Epilog
I
Sibirien. Am Ufer eines breiten, öden Flusses steht eine Stadt, eines von den administrativen Zentren Rußlands; in der Stadt ist eine Festung, in der Festung befindet sich ein Zuchthaus. Im Zuchthause sitzt schon seit neun Monaten der Sträfling zweiter Klasse Rodion Raskolnikow. Seit dem Tage seines Verbrechens sind fast anderthalb Jahre vergangen.
Das Gerichtsverfahren gegen ihn verlief ohne große Schwierigkeiten. Der Verbrecher hielt seine Aussage bestimmt und klar aufrecht, ohne die Umstände zu verwickeln, ohne sie zu seinen Gunsten zu mildern, ohne die Tatsachen zu entstellen und ohne auch die geringste Einzelheit zu verschweigen. Er beschrieb bis zum letzten Detail den ganzen Vorgang des Mordes, erklärte das Geheimnis des »Pfandes« (des Holzbrettchens mit der Metallplatte), das man in den Händen der ermordeten Alten gefunden hatte; erzählte genau, wie er die Schlüssel von der Ermordeten genommen hatte, beschrieb diese Schlüssel, beschrieb auch die Truhe und womit sie angefüllt war; er erklärte das Rätsel der Ermordung Lisawetas; erzählte, wie Koch gekommen war und geklopft hatte und nach ihm der Student erschienen war, und gab alles wieder, was sie miteinander gesprochen hatten; erzählte, wie er, der Verbrecher, nachher die Treppe hinuntergelaufen war und das Geschrei von Mikolka und Mitjka gehört hatte; wie er sich in der leeren Wohnung versteckt hatte und dann nach Hause gekommen war; schließlich gab er den Stein auf dem Hofe auf dem Wosnessenskij-Prospekt hinter dem Tore an, unter dem man später die Sachen und den Beutel auch wirklich fand. Mit einem Wort: die Sache war vollkommen klar. Die Untersuchungsbeamten und die Richter waren unter anderem sehr darüber erstaunt, daß er den Beutel und die Sachen unter dem Stein versteckt hatte, ohne von ihnen Gebrauch zu machen, besonders aber darüber, daß er sich nicht nur aller Gegenstände, die er geraubt hatte, nicht erinnerte, sondern sich sogar in ihrer Zahl irrte. Der Umstand, daß er kein einzigesmal den Beutel geöffnet hatte und nicht einmal wußte, wieviel Geld er enthielt, erschien ganz unglaubwürdig. Im Beutel fand man dreihundertsiebzehn Rubel in Banknoten und drei Zwanzigkopekenstücke; von dem langen Liegen unter dem Stein hatten einige zu oberst liegende Scheine, es waren gerade die größeren, sehr gelitten. Lange mühte man sich ab, zu erfahren, warum der Angeklagte gerade in diesem einen Punkte log, während er in allen übrigen Dingen freiwillig und aufrichtig gestand. Schließlich gaben einige (besonders die Psychologen) die Möglichkeit zu, daß er in den Beutel wirklich nicht hineingeschaut hatte und darum auch nicht wußte, was er enthielt; ohne es zu wissen, hätte er den Beutel unter dem Steine versteckt; daraus schloß man aber auch, daß das Verbrechen nur im Zustande einer gewissen vorübergehenden Unzurechnungsfähigkeit verübt werden konnte, sozusagen einer krankhaften Monomanie, zu morden und zu rauben, ohne weitere Absichten auf Bereicherung. Sehr gelegen kam die neueste Theorie von vorübergehender Geistesstörung, die man heutzutage so oft auf manche Verbrecher anzuwenden versucht. Zudem wurde der seit langem datierende hypochondrische Zustand Raskolnikows genau von vielen Zeugen bestätigt – vom Arzte Sossimow, von seinen früheren Kollegen, seiner Wirtin und dem Dienstmädchen. Das alles unterstützte außerordentlich die Annahme, daß Raskolnikow einem gewöhnlichen Mörder, Räuber und Diebe gar nicht ähnlich sehe und daß hier etwas anderes vorliegen müsse. Aber zum größten Verdruß derer, die diese Ansicht vertraten, machte der Verbrecher selbst fast keine Versuche, sich zu verteidigen; auf die endgültigen Fragen, was ihn zum Morde habe bewegen können und was ihn zum Raube verleitet habe, antwortete er sehr klar mit der rohesten Genauigkeit, daß die Ursache davon seine schlechte Lage, seine Armut und Hilflosigkeit gewesen seien, der Wunsch, die ersten Schritte seiner Lebensbahn mit Hilfe der mindestens dreitausend Rubel zu sichern, die er bei der Ermordeten zu finden hoffte. Zum Morde habe er sich aber infolge seines leichtsinnigen und kleinmütigen Charakters entschlossen, der überdies durch Entbehrungen und Mißerfolge gereizt war. Auf die Frage, was ihn veranlaßt habe, mit einem Geständnis zu kommen, antwortete er unumwunden, daß es aufrichtige Reue gewesen sei. Das alles klang schon beinahe roh ...
Das Urteil fiel jedoch milder aus, als man es nach der Art des Verbrechens erwartet hatte, und zwar vielleicht gerade aus dem Grunde, weil der Verbrecher sich nicht nur nicht zu verteidigen versuchte, sondern sogar den Wunsch zeigte, sich noch mehr anzuklagen. Alle die seltsamen und besonderen Umstände wurden mit in Betracht gezogen. Der krankhafte Zustand und die Notlage des Verbrechers vor Ausführung der Tat unterlagen keinem Zweifel. Daß er vom Geraubten keinen Gebrauch gemacht hatte, wurde zum Teil der erwachten Reue und zum Teil dem nicht völlig normalen Zustande seiner geistigen Fähigkeiten bei der Verübung des Verbrechens zugeschrieben. Auch die zufällige Ermordung Lisawetas diente als Umstand, der die letzte Annahme bekräftigte: ein Mensch begeht zwei Morde und vergißt zugleich, daß die Tür offen steht! Schließlich das freiwillige Geständnis gerade zu einem Zeitpunkt, wo die Sache infolge der falschen Selbstanklage eines entmutigten Fanatikers (Nikolai) außerordentlich verwickelt wurde und außerdem, wo gegen den wahren Verbrecher nicht nur keine klaren Indizien, sondern auch fast keine Verdachtsgründe vorlagen (Porfirij Petrowitsch hatte Wort gehalten) – das alles trug außerordentlich viel zur Milderung des Loses des Angeklagten bei.
Außerdem wurden auch andere, völlig unerwartete Umstände bekannt, die für den Angeklagten außerordentlich günstig waren. Der ehemalige Student Rasumichin hatte irgendwo Beweise dafür ausgegraben, daß der Angeklagte Raskolnikow, als er noch auf der Universität war, aus seinen letzten Mitteln einen armen und schwindsüchtigen Universitätskollegen unterstützt und fast ein ganzes halbes Jahr ausgehalten habe. Als dieser gestorben war, hätte er den am Leben gebliebenen alten und gelähmten Vater des verstorbenen Kollegen (der seinen Vater durch seiner Hände Arbeit fast seit seinem dreizehnten Lebensjahre ernährt und unterhalten hatte) gepflegt, dann diesen Alten in einem Krankenhaus untergebracht und, als er starb, auf eigene Kosten beerdigen lassen. Alle diese Mitteilungen hatten einen gewissen günstigen Einfluß auf das Los Raskolnikows. Seine frühere Wirtin, die Mutter der verstorbenen Braut Raskolnikows, die Witwe Sarnizyna, sagte aus, daß Raskolnikow, als sie noch in einem anderen Hause, an den »Fünf Ecken« wohnten, während einer nächtlichen Feuersbrunst aus einer schon brennenden Wohnung zwei kleine Kinder gerettet und dabei Brandwunden davongetragen habe. Diese Tatsache wurde genau untersucht und von anderen Zeugen mit ziemlicher Sicherheit bestätigt. Mit einem Wort: die Sache endete damit, daß der Verbrecher in Anbetracht seines freiwilligen Geständnisses und einiger strafmildernder Umstände zu nur acht Jahren Zwangsarbeit zweiter Klasse verurteilt wurde.
Die Mutter Raskolnikows war noch beim Anfange des Prozesses erkrankt. Dunja und Rasumichin brachten es fertig, sie für die Dauer des ganzen Prozesses aus Petersburg fortzubringen. Rasumichin wählte eine an der Eisenbahn gelegene Stadt in der Nähe von Petersburg, um die Möglichkeit zu haben, den Prozeß regelmäßig zu verfolgen und zugleich möglichst oft Awdotja Romanowna zu sehen. Die Krankheit Pulcheria Alexandrownas war nervöser Natur und sehr eigentümlich, begleitet von einer wenn auch nicht völligen, so doch teilweisen Geistesstörung. Als Dunja von ihrer letzten Zusammenkunft mit dem Bruder zurückkehrte, traf sie die Mutter schon ganz krank an, im Fieber und phantasierend. Am gleichen Abend kam sie mit Rasumichin überein, was man der Mutter auf die Fragen nach dem Bruder antworten solle, und erfand mit ihm zusammen für die Mutter eine ganze Geschichte, daß Raskolnikow irgendwo sehr weit an die Grenze Rußlands, in einem privaten Auftrage gereist sei, der ihm endlich Geld und Berühmtheit einbringen würde. Aber Pulcheria Alexandrowna stellte zum Erstaunen der beiden weder damals noch später irgendwelche Fragen. Im Gegenteil, sie wußte selbst eine ganze Geschichte über die plötzliche Abreise des Sohnes; sie erzählte unter Tränen, wie er zu ihr gekommen war, um Abschied zu nehmen; machte dabei Andeutungen, daß nur sie allein manche höchst wichtigen und geheimnisvollen Umstände kenne und daß Rodja viele mächtige Feinde habe, so daß er sich sogar verbergen müsse. Was aber seine zukünftige Karriere betraf, so erschien sie ihr als unzweifelhaft und glänzend, wenn gewisse widrige Umstände beseitigt sein würden; sie versicherte Rasumichin, daß ihr Sohn mit der Zeit sogar ein Staatsmann werden würde, wofür sein Artikel und seine glänzende literarische Begabung zeugten. Diesen Artikel las sie fortwährend, las ihn manchmal auch laut vor und nahm ihn sogar mit ins Bett; und doch fragte sie nie, wo sich Rodja jetzt aufhalte, obwohl man es augenscheinlich vermied, mit ihr darüber zu sprechen, was schon allein ihren Argwohn hätte wecken müssen. Dieses seltsame Schweigen Pulcheria Alexandrownas über gewisse Punkte erschien zuletzt beängstigend. Sie beklagte sich zum Beispiel nicht, daß sie von ihm keine Briefe erhalte, während sie früher, als sie noch in ihrem Städtchen wohnte, nur von der Hoffnung und Erwartung gelebt hatte, bald einen Brief von ihrem geliebten Rodja zu bekommen. Dieser Umstand war doch gar zu unerklärlich und beunruhigte Dunja sehr; ihr kam der Gedanke, daß die Mutter vielleicht etwas Schreckliches über das Los ihres Sohnes ahne und zu fragen fürchte, um nicht etwas noch Fürchterlicheres zu erfahren. Dunja sah jedenfalls klar, daß Pulcheria Alexandrowna nicht bei vollem Verstande war.
Ein paarmal war es übrigens vorgekommen, daß sie das Gespräch selbst so leitete, daß es unmöglich war, ihr zu antworten, ohne zu erwähnen, wo sich Rodja jetzt befand; und als die Antworten naturgemäß ungenügend und verdächtig ausfielen, wurde sie plötzlich außerordentlich traurig, düster und schweigsam, was eine ziemlich lange Zeit anhielt. Dunja sah schließlich ein, daß es sehr schwer war, zu lügen und zu erfinden, und kam zum endgültigen Entschluß, über gewisse Punkte vollkommen zu schweigen; aber es wurde immer klarer, daß die arme Mutter etwas Schreckliches argwöhnte. Dunja erinnerte sich unter anderem der Worte ihres Bruders, daß die Mutter sie in der Nacht vor jenem schicksalschweren Tage nach der Szene mit Swidrigailow habe phantasieren hören. Ob sie wohl etwas verstanden hatte? Oft, manchmal nach mehreren Tagen und sogar Wochen eines düsteren Schweigens und stummer Tränen wurde die Kranke plötzlich hysterisch lebhaft und fing an, laut von ihrem Sohne, von ihren Hoffnungen und von der Zukunft zu sprechen ... Ihre Phantasien waren bisweilen sehr sonderbar. Man tröstete sie, man stimmte ihr bei (sie sah vielleicht selbst, daß man ihr beistimmte, nur um sie zu trösten), und doch redete sie ...
Fünf Monate nach der Selbstanzeige des Verbrechers erfolgte das Urteil. Rasumichin besuchte ihn im Gefängnis, so oft es nur möglich war. Ssonja ebenfalls. Schließlich schlug die Stunde der Trennung. Dunja schwur dem Bruder, daß dies keine Trennung für immer sei. Auch Rasumichin bestätigte es. In Rasumichins jungem und feurigem Kopfe hatte sich der Plan festgesetzt, in den folgenden drei oder vier Jahren möglichst den Grund zu einem Vermögen zu legen, etwas Geld zu sparen und nach Sibirien überzusiedeln, wo der Boden in jeder Beziehung reich sei, wo es aber an Arbeitskräften, Menschen und Kapitalien mangele, sich dort, in derselben Stadt, wo Rodja sein werde, niederzulassen und ... gemeinsam ein neues Leben zu beginnen. Beim Abschied weinten sie alle. Raskolnikow war in den allerletzten Tagen sehr nachdenklich, fragte viel nach der Mutter und machte sich ihretwegen Sorgen. Er quälte sich so sehr um sie, daß es Dunja beunruhigte. Als er die Einzelheiten über die Krankheit der Mutter hörte, wurde er sehr düster. Gegen Ssonja war er während der ganzen Zeit aus irgendeinem Grunde sehr wortkarg. Ssonja hatte sich schon lange mit Hilfe des Geldes, das ihr Swidrigailow gegeben hatte, zu der Reise fertiggemacht, um der Abteilung von Sträflingen zu folgen, mit der er verschickt werden sollte. Darüber war zwischen ihr und Raskolnikow kein einziges Wort gefallen; aber beide wußten, daß es so sein werde. Beim letzten Abschied lächelte er seltsam bei den glühenden Versicherungen seiner Schwester und Rasumichins über die glückliche Zukunft, die sie alle erwartete, sobald er seine Strafe abgebüßt haben würde, und sagte voraus, daß die Krankheit der Mutter mit einer Katastrophe enden werde. Er und Ssonja traten endlich die Reise an.
Zwei Monate später heiratete Dunjetschka Rasumichin. Die Hochzeit war traurig und still. Unter den Geladenen befanden sich übrigens Porfirij Petrowitsch und Sossimow. In der ganzen letzten Zeit hatte Rasumichin das Aussehen eines festentschlossenen Menschen. Dunja glaubte blindlings, daß er alle seine Pläne verwirklichen werde, und es war ihr unmöglich, nichtdaran zu glauben: dieser Mensch zeigte einen eisernen Willen. Auch begann er wieder die Universitätsvorlesungen zu hören, um das Studium zu absolvieren. Jeden Augenblick bauten sie an den Plänen für die Zukunft; beide rechneten fest darauf, nach fünf Jahren bestimmt nach Sibirien überzusiedeln. Bis dahin setzten sie ihre Hoffnungen auf Ssonja.
Pulcheria Alexandrowna gab der Tochter mit Freude den Segen zur Verheiratung mit Rasumichin; aber nach der Hochzeit schien sie noch trauriger und besorgter. Um ihr eine Freude zu bereiten, teilte ihr Rasumichin unter anderem die Geschichte vom Studenten und dessen altem Vater mit und auch, daß Rodja sich verbrannt hatte und sogar krank gewesen war, als er im vorigen Jahre zwei kleine Kinder aus dem Feuer gerettet hatte. Diese beiden Mitteilungen versetzten die schon ohnehin verstörte Pulcheria Alexandrowna fast in den Zustand von Verzückung. Sie sprach ununterbrochen darüber, sie knüpfte auch auf der Straße Gespräche an (obwohl Dunja sie ständig begleitete). In den Omnibussen, in Läden, wenn sie nur einen Zuhörer erwischte, brachte sie das Gespräch auf ihren Sohn, auf seinen Artikel, wie er den Studenten unterstützt und wie er bei der Feuersbrunst Brandwunden bekommen hatte, und so weiter. Dunjetschka wußte gar nicht, wie sie davon abzuhalten. Schon abgesehen von der Gefahr eines solchen verzückten, krankhaften Zustandes, drohte dabei auch noch die Möglichkeit, daß jemand sich des Namens Raskolnikow aus der Gerichtsverhandlung erinnern und die Rede darauf bringen könnte. Pulcheria Alexandrowna erfuhr sogar die Adresse der Mutter der beiden aus dem Feuer geretteten Kinder und wollte sie unbedingt aufsuchen. Ihre Unruhe erreichte endlich die äußersten Grenzen. Manchmal fing sie plötzlich zu weinen an, bekam oft Fieber und phantasierte dann. Eines Morgens erklärte sie, daß nach ihrer Berechnung Rodja bald zurückkehren müsse, daß sie sich erinnere, wie er bei seinem Abschied von ihr selbst erwähnt habe, man müsse seine Rückkehr nach genau neun Monaten erwarten. Sie fing an, die Wohnung aufzuräumen und sich zu seinem Empfang vorzubereiten, begann das für ihn bestimmte Zimmer (ihr eigenes) instand zu setzen, die Möbel zu reinigen, die Vorhänge zu waschen und aufzuhängen und so weiter. Dunja war sehr unruhig, sagte aber nichts und half ihr, das Zimmer für den Empfang des Bruders einzurichten. Nach dem unruhigen, in ständigen Phantasien, freudigen Träumen und Tränen verbrachten Tage erkrankte sie in der Nacht und lag am nächsten Morgen in Fieber und Fieberphantasien. Sie war an einem Nervenfieber erkrankt. Nach zwei Wochen starb sie. In den Fieberphantasien entschlüpften ihr Worte, aus denen man schließen konnte, daß sie viel mehr über das schreckliche Schicksal ihres Sohnes ahnte, als man angenommen hatte.
Raskolnikow wußte lange nichts vom Tode der Mutter, obwohl der Briefwechsel mit Petersburg gleich nach seiner Ankunft in Sibirien in Gang ge kommen war. Der Briefwechsel wurde durch Ssonja vermittelt, die pünktlich jeden Monat nach Petersburg an die Adresse Rasumichins schrieb und pünktlich jeden Monat eine Antwort aus Petersburg erhielt. Die Briefe Ssonjas erschienen Dunja und Rasumichin zuerst etwas trocken und unbefriedigend, aber schließlich fanden sie beide, daß man gar nicht besser schreiben konnte, denn diese Briefe lieferten schließlich doch eine vollkommene und klare Vorstellung vom Schicksal des unglücklichen Bruders. Die Briefe Ssonjas waren mit der alltäglichsten Wirklichkeit, mit der einfachsten und klarsten Schilderung des ganzen Zuchthauslebens Raskolnikows angefüllt. Man fand in ihnen weder eine Darlegung ihrer eigenen Hoffnungen noch Vermutungen über die Zukunft noch eine Beschreibung ihrer eigenen Gefühle. Statt aller Versuche, seinen seelischen Zustand und überhaupt sein ganzes Innenleben zu erklären, standen in den Briefen lauter Tatsachen, das heißt seine eigenen Worte, genaue Berichte über seinen Gesundheitszustand, die Wünsche, die er ihr bei ihrem Besuche äußerte, seine Aufträge und dergleichen. Alle diese Nachrichten teilte sie mit außerordentlicher Genauigkeit mit. Das Bild des unglücklichen Bruders trat schließlich ganz von selbst klar und deutlich hervor; hier waren Irrtümer ausgeschlossen, denn es waren lauter sichere Tatsachen.
Aber wenig Erfreuliches konnten Dunja und ihr Mann aus diesen Nachrichten schließen, besonders im Anfang. Ssonja teilte immer mit, daß er ständig düster und wortkarg sei und sich fast gar nicht für die Nachrichten interessiere, die sie ihm jedesmal aus den Briefen, die sie erhielt, mitteilte; daß er manchmal nach der Mutter frage; und als sie ihm, nachdem sie gemerkt hatte, daß er die Wahrheit ahnte, ihren Tod mitteilte, so hätte selbst die Nachricht vom Tode der Mutter zu ihrem Erstaunen auf ihn keinen besonders starken Eindruck gemacht; so schien es ihr wenigstens nach seinem Außeren. Sie teilte unter anderem mit, daß er, obwohl er ganz in sich verschlossen zu sein scheine und sich von allen abgewandt habe, sein neues Leben dennoch sehr einfach und offen hinnehme; daß er seine Lage wohl begreife, in der nächsten Zeit keine Veränderungen zum Besten erwarte, keine leichtsinnigen Hoffnungen (die in seiner Lage doch so begreiflich wären) hege und sich fast über nichts in seiner neuen Umgebung, die seinem früheren Leben so wenig gleiche, wundere. Sie teilte auch mit, daß seine Gesundheit befriedigend sei. Er gehe zur Arbeit, der er nicht ausweiche, um die er sich aber auch nicht bewerbe. Gegen das Essen sei er gleichgültig, aber das Essen sei außer am Sonn- und Feiertag dermaßen schlecht, daß er schließlich gern von ihr, Ssonja, etwas Geld genommen habe, um seinen eigenen Tee zu haben; wegen des übrigen habe er sie gebeten, sich nicht zu beunruhigen, weil alle diese Sorgen ihn bloß ärgerten. Ferner teilte Ssonja mit, daß er im Zuchthause im gemeinsamen Raume mit den anderen untergebracht sei; die inneren Räume habe sie nicht gesehen, aber sie nehme an, daß es dort eng, häßlich und ungesund sei; daß er auf einer Pritsche schlafe, eine Filzunterlage habe und nichts anderes haben wolle. Daß er aber so schlecht und ärmlich nicht aus einer bestimmten, vorgefaßten Absicht lebe, sondern bloß aus Unachtsamkeit und äußerlicher Gleichgültigkeit gegen sein Schicksal. Ssonja gestand offen, daß er, besonders im Anfang, sich nicht nur für ihre Besuche nicht interessiert, sondern sich über sie fast geärgert habe, wortkarg, sogar grob zu ihr gewesen sei, daß aber mit der Zeit diese Zusammenkünfte ihm zur Gewohnheit geworden seien und er sich sogar gegrämt habe, als sie einige Tage krank gewesen sei und ihn nicht besuchen konnte. Sie sehe ihn an Feiertagen vor dem Zuchthaustor oder im Wachthaus, wohin man ihn für einige Minuten zu ihr rufe; an Wochentagen aber bei der Arbeit, entweder in den Werkstätten oder in der Ziegelbrennerei oder in den Schuppen am Ufer des Irtysch. Über sich selbst teilte Ssonja mit, daß es ihr gelungen sei, in der Stadt einige Bekanntschaften zu machen und Protektion zu finden; sie beschäftige sich jetzt mit Nähen, und da es in der Stadt fast keine Schneiderinnen gäbe, sei sie in vielen Häusern unentbehrlich geworden; sie verschwieg bloß, daß Raskolnikow durch sie Protektion bei den Behörden gefunden habe, daß sein Arbeitspensum erleichtert worden sei und dergleichen mehr. Schließlich kam die Nachricht (Dunja hatte schon in den letzten Briefen eine eigentümliche Aufregung und Unruhe gemerkt), daß er alle meide, daß die anderen Sträflinge ihm feindlich gesinnt seien, daß er tagelang schweige und sehr blaß werde. Plötzlich teilte Ssonja in ihrem letzten Briefe mit, daß er ernstlich erkrankt sei und im Hospital, in der Sträflingsabteilung liege.
II
Er war schon seit langem krank; es waren aber nicht die Schrecken des Zuchthauslebens, nicht die Zwangsarbeit, nicht die Verpflegung, auch nicht der abrasierte Kopf und die Sträflingskleidung, was ihn gebrochen hatte: ach, was machte er sich aus allen diesen Qualen und Peinigungen! Im Gegenteil, er freute sich sogar über die Arbeit: wenn er sich bei der Arbeit körperlich abgehetzt hatte, konnte er wenigstens einige Stunden ruhig schlafen. Und was bedeutete für ihn das Essen – diese fleischlose Kohlsuppe mit Küchenschwaben? Als Student in seinem früheren Leben hatte er oft auch nicht mal das gehabt. Seine Kleidung war warm und seiner Lebensweise angepaßt. Die Ketten fühlte er fast gar nicht. Sollte er sich seines rasierten Kopfes und seiner zweifarbigen Jacke schämen? Vor wem? Vor Ssonja? Ssonja fürchtete ihn doch, sollte er sich vor ihr schämen?
Gewiß! Er schämte sich sogar vor Ssonja, die er dafür durch seine verächtliche und rohe Behandlung quälte. Aber er schämte sich nicht seines rasierten Kopfes: sein Stolz war schwer verletzt, und er erkrankte auch an verletztem Stolze. Oh, wie glücklich wäre er, wenn er sich selbst anklagen könnte! Alles würde er dann tragen, selbst die Schande und Schmach. Aber er richtete sich streng, und sein erbittertes Gewissen konnte in seiner Vergangenheit keine besondere Schuld finden außer einem einfachen Versehen, das auch jedem anderen passieren konnte. Er schämte sich gerade dessen, daß er, Raskolnikow, so blind, hoffnungslos, lautlos und dumm nach dem Ratschlusse eines blinden Schicksals zugrundegegangen war und sich vor dem »Unsinn« irgendeines Urteils demütigen und beugen mußte, wenn er sich nur einige Ruhe verschaffen wollte.
Eine gegenstandslose und ziellose Unruhe in der Gegenwart, ein ununterbrochenes Opfer in der Zukunft, durch das er nichts gewann – das erwartete ihn in der Welt. Was liegt ihm daran, daß er nach acht Jahren erst zweiunddreißig Jahre alt sein wird und ein neues Leben beginnen kann? Wozu soll er leben? Was soll er in Aussicht haben? Wonach soll er streben? Leben, um zu existieren? Aber er war auch früher tausendmal bereit gewesen, seine Existenz für eine Idee, für eine Hoffnung, sogar für eine Phantasie hinzugeben. Die Existenz allein hatte ihm niemals genügt, er strebte immer nach Größerem. Vielleicht hatte ihn bloß diese Kraft seines Wollens auf den Gedanken gebracht, daß er ein Mensch sei, der sich mehr erlauben dürfe als alle anderen?
Hätte ihm das Schicksal doch Reue gesandt, eine brennende Reue, die das Herz zerbricht, den Schlaf vertreibt, eine Reue, bei deren schrecklichen Qualen man an die Schlinge und einen Sumpf denkt! Oh, wie würde er sich darüber freuen! Qualen und Tränen – das ist doch auch Leben. Aber er bereute sein Verbrechen nicht.
Er könnte sich wenigstens über seine Dummheit ärgern, wie er sich früher über seine häßlichen und dummen Handlungen geärgert hatte, die ihn nach Sibirien brachten. Als er sich aber jetzt im Zuchthause, in Freiheitalle seine früheren Handlungen überlegte, fand er sie gar nicht so dumm und abscheulich, wie sie ihm vorher, in jener verhängnisvollen Zeit erschienen waren.
– Wodurch, wodurch – dachte er, war mein Gedanke dümmer als alle anderen Gedanken und Theorien, die in der Welt schwirren und zusammenprallen, solange die Welt steht? Man braucht nur die Sache mit einem völlig unabhängigen, weiten und von den alltäglichen Einflüssen losgelösten Blick anzuschauen, und dann wird mein Gedanke natürlich gar nicht so ... seltsam erscheinen. O ihr Verneiner und Weisen, die ihr einen Fünfer wert seid, warum bleibt ihr auf halbem Wege stehen! –
– Warum erscheint ihnen meine Tat so häßlich? – fragte er sich selbst. – Weil sie ein Verbrechen ist? Was bedeutet das Wort Verbrechen? Mein Gewissen ist ruhig. Ich habe sogar ein Kapital verbrechen begangen; der Buchstabe des Gesetzes ist natürlich verletzt, und Blut ist vergossen, nun, nehmt mir nach dem Buchstaben des Gesetzes meinen Kopf ... und genug! Natürlich, in diesem Falle müßten viele Wohltäter der Menschheit, die die Macht nicht geerbt, sondern an sich gerissen haben, schon bei ihren ersten Schritten hingerichtet worden sein. Aber jene Menschen haben ihre Schritte ertragen, und darum haben sie recht, aber ich habe es nichtertragen und hatte folglich nichtdas Recht, mir diesen Schritt zu erlauben. –
Nur darin erkannte er sein Verbrechen an, nur darin allein: daß er es nichtertragen und ein freiwilliges Geständnis abgelegt hatte.
Er litt auch unter dem Gedanken: Warum hatte er sich damals nicht das Leben genommen? Warum hatte er schon am Flußufer gestanden und die Selbstanzeige vorgezogen? Liegt denn eine solche Kraft in diesem Willen zum Leben und ist er so schwer zu überwinden? Hat doch Swidrigailow, der den Tod so fürchtete, diesen Willen überwunden!
Voller Qual stellte er sich diese Frage und konnte nicht verstehen, daß er vielleicht schon damals, als er am Wasser stand, in sich selbst und in seinen Überzeugungen eine tiefe Lüge geahnt hatte. Er verstand nicht, daß diese Vorahnung der Vorbote einer künftigen Umwälzung in seinem Leben, seiner künftigen Auferstehung, seiner künftigen neuen Anschauung vom Leben sein konnte.
Er ließ hier eher die dumpfe Schwere des Instinkts gelten, die zu zerreißen nicht seine Sache war und die zu überschreiten er wiederum nicht die Kraft hatte (infolge seiner Schwäche und Nichtigkeit). Er sah seine Zuchthausgenossen an und wunderte sich: wie auch sie alle das Leben liebten und an ihm hingen! Es kam ihm sogar vor, daß man im Zuchthause das Leben noch mehr liebte und schätzte, als man es in der Freiheit schätzt. Was für schreckliche Qualen und Martern haben manche von ihnen schon überstanden, zum Beispiel die Landstreicher! Kann denn für so einen wirklich ein Sonnenstrahl, ein dichter Wald, eine kalte Quelle im Dickicht, die er sich schon vor drei Jahren gemerkt hat und nach der er sich wie nach einer Geliebten sehnt, von der er träumt wie auch vom grünen Grase um sie herum und vom singenden Vogel im Gebüsch, so vielbedeuten?! Und als er die Leute noch aufmerksamer betrachtete, fand er noch unerklärlichere Beispiele dafür.
Im Zuchthause, in seiner nächsten Umgebung bemerkte er natürlich vieles nicht und wollte es auch gar nicht bemerken. Er lebte gleichsam mit gesenkten Augen; es war ihm unerträglich und widerlich, zu sehen. Aber zuletzt mußte er doch über vieles staunen, und er begann fast unwillkürlich, vieles zu sehen, was er früher nicht mal geahnt hatte. Überhaupt und am meisten machte ihn der schreckliche, unüberbrückbare Abgrund staunen, der zwischen ihm und allen diesen Menschen lag. Es war, als gehörten sie verschiedenen Nationen an. Er und sie sahen einander mißtrauisch und feindselig an. Er kannte und begriff die allgemeinen Ursachen dieser Feindschaft; aber er hätte früher niemals geglaubt, daß diese Ursachen wirklich so tief und stark sein könnten. Im Zuchthause befanden sich auch verbannte Polen, politische Verbrecher. Diese hielten alle übrigen Sträflinge einfach für ungebildete Bauern und verachteten sie; aber Raskolnikow konnte sie nicht so ansehen: er sah klar, daß diese Bauern in vielen Dingen viel klüger waren als die Polen selbst. Es waren auch Russen da, die dieses Volk zu sehr verachteten: ein gewesener Offizier und zwei gewesene Zöglinge eines Priesterseminars. Raskolnikow sah auch ihren Irrtum klar.
Ihn selbst aber liebten alle nicht und mieden ihn. Schließlich fing man ihn sogar zu hassen an, – warum? Er wußte es nicht. Man verachtete ihn, man lachte über ihn, und die, die viel verbrecherischer waren als er, lachten über sein Verbrechen.
»Du bist ein Herr!« sagte man ihm. »Es war nicht deine Sache, mit einem Beile zu gehen; das ist nichts für einen Herrn.«
In der zweiten Woche der großen Fasten kam er an die Reihe, sich zugleich mit der ganzen Kaserne zum Abendmahl vorzubereiten. Er ging zur Kirche mit den anderen. Eines Tages kam es, er wußte selbst nicht, aus welchem Grunde, zum Streite; alle fielen plötzlich wütend über ihn her.
»Du bist ein Gottloser! Du glaubst nicht an Gott!« schrien sie alle. »Man müßte dich erschlagen!«
Er sprach niemals mit ihnen über Gott und über den Glauben, aber sie wollten ihn als einen Gottlosen erschlagen; er schwieg und widersprach ihnen nicht. Ein Zuchthäusler stürzte sich auf ihn in äußerster Wut. Raskolnikow erwartete ihn ruhig und schweigend; er zuckte mit keiner Wimper, kein Zug seines Gesichtes bebte. Der Wachsoldat stellte sich noch rechtzeitig zwischen ihn und den Mörder, – sonst wäre Blut geflossen.
Unerklärlich war für ihn noch eine Frage: Warum hatten sie alle Ssonja so lieb gewonnen? Sie suchte sich bei ihnen niemals einzuschmeicheln; sie trafen sie selten, nur manchmal bei den Arbeiten, wenn sie auf einen Augenblick kam, um ihn zu sehen. Und doch kannten sie sie alle und wußten auch, daß sie ihmgefolgt war, wußten, wie sie lebte und wo sie wohnte. Geld gab sie ihnen nicht und erwies ihnen auch keine besonderen Dienste. Nur einmal zu Weihnachten brachte sie eine Gabe für das ganze Zuchthaus: Kuchen und Brezeln. Aber allmählich hatten sich zwischen ihnen und Ssonja gewisse nähere Beziehungen angeknüpft: sie schrieb für sie Briefe und schickte sie zur Post. Ihre Verwandten beiderlei Geschlechts, die in die Stadt kamen, ließen auf deren Wunsch bei Ssonja Sachen und sogar Geld für sie zurück. Ihre Frauen und Geliebten kannten Ssonja und besuchten sie. Und wenn sie zur Arbeit kam, um Raskolnikow zu sehen, oder einer Partie Sträflinge, die zur Arbeit gingen, begegnete, nahmen sie alle die Mützen ab und grüßten sie. »Mütterchen, Ssofja Ssemjonowna, unsere Mutter, du Zarte und Barmherzige!« sagten diese groben gebrandmarkten Zuchthäusler zu diesem kleinen schmächtigen Geschöpf. Sie lächelte und nickte ihnen zu, und sie alle sahen es gern, wenn sie ihnen zulächelte. Sie liebten auch ihren Gang, wandten sich um, um zu sehen, wie sie ging, und lobten sie; sie lobten sie sogar dafür, daß sie so klein war; sie wußten gar nicht mehr, wofür sie noch zu loben. Sie kamen auch zu ihr, um sich von ihr in Krankheitsfällen behandeln zu lassen.
Raskolnikow verbrachte das Ende der Fastenzeit und die Osterwoche im Spital. Während der Genesung erinnerte er sich seiner Träume, die er im Fieber gehabt hatte. Während seiner Krankheit träumte er, daß die ganze Welt verdammt sei, irgendeiner schrecklichen, unerhörten und noch nie dagewesenen Seuche zum Opfer zu fallen, die aus Asiens Tiefen über Europa kam. Alle sollten umkommen, mit Ausnahme einiger sehr weniger Auserwählter. Es kamen neue Trichinen auf, mikroskopische Wesen, die sich in den Körpern der Menschen einnisteten. Diese Geschöpfe waren aber mit Verstand und Willen begabte Geister. Die Menschen, in die sie eingedrungen waren, wurden sofort zu Besessenen und Wahnsinnigen. Noch niemals, niemals hatten sich die Menschen für so klug und unwankbar in ihrer Wahrheit gehalten wie diese Angesteckten. Noch niemals hatten sie ihre Urteile, ihre wissenschaftlichen Schlüsse, ihre sittlichen Überzeugungen und Glaubenssätze für unerschütterlicher gehalten. Ganze Siedlungen, ganze Städte und Völker wurden angesteckt und rasten wie Wahnsinnige. Alle waren in Unruhe und verstanden einander nicht; ein jeder glaubte, daß er allein die Wahrheit fasse, und quälte sich beim Anblick der anderen, schlug sich vor die Brust, weinte und rang die Hände. Sie wußten nicht, wen und wie man richten sollte, was als gut und als böse anzusehen sei. Sie wußten nicht, wen anzuklagen und wen freizusprechen. Die Menschen töteten einander in einer eigentümlichen, sinnlosen Wut. Sie zogen als ganze Armeen gegeneinander, aber die Armeen begannen schon auf dem Marsche einander zu zerfleischen, die Reihen gerieten durcheinander, die Krieger fielen übereinander her, stachen und hieben, bissen und fraßen einan der auf. In den Städten läutete den ganzen Tag die Sturmglocke: man rief alle zusammen, aber wer rief und wozu er rief, das wußte niemand, und alle waren in Unruhe. Sie gaben die gewöhnlichsten Handwerke auf, weil jeder seine eigenen Gedanken und Verbesserungen in Vorschlag brachte, und sie konnten sich nicht einigen; der Ackerbau stockte. Hier und da liefen Menschen zu Haufen zusammen, einigten sich über etwas, schwuren, sich nicht mehr zu trennen, – begannen aber sofort etwas ganz anderes zu tun, als was sie soeben beschlossen hatten, einander anzuklagen, sich zu prügeln und zu morden. Es kamen Feuersbrünste und eine Hungersnot. Alle und alles ging zugrunde. Die Seuche griff um sich und verbreitete sich immer weiter und weiter. Bloß einige Menschen in der ganzen Welt konnten sich retten: es waren die Reinen und Auserwählten, ausersehen, ein neues Leben und ein neues Menschengeschlecht zu begründen, die Erde zu erneuern und zu reinigen, aber niemand hatte irgendwo diese Menschen gesehen, niemand hatte ihre Worte und Stimmen gehört.
Raskolnikow quälte es, daß dieser sinnlose Fiebertraum so traurig und schmerzlich in seinen Erinnerungen fortlebte, daß der Eindruck dieser Träume so lange nicht weichen wollte. Die zweite Woche nach Ostern hatte schon begonnen; es waren warme, heitere Frühlingstage; in der Sträflingsabteilung des Spitals standen die Fenster offen (vergitterte Fenster, unter denen ein Wachtposten auf und ab ging). Ssonja hatte ihn während seiner Krankheit bloß zweimal besuchen können; man mußte jedesmal um Erlaubnis bitten, und das war schwer. Sie kam aber oft auf den Hof des Spitals, vor sein Fenster, besonders gegen Abend, manchmal aber auch bloß, um einen Augenblick auf dem Hofe zu stehen und wenigstens aus der Ferne auf die Fenster seiner Abteilung zu schauen. Eines Abends war Raskolnikow, der schon fast genesen war, eingeschlafen; als er erwachte, trat er zufällig ans Fenster und erblickte plötzlich weit am Spitaltore Ssonja. Sie stand dort und schien auf etwas zu warten. Es war ihm, als durchbohrte etwas in diesem Augenblick sein Herz; er fuhr zusammen und ging schnell vom Fenster weg. Am folgenden Tage kam Ssonja nicht, am dritten Tage auch nicht; er merkte, daß er sie voll Unruhe erwartete. Endlich wurde er aus dem Spital entlassen. Ins Zuchthaus zurückgekehrt, erfuhr er von den Sträflingen, daß Ssofja Ssemjonowna erkrankt sei, zu Hause liege und nicht aufstehe.
Er war sehr beunruhigt und ließ sich nach ihr erkundigen. Bald erfuhr er, daß die Erkrankung nicht gefährlich sei. Als Ssonja ihrerseits erfuhr, daß er sich nach ihr sehnte und sich um sie sorgte, schickte sie ihm einen mit Bleistift geschriebenen Zettel, in dem sie ihm mitteilte, daß es ihr schon viel besser gehe, daß es eine unbedeutende, leichte Erkältung sei und daß sie bald, sehr bald ihn wieder bei der Arbeit aufsuchen werde. Als er diesen Zettel las, schlug sein Herz stark und schmerzhaft.
Es war ein heiterer und warmer Tag. Am frühen Morgen um sechs Uhr ging er zur Arbeit, an das Flußufer, wo in einem Schuppen ein Ofen zum Alabasterbrennen eingerichtet war und wo der Alabaster gestoßen wurde. Bloß drei Arbeiter gingen dorthin. Der eine von ihnen ließ sich vom Wachtsoldaten in die Festung zurückführen, um irgendein Werkzeug zu holen; der andere begann das Holz zu zerkleinern und es in den Ofen zu legen. Raskolnikow trat aus dem Schuppen ans Ufer, setzte sich auf die dort aufgestapelten Balken und begann auf den breiten und öden Fluß zu blicken. Vom hohen Ufer bot sich eine Aussicht auf die weite Umgebung. Vom anderen fernen Ufer tönte kaum hörbar ein Lied herüber. Dort lagen in der unübersehbaren, vom Sonnenlicht übergossenen Steppe als schwarze Punkte die Zelte der Nomaden verstreut. Dort war die Freiheit, dort lebten andere Menschen, die ganz anders waren als die hiesigen, dort schien die Zeit selbst stillzustehen, als wäre das Zeitalter Abrahams und seiner Herden noch nicht vorüber. Raskolnikow saß da und blickte unverwandt und regungslos hinüber, seine Gedanken wurden zu Träumen, zu Kontemplation; er dachte an nichts, aber ein tiefer Gram erregte und quälte ihn.
Plötzlich sah er neben sich Ssonja. Sie war unhörbar herangetreten und hatte sich neben ihn gesetzt. Es war noch sehr früh; die Morgenkühle war noch nicht gewichen. Sie hatte ihren alten ärmlichen Pelz an und das grüne Tuch um. Ihr Gesicht zeigte noch die Spuren der Krankheit, es war magerer, blasser und schmächtiger geworden. Sie lächelte ihm freudig und freundlich zu, reichte ihm aber die Hand scheu, wie immer.
Sie reichte ihm die Hand immer so scheu, manchmal reichte sie sie ihm gar nicht, als fürchtete sie, daß er sie von sich stoßen würde. Er nahm ihre Hand stets mit Widerwillen, empfing sie stets wie geärgert und schwieg zuweilen hartnäckig während ihres ganzen Besuches. Es kam vor, daß sie vor ihm zitterte und in tiefem Kummer von ihm ging. Aber jetzt lösten sich ihre Hände nicht; er sah sie schnell und flüchtig an, sagte nichts und schlug seine Augen nieder. Sie waren beide allein, niemand sah sie. Der Wachtsoldat hatte sich gerade weggewandt.
Wie es kam, das wußte er selbst nicht, aber plötzlich packte ihn etwas und warf ihn zu ihren Füßen. Er weinte und umschlang ihre Knie. Im ersten Augenblick erschrak sie, und ihr Gesicht wurde totenblaß. Sie sprang von ihrem Platze auf und sah ihn zitternd an. Aber sie begriff sofort, im Nu alles. In ihren Augen leuchtete ein grenzenloses Glück auf; sie begriff, und es gab für sie keinen Zweifel mehr, daß er sie liebte, grenzenlos liebte, und daß dieser Augenblick endlich doch gekommen war ...
Sie wollten sprechen, konnten aber nicht. Tränen standen in ihren Augen. Beide waren bleich und abgemagert; aber in diesen kranken und bleichen Gesichtern leuchtete schon das Morgenrot einer neuen Zukunft, der völligen Auferstehung zu einem neuen Leben. Die Liebe hatte sie auferweckt, das Herz des einen enthielt unerschöpfliche Lebensquellen für das Herz des andern.
Sie beschlossen, zu warten und zu dulden. Es blieben ihnen bis dahin noch sieben Jahre und so viel unerträgliche Qual, so viel grenzenloses Glück! Aber er war auferstanden, und er wußte es, er fühlte es mit seinem ganzen erneuten Wesen, und sie – sie lebte doch nur sein Leben!
Am Abend des gleichen Tages, als die Kaserne schon geschlossen war, lag Raskolnikow auf seiner Pritsche und dachte an sie. An diesem Tage kam es ihm sogar vor, als ob alle Sträflinge, seine bisherigen Feinde, ihn ganz anders ansahen. Er sprach sie sogar selbst an, und sie antworteten ihm freundlich. Er erinnerte sich jetzt dessen, aber es mußte doch so kommen! Mußte sich denn jetzt nicht alles ändern?
Er dachte an sie. Er erinnerte sich, wie er sie immer gequält und ihr Herz gepeinigt hatte; er erinnerte sich ihres bleichen, schmalen Gesichtchens; aber diese Erinnerungen quälten ihn jetzt fast gar nicht; er wußte, mit welcher unendlichen Liebe er jetzt alle ihre Qualen sühnen würde.
Und was bedeuteten auch alle, alleQualen der Vergangenheit! Alles, sogar sein Verbrechen, sogar das Urteil und die Verbannung erschienen ihm jetzt beim ersten Gefühlsausbruche als eine rein äußerliche, unverständliche Tatsache, die nicht ihm zugestoßen sei. An diesem Abend konnte er übrigens gar nicht lange und dauernd an etwas denken, konnte seine Gedanken nicht auf etwas konzentrieren; jetzt hätte er auch gar nichts bewußt beschließen können; er fühltenur. Statt der Dialektik begann jetzt das Leben, und in seinem Bewußtsein mußte sich jetzt etwas ganz anderes herausarbeiten.
Unter seinem Kissen lag das Neue Testament. Er griff mechanisch danach. Dieses Buch gehörte ihr, es war dasselbe, aus dem sie ihm von der Auferstehung des Lazarus vorgelesen hatte. Zu Beginn seines Zuchthauslebens hatte er geglaubt, daß sie ihn mit der Religion totquälen würde, daß sie immer über das Evangelium sprechen und ihm Bücher aufzwingen würde. Aber zu seinem größten Erstaunen hatte sie kein einzigesmal die Rede darauf gebracht und ihm sogar nie das Evangelium angeboten. Er hatte sie selbst kurz vor seiner Erkrankung darum gebeten, und sie hatte ihm schweigend das Buch gebracht. Bis jetzt hatte er es nicht mal aufgeschlagen.
Er schlug es auch jetzt nicht auf, aber ein Gedanke zog ihm durch den Sinn: »Können denn ihre Überzeugungen jetzt nicht auch meine Überzeugungen sein? Wenigstens ihre Gefühle, ihre Bestrebungen ...?«
Auch sie war diesen ganzen Tag in Erregung, und in der Nacht erkrankte sie von neuem. Aber sie war so glücklich, so unerwartet glücklich, daß sie vor ihrem Glück fast erschrak. Sieben Jahre, bloßsieben Jahre! Im Anfange ihres Glücks waren sie in manchen Augenblicken beide geneigt, diese sieben Jahre für sieben Tage zu halten. Er wußte nicht, daß dieses neue Leben ihm nicht umsonst zufallen würde, daß er es teuer erkaufen und mit einer großen künftigen Tat bezahlen müsse ...
Aber hier fängt schon eine neue Geschichte an, – die Geschichte der allmählichen Erneuerung eines Menschen, die Geschichte seiner allmählichen Wiedergeburt, des allmählichen Überganges aus der einen Welt in eine andere, der Bekanntschaft mit einer neuen, ihm bisher völlig unbekannten Wirklichkeit. Das könnte den Stoff zu einer neuen Erzählung abgeben, aber unsere jetzige Erzählung ist zu Ende.
- Ende -