zuckte er bei jedem Schritt höchst malerisch die Achseln, so daß jede Schulter die Bewegung des entsprechenden Fußes mitmachte. »Sehen Sie nur den da an: dieser Herr Schriftsteller, ich wollte sagen, das heißt, gewesener Student, zahlt seine Schulden nicht, hat Wechsel ausgestellt, will die Wohnung nicht räumen, fortwährend beklagt man sich über ihn, und dabei rümpft er die Nase, als ich mir erlaubte, mir in seiner Gegenwart eine Zigarette anzustecken! Die Leute begehen selbst allerlei Gemeinheiten; da sehen Sie sich aber den Herrn an: da steht er in seiner ganzen Schönheit!«

»Armut ist keine Schande, Freundchen, was fängt man aber mit dir an! Ich weiß es, du bist wie Schießpulver und kannst keine Beleidigung ertragen. Wahrscheinlich haben Sie sich durch ihn irgendwie verletzt gefühlt und sich nicht beherrschen können«, fuhr Nikodim Fomitsch fort, sich freundlich an Raskolnikow wendend. »Aber das hätten Sie nicht tun sollen: er ist der e-del-ste Mensch, aber wie Schießpulver, wie Schießpulver! Er braust auf, schäumt, verbrennt und fertig! Und alles ist vorbei! Zuletzt bleibt nur das Gold seines Herzens! Auch im Regiment nannte man ihn ›Leutnant Schießpulver‹ ...«

»Und was war das für ein Rrregiment!« rief Ilja Petrowitsch aus, sehr zufrieden, daß man seinen Ehrgeiz so angenehm kitzelte, doch immer noch schmollend.

Raskolnikow spürte plötzlich Lust, ihnen allen etwas ungemein Angenehmes zu sagen.

»Erlauben Sie mal, Herr Hauptmann«, begann er recht ungezwungen, sich plötzlich an Nikodim Fomitsch wendend. »Versetzen Sie sich doch mal in meine Lage ... Ich bin sogar bereit, den Herrn um Entschuldigung zu bitten, wenn ich mir zu viel herausgenommen habe. Ich bin ein armer und kranker Student, niedergedrückt (er gebrauchte diesen Ausdruck: ›niedergedrückt‹) durch Armut. Ich bin augenblicklich nicht mehr Student, weil ich meinen Unterhalt nicht bezahlen kann, ich werde aber Geld bekommen ... Ich habe eine Mutter und eine Schwester im *–schen Gouvernement. Sie werden mir Geld schicken, und dann werde ich bezahlen. Meine Wirtin ist eine gute Frau, sie ist aber so böse geworden, weil ich meine Stunden verloren habe und seit vier Monaten nicht mehr zahle, daß sie mir sogar kein Mittagessen mehr gibt ... aber ich kann unmöglich verstehen, was das für ein Wechsel ist! Jetzt verlangt sie von mir Zahlung, aber was kann ich ihr bezahlen, urteilen Sie doch selbst! ...«

»Das ist aber nicht unsere Sache ...« bemerkte wieder der Sekretär.

»Erlauben Sie, erlauben Sie, ich bin mit Ihnen vollkommen einverstanden, aber lassen Sie mich Ihnen alles erklären«, fiel ihm Raskolnikow wieder ins Wort, sich nicht an den Sekretär, sondern immer noch an Nikodim Fomitsch wendend; dabei bemühte er sich aus aller Kraft, sich auch an Ilja Petrowitsch zu wenden, obwohl jener so tat, als suche er etwas in den Akten und schenke ihm keine Beachtung. »Erlauben Sie mir auch meinerseits zu erklären, daß ich bei ihr schon seit ungefähr drei Jahren wohne, seit meiner Ankunft aus der Provinz, und früher, früher ... warum soll ich es übrigens nicht gestehen, – ich hatte ihr ganz zu Anfang das Versprechen gegeben, ihre Tochter zu heiraten, ein mündliches, durchaus freies Versprechen ... Das Mädchen war ... sie gefiel mir sogar sehr gut ... obwohl ich nicht verliebt war ... mit einem Worte, meine Jugend, das heißt, ich will sagen, daß meine Wirtin mir damals einen großen Kredit einräumte, und ich führte zum Teil so ein Leben ... Ich war sehr leichtsinnig ...«

»Man verlangt von Ihnen keine Intimitäten, sehr verehrter Herr, außerdem haben wir keine Zeit«, versuchte ihn Ilja Petrowitsch roh und triumphierend zu unterbrechen; Raskolnikow fiel ihm aber leidenschaftlich ins Wort, obwohl es ihm gar nicht leicht war, zu sprechen.

»Aber erlauben Sie, erlauben Sie mir doch, zum Teil alles zu erzählen ... wie die Sache war und ... auch meinerseits ... ich gebe übrigens zu, daß es überflüssig ist, davon zu erzählen ... aber vor einem Jahr ist das Mädchen an Typhus gestorben; ich aber blieb Zimmerherr, und meine Wirtin sagte mir, als sie in die neue Wohnung zog ... sagte mir freundschaftlich ... daß sie mir vollkommen vertraue und alles ... ob ich ihr aber nicht einen Schuldschein über die hundertfünfzehn Rubel ausstellen wolle, die ich ihr noch schuldete. Erlauben Sie: sie sagte mir ausdrücklich, daß, wenn ich ihr dieses Papier gebe, sie mir jeden Kredit einräumen würde und daß sie niemals, niemals, – das sind ihre eigenen Worte – von diesem Papier Gebrauch machen werde, bis ich es selbst bezahle ... Und jetzt, wo ich die Stunden verloren und nichts zu essen habe, will sie den Betrag eintreiben lassen. Was soll ich dazu sagen?«

»Alle diese rührenden Einzelheiten gehen uns gar nichts an, verehrter Herr«, schnitt Ilja Petrowitsch frech ab. »Sie müssen die Erklärung abgeben und die Verpflichtung unterschreiben; aber daß Sie geruht haben, verliebt zu sein, und alle diese tragischen Stellen gehen uns nichts an.«

»Nun, du, das ist schon ... grausam ...« murmelte Nikodim Fomitsch, indem er sich an den Tisch setzte und gleichfalls Papiere zu unterschreiben begann. Er schämte sich irgendwie.

»Schreiben Sie also«, sagte der Sekretär zu Raskolnikow.

»Was soll ich schreiben?« fragte jener besonders grob.

»Ich werde es Ihnen diktieren.«

Raskolnikow schien es, als hätte der Sekretär angefangen, ihn nach seiner Beichte geringschätziger und verächtlicher zu behandeln; doch seltsam: ihm war es plötzlich ganz gleich, was die andern von ihm hielten, und diese Veränderung vollzog sich in ihm augenblicklich, in einem Nu. Wenn er nur ein wenig nachgedacht hätte, so wäre er erstaunt, wie er es fertiggebracht hatte, mit ihnen vor einer Minute so zu sprechen und sich ihnen sogar mit seinen Gefühlen aufzudrängen. Und woher waren diese Gefühle gekommen? Jetzt aber, selbst wenn das Zimmer plötzlich nicht voller Revieraufseher, sondern voll seiner besten Freunde wäre, so hätte er wohl auch für sie kein einziges menschliches Wort finden können – so leer war plötzlich sein Herz geworden. Das finstere Gefühl einer qualvollen, unendlichen Vereinsamung regte sich plötzlich bewußt in seiner Seele. Es war nicht die Erniedrigung durch die Herzensergüsse vor Ilja Petrowitsch und auch nicht die Erniedrigung durch den Triumph des Leutnants über ihn, was diese Veränderung in seinem Herzen verursacht hatte. Ach, was ging ihn seine eigene Erniedrigung, was gingen ihn alle die Ehrbegriffe, Leutnants, Luisa Iwanownas, Wechselforderungen, Bureaus usw. an! Hätte man ihn jetzt zum Feuertode verurteilt, so hätte er sich auch dann nicht gerührt, hätte auch kaum das Urteil aufmerksam angehört. Mit ihm geschah etwas ihm völlig Unbekanntes, etwas Neues, Plötzliches, Niedagewesenes. Er begriff nicht – er empfand es deutlich, mit der ganzen Kraft seines Empfindens, daß es ihm unmöglich war, sich nicht nur mit Gefühlsausbrüchen, sondern womit es auch sei, an diese Menschen im Polizeibureau zu wenden; und wenn es auch seine leiblichen Brüder und keine Polizeileutnants wären – selbst dann hätte es keinen Sinn, sich an sie, unter welchen Lebensumständen es auch sei, zu wenden; bis zu diesem Augenblick hatte er noch nie diese seltsame und erschreckende Empfindung gehabt. Und was das Qualvollste war, – es war mehr eine Empfindung als eine Erkenntnis, als eine Einsicht; eine unmittelbare Empfindung, die qualvollste von allen, die er bisher im Leben gehabt hatte.

Der Sekretär begann ihm den Text der in solchen Fällen üblichen Erklärung zu diktieren, d.h.: zahlen kann ich nicht, verpflichte mich, dann und dann (später einmal) zu bezahlen; werde die Stadt nicht verlassen und mein Eigentum weder verkaufen noch verschenken usw.

»Sie können ja gar nicht schreiben, die Feder fällt Ihnen aus der Hand«, bemerkte der Sekretär, Raskolnikow neugierig anblickend. »Sind Sie krank?«

»Ja ... der Kopf schwindelt mir ... fahren Sie fort!«

»Das ist alles. Unterschreiben Sie nur.«

Der Sekretär nahm ihm das Papier ab und machte sich an eine andere Arbeit.

Raskolnikow gab die Feder zurück, aber statt aufzustehen und wegzugehen, legte er beide Ellenbogen auf den Tisch und preßte den Kopf mit den Händen zusammen. Es war ihm, als wenn man ihm einen Nagel in den Scheitel hineintriebe. Ein seltsamer Gedanke kam ihm plötzlich in den Sinn: sofort aufstehen, auf Nikodim Fomitsch zugehen und ihm alles Gestrige erzählen, alles bis zur letzten Einzelheit; dann mit ihm zusammen in seine Wohnung gehen und ihm die Sachen in der Ecke, im Loch zeigen. Der Drang dazu war so stark, daß er sich schon erhob, um es auszuführen. »Soll ich es mir nicht noch eine Minute überlegen?« ging es ihm durch den Kopf. »Nein, besser ohne nachzudenken, und die Sache ist erledigt!« Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Nikodim Fomitsch erzählte etwas mit großem Feuer Ilja Petrowitsch, und folgende Worte erreichten sein Ohr:

»Es kann nicht sein, man wird beide freilassen. Erstens sind zu viel Widersprüche da; urteilen Sie doch selbst: wozu brauchten Sie den Hausknecht zu rufen, wenn es ihr Werk ist? Etwa um sich selbst anzuzeigen? Oder war es eine List? Nein, das wäre schon zu schlau! Schließlich wurde der Student Pestrjakow im selben Augenblick, als er eintrat, dicht vor dem Tore von den beiden Hausknechten und von der Kleinbürgerin gesehen; er ging mit drei Freunden, von denen er sich vor dem Tore trennte, und erkundigte sich in Gegenwart dieser Freunde bei den Hausknechten nach der Wohnung. Nun, wird ein Mensch nach der Wohnung fragen, wenn er mit einer solchen Absicht gekommen ist? Was aber Koch betrifft, so hat er, bevor er zu der Alten hinaufging, eine halbe Stunde unten beim Silberschmied gesessen und ist genau um dreiviertel acht zu der Alten hinaufgegangen. Überlegen Sie es sich jetzt ...«

»Aber erlauben Sie, wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Sie behaupten selbst, daß sie geklopft haben und daß die Tür verschlossen war, als sie aber nach drei Minuten mit dem Hausknecht kamen, war die Tür plötzlich offen?«

»Das ist eben der Witz: der Mörder hatte sich unbedingt in der Wohnung eingeschlossen, und man hätte ihn dort ganz gewiß erwischt, wenn Koch nicht die Dummheit begangen hätte und nicht selbst nach dem Hausknecht gegangen wäre. Eraber ging gerade in der Zwischenzeit die Treppe hinunter und schlüpfte irgendwie an ihnen vorbei. Koch bekreuzt sich mit beiden Händen: ›Wäre ich dort geblieben,‹ sagt er, ›so wäre er herausgesprungen und hätte mich mit einer Axt erschlagen.‹ Er will sogar einen russischen Dankgottesdienst abhalten lassen, ha-ha!..«

»Den Mörder hat aber niemand gesehen?«

»Wie konnte man ihn auch sehen? Das Haus ist eine Arche Noah«, bemerkte der Sekretär, der von seinem Platz aus zuhörte.

»Die Sache ist klar, die Sache ist klar!« wiederholte Nikodim Fomitsch mit großem Eifer.

»Nein, die Sache ist sehr unklar«, entgegnete Ilja Petrowitsch.

Raskolnikow hob seinen Hut auf und ging zur Tür, aber er erreichte die Tür nicht ...

Als er zu sich kam, sah er sich auf einem Stuhle sitzen: von rechts stützte ihn irgendein Mann, links stand ein anderer Mann mit einem gelben, mit gelbem Wasser gefüllten Glase in der Hand; Nikodim Fomitsch stand vor ihm und sah ihn unverwandt an. Er erhob sich vom Stuhl.

»Was haben Sie, sind Sie krank?« fragte Nikodim Fomitsch ziemlich scharf.

»Schon beim Unterschreiben konnte der Herr kaum die Feder bewegen«, bemerkte der Sekretär, indem er sich wieder auf seinen Platz setzte und die Akten vornahm.

»Sind Sie schon lange krank?« rief Ilja Petrowitsch von seinem Platz, gleichfalls in Akten blätternd.

Auch er hatte selbstverständlich den Kranken betrachtet, als er ohnmächtig war, hatte sich aber sofort zurückgezogen, als jener zu sich kam.

»Seit gestern ...« murmelte Raskolnikow zur Antwort.

»Sind Sie gestern ausgegangen?«

»Ja.«

»Obwohl Sie krank waren?«

»Ja.«

»Um wieviel Uhr?«

»Gegen acht abends.«

»Und wohin, wenn ich fragen darf?«

»Über die Straße.«

»Kurz und bündig.«

Raskolnikow gab seine Antworten scharf und kurz, so bleich wie ein Taschentuch, ohne seine schwarzen entzündeten Augen vor den Blicken Ilja Petrowitschs zu senken.

»Er steht kaum auf den Beinen, und du ...« bemerkte Nikodim Fomitsch.

»Macht gar nichts!« sagte Ilja Petrowitsch in einem eigentümlichen Tone.

Nikodim Fomitsch wollte noch etwas hinzufügen, blickte aber den Sekretär an, der ihn gleichfalls sehr aufmerksam ansah, und sagte nichts. Plötzlich waren alle verstummt. Es war sehr sonderbar.

»Nun, schön,« schloß Ilja Petrowitsch, »wir wollen Sie nicht aufhalten.«

Raskolnikow ging hinaus. Er konnte noch hören, wie nach seinem Weggehen plötzlich ein lebhaftes Gespräch begann, in dem am lautesten die fragende Stimme von Nikodim Fomitsch tönte ...

Auf der Straße kam er ganz zu sich.

»Eine Haussuchung, jetzt gleich kommt die Haussuchung!« wiederholte er vor sich hin und beeilte sich, sein Haus zu erreichen. »Diese Räuber! Sie verdächtigen mich!« Die frühere Angst packte ihn wieder vom Kopf bis zu den Füßen.

II

»Was, wenn die Haussuchung schon gewesen ist? Wenn ich sie bei mir antreffe?«

Da ist aber schon sein Zimmer. Nichts und niemand; niemand hat hereingeblickt. Selbst Nastasja hat nichts angerührt ... Aber, Gott! Wie konnte er bloß vorhin alle diese Sachen in diesem Loche zurücklassen?

Er stürzte in die Ecke, steckte die Hand unter die Tapete und begann die Sachen hervorzuholen und sie sich in die Taschen zu stopfen. Es waren im ganzen, wie er jetzt sah, acht Stück: zwei kleine Schächtelchen mit Ohrringen oder ähnlichen Dingen, – er hatte sie nicht genau untersucht; dann vier kleine Etuis aus Safian. Eine Uhrkette war einfach in Zeitungspapier eingewickelt. Dann war noch ein Gegenstand in Zeitungspapier, wohl ein Orden ...

Er steckte alles in die verschiedenen Taschen, in den Mantel und in die noch übriggebliebene rechte Hosentasche, wobei er sich Mühe gab, die Sachen so zu verteilen, daß man von außen nichts sehen konnte. Den Beutel nahm er mit den übrigen Sachen mit. Dann ging er aus dem Zimmer und ließ diesmal die Tür weit offenstehen.

Er ging schnell und sicher, obwohl er sich am ganzen Leibe zerschlagen fühlte, aber sein Bewußtsein war klar. Er fürchtete, daß man ihn verfolgen würde, daß vielleicht schon nach einer Viertelstunde der Befehl ergehen würde, ihn zu beobachten; also mußte er um jeden Preis, noch solange er Zeit hatte, alle Spuren verwischen. Er mußte es erledigen, solange er noch etwas Kraft und Überlegung hatte ... Wohin sollte er aber gehen?

Das war schon längst beschlossen: »Alles in den Kanal werfen, und die Sache ist erledigt.« Das hatte er noch nachts im Fieber beschlossen, in den Augenblicken – er konnte sich ihrer noch erinnern –, als er einige Male aufzustehen und fortzugehen versuchte: »Schneller, schneller, alles fortwerfen!« Es zeigte sich aber, daß es sehr schwer war, die Sachen fortzuwerfen.

Er ging schon seit einer halben Stunde, vielleicht auch länger, am Kai des Katharinenkanals auf und ab und blickte auf die zum Kanal hinabführenden Stufen, sooft er an solchen vorüberging. Er durfte aber nicht mal daran denken, seinen Plan auszuführen: entweder lagen dicht vor den Stufen Flöße, auf denen Wäscherinnen ihre Arbeit verrichteten, oder Kähne, überall wimmelte es von Menschen, und von allen Seiten konnte man es sehen und ihn sich merken; es ist doch verdächtig, daß ein Mensch absichtlich hinabgegangen und stehengeblieben ist und etwas ins Wasser wirft. Und wenn die Etuis nicht untergehen, sondern weiterschwimmen? Natürlich wird es so sein. Ein jeder wird es sehen. Schon ohnehin schauen ihn die Leute so aufmerksam an, als ob sie sich nur für ihn allein interessierten. »Warum ist das so, oder kommt es mir nur so vor?« dachte er.

Endlich fiel es ihm ein, daß es vielleicht besser wäre, irgendwohin an die Newa zu gehen. Dort sind weniger Menschen, dort ließe es sich weniger auffällig und jedenfalls bequemer machen, und, was wohl das wichtigste ist, das wäre weit weg von hier. Und plötzlich staunte er: eine halbe Stunde war er voller banger Unruhe an dieser gefährlichen Stelle herumgegangen und hatte an diese Möglichkeit gar nicht gedacht. Eine volle halbe Stunde hatte er für dieses unsinnige Beginnen geopfert, nur weil es einmal im Traume, im Fieber so beschlossen war! Er wurde immer zerstreuter und vergeßlicher, und er wußte das. Er mußte sich unbedingt beeilen!

Er ging zur Newa durch den W–schen Prospekt; unterwegs kam ihm aber plötzlich ein neuer Gedanke! »Warum zur Newa? Warum ins Wasser? Wäre es nicht besser, irgendwohin sehr weit hinzugehen, vielleicht wieder auf die Inseln und dort alles im Walde unter einem Busche zu verscharren und sich vielleicht auch den Baum zu merken?« Obwohl er fühlte, daß er in diesem Augenblick nicht imstande war, alles klar und vernünftig zu überlegen, erschien ihm dieser Gedanke fehlerlos.

Aber es war ihm auch nicht beschieden, auf die Inseln zu kommen, es geschah etwas anderes: als er vom W–schen Prospekt auf den Platz kam, erblickte er plötzlich linker Hand den Eingang in einen von lauter blinden Mauern eingeschlossenen Hof. Rechts, gleich vom Eingange zog sich tief in den Hof hinein die blinde, ungetünchte Mauer eines dreistöckigen Nachbarhauses. Links, parallel zu der blinden Mauer, zog sich, gleichfalls beim Tore beginnend, etwa zwanzig Schritte in die Tiefe des Hofes hinein, ein Bretterzaun, der dann nach links abbog. Es war ein leerer eingezäunter Platz, wo allerlei Materialien lagen. Weiter, in der Tiefe des Hofes, sah hinter dem Zaune die Ecke eines niedrigen, verrauchten, gemauerten Schuppens hervor, offenbar der Teil einer Werkstätte. Hier befand sich wohl eine Wagnerei oder eine Schlosserei oder etwas ähnliches; überall, fast beim Tore beginnend, lag schwarzer Kohlenstaub. »Hier könnte ich es wegwerfen und dann fortgehen!« kam es ihm in den Sinn. Da er im Hofe keinen Menschen bemerkte, schlüpfte er in das Tor und erblickte sofort dicht beim Tore eine am Zaune angebrachte Rinne (solche Rinnen werden oft in den Höfen angebracht, wo es viele Arbeiter, Angestellte, Fuhrleute usw. gibt); über der Rinne war am Zaune mit Kreide höchst unorthographisch der übliche Witz geschrieben: »Hier ist es verboten, stehen zu bleiben.« Das hatte auch den Vorteil, daß es keinen Verdacht erregte: er ist einfach hereingegangen und ist stehengeblieben. »Alles auf einmal in einen Haufen werfen und fortgehen!«

Als er sich noch einmal umgesehen und die Hand schon in die Tasche gesteckt hatte, erblickte er plötzlich dicht an der Außenmauer, zwischen dem Tor und der Rinne, wo der Zwischenraum höchstens einen Arschin breit war, einen großen unbehauenen Stein, der etwa eineinhalb Pud schwer sein mochte und direkt an der Straßenmauer lag. Hinter dieser Mauer lagen die Straße und der Bürgersteig, und er konnte die vielen Leute vorbeigehen hören, die es hier immer gab; doch hinter dem Tore konnte ihn niemand bemerken, höchstens wenn jemand von der Straße hereinkäme, was übrigens leicht passieren konnte, und darum mußte er sich beeilen.

Er beugte sich zum Stein, packte ihn oben fest mit beiden Händen, nahm alle seine Kräfte zusammen und drehte den Stein um. Unter dem Steine bildete sich eine kleine Vertiefung: er begann sofort alle Gegenstände aus seiner Tasche hineinzuwerfen. Der Beutel kam ganz oben zu liegen, und doch blieb in der Vertiefung noch Platz. Darauf packte er wieder den Stein, drehte ihn mit einem Ruck um, so daß er wieder an den alten Platz zu liegen kam und vielleicht nur ein wenig in die Höhe geschoben schien. Er scharrte aber etwas Erde zusammen und drückte sie mit dem Fuße am Rande fest. Nun war nichts mehr zu sehen.

Dann verließ er den Hof und ging auf den Platz zu. Wieder bemächtigte sich seiner für einen Augenblick eine starke, beinahe unerträgliche Freude, wie vorhin im Polizeibureau. »Alle Spuren sind verwischt! Wem wird jetzt einfallen, unter diesem Stein zu suchen? Er liegt hier vielleicht seit der Erbauung des Hauses und wird vielleicht noch ebenso lange liegen. Und wenn man es auch findet: wer wird auf mich kommen? Alles ist erledigt! Es gibt keine Indizien!« Und er fing zu lachen an. Ja, er erinnerte sich später, daß er in ein nervöses, vibrierendes, lautloses, langes Lachen ausgebrochen war und so lange gelacht hatte, als er über den Platz ging. Als er aber den K–schen Boulevard erreichte, wo er vorgestern jenem Mädchen begegnet war, verging ihm das Lachen. Andere Gedanken kamen ihm in den Sinn. Es kam ihm sogar vor, daß es ihm ekelhaft sein müsse, an jener Bank vorbeizugehen, auf der er damals, nachdem das Mädchen gegangen war, gesessen und nachgedacht hatte; daß es ihm auch schrecklich sein würde, jenem Schutzmann zu begegnen, dem er damals zwanzig Kopeken gegeben hatte. »Hol ihn der Teufel!«

Er ging und blickte zerstreut und gehässig um sich. Alle seine Gedanken drehten sich jetzt um einen einzigen Punkt, den Hauptpunkt – und er fühlte selbst, daß es wirklich der Hauptpunkt sei und daß er jetzt, gerade jetzt, vor diesem Hauptpunkte stehe – und das sogar zum erstenmal seit diesen zwei Monaten.

»Hol alles der Teufel!« sagte er sich plötzlich in einem Anfalle unerschöpflicher, Wut. »Nun, wenn es begonnen hat, so hat es eben begonnen, mag der Teufel das neue Leben holen! Mein Gott, wie dumm ist doch das alles! ... Und wieviel habe ich zusammengelogen, wie gemein habe ich mich heute benommen! Wie häßlich habe ich vorhin vor dem niederträchtigen Ilja Petrowitsch scharwenzelt und mich erniedrigt! Übrigens ist alles Unsinn ... Ich spucke auf sie alle und auch auf das, daß ich scharwenzelt und mich erniedrigt habe! Das ist es nicht, das ist es gar nicht!«

Plötzlich blieb er stehen; eine neue, völlig unerwartete und äußerst einfache Frage brachte ihn auf einmal aus der Fassung und verblüffte ihn bitter:

»Wenn du diese ganze Sache wirklich bewußt und nicht wie ein Narr gemacht hast, wenn du wirklich ein bestimmtes und festes Ziel gehabt hast, warum hast du bisher nicht mal in den Beutel hineingeschaut und weißt nicht, was dir zugefallen ist und weswegen du alle Qualen auf dich genommen und dich mit vollem Bewußtsein zu einer so gemeinen, häßlichen und niedrigen Tat entschlossen hast? Du wolltest doch eben den Beutel mit den anderen Sachen, die du gleichfalls nicht gesehen hast, ins Wasser werfen ... Wie ist es nun?«

Ja, es ist so; alles ist so. Er hatte es übrigens auch vorher gewußt, und die Frage war für ihn gar nicht neu; und als es damals in der Nacht beschlossen wurde, alles ins Wasser zu werfen, so war es ohne jedes Schwanken und ohne Widerspruch beschlossen worden, vielmehr so, als hätte es so sein müssen, als wäre es anders unmöglich ... Ja, er hatte das alles gewußt und alles verstanden; vielleicht schon gestern war es so beschlossen, im gleichen Augenblick, als er über der Truhe hockte und aus ihr die Etuis herausholte ... Es ist doch so! ...

»Es kommt daher, weil ich sehr krank bin,« entschied er plötzlich finster, »ich habe mich selbst zermartert, und ich weiß selbst nicht, was ich tue ... Auch gestern und vorgestern und diese ganze Zeit habe ich mich gemartert ... Wenn ich gesund werde, werde ich mich nicht mehr martern ... Wenn ich aber nicht gesund werde? Mein Gott, wie habe ich das alles satt!« Er ging, ohne stehen zu bleiben. Er wollte so furchtbar gern sich irgendwie zerstreuen, wußte aber nicht, was zu tun, was zu unternehmen. Eine neue, unüberwindliche Empfindung bemächtigte sich seiner von Augenblick zu Augenblick stärker; es war ein grenzenloser, beinahe physischer Ekel vor allem, was ihm begegnete und ihn umgab, ein hartnäckiger, boshafter, gehässiger Widerwille. Alle Menschen, denen er begegnete, waren ihm ekelhaft – ekelhaft waren ihre Gesichter, ihr Gang, ihre Bewegungen. Er wäre imstande, jeden von ihnen anzuspeien oder zu beißen, der ihn angesprochen hätte ...

Er blieb plötzlich stehen, als er den Kai der Kleinen Newa auf der Wassiljewskij-Insel dicht bei der Brücke erreicht hatte. »Hier wohnt er, in diesem Hause«, sagte er sich. »Was, bin ich gar zu Rasumichin gekommen?! Wieder dieselbe Geschichte wie damals ... Es ist doch immerhin interessant: ob ich mit Absicht hergekommen bin oder mich nur zufällig verirrt habe? Ich habe doch sowieso damals ... vorgestern ... gesagt, daß ich ihn ... am andern Tage nach demaufsuchen werde; nun, ich werde zu ihm hinaufschauen! Als ob ich jetzt nicht mehr zu ihm gehen dürfte ...«

Er stieg zu Rasumichin in den vierten Stock hinauf.

Jener war daheim, in seiner Kammer; er war gerade mit Schreiben beschäftigt und hatte ihm selbst geöffnet. An die vier Monate hatten sie sich nicht gesehen. Rasumichin trug zu Hause einen vollkommen zerfetzten Schlafrock und Pantoffeln auf den bloßen Füßen und war zerzaust, unrasiert und ungewaschen. Sein Gesicht drückte großes Erstaunen aus.

»Was hast du?« rief er aus, indem er seinen Freund vom Kopf bis zu den Füßen musterte. Dann verstummte er und stieß einen Pfiff aus.

»Steht es denn wirklich so schlecht? Du hast unsereins übertroffen, mein Bester«, fügte er mit einem Blick auf Raskolnikows Lumpen hinzu. »Setz dich doch, du bist wohl müde!«

Und als jener sich in sein wachstuchüberzogenes türkisches Sofa fallen ließ, das in einem noch schlimmeren Zustande war als das seinige, merkte Rasumichin plötzlich, daß sein Gast krank war.

»Du bist ja ernstlich krank, weißt du das?«

Er begann seinen Puls zu fühlen; Raskolnikow entriß ihm aber die Hand.

»Laß das«, sagte er, »ich bin gekommen ... es ist folgendes ... ich habe gar keine Stunden ... ich wollte ... es ist mir übrigens nicht um die Stunden zu tun ...«

»Weißt du was? Du phantasierst ja!« bemerkte Rasumichin, der ihn aufmerksam betrachtete.

»Nein, ich phantasiere nicht ...«

Raskolnikow erhob sich vom Sofa. Als er zu Rasumichin hinaufging, dachte er nicht daran, daß er ihm Auge in Auge gegenüberstehen werde. Doch jetzt erfaßte er, durch die Erfahrung belehrt, daß er in diesem Augenblick am allerwenigsten fähig sei, irgend jemand auf der ganzen Welt Auge in Auge gegenüberzustehen. Seine ganze Galle stieg in ihm auf. Er er stickte beinahe vor Wut über sich selbst, daß er über Rasumichins Schwelle getreten war.

»Leb wohl!« sagte er plötzlich und ging zur Tür.

»Warte doch, warte, du komischer Mensch!«

»Laß das! ...« wiederholte jener und riß wieder seine Hand los.

»Zum Teufel, warum bist du dann hergekommen? Bist du verrückt? Das ist ja ... beinahe beleidigend. Ich lasse dich nicht so ...«

»Also höre: Ich bin zu dir gekommen, weil ich außer dir keinen Menschen kenne, der mir helfen könnte ... anzufangen ... weil du besser, das heißt klüger bist als sie alle und alles erwägen kannst ... Jetzt sehe ich aber, daß ich nichts brauche, hörst du, gar nichts ... weder einen Dienst noch Teilnahme ... Ich will selbst ... allein ... Nun, es ist genug! Laß mich in Ruhe!«

»Aber wart' einen Augenblick, du Schornsteinfeger. Du bist ganz von Sinnen! Von mir aus kannst du tun, was du willst. Siehst du, ich habe keine Stunden, und ich pfeife drauf, doch auf dem Trödlermarkte gibt es den Buchhändler Cheruwimow, dieser ist auch eine Stunde seiner Art. Jetzt gebe ich ihn auch für fünf Stunden in Kaufmannshäusern nicht her. Er gibt so allerlei kleine Sachen und naturwissenschaftliche Bücher heraus, und wie die gehen! Was schon die Titel allein wert sind! Du hast immer behauptet, ich sei dumm; bei Gott, Bruder, es gibt Menschen, die noch dümmer sind als ich! Jetzt macht er sogar Tendenzliteratur; er hat davon zwar keinen blauen Dunst, und ich sporne ihn natürlich an. Hier sind etwas mehr als zwei Bogen deutscher Text – meiner Ansicht nach die dümmste Scharlatanerie; mit einem Wort, es wird hier die Frage untersucht, ob die Frau ein Mensch sei oder nicht. Natürlich wird zuletzt sehr feierlich erklärt, sie sei ein Mensch. Cheruwimow bringt das als Beitrag zur Frauenfrage; ich mache die Übersetzung; er wird diese zweiundeinhalb Bogen auf sechs Bogen breitziehen, wir werden einen prunkvollen Titel, der eine halbe Seite füllen wird, erfinden und es zu fünfzig Kopeken verkaufen. Es findet schon seinen Absatz! Für die Übersetzung bekomme ich sechs Rubel für den Bogen, für das Ganze also an die fünfzehn Rubel, sechs Rubel habe ich mir im voraus bezahlen lassen. Wenn wir damit fertig sind, fangen wir an, ein Buch über die Walfische zu übersetzen, dann haben wir uns im zweiten Band der ›Confessions‹ einige langweilige Klatschgeschichten angemerkt und werden auch sie übersetzen; dem Cheruwimow hat jemand gesagt, Rousseau sei eine Art Radischtschew. Ich widerspreche ihm natürlich nicht, hol ihn der Teufel! Nun, willst du den zweiten Bogen von ›Ist die Frau ein Mensch?‹ übersetzen? Wenn du willst, so nimm gleich den Text, auch Papier und Federn – das wird alles vom Verleger beigestellt – nimm auch die drei Rubel: da ich die ganze Übersetzung für den ersten und zweiten Bogen vorausgezahlt bekommen habe, so kommen auf deinen Teil gerade drei Rubel. Und wenn du mit dem Bogen fertig bist, kriegst du noch drei Rubel. Und dann noch eins: halte es bitte nicht für einen Dienst meinerseits. Im Gegenteil: gleich als du hereinkamst, sagte ich mir, womit du mir nützlich sein kannst. Ich bin erstens in der Orthographie nicht ganz sicher und zweitens im Deutschen oft sehr schwach, so daß ich meistens einfach dichte und mich nur damit tröste, daß es dadurch noch besser wird. Wer kann es aber wissen – vielleicht wird es gar nicht besser, sondern schlechter ... Nimmst du es oder nicht?«

Raskolnikow nahm schweigend die deutschen Textseiten, nahm auch die drei Rubel und ging, ohne ein Wort zu sagen, hinaus. Rasumichin sah ihm erstaunt nach. Als Raskolnikow schon bei der Ersten Linie war, kehrte er um, stieg wieder zu Rasumichin hinauf, legte ihm die deutschen Seiten und die drei Rubel auf den Tisch und ging, wieder ohne ein Wort zu sagen, hinaus.

»Hast du das Delirium, oder was?!« brüllte Rasumichin, der schließlich rasend wurde. »Was spielst du Komödie! Selbst mich hast du ganz konfus gemacht ... Was bist du dann hergekommen, der Teufel noch einmal?«

»Ich brauche ... keine Übersetzungen ...« murmelte Raskolnikow, der schon die Treppe hinunterging.

»Was brauchst du denn, zum Teufel?« schrie ihm Rasumichin von oben nach.

Jener ging stumm hinunter.

»He, du! Wo wohnst du?«

Eine Antwort erfolgte nicht.

»Dann hol dich der Teufel!«

Raskolnikow trat aber schon auf die Straße. Auf der Nikolaibrücke mußte er infolge eines für ihn recht unangenehmen Zwischenfalles noch einmal zur Besinnung kommen. Der Kutscher einer Equipage versetzte ihm einen heftigen Peitschenhieb auf den Rücken, weil er beinahe unter die Pferde geraten war, obwohl der Kutscher ihn drei- oder viermal angeschrien hatte. Der Peitschenhieb erboste ihn so, daß er zum Brückengeländer sprang (er ging, er wußte selbst nicht warum, in der Mitte der Brücke, wo gefahren wird, und nicht auf dem Bürgersteig) und zornig mit den Zähnen knirschte und klapperte. Ringsherum erklang natürlich Lachen.

»Ganz recht geschehen!«

»Ist wohl ein Spitzbube!«

»Man kennt es ja: stellt sich betrunken und läuft absichtlich unter die Räder, und unsereins muß dafür auf kommen.«

»Davon leben sie, Verehrtester, davon leben sie ...«

Doch in dem Augenblick, als er am Geländer stand und, sich den Rücken reibend, ganz dumm und gehässig der davonrollenden Equipage nachsah, fühlte er plötzlich, daß ihm jemand Geld in die Hand drückte. Er blickte auf: eine ältere Kaufmannsfrau mit einem Kopftuche und in Bocklederschuhen und neben ihr ein junges Mädchen mit Hut und grünem Schirm, wahrscheinlich die Tochter. »Nimm's, Väterchen, um Christi willen.« Er nahm das Geld, und die beiden Frauen gingen weiter. Es war ein Zwanzigkopekenstück. Der Kleidung und dem Aussehen nach konnten sie ihn gut für einen Bettler, für einen echten Kupfergeldsammler von der Straße halten, die zwanzig Kopeken hatte er aber dem Peitschenhieb zu verdanken, der sie mitleidig gestimmt hatte.

Er drückte das Zwanzigkopekenstück fest in der Hand zusammen, ging an die zehn Schritte weiter und wandte sich mit dem Gesicht zur Newa, in der Richtung zum Palais. Kein Wölkchen stand am Himmel, und das Wasser war fast blau, was auf der Newa so selten vorkommt. Die Kuppel der Kathedrale, die von keinem Punkt so gut zu sehen ist wie von dieser Brücke, etwa zwanzig Schritte vor der Kapelle, leuchtete und strahlte, und durch die reine Luft konnte man jede ihrer Verzierungen deutlich unterscheiden. Der Schmerz vom Peitschenhiebe hatte nachgelassen, und Raskolnikow hatte den Hieb vergessen; ihn beschäftigte ausschließlich ein unruhiger und nicht ganz klarer Gedanke. Er stand da und blickte lange und unverwandt in die Ferne; diese Stelle war ihm besonders gut bekannt. Als er noch zur Universität ging, so geschah es vielleicht hundertmal, daß er, meistens auf dem Heimwege, an dieser Stelle stehenblieb, aufmerksam dieses prachtvolle Panorama betrachtete und jedesmal über einen unklaren und unerklärlichen Eindruck staunte. Das prachtvolle Panorama wehte ihn immer mit einer unerklärlichen Kälte an; das prunkvolle Bild war für ihn von einem stummen und dumpfen Geiste erfüllt ... Jedesmal staunte er über diesen düsteren und rätselhaften Eindruck und schob die Lösung, da er dem Eindruck nicht traute, in die Zukunft. Jetzt erinnerte er sich plötzlich deutlich seiner früheren Fragen und Zweifel, und es kam ihm vor, als hätte er sich ihrer nicht ganz zufällig erinnert. Schon dies allein erschien ihm befremdend und erstaunlich, daß er auf der gleichen Stelle stehenblieb wie einst, als hätte er sich tatsächlich eingebildet, daß er imstande sei, auch jetzt ebenso zu denken wie einst und sich für die gleichen Themen und Bilder zu interessieren, für die er sich ... noch vor so kurzer Zeit interessiert hatte. Das kam ihm beinahe komisch vor, zugleich preßte es ihm die Brust zusammen. Er glaubte, unten in der Tiefe, irgendwo kaum sichtbar unter seinen Füßen diese ganze Vergangenheit zu sehen, die früheren Gedanken, die früheren Aufgaben, die früheren Probleme, die früheren Eindrücke, das frühere Panorama, und sich selbst; und alles, alles ... Es war ihm, als fliege er irgendwo hinauf und als verschwinde alles vor seinen Augen. Bei einer unwillkürlichen Handbewegung fühlte er plötzlich in seiner Faust das Zwanzigkopekenstück. Er öffnete die Hand, sah die Münze aufmerksam an, schwang den Arm und warf sie ins Wasser; dann wandte er sich um und ging nach Hause. Ihm schien es, als hätte er sich in diesem Augenblick selbst mit einer Schere von allen und von allem abgeschnitten.

Er kam erst gegen Abend heim, also war er wohl an die sechs Stunden herumgegangen. Auf welchem Wege er zurückgegangen war, wußte er nicht mehr. Er zog sich aus, legte sich, wie ein abgehetztes Pferd am ganzen Leibe zitternd, aufs Sofa, zog den Mantel über sich und schlief sofort ein.

Er kam zur Besinnung in völliger Dämmerung, von einem furchtbaren Schrei geweckt. Gott, was war das für ein Schrei! Solche unnatürlichen Laute, solches Heulen, Jammern, Zähneknirschen, Schluchzen, solche Schläge und Schimpfworte hatte er noch nie erlebt und nie gehört. Er konnte sich eine solche Roheit, eine solche Raserei nicht mal vorstellen. Von Entsetzen gepackt, erhob er sich und setzte sich auf seinem Lager auf; jeden Augenblick erstarb er vor schmerzvollem Grauen. Doch die Schläge, das Jammern und Fluchen wurden immer stärker und stärker. Und plötzlich erkannte er zu seinem größten Erstaunen die Stimme seiner Wirtin. Sie heulte, kreischte und jammerte, brachte die Worte in solcher Hast heraus, daß man nichts verstehen konnte, sie flehte um etwas, – natürlich, daß man sie zu schlagen aufhöre, denn sie wurde auf der Treppe von jemand erbarmungslos geschlagen. Die Stimme des Schlagenden war vor Wut und Raserei so schrecklich, daß sie nur noch röchelte, aber auch der Schlagende sagte etwas, ebenso hastig, unverständlich und sich überstürzend. Plötzlich erbebte Raskolnikow wie Espenlaub: er erkannte die Stimme; es war die Stimme von Ilja Petrowitsch. Ilja Petrowitsch ist hier und schlägt seine Wirtin! Er tritt sie mit den Füßen, schlägt sie mit dem Kopf gegen die Stufen – das ist klar, das kann man an den Lauten, den Schreien, den Schlägen erkennen! Geht die Welt unter? Es war zu hören, wie sich die Leute aus allen Stockwerken auf der Treppe versammelten, man hörte Stimmen und Ausrufe, sie gingen hinauf, klopften, schlugen die Türen zu, liefen zusammen. »Aber wofür, wofür, wie kann man das nur!« wiederholte er vor sich hin, ernsthaft davon überzeugt, daß er den Verstand verloren hätte. Aber nein, er hört es zu deutlich! ... Also wird man wohl gleich auch zu ihm kom men, wenn es sich wirklich so verhält, – denn das ist sicher wegen desselben ... wegen des gestrigen ... Mein Gott! – Er wollte die Tür zuhaken, konnte aber die Hand nicht heben ... das wäre ja auch nutzlos! Die Angst legte sich um seine Seele wie Eis, sie zermarterte ihn, sie ließ ihn vor Kälte erstarren ... Endlich schien dieser ganze Lärm, der mindestens zehn Minuten gedauert hatte, allmählich aufzuhören. Die Wirtin stöhnte und ächzte. Ilja Petrowitsch drohte und fluchte noch immer ... Endlich schien auch er ruhiger zu werden; nun ist er nicht mehr zu hören. »Ist er denn wirklich fortgegangen? Mein Gott!« Ja, da entfernt sich, noch immer stöhnend und weinend, die Wirtin ... da fällt auch schon ihre Tür ins Schloß ... Da zieht sich auch schon die Menge von der Treppe in ihre Wohnungen zurück, – die Leute jammern, streiten, wechseln Bemerkungen, die Stimmen bald zum Geschrei erhebend, bald zum Flüstertone dämpfend. Es waren ihrer wohl viele gewesen; fast das ganze Haus war zusammengelaufen. »Aber, mein Gott, ist denn das möglich! Und wozu, wozu war er hergekommen?«

Raskolnikow fiel entkräftet auf das Sofa, konnte aber die Augen nicht mehr schließen; so lag er etwa eine halbe Stunde in solcher Qual, von einem so grenzenlosen Schrecken gepackt, wie er ihn noch nie empfunden hatte. Plötzlich wurde sein Zimmer von einem grellen Schein erleuchtet: Nastasja kam mit einer Kerze und einem Teller Suppe zu ihm herein. Nachdem sie ihn aufmerksam betrachtet und festgestellt hatte, daß er nicht schlief, stellte sie die Kerze auf den Tisch und begann das Mitgebrachte aufzustellen: Brot, Salz, einen Teller und Löffel ...

»Hast wohl seit gestern nichts gegessen. Hast dich den ganzen Tag herumgetrieben, im Fieber und Schüttelfrost.«

»Nastasja ... warum schlug man die Wirtin?«

Sie sah ihn unverwandt an.

»Wer hat die Wirtin geschlagen?«

»Soeben ... vor einer halben Stunde, Ilja Petrowitsch, der Gehilfe des Revieraufsehers, auf der Treppe ... Warum hat er sie so geprügelt? Und ... warum war er hergekommen?«

Nastasja betrachtete ihn schweigend mit gerunzelter Stirn und sah ihn lange so an. Dies wurde ihm unangenehm, es erschreckte ihn sogar.

»Nastasja, was schweigst du?« fragte er schließlich ängstlich mit schwacher Stimme.

»Das ist das Blut«, antwortete sie endlich leise wie vor sich hin.

»Blut! ... Was für ein Blut? ...« murmelte er erbleichend und zur Wand rückend.

Nastasja sah ihn noch immer schweigend an.

»Niemand hat die Wirtin geschlagen«, sagte sie wieder streng und bestimmt.

Er sah sie an und atmete kaum.

»Ich habe es selbst gehört ... ich habe nicht geschlafen ... ich habe gesessen«, sagte er noch ängstlicher. »Ich habe lang zugehört ... Der Gehilfe des Revieraufsehers war hier ... Alle Leute aus allen Wohnungen waren auf der Treppe zusammengelaufen ...«

»Niemand war hier. Es ist das Blut, das aus dir schreit. Wenn es keinen Ausweg hat und gerinnt, so kommt einem mancherlei vor ... Wirst du essen, wie?«

Er gab keine Antwort. Nastasja stand noch immer vor ihm, sah ihn unverwandt an und ging nicht.

»Gib mir zu trinken ... Nastasjuschka.«

Sie ging hinunter und brachte nach zwei Minuten Wasser in einem weißen tönernen Becher; was weiter kam, erinnerte er sich nicht mehr. Er erinnerte sich nur noch, wie er einen Schluck kalten Wassers getrunken und den Inhalt des Bechers auf die Brust verschüttet hatte. Dann wurde er bewußtlos.

III

Man kann jedoch nicht sagen, daß er während seiner ganzen Krankheit bewußtlos geblieben wäre: es war ein fieberhafter Zustand mit Delirien und halbem Bewußtsein. An vieles konnte er sich später erinnern. Bald schien es ihm, als versammele sich um ihn eine Menge von Menschen, die ihn nehmen und irgendwohin forttragen wollten; als stritten und zankten sie sich seinetwegen. Bald sah er sich allein im Zimmer; alle sind weggegangen und fürchten sich vor ihm und öffnen nur zuweilen die Tür, um nach ihm zu sehen; sie drohen ihm, vereinbaren etwas unter sich, lachen und necken ihn. Er erkannte oft Nastasja in seiner Nähe; er unterschied auch noch einen anderen Menschen, der ihm bekannt vorkam, wer es aber war, darauf konnte er unmöglich kommen; er litt darunter und weinte sogar. Zuweilen schien es ihm, daß er schon seit einem Monat liege: zuweilen aber, es sei noch immer der gleiche Tag. Aber jeneshatte er vollkommen vergessen; dafür war er sich fortwährend bewußt, daß er etwas vergessen habe, was er nicht hätte vergessen dürfen, – er zermarterte sich und quälte sich, indem er sich dessen zu erinnern bemühte, er stöhnte, ihn packte Raserei oder eine schreckliche, unerträgliche Angst. Dann wollte er aufstehen, wollte weglaufen, doch jemand hielt ihn jedesmal mit Gewalt zurück, und er fiel wieder in Ohnmacht und Bewußtlosigkeit. Endlich kam er aber ganz zu sich.

Das geschah an einem Morgen um zehn Uhr. Um diese Stunde pflegte die Sonne an heiteren Tagen immer einen langen Streifen auf seiner rechten Wand zu malen und die Ecke an der Tür zu beleuchten. Vor seinem Bette standen Nastasja und noch ein Mensch, der ihn sehr neugierig betrachtete und den er gar nicht kannte. Es war ein junger Bursche in einem langen Rock, mit kleinem Bärtchen, dem Aussehen nach ein Kontordiener. Durch die halbgeöffnete Tür blickte die Wirtin herein. Raskolnikow erhob sich.

»Wer ist das, Nastasja?« fragte er, auf den Burschen zeigend.

»Schau, er ist zu sich gekommen!« sagte sie.

»Der Herr sind zu sich gekommen«, wiederholte der Kontordiener.

Als die Wirtin, die hereinblickte, merkte, daß er zu sich gekommen war, schloß sie sofort die Tür und verschwand. Sie war immer schüchtern gewesen, und alle Gespräche und Auseinandersetzungen waren ihr eine Last; sie war gegen vierzig, sehr dick und fett, hatte schwarze Augen und schwarze Brauen und war vor lauter Dicke und Faulheit gutmütig; ihr Gesicht war gar nicht übel. Dabei war sie von einer übertriebenen Schamhaftigkeit.

»Wer sind ... Sie?« fragte er weiter, sich an den Kontordiener selbst wendend. Doch im gleichen Augenblick wurde die Tür wieder weit geöffnet, und herein trat, ein wenig gebückt, da er sehr groß war, Rasumichin.

»Diese Schiffskajüte!« rief er beim Eintreten. »Jedesmal stoße ich mit der Stirn an. Das nennt sich auch Wohnung! Du bist aber zu dir gekommen, Bruder? Ich habe es eben von Paschenjka 1 gehört.«

»Eben ist er zu sich gekommen«, sagte Nastasja.

»Eben sind der Herr zu sich gekommen«, bestätigte der Kontordiener mit einem Lächeln.

»Wer sind Sie?« fragte ihn plötzlich Rasumichin. »Ich, zum Beispiel, sehen Sie, ich bin Wrasumichin, nicht Rasumichin, wie mich alle nennen, sondern Wrasumichin, Student, Sohn eines Adligen, und er ist mein Freund. Nun, und wer sind Sie?«

»Ich bin Diener in unserem Kontor, vom Kaufmann Schelopajew, ich komme in Geschäften.«

»Setzen Sie sich, bitte, auf diesen Stuhl.« Rasumichin selbst setzte sich auf den anderen Stuhl, an der anderen Seite des Tischchens. »Das hast du gut getan, Bruder, daß du zu dir gekommen bist«, fuhr er fort, sich an Raskolnikow wendend. »Den vierten Tag ißt und trinkst du fast nichts. Wirklich, man mußte dir Tee mit einem Löffelchen eingeben. Ich brachte zweimal Sossimow her. Kannst du dich an Sossimow erinnern? Er hat dich aufmerksam untersucht und gleich gesagt, daß es nichts von Belang sei, – das Blut sei dir irgendwie in den Kopf gestiegen. Irgendeine Dummheit mit den Nerven, die Ration war ungenügend, sagt er, du hättest zu wenig Bier und Meerrettich bekommen, daher auch die Krankheit; es mache aber nichts, alles werde schon gut werden. Ein tüchtiger Kerl dieser Sossimow! Er fängt an, glänzender Arzt zu werden. Nun, ich halte Sie aber auf,« wandte er sich wieder an den Kontordiener, »wollen Sie erklären, was Sie wünschen? Ich muß dir sagen, Rodja, daß man schon zum zweitenmal aus dem Kontor kommt; nur ist es das vorige Mal nicht dieser gewesen, sondern ein anderer, und ich habe mit dem anderen gesprochen. Wer war denn vor Ihnen dagewesen?«

»Ich meine, es war vorgestern. Das war Alexej Ssemjonowitsch; er ist auch an unserem Kontor angestellt.«

»Er wird wohl etwas tüchtiger sein als Sie, was meinen Sie?«

»Jawohl, er ist wirklich etwas solider.«

»Das ist lobenswert. Nun, fahren Sie fort.«

»Sie bekommen durch unser Kontor von Afanassij Iwanowitsch Wachruschin, von dem Sie wohl mehr als einmal gehört haben, auf Wunsch Ihrer Frau Mama eine Geldüberweisung«, begann der Kontordiener, sich direkt an Raskolnikow wendend. »Falls Sie bei Bewußtsein sind, soll ich Ihnen fünfunddreißig Rubel einhändigen, da Ssemjon Ssemjonowitsch von Afanassij Iwanowitsch auf Wunsch Ihrer Frau Mama auf die gleiche Weise wie früher darüber benachrichtigt worden ist. Belieben Sie ihn zu kennen?«

»Ja ... ich weiß ... Wachruschin ...« sagte Raskolnikow nachdenklich.

»Hören Sie: er kennt den Kaufmann Wachruschin!« schrie Rasumichin. »Und er sollte nicht bei Bewußtsein sein? Übrigens merke ich jetzt, daß auch Sie ein tüchtiger Mensch sind. Nun! Kluge Reden hört man gern.«

»Ja, es stimmt, es ist von Wachruschin, Afanassij Iwanowitsch, auf Wunsch Ihrer Frau Mama, die Ihnen schon einmal auf die gleiche Weise Geld überwiesen hat; er hat es ihr auch diesmal nicht abgeschlagen und unseren Ssemjon Ssemjonowitsch von seiner Stadt aus beauftragt, Ihnen fünfunddreißig Rubel auszuzahlen, in Erwartung besserer Zeiten.«

»Dieses ›in Erwartung besserer Zeiten‹ ist Ihnen am besten gelungen; auch das von der ›Frau Mama‹ ist nicht übel. Nun, wie glauben Sie, ist er bei vollem Bewußtsein oder nicht, wie?«

»Mir kann es gleich sein. Wenn ich nur eine Quittung haben könnte.«

»Die wird er schon hinkritzeln. Haben Sie ein Buch mit, wie?«

»Jawohl, ein Buch, hier ist es.«

»Geben Sie es her. Nun Rodja, steh etwas auf. Ich werde dich stützen; schreib ihm den Raskolnikow hin, nimm die Feder, denn wir brauchen jetzt das Geld dringender als Sirup, Bruder.«

»Nicht nötig«, sagte Raskolnikow, die Feder von sich stoßend.

»Was ist nicht nötig?«

»Ich werde nicht unterschreiben.«

»Pfui Teufel, das geht doch nicht ohne Unterschrift!«

»Ich will ... das Geld nicht ...«

»Das Geld willst du nicht? Nein, Bruder, das ist Unsinn, ich bin Zeuge! Achten Sie bitte nicht darauf, daß er schon wieder ... voyagiert. Das kommt bei ihm übrigens auch im wachen Zustande vor ... Sie sind ein vernünftiger Mensch, und wir wollen ihn leiten, das heißt einfach seine Hand leiten, dann wird er schon unterschreiben. Nun, fassen Sie an ...«

»Ich kann übrigens auch ein anderes Mal kommen.«

»Nein, nein, warum sollen Sie sich die Mühe machen. Sie sind doch ein vernünftiger Mensch ... Nun, Rodja, halt den Gast nicht auf ... du siehst doch, er wartet.« Und er schickte sich ernsthaft an, Raskolnikows Hand zu führen.

»Laß, ich will selbst ...« sagte jener, ergriff die Feder und setzte seine Unterschrift ins Buch.

Der Kontordiener zählte das Geld auf und ging.

»Bravo! Und nun, Bruder, willst du essen?«

»Ich will«, antwortete Raskolnikow.

»Habt ihr Suppe?«

»Von gestern«, antwortete Nastasja, die die ganze Zeit dabei gestanden hatte.

»Mit Kartoffeln und Reis?«

»Mit Kartoffeln und Reis.«

»Das weiß ich auswendig. Bring's her, bring auch Tee.«

»Ich bring es gleich.«

Raskolnikow verfolgte alles mit tiefem Erstaunen und einer stumpfen, sinnlosen Angst. Er entschloß sich zu schweigen und zu warten: was wird wohl weiter kommen? »Ich glaube, es ist kein Fiebertraum,« dachte er sich, »mir scheint, es ist Wirklichkeit ...«

Nach zwei Minuten kam Nastasja mit der Suppe und erklärte, daß gleich auch der Tee kommen würde. Zur Suppe brachte sie zwei Löffel, zwei Teller und alles, was dazu gehört: ein Salzfaß, eine Pfefferbüchse, Senf für das Fleisch und alles andere, in einer Ordnung, wie sie Raskolnikow schon lange nicht gesehen hatte. Das Tischtuch war sauber.

»Es wäre nicht schlecht, Nastasjuschka, wenn Praskowja Pawlowna an die zwei Flaschen Bier kommandieren wollte. Wir trinken sie schon aus.«

»Du bist mir gar zu fix!« brummte Nastasja und ging, den Befehl auszuführen.

Raskolnikow fuhr fort, mit gespannten, beinahe wahnsinnigen Blicken zu beobachten. Rasumichin setzte sich indessen zu ihm aufs Sofa herüber, umfaßte so plump wie ein Bär mit der linken Hand seinen Kopf, obwohl er sich selbst erheben konnte, und führte mit der Rechten einen Löffel Suppe an seinen Mund, nachdem er vorher ein paarmal darauf geblasen hatte, damit er sich nicht verbrühe. Die Suppe war aber nur lauwarm. Raskolnikow verschlang voll Gier erst einen Löffel, dann einen zweiten und einen dritten. Rasumichin hielt aber, nachdem er ihm einen Löffel gereicht hatte, plötzlich inne und erklärte, daß er sich wegen des ferneren mit Sossimow beraten müsse.

Nastasja brachte zwei Flaschen Bier.

»Willst du auch Tee?«

»Ja.«

»Bring mal schnell Tee her, Nastasja, denn Tee kann man ihm wohl auch ohne ein Fakultätsgutachten geben. Da ist aber auch das Bier!« Er setzte sich auf seinen Stuhl herüber, rückte die Suppe und das Fleisch zu sich heran und begann mit solchem Appetit zu essen, als hätte er seit drei Tagen nichts im Munde gehabt.

»Ich esse jetzt jeden Tag hier bei euch zu Mittag, Rodja«, murmelte er, soweit es ihm sein mit Fleisch vollgestopfter Mund erlaubte. »Und das ist alles ein Werk Paschenjkas, deiner lieben Wirtin, sie bezeugt mir ihre Achtung von ganzem Herzen. Ich bestehe natürlich nicht darauf, protestiere aber auch nicht. Da kommt aber schon Nastasja mit dem Tee! Wie fix die ist! Nastenjka, willst du Bier?«

»Zum Kuckuck!«

»Und Tee?«

»Tee – vielleicht.«

»Schenk ein. Wart, ich schenk dir selbst ein; setz dich an den Tisch.«

Er fing sofort zu wirtschaften an; er schenkte ein, schenkte dann auch noch eine zweite Tasse ein, ließ sein Essen stehen und setzte sich wieder aufs Sofa. Wie früher umschlang er mit der linken Hand den Kopf des Kranken, hob ihn und fing an, ihm den Tee mit dem Löffelchen einzugeben, wobei er wieder fortwährend und besonders eifrig auf den Löffel blies, als liege in diesem Prozeß des Blasens das wichtigste und heilsame Moment der Genesung. Raskolnikow schwieg und wehrte sich nicht, obwohl er sich stark genug fühlte, um ohne fremde Hilfe aufzustehen und auf dem Sofa zu sitzen, vielleicht auch herumzugehen, und nicht nur, seine Hände so weit zu gebrauchen, um einen Löffel oder eine Tasse festhalten zu können. Aber aus einer seltsamen, beinahe tierischen Schlauheit heraus, kam ihm der Gedanke, vorderhand seine Kräfte zu verheimlichen, sich auf die Lauer zu legen; sich wenn nötig sogar so zu stellen, als verstünde er nichts, indessen aber zuzuhören und auszukundschaften, was eigentlich vorging. Übrigens konnte er seinen Widerwillen nicht zurückhalten: nachdem er an die zehn Löffel Tee getrunken hatte, befreite er plötzlich den Kopf, stieß den Löffel trotzig von sich und ließ sich wieder auf das Kissen fallen. Unter seinem Kopf lagen jetzt wirklich Kissen, – richtige Daunenkissen mit sauberen Überzügen; das merkte er gleich und nahm es zur Kenntnis.

»Paschenjka soll uns heute noch Himbeersaft schicken, damit wir ihm einen Trank bereiten«, sagte Rasumichin. Er setzte sich wieder auf seinen Platz und machte sich an die Suppe und das Bier.

»Wo soll sie dir denn den Himbeersaft hernehmen?« fragte Nastasja, indem sie die Untertasse auf fünf gespreizten Fingern hielt und den Tee »durch den Zucker« schlürfte.

»Den Himbeersaft bekommt sie im Laden, mein Schatz. Siehst du, Rodja, als du noch bewußtlos warst, hat sich hier eine ganze Geschichte abgespielt. Als du in einer solchen verbrecherischen Weise von mir durchbranntest und mir deine Adresse nicht sagtest, packte mich solche Wut, daß ich beschloß, dich aufzusuchen und zu bestrafen. Am gleichen Tage machte ich mich ans Werk. Ich ging und ging und fragte und fragte. Deine jetzige Adresse hatte ich vergessen, ich hatte sie auch niemals gewußt. Und von deiner früheren Wohnung wußte ich nur, daß sie irgendwo an den Fünf Ecken im Hause Charlamow lag. Nun suchte und suchte ich dieses Charlamowsche Haus, und später zeigte es sich, daß es nicht von Charlamow, sondern von Buch war, – wie leicht kann man sich am Klange irren! Nun wurde ich böse. Ich wurde böse und ging am nächsten Tag auf gut Glück aufs polizeiliche Auskunftsbureau, und denk dir nur: in zwei Minuten hatten sie dich gefunden. Du bist dort eingetragen.«

»Eingetragen?!«

»Gewiß! Aber den General Kobeljow, den sie in meiner Gegenwart suchten, konnten sie unmöglich finden. Nun, davon könnte ich noch lange erzählen. Kaum war ich hier eingebrochen, als ich sofort alle deine Angelegenheiten kennen lernte; alles, Bruder, alles weiß ich jetzt; auch sie hat es gesehen: den Nikodim Fomitsch lernte ich kennen, auch den Ilja Petrowitsch zeigte man mir, den Hausknecht, den Herrn Samjotow, Alexander Grigorjewitsch, den Sekretär im hiesigen Polizeibureau und zuletzt Paschenjka – das war schon die Krone. Auch Nastasja weiß es ...«

»Hat sich bei ihr eingeschmeichelt«, murmelte Nastasja mit einem verschmitzten Lächeln.

»Tun Sie doch Zucker in Ihren Tee, Nastasja Nikiforojowna!«

»Hör auf, Hund!« rief plötzlich Nastasja schier berstend vor Lachen. »Ich heiße Petrowna und nicht Nikiforojowna«, fügte sie hinzu, als sie aufgehört hatte zu lachen.

»Das werden wir nach Gebühr schätzen. Also, Bruder, um es kurz zu sagen, – ich wollte hier zuerst einen elektrischen Strom loslassen, um alle Vorurteile in der hiesigen Gegend auf einmal auszurotten, aber Paschenjka hat gesiegt. Ich hatte gar nicht erwartet, Bruder, daß sie so ... einnehmend sei ... wie? Nun, was meinst du?«

Raskolnikow schwieg, obwohl er für keinen Augenblick seinen unruhigen Blick von ihm gewandt hatte und ihn auch jetzt noch starr ansah.

»Und zwar sehr einnehmend«, fuhr Rasumichin fort, ohne sich durch sein Schweigen aus der Fassung bringen zu lassen, als stimme er einer erhaltenen Antwort zu. »Und sogar in bester Ordnung, in jeder Beziehung.«

»Ist das ein Kerl!« rief wieder Nastasja, der dieses Gespräch eine unbeschreibliche Wonne zu bereiten schien.

»Schlimm ist es, Bruder, daß du die Sache nicht gleich von Anfang an richtig angepackt hast. Mit ihr hättest du ganz anders verfahren sollen. Sie hat ja sozusagen einen ganz unberechenbaren Charakter! Doch vom Charakter später ... Aber wie hast du es nur so weit bringen können, daß sie zum Beispiel wagte, dir kein Mittagessen zu schicken? Oder zum Beispiel das mit dem Wechsel? Bist du von Sinnen, daß du Wechsel unterschreibst! Oder zum Beispiel diese beabsichtigte Heirat, als ihre Tochter Natalja Jegorowna noch am Leben war ... Ich weiß alles! Übrigens sehe ich, daß es ein heikles Thema ist und daß ich ein Esel bin; entschuldige! Doch zum Kapitel Dummheit: wie glaubst du, Praskowja Pawlowna ist gar nicht so dumm, Bruder, wie man es auf den ersten Blick annimmt, wie?«

»Ja ...« sagte Raskolnikow durch die Zähne, auf die Seite blickend, doch einsehend, daß es für ihn vorteilhafter war, bei dem Thema zu bleiben.

»Nicht wahr?« rief Rasumichin, sichtlich erfreut, daß man ihm geantwortet hatte. »Aber sie ist auch nicht klug, nicht wahr? Ein vollkommen, vollkommen unberechenbarer Charakter! Ich bin zum Teil selbst verwirrt, ich versichere dir ... Ihre Vierzig hat sie sicher. Sie spricht von sechsunddreißig, und das ist ihr gutes Recht. Übrigens schwöre ich dir, daß ich sie mehr geistig, bloß metaphysisch beurteile; zwischen uns ist so ein Emblem entstanden, schwieriger als jede Algebra! Ich verstehe gar nichts! Das sind aber Dummheiten; doch als sie sah, daß du kein Student mehr bist, daß du keine Stunden und keinen Anzug mehr hast und daß sie dich nach dem Tode ihrer Tochter nicht mehr verwandtschaftlich zu behandeln braucht, bekam sie plötzlich Angst; und da du deinerseits dich in dein Schneckenhaus verkrochst und alles Frühere abbrachst, fiel es ihr ein, dich aus der Wohnung hinauszuwerfen. Schon lange hatte sie diese Absicht, aber der Wechsel tat ihr leid. Zudem hattest du ja selbst versichert, daß deine Mama bezahlen wird ...«

»Das sagte ich aus lauter Niedertracht ... Meine Mutter muß beinahe selbst betteln ... und ich log, damit sie mich in der Wohnung behält und ... verpflegt«, sagte Raskolnikow laut und deutlich.

»Ja, das war vernünftig von dir. Die Sache war aber die, daß sie auf einen Herrn Tschebarow stieß, einen Hofrat und Geschäftsmann. Paschenjka hätte ohne seinen Rat nichts unternommen, denn sie ist gar zu schamhaft; der Geschäftsmann ist aber gar nicht schamhaft und stellte darum natürlich sofort die Frage: ist Hoffnung vorhanden, für den Wechsel Geld zu bekommen? Die Antwort lautete: es ist wohl Hoffnung vorhanden, denn es gibt eine solche Mama, die von ihren hundertfünfundzwanzig Rubeln Pension ihren lieben Rodja retten wird, selbst wenn sie verhungern müßte; außerdem gibt es noch ein Schwesterchen, das fürs Brüderchen jedes Joch auf sich nehmen wird. Darauf stützte er sich ... Was zappelst du? Ich habe jetzt alle deine Geheimnisse erforscht, nicht umsonst hast du alles selbst der Paschenjka ausgeplaudert, als du noch auf verwandtschaftlichem Fuße mit ihr standst, ich aber sage dir das alles aus Liebe ... So ist es immer: der ehrliche und gefühlvolle Mensch erzählt offenherzig alle seine Geheimnisse, und der Geschäftsmann hört zu und verschlingt ihn zuletzt. So trat sie diesen Wechsel, angeblich gegen Bezahlung, diesem Tschebarow ab, und er klagte ihn in aller Form ein, genierte sich gar nicht. Als ich dies alles erfuhr, wollte ich ihm zur Beruhigung meines Gewissens auch einen Streich spielen, aber da entstand gerade zwischen mir und Paschenjka die Harmonie, und ich ließ diese ganze Affäre gleich im Keim unterdrücken, indem ich mich verbürgte, daß du zahlen wirst. Ich habe mich für dich verbürgt, Bruder, hörst du es? Man ließ den Tschebarow kommen und gab ihm zehn Rubel, nahm ihm das Papierchen ab, und nun habe ich die Ehre, es Ihnen vorzulegen, – man glaubt Ihnen jetzt aufs Wort, – nehmen Sie es in Empfang, ich habe es, wie es sich gehört, eingerissen.«

Rasumichin legte den Wechsel auf den Tisch; Raskolnikow sah ihn an und wandte sich, ohne ein Wort zu sagen, zur Wand. Das machte selbst auf Rasumichin einen unangenehmen Eindruck.

»Ich sehe, Bruder,« sagte er nach einer Minute, »daß ich wieder ein Dummkopf war. Ich wollte dich nur zerstreuen und mit dem Geplauder unterhalten, habe aber, wie es scheint, deine Galle in Wallung gebracht.«

»Warst du es, den ich im Fieber nicht erkennen konnte?« fragte Raskolnikow, ohne den Kopf zu wenden, nachdem auch er eine Weile geschwiegen hatte.

»Ja, mich, und Sie gerieten sogar aus diesem Anlasse in Wut, besonders, als ich einmal Samjotow herbrachte.«

»Samjotow? ... Den Sekretär? ... Wozu?« Raskolnikow wandte sich rasch um und bohrte seinen Blick in Rasumichin.

»Was hast du bloß ... Was bist du so aufgeregt? Er wollte dich kennen lernen ... er äußerte selbst den Wunsch, denn wir hatten viel über dich gesprochen ... Von wem hätte ich denn sonst so viel über dich erfahren können? Ein reizender Bursche ist er, Bruder, ein wundervoller Mensch ... in seiner Art, versteht sich. Jetzt sind wir Freunde und sehen uns beinahe jeden Tag. Ich bin ja in das gleiche Revier gezogen. Weißt du es noch nicht? Soeben bin ich umgezogen. Zweimal war ich mit ihm bei der Lawisa. Erinnerst du dich noch an die Lawisa Iwanowna?«

»Habe ich phantasiert?«

»Das will ich meinen! Sie waren ganz bewußtlos.«

»Worüber habe ich phantasiert?«

»Mein Gott! Worüber du phantasiert hast? Man weiß doch, worüber ein Mensch phantasiert ... Nun, Bruder, wir wollen jetzt keine Zeit verlieren, zur Sache.«

Er stand, vom Stuhle auf und griff nach seiner Mütze.

»Worüber habe ich phantasiert?«

»Wie er sich das in den Kopf gesetzt hat! Fürchtest du vielleicht, daß du ein Geheimnis ausgeplaudert hast? Beruhige dich: von der Gräfin hast du kein Wort gesagt. Aber von einer Bulldogge, und von Ohrringen, und von irgendwelchen Uhrketten, und von der Krestowskij-Insel, und von einem Hausknecht, und von Nikodim Fomitsch, und von Ilja Petrowitsch, dem Gehilfen des Revieraufsehers, wurde viel gesprochen. Außerdem haben Sie ein außerordentliches Interesse für Ihren eigenen Strumpf gezeigt, ein außerordentliches! Sie jammerten immer: Gebt mir den Strumpf her. Samjotow suchte die Strümpfe in allen Ecken und reichte Ihnen dieses Lumpenzeug mit seinen eigenen, in Parfüm gewaschenen, mit Ringen geschmückten Händchen. Dann erst beruhigten Sie sich und hielten dieses Lumpenzeug einen ganzen Tag und eine ganze Nacht so fest, daß man es Ihnen gar nicht entreißen konnte. Wahrscheinlich liegt es auch jetzt noch irgendwo unter deiner Decke. Außerdem batst du um Fransen für deine Hose, und zwar mit Tränen! Wir fragten dich immer, was das für Fransen seien. Aber man konnte nichts verstehen ... Also, zur Sache. Hier sind fünfunddreißig Rubel; ich nehme zehn davon mit und werde so in zwei Stunden Rechenschaft darüber abgeben. Inzwischen werde ich auch Sossimow benachrichtigen, obwohl er schon längst hätte hier sein sollen, denn es ist bald zwölf. Und Sie Nastenjka, schauen Sie bitte öfters in meiner Abwesenheit nach, für den Fall, daß er zu trinken oder sonst etwas verlangt ... Der Paschenjka werde ich gleich selbst alles Nötige sagen. Auf Wiedersehen!«

»Paschenjka nennt er sie! Ach, du schlaue Fratze!« rief ihm Nastasja nach; dann öffnete sie die Tür und begann zu horchen; doch sie hielt es nicht aus und lief auch selbst hinunter. Es interessierte sie doch zu sehr, was er mit der Wirtin wohl sprechen mochte; überhaupt schien sie von Rasumichin ganz bezaubert zu sein.

Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, als der Kranke die Decke von sich warf und wie wahnsinnig vom Lager sprang. Er hatte mit brennender, krampfhafter Ungeduld gewartet, daß sie schneller fortgingen, damit er sich sofort ans Werk machen könne. Doch was war das für ein Werk? – das hatte er jetzt wie zum Trotz vergessen.

»Herr! Sag mir nur das eine; wissen sie alles, oder wissen sie es noch nicht? Und wenn sie es schon wissen und sich nur so verstellen und mich necken, solange ich liege, dann aber plötzlich herkommen und sagen, daß alles schon längst bekannt sei und daß sie nur so ... Was soll ich jetzt anfangen? Nun hab ich's wie zum Trotz vergessen; plötzlich habe ich es vergessen, obwohl ich es eben noch wußte! ...«

Er stand mitten im Zimmer und blickte in qualvoller Ratlosigkeit um sich; er ging zur Tür, machte sie auf und horchte hinaus; dies war es aber nicht. Plötzlich stürzte er, als hätte er sich nun an alles erinnert, zur Ecke, wo unter der Tapete das Loch war, sah sich alles genau an, steckte die Hand ins Loch und suchte; das war es aber nicht. Dann ging er zum Ofen, machte die Tür auf und begann in der Asche zu wühlen; die Fetzen der Franse von der Hose und der zerrissenen Tasche lagen noch immer so da, wie er sie damals hineingeworfen hatte: also hat niemand nachgesehen! Jetzt fiel ihm der Strumpf ein, von dem Rasumichin eben erzählt hatte. Wirklich, da liegt er auf dem Sofa unter der Decke, ist aber so abgetragen und beschmutzt, daß Samjotow natürlich nichts hat merken können.

»Ach ja, Samjotow! ... Das Polizeibureau! ... Wozu ruft man mich aufs Polizeibureau? Wo ist die Vorladung? Ach ja, ich habe es verwechselt: man hat mich damals geladen! Auch damals hatte ich den Strumpf untersucht, aber jetzt ... jetzt war ich krank. Wozu war aber Samjotow hier? Warum hat ihn Rasumichin hergebracht? ...« stammelte er kraftlos, sich wieder auf das Sofa setzend. »Was ist denn das? Phantasiere ich noch immer, oder ist das die Wirklichkeit? Ich glaube, es ist die Wirklichkeit ... Ah, jetzt weiß ich es: Fliehen! So schnell als möglich fliehen, unbedingt, unbedingt fliehen! Aber ... wohin? Wo sind meine Kleider? Meine Stiefel sind nicht da! Sie haben sie weggeräumt! Versteckt! Ich verstehe! Aber den Mantel da haben sie übersehen! Da liegt auch das Geld auf dem Tisch, Gott sei Dank! Da ist auch der Wechsel ... Ich nehme das Geld und gehe fort, nehme mir eine andere Wohnung, sie werden mich nicht finden! ... Ja, aber das polizeiliche Auskunftsbureau? Sie finden mich! Rasumichin wird mich schon finden. Besser wäre es, ganz zu entfliehen ... weit weg ... nach Amerika, und ich spucke auf sie! Und auch den Wechsel nehme ich mit ... den kann ich dort brauchen. Was soll ich noch mitnehmen? Sie glauben, ich sei krank! Sie wissen gar nicht, daß ich gehen kann, ha, ha, ha! Ich habe es ihren Augen angesehen, daß sie alles wissen! Wenn ich nur die Treppe hinuntergehen könnte! Wenn sie aber dort Posten stehen haben, Polizisten! Was ist das, Tee? Ah, da ist ja auch noch Bier übriggeblieben, eine halbe Flasche, es ist kalt!«

Er ergriff die Flasche, in der noch ein ganzes Glas geblieben war, und trank es mit Genuß auf einen Zug aus, als wollte er das Feuer in seiner Brust löschen. Doch schon nach einer Minute stieg ihm das Bier zu Kopfe, und ein leichtes, sogar angenehmes Frösteln lief ihm über den Rücken. Er legte sich hin und zog die Decke über sich. Seine schon ohnehin kranken und zusammenhanglosen Gedanken gerieten immer mehr durcheinander, und bald bemächtigte sich seiner ein leichter und angenehmer Schlaf. Mit Wohlgefühl suchte er mit dem Kopfe eine recht bequeme Stelle auf dem Kissen, hüllte sich fester in die weiche wattierte Decke, die er jetzt statt des alten zerrissenen Mantels hatte, seufzte leise auf und fiel in einen tiefen, festen, heilsamen Schlaf.

Er erwachte, als er jemand eintreten hörte; er schlug die Augen auf und erblickte Rasumichin, der die Tür weit geöffnet hatte und auf der Schwelle stand, ohne sich entschließen zu können, ob er eintreten solle oder nicht. Raskolnikow setzte sich schnell auf und sah ihn an, als bemühte er sich, auf etwas zu kommen.

»Ach so, du schläfst nicht, da bin ich! Nastasja, schlepp mal den Pack herein!« rief Rasumichin hinunter. »Gleich bekommst du die Abrechnung ...«

»Wie spät ist es?« fragte Raskolnikow, unruhig um sich blickend.

»Du hast fein geschlafen, Bruder; es ist schon dunkel draußen, sechs wird es sein. Über sechs Stunden hast du geschlafen ...«

»Mein Gott! Was war bloß mit mir?! ...«

»Warum denn? Wohl bekomm's! Was hast du solche Eile? Willst du vielleicht zu einem Stelldichein? Die ganze Zeit gehört jetzt uns. Ich warte schon seit drei Stunden; zweimal war ich hier, und du hast immer geschlafen. Ich war auch zweimal bei Sossimow: er ist nicht zu Hause, nichts zu machen! Das tut aber nichts, er wird schon kommen! ... Auch in eigenen Angelegenheiten war ich fort. Heute bin ich doch umgezogen, ganz umgezogen, mit meinem Onkel. Ich habe jetzt einen Onkel bei mir ... Na ja, hol's der Teufel! Zur Sache ... Gib den Pack her, Nastenjka. Gleich werden wir ... Und wie fühlst du dich, Bruder?«

»Ich bin gesund; gar nicht krank ... Rasumichin, bist du schon lange hier?«

»Ich sage dir ja, daß ich seit drei Stunden warte.«

»Nein, früher?«

»Was früher?«

»Seit wann kommst du hierher?«

»Ich habe es dir doch vorhin erzählt; hast du es schon vergessen?«

Raskolnikow wurde nachdenklich. Was er soeben erlebt, sah er jetzt wie im Traume. Er konnte sich ohne fremde Hilfe nicht erinnern und sah Rasumichin fragend an.

»Hm!« sagte jener. »Du hast es vergessen. Mir kam es schon früher vor, daß du noch nicht ganz ... Jetzt nach dem Schlafe hast du dich erholt ... Wirklich, du siehst bedeutend besser aus. Das ist brav! Nun gut, zur Sache! Gleich wirst du dich an alles erinnern. Schau mal her, mein Lieber.«

Er begann den Pack aufzubinden, für den er sich sichtlich sehr interessierte.

»Das lag mir besonders am Herzen, Bruder. Denn man muß doch aus dir einen Menschen machen. Also fangen wir an, und zwar von oben. Siehst du diese Mütze?« sagte er, indem er aus dem Pack eine recht hübsche, zugleich aber auch sehr gewöhnliche und billige Mütze hervorholte. »Darf ich sie dir anprobieren?«

»Nachher, später«, sagte Raskolnikow, sich wie angeekelt wehrend.

»Nein, Bruder Rodja, wehre dich nicht, nachher wird es zu spät sein; ich werde auch die ganze Nacht nicht einschlafen, weil ich sie ohne Maß, aufs Geratewohl gekauft habe. Wie angegossen!« rief er feierlich, nachdem er ihm die Mütze anprobiert hatte. »Wie auf Maß! Die Kopfbedeckung, Bruder, ist der wichtigste Bestandteil der Kleidung, sozusagen eine Empfehlung. Mein Freund Tolstjakow muß jedes Mal seinen Deckel abnehmen, wenn er an einen öffentlichen Ort kommt, wo alle anderen in Hüten und Mützen stehen. Alle glauben, er täte es aus sklavischer Gesinnung, er tut es aber nur, weil er sich seines Vogelnestes schämt; er ist mal so schamhaft! Nun, Nastenjka, hier sehen Sie zwei Kopfbedeckungen; diesen Palmerston (er holte aus einer Ecke den zerbeulten runden Hut Raskolnikows, den er aus unbekanntem Grunde Palmerston nannte) und dieses Juweliererzeugnis; welche gefällt Ihnen besser? Taxiere mal, Rodja, was glaubst du, daß ich bezahlt habe? Nastasjuschka?« wandte er sich an sie, als er sah, daß Raskolnikow schwieg.

»Zwanzig Kopeken wirst du wohl bezahlt haben«, antwortete Nastasja.

»Zwanzig Kopeken – dumme Gans!« rief er gekränkt. »Heutzutage kauft man selbst dich nicht für zwanzig Kopeken. Achtzig Kopeken habe ich gegeben! Und das auch nur, weil sie getragen ist. Allerdings mit der Bedingung: wenn du diese abträgst, bekommst du im nächsten Jahre eine andere umsonst, bei Gott! Schreiten wir nun zu den Vereinigten Staaten von Amerika, wie man dieses Kleidungsstück bei uns im Gymnasium nannte. Das sage ich gleich: auf die Hosen bin ich stolz!« Und er breitete vor Raskolnikow eine graue Hose aus leichtem wollenen Sommerstoff aus. – »Kein Löchelchen, kein Fleckchen, dabei ist sie aber noch sehr anständig, wenn auch getragen; dazu eine ebensolche Weste von der gleichen Farbe, wie es die Mode verlangt. Und daß die Sachen getragen sind, ist, offen gestanden, besser: sie sind weicher und zarter ... Siehst du, Rodja, um in dieser Welt Karriere zu machen, genügt es, meiner Meinung nach, stets die Saison zu beobachten: wenn du im Januar keinen Spargel verlangst, so bleiben dir ein paar Rubel im Beutel zurück; so verhält es sich auch mit diesem Kauf. Jetzt ist die Sommersaison, und ich habe euch einen Sommerkauf gemacht, denn die Herbstsaison wird sowieso einen wärmeren Stoff verlangen, und so wird man es wegwerfen müssen ... um so mehr, als dies alles bis dahin ganz von selbst zerfallen wird, und wenn nicht alle erhöhter Prunksucht, so aus innerer Zerrüttung. Nun taxiere es einmal! Wieviel glaubst du? Zwei Rubel fünfundzwanzig Kopeken! Und merk es dir, wieder mit derselben Bedingung: wenn du diese Hose abgetragen hast, bekommst du im nächsten Jahre eine neue umsonst! Im Laden Fedjajews werden die Sachen nur so verkauft: wenn du einmal bezahlt hast, so gilt das fürs ganze Leben, denn ein zweites Mal gehst du selbst nicht hin. Nun, jetzt zu den Stiefeln, – wie gefallen sie dir? Man sieht wohl, daß sie getragen sind, aber an die zwei Monate werden sie noch halten, denn es ist ausländische Arbeit und ausländische Ware: der Sekretär der englischen Botschaft hat sie in der vorigen Woche auf dem Trödelmarkte verkauft; bloß sechs Tage hat er sie getragen, brauchte aber dringend Geld. Der Preis ist ein Rubel fünfzig Kopeken. Ein guter Kauf?«

»Vielleicht passen sie ihm gar nicht!« bemerkte Nastasja.

»Sie passen nicht! Und was ist das?« Er zog aus der Tasche den alten, eingeschrumpften, ganz mit trockenem Schmutz bedeckten durchlöcherten Stiefel Raskolnikows. »Ich bin mit einem Muster hingegangen, und man hat mir nach diesem Ungeheuer das richtige Maß rekonstruiert. Diese Angelegenheit habe ich mit Liebe behandelt. Und was die Wäsche betrifft, so habe ich mit der Wirtin gesprochen. Hier sind erstens drei leinene Hemden, doch mit modernem Einsatz ... Also: achtzig Kopeken die Mütze, zwei Rubel fünfundzwanzig die übrige Kleidung, macht drei Rubel fünf Kopeken; ein Rubel fünfzig die Stiefel – weil sie gar so gut sind, – macht vier Rubel fünfundfünfzig Kopeken und fünf Rubel die ganze Wäsche – wir haben sie engros gekauft, – alles in allem neun Rubel fünfundfünfzig Kopeken. Den Rest von fünfundvierzig Kopeken in kupfernen Fünfkopekenstücken überreiche ich Ihnen hiermit. So ist nun, Rodja, deine ganze Kleidung instand gesetzt, denn dein Mantel kann, wie ich glaube, nicht nur weiterdienen, sondern sieht sogar noch besonders vornehm aus: ja, wenn man bei Scharmer arbeiten läßt! Was die Strümpfe und das übrige betrifft, so überlasse ich es dir selbst; an Geld sind uns noch fünfundzwanzig Rubel geblieben, aber wegen Paschenjka und der Miete kannst du unbesorgt sein; ich sagte dir ja: dein Kredit ist unbeschränkt. Jetzt aber erlaube, daß ich dir die Wäsche wechsele, Bruder, denn deine Krankheit sitzt jetzt vielleicht nur noch im Hemde ...«

»Laß ab, ich will nicht!« wehrte sich Raskolnikow, der mit Widerwillen den geschraubt-scherzhaften Bericht Rasumichins über den Einkauf der Kleider gehört hatte ...

»Nein, Bruder, das geht nicht: warum habe ich mir die Sohlen abgelaufen!« drang. Rasumichin in ihn. – »Nastasjuschka, schämen Sie sich nicht, sondern helfen Sie, ja so!«

Trotz des Widerstandes Raskolnikows wechselte er ihm die Wäsche. Jener fiel auf die Kissen und sprach an die zwei Minuten kein Wort.

»Jetzt lassen Sie mich lange nicht in Ruhe!« dachte er.

»Von welchem Gelde ist das alles gekauft?« fragte er endlich, auf die Wand blickend.

»Von welchem Geld? Hat man so was gehört! Doch von deinem eigenen. Vorhin war der Kontordiener hier, von Wachruschin, deine Mama hat es dir geschickt, oder hast du auch das vergessen?«

»Jetzt erinnere ich mich ...«, sagte Raskolnikow nach langem, mürrischem Schweigen. Rasumichin sah ihn besorgt mit gerunzelter Stirn an.

Die Tür ging auf, und herein trat ein großer, kräftiger Mann, der Raskolnikow schon irgendwie bekannt vorkam.

»Sossinow! Endlich!« rief Rasumichin erfreut.