Erster Teil

I

Anfang Juli, in der heißesten Jahreszeit, am Spätnachmittag trat ein junger Mann aus seiner Kammer, die er als Aftermieter in der S-schen Gasse bewohnte, auf die Straße und begab sich langsam, gleichsam unentschlossen zu der K–schen Brücke.

Es gelang ihm, eine Begegnung mit seiner Wirtin auf der Treppe zu vermeiden. Seine Kammer befand sich dicht unter dem Dache eines hohen, vierstöckigen Hauses und sah mehr einem Schrank als einer Wohnung ähnlich. Seine Wirtin aber, bei der er diese Kammer mit Mittagessen und Bedienung mietete, hauste eine Treppe tiefer in eigener Wohnung, und wenn er ausging, mußte er jedesmal an der Küche der Wirtin mit der immer weit offenstehenden Tür vorbeikommen. Jedesmal, wenn der junge Mann an der Küche vorbeiging, überkam ihn ein krankhaftes, feiges Gefühl, dessen er sich schämte und vor dem er das Gesicht verzog. Er schuldete seiner Wirtin viel Geld und fürchtete, ihr zu begegnen.

Er war gar nicht so feige und eingeschüchtert, sogar im Gegenteil; doch seit einiger Zeit befand er sich in einem Zustande von Reizbarkeit und Spannung, der an Hypochondrie erinnerte. Er hatte sich dermaßen in sich selbst vertieft und von allen Menschen zurückgezogen, daß er jede Begegnung, nicht nur die mit seiner Wirtin, fürchtete. Er war von Armut erdrückt; aber selbst diese bedrängte Lage machte ihm in der letzten Zeit wenig Schmerzen. Seinem Tagewerk ging er in der letzten Zeit nicht mehr nach und wollte ihm auch gar nicht nachgehen. Im Grunde hatte er vor keiner Wirtin Angst, was sie gegen ihn auch im Schilde führen mochte. Doch auf der Treppe stehen zu bleiben, jedes Geschwätz über diese alltäglichen Kleinlichkeiten, um die er sich absolut nicht kümmerte, alle diese zudringlichen Vorstellungen wegen der Bezahlung, die Drohungen und Klagen anzuhören und sich dabei selbst herauszuwinden, zu entschuldigen und zu lügen – nein, es ist schon besser, wie eine Katze die Treppe hinunterzuschleichen und, von niemand gesehen, zu verschwinden.

Diesmal mußte er übrigens selbst, als er schon auf der Straße war, über seine Angst vor einer Begegnung mit seiner Gläubigerin staunen.

»So eine Sache will ich unternehmen und habe dabei Angst vor solchem Unsinn!« sagte er sich mit einem seltsamen Lächeln. »Hm ... ja ... alles hat der Mensch in seiner Hand, und alles läßt er sich entgehen aus bloßer Feigheit ... das ist ein Axiom ... Es ist interessant, was die Menschen mehr als alles fürchten! Einen neuen Schritt, ihr eigenes neues Wort fürchten sie am meisten ... Übrigens schwatze ich zu viel. Darum tue ich auch nichts, weil ich nur schwatze. Vielleicht ist es auch so: ich schwatze, weil ich nichts tue. Dieses Schwatzen habe ich mir im letzten Monat angewöhnt, als ich tagelang in meinem Loche lag und an ... des Kaisers Bart dachte. Nun, warum gehe ich jetzt? Bin ich denn dazufähig? Ist denn das ernst gemeint? Gar nicht ernst. Eine Phantasie, um mich selbst zu unterhalten; Spielerei? Ja, vielleicht, es ist wirklich nur eine Spielerei!«

Draußen war es furchtbar heiß, dazu auch schwül; ein Gedränge; überall Kalk, Baugerüste, Ziegelsteine, Staub und jener eigentümliche sommerliche Gestank, welchen jeder Petersburger kennt, der nicht in der Lage ist, aufs Land zu gehen, – dies alles erschütterte auf einmal die auch ohnehin schon zerrütteten Nerven des jungen Mannes. Der unerträgliche Gestank, der aus den Kneipen drang, die in diesem Stadtteile besonders zahlreich sind, und die vielen Betrunkenen, denen er, obwohl es ein Wochentag war, auf Schritt und Tritt begegnete, vervollständigten das abstoßende, traurige Bild. Über die feinen Gesichtszüge des jungen Mannes glitt der Ausdruck eines tiefen Ekels. Übrigens war er ungewöhnlich hübsch, über das Mittelmaß groß, schlank und geschmeidig und hatte schöne dunkle Augen und dunkelblondes Haar. Bald versank er in tiefe Nachdenklichkeit, eigentlich sogar in eine Ohnmacht, und bemerkte im Gehen nichts von allem, was ihn umgab, und wollte es auch gar nicht bemerken. Nur ab und zu murmelte er etwas vor sich hin: das kam von seiner Angewohnheit, Monologe zu halten, wie er es sich eben selbst eingestanden hatte. Zugleich war er sich auch dessen bewußt, daß seine Gedanken zuweilen durcheinandergerieten und daß er sehr schwach war: seit zwei Tagen schon hatte er fast nichts gegessen.

Seine Kleidung war so zerfetzt, daß auch mancher an alles gewöhnte Mensch sich genieren würde, in diesem Aufzuge bei Tage auf die Straße zu treten. In diesem Stadtteile konnte man übrigens kaum jemand durch solche Kleidung verblüffen. Die Nähe des Heumarktes, die Menge von gewissen Lokalen und die in diesen Straßen und Gassen im Zentrum Petersburgs zusammengedrängte dichte Handwerker- und Arbeiterbevölkerung belebten zuweilen das Straßenbild mit solchen Subjekten, daß es sogar sonderbar wäre, über manche Figur zu staunen. In der Seele des jungen Mannes hatte sich aber schon so viel boshafte Verachtung aufgespeichert, daß er sich, trotz seiner zuweilen noch sehr jugendlichen Empfindlichkeit, seiner zerlumpten Kleidung am allerwenigsten schämte. Anders war es bei den Begegnungen mit manchen seiner Bekannten oder mit seinen früheren Kollegen, denen er überhaupt sehr ungern begegnete ... Als aber ein Betrunkener, den man gerade, Gott weiß warum und wohin, in einem großen, leeren, mit einem riesenhaften Lastpferd bespannten Leiterwagen vorüberführte, ihm plötzlich zurief: »He, du Deutscher mit dem Hute!« und, auf ihn mit der Hand weisend, aus vollem Halse zu schreien begann, blieb der junge Mann plötzlich stehen und griff krampfhaft nach seinem Hut. Es war ein hoher, runder Zimmermannscher Hut, vollkommen abgetragen, ganz rot vor Alter, voller Löcher und Flecken, ohne Krempe und mit einem häßlichen Knick auf einer Seite. Es war aber keine Scham, was er empfand, sondern ein ganz anderes Gefühl, das sogar an Schreck grenzte.

»Das wußte ich ja!« murmelte er verlegen: »Das dachte ich mir auch! Das ist schon das Allerschlimmste! So eine Dummheit, so eine ganz gemeine Kleinigkeit kann den ganzen Plan verderben! Ja, der Hut ist viel zu auffallend ... Er ist lächerlich und darum auffallend ... Zu meinen Lumpen gehört unbedingt eine Mütze, und wenn auch so flach wie ein Pfannkuchen, und nicht dieses Scheusal. Kein Mensch trägt so einen Hut, man wird ihn schon aus einer Entfernung von einer Werst sehen und sich merken ... man wird ihn sich merken, und da hat man schon ein Indizium. Man muß dabei möglichst wenig auffallen ... Kleinigkeiten, solche Kleinigkeiten sind das Wichtigste! ... Solche Kleinigkeiten richten jedes Unternehmen zugrunde ...«

Er hatte nicht weit zu gehen; er wußte sogar, wieviel Schritte es vom Tore seines Hauses waren: genau siebenhundertunddreißig. Er hatte sie einmal gezählt, als er ganz im Banne seiner Träume war. Damals wollte er noch selbst nicht an diese seine Träume glauben und stachelte sich nur durch ihre häßliche, doch verführerische Kühnheit auf. Doch jetzt, nach einem Monat sah er die Dinge anders an und hatte sich, trotz aller aufstachelnden Monologe über seine eigene Ohnmacht und Unentschlossenheit, schon gewöhnt, seinen »häßlichen« Traum für ein wirkliches Unternehmen zu halten, obwohl er sich auch noch nicht recht traute. Er ging jetzt sogar, eine Probeseines Unternehmens zu machen, und seine Erregung wuchs mit jedem Schritt.

Mit ersterbendem Herzen und nervösem Zittern näherte er sich einem riesengroßen Hause, das mit der einen Seite auf den Kanal und mit der andern auf die *sche Straße hinausging. Dieses Haus bestand aus lauter kleinen Wohnungen und war von allerlei Gewerbetreibenden, Schneidern, Schlossern, Köchinnen, deutschen Handwerkern, alleinstehenden Mädchen, kleinen Beamten usw. bewohnt. Die Aus- und Eingehenden huschten nur so durch die beiden Torwege und die beiden Höfe. Drei oder vier Hausknechte versahen hier den Dienst. Der junge Mann war sehr froh, daß er keinem von ihnen begegnete, und schlüpfte sofort direkt aus dem Torwege unbemerkt die Treppe nach rechts hinauf. Die Treppe war finster und eng, eine richtige »Hintertreppe«, doch er kannte sie schon, hatte alles genau studiert, und die Örtlichkeit gefiel ihm nicht schlecht; in dieser Dunkelheit würde ihm auch ein neugieriges Auge ungefährlich sein. – Wenn ich schon jetzt so fürchte, wie wird es dann werden, wenn ich mal vor der Sacheselbst stehe? – dachte er sich unwillkürlich, als er den dritten Stock erreichte. Hier versperrten ihm einige Träger – verabschiedete Soldaten, die aus einer Wohnung Möbel heraustrugen, den Weg. Er wußte schon von früher, daß in dieser Wohnung ein deutscher Beamter mit Familie wohnte: – Dieser Deutsche zieht aus, also bleibt im dritten Stock für einige Zeit nur die Wohnung der Alten allein bewohnt. Das ist gut ... für jeden Fall ... – dachte er sich wieder und läutete bei der Alten an. Die Glocke klimperte schwach, als sei sie aus Blech und nicht aus Kupfer gemacht. In ähnlichen kleinen Wohnungen in Häusern dieser Art sind fast immer solche Glocken. Er hatte den Klang dieser Glocke schon fast vergessen, und nun brachte ihm dieses eigentümliche Klimpern etwas in Erinnerung, gab ihm eine klare Vorstellung von etwas ... Er fuhr zusammen – seine Nerven waren diesmal gar zu schwach. Etwas später ging die Tür ein klein wenig auf: die Bewohnerin blickte den Besucher durch den ganz schmalen Spalt mit sichtbarem Argwohn an, und man sah aus dem Dunkeln nur ihre Augen hervorleuchten. Da sie aber draußen auf der Treppe viele Leute gewahrte, faßte sie Mut und machte die Tür ganz auf. Der junge Mann trat über die Schwelle in ein dunkles Vorzimmer, das durch eine Bretterwand geteilt war; dahinter befand sich eine winzige Küche. Die Alte stand schweigend vor ihm da und sah ihn fragend an. Es war eine sehr kleine, ausgemergelte alte Frau von etwa sechzig Jahren, mit stechenden, bösen Augen, kleiner spitzer Nase und bloßem Kopf. Ihre semmelblonden, nur wenig ergrauten Haare waren ausgiebig mit Öl eingefettet. Um ihren dünnen, langen Hals, der an ein Hühnerbein erinnerte, hatte sie allerlei Flanell-Lumpen gewickelt, und über ihre Schultern hing, trotz der Hitze, eine zerfetzte und vergilbte Pelzjacke. Die Alte ächzte und hustete jeden Augenblick. Der junge Mann hatte sie wohl irgendwie eigentümlich angeblickt, denn in ihren Augen erschien wieder der frühere Argwohn.

»Ich bin der Student Raskolnikow, war schon einmal bei Ihnen vor einem Monat«, beeilte sich der junge Mann mit einer halben Verbeugung zu stammeln: es fiel ihm ein, daß er freundlicher sein müsse.

»Ich weiß noch, Väterchen, ich erinnere mich gut, daß Sie hier waren«, sagte die Alte, jedes Wort betonend, ohne ihre fragenden Augen von seinem Gesicht zu wenden.

»Also, heute ... komme ich wieder in einer ähnlichen Sache ...« fuhr Raskolnikow fort, ein wenig verlegen und über das Mißtrauen der Alten erstaunt.

– Vielleicht ist sie übrigens immer so, und ich habe es damals nur nicht bemerkt – sagte er sich mit einem unbehaglichen Gefühl.

Die Alte schwieg eine Weile, wie nachdenklich, trat dann zur Seite, zeigte auf die Tür zum Wohnzimmer und sagte, indem sie dem Gast den Vorantritt ließ:

»Treten Sie nur ein, Väterchen.«

Das kleine Zimmer, mit den gelben Tapeten, Geranien und Mullvorhängen an den Fenstern, in das der junge Mann kam, war in diesem Augenblick grell von der untergehenden Sonne erleuchtet. – Also wird die Sonne auch dannebenso leuchten! – ging es Raskolnikow unwillkürlich durch den Kopf, und er überflog mit einem schnellen Blick das ganze Zimmer, um alles zu studieren und sich nach Möglichkeit zu merken. Aber im Zimmer gab es nichts Besonderes. Die sehr alten Möbel aus gelbem Holz bestanden aus einem Sofa mit sehr großer, geschwungener hölzerner Rückenlehne, einem ovalen Tisch vor dem Sofa, einem Toilettentisch mit einem kleinen Spiegel zwischen den Fenstern, mehreren Stühlen an den Wänden und zwei oder drei billigen gelbgerahmten Bildern, die deutsche junge Mädchen mit Vögeln in den Händen darstellten, – das war das ganze Meublement. In einer Ecke brannte vor einem kleinen Heiligenbilde ein Lämpchen. Alles war sehr sauber, die Möbel und der Fußboden waren sehr blank gescheuert; alles glänzte. – Das ist wohl Lisawetas Arbeit – dachte sich der junge Mann. Kein Stäubchen war in der ganzen Wohnung zu finden. – Bei bösen und alten Witwen pflegt es so rein zu sein – dachte Raskolnikow weiter und schielte neugierig nach dem Kattunvorhang vor der Tür zum zweiten winzigen Zimmerchen, wo das Bett und die Kommode der Alten standen und in das er noch niemals hineingeblickt hatte. Die ganze Wohnung bestand nur aus diesen beiden Zimmern.

»Was wünschen Sie?« sagte die Alte streng, als sie ins Zimmer trat und sich wieder gerade vor ihn hinstellte, um ihm ins Gesicht zu blicken.

»Ich habe ein Pfand mitgebracht, hier!« Und er zog aus der Tasche eine alte flache silberne Uhr. Auf der Rückseite war ein Globus dargestellt. Die Kette war aus Stahl.

»Der Termin für das letzte Pfand ist schon um. Vorgestern ist gerade der Monat abgelaufen.«

»Ich will Ihnen die Zinsen für den zweiten Monat bezahlen, gedulden Sie sich noch ein wenig.«

»Es ist mein guter Wille, Väterchen, zu warten oder Ihr Pfand jetzt gleich zu verkaufen.«

»Wieviel geben Sie mir für die Uhr, Aljona Iwanowna?«

»Immer bringst du mir solche Kleinigkeiten, Väterchen, die Uhr ist fast nichts wert. Für den Ring habe ich Ihnen das letzte Mal zwei Rubelscheine gegeben, aber man kann einen solchen bei einem Juwelier für anderthalb Rubel kaufen.«

»Geben Sie mir doch vier Rubel, ich werde sie einlösen, die Uhr habe ich vom Vater. Ich bekomme bald Geld.«

»Anderthalb Rubel und die Zinsen im voraus, wenn Sie wollen.«

»Anderthalb Rubel!« schrie der junge Mann auf.

»Wie Sie wollen.« Und die Alte reichte ihm seine Uhr. Der junge Mann nahm sie und wurde so böse, daß er gleich weggehen wollte; er überlegte sich aber gleich, daß er sonst nirgends hingehen konnte und daß er auch noch aus einem anderen Grunde gekommen war.

»Geben Sie's her!« sagte er grob.

Die Alte steckte die Hand in die Tasche nach den Schlüsseln und ging ins andere Zimmer hinter den Vorhang. Als der junge Mann mitten im Zimmer allein geblieben war, lauschte er neugierig und überlegte. Er hörte, wie sie die Kommode aufschloß. – Wahrscheinlich ist es die oberste Schublade – überlegte er sich. – Die Schlüssel trägt sie also in der rechten Tasche ... Alle Schlüssel sind an einem Stahlring vereinigt ... Darunter ist ein Schlüssel, der dreimal so groß ist als die anderen, mit einem zackigen Bart, – der ist natürlich nicht von der Kommode ... Also hat sie noch irgendeine Schatulle oder Truhe ... Das ist sehr interessant. Truhen haben oft solche Schlüssel ... Übrigens, wie gemein ist dies alles ...

Die Alte kam zurück.

»Hier, Väterchen: wenn ich Ihnen zehn Kopeken pro Rubel im Monat berechne, so schulden Sie mir für die anderthalb Rubel fünfzehn Kopeken für den Monat im voraus. Für die zwei früheren Rubel schulden Sie mir nach der gleichen Rechnung zwanzig Kopeken im voraus. Im ganzen also fünfunddreißig. Für Ihre Uhr bekommen Sie jetzt im ganzen einen Rubel und fünfzehn Kopeken. Hier ist das Geld.«

»Wie! Ich bekomme also nur einen Rubel und fünfzehn Kopeken?«

»Sehr richtig!«

Der junge Mann wollte nicht streiten und nahm das Geld. Er blickte die Alte an und beeilte sich nicht, wegzugehen, als wollte er noch irgend etwas sagen oder tun; doch was, – das wußte er anscheinend selbst nicht ...

»Vielleicht bringe ich Ihnen, Aljona Iwanowna, noch einen Gegenstand ... einen silbernen ... einen guten ... ein Zigarettenetui ... sobald ich es von einem Freunde zurückbekomme ...« Er wurde verlegen und verstummte.

»Nun, dann werden wir darüber reden, Väterchen.«

»Leben Sie wohl ... Sie sitzen aber immer allein zu Hause, Ihre Schwester ist nicht da?« fragte er so ungezwungen, wie er nur konnte, während er ins Vorzimmer trat.

»Was geht sie Sie an, Väterchen?«

»Es ist nichts Besonderes, ich habe nur so gefragt. Sie aber machen sich gleich Gedanken ... Leben Sie wohl, Aljona Iwanowna!«

Raskolnikow verließ ihre Wohnung völlig verwirrt. Seine Verwirrung wurde immer größer. Während er die Treppe hinunterging, blieb er sogar einigemal wie durch etwas erschüttert stehen. Schließlich, schon auf der Straße, rief er aus:

»Mein Gott! Wie abscheulich! Und werde ich denn, werde ich denn ... nein, eine Unmöglichkeit!« fügte er entschlossen hinzu. »Konnte mir denn so ein Wahnsinn einfallen? Zu welchem Schmutz ist aber mein Herz fähig! Vor allen Dingen ist es schmutzig, ekelhaft, häßlich, häßlich! ... Und ich habe einen ganzen Monat ...«

Er konnte aber seine Erregung weder durch Worte noch durch Ausrufe ausdrücken. Das Gefühl eines grenzenlosen Ekels, das sein Herz, schon als er zu der Alten ging, zu bedrücken und zu trüben angefangen hatte, erreichte jetzt ein solches Maß und kam ihm so deutlich zum Bewußtsein, daß er gar nicht wußte, wohin sich vor dieser Qual zu retten. Er ging über das Trottoir wie ein Betrunkener, ohne die Vorübergehenden zu bemerken, zuweilen mit ihnen zusammenstoßend, und kam erst in der nächsten Straße zur Besinnung. Er sah sich um und stellte fest, daß er sich vor einer Schenke befand, zu der vom Trottoir eine Treppe wie in einen Keller führte. Aus der Tür traten eben zwei Betrunkene; sich gegenseitig stützend und beschimpfend, traten sie auf die Straße. Ohne lange nachzudenken, stieg Raskolnikow schnell hinab. Bisher war er noch nie in einer Schenke gewesen, doch jetzt schwindelte ihm der Kopf, und ein brennender Durst peinigte ihn. Er wollte kaltes Bier trinken, um so mehr, als er seine plötzliche Schwäche damit erklärte, daß er nichts im Magen hatte. Er setzte sich in eine dunkle und schmutzige Ecke, an einen klebrigen Tisch, ließ sich Bier geben und trank mit Gier das erste Glas. Sofort fühlte er eine Erleichterung, und seine Gedanken klärten sich. – Das alles ist Unsinn – sagte er sich voller Zuversicht –, und ich brauche nicht den Mut zu verlieren! Es ist einfach eine körperliche Zerrüttung. Ein einziges Glas Bier, ein Stück Zwieback, – und im Nu ist der Geist wieder stark, die Gedanken sind klar und die Absichten bestimmt! Pfui, wie nichtig und lächerlich ist doch das alles! ... Aber trotz dieses verächtlichen Ausspuckens sah er schon so lustig aus, als hätte er sich plötzlich von einer fürchterlichen Last befreit, und blickte die Anwesenden wohlwollend an. Doch selbst in diesem Augenblick hatte er das dunkle Gefühl, daß auch diese Empfänglichkeit für das Bessere krankhaft sei.

In der Schenke waren um diese Stunde wenige Menschen versammelt. Nach den beiden Betrunkenen, denen er auf der Treppe begegnet war, hatte eine ganze Gesellschaft von fünf Mann mit einer Dirne und einer Ziehharmonika die Schenke verlassen. Als sie gegangen waren, wurde es gleich still und geräumig. Es waren noch geblieben: ein etwas angeheiterter Mann, der hinter einer Flasche Bier saß, dem Aussehen nach ein Kleinbürger; sein Freund, ein dicker, großer Mann, in einem langen Überrock, mit grauem Bart, der ordentlich betrunken war, auf einer Bank duselte und ab und zu plötzlich wie im Schlafe mit den Fingern zu schnalzen anfing, wobei er die Arme spreizte, mit dem Oberkörper, ohne von der Bank aufzustehen, wackelte und dazu irgendeinen Unsinn sang, wobei er sich auf den Text zu besinnen versuchte, der beiläufig so lautete:

»Hab ein Jahr mein Weib geliebt,

Ha-ab ein Ja-ahr mein Weib geliebt ...«

Oder er erwachte plötzlich und begann:

»Durch die Stadt bin ich gegangen.

Hab die erste eingefangen ...«

Niemand teilte aber sein Glück; sein schweigsamer Freund sah allen diesen Ausdrücken sogar feindselig und argwöhnisch zu. Es war noch ein Mann da, der wie ein verabschiedeter Beamter aussah. Er saß abseits allein vor seiner Flasche, trank ab und zu einen Schluck und blickte um sich. Auch er schien in einer gewissen Aufregung zu sein.

II

Raskolnikow war an den Aufenthalt unter vielen Menschen nicht gewöhnt und mied, besonders in der letzten Zeit, jede Gesellschaft. Jetzt aber fühlte er sich zu den Menschen hingezogen. In ihm ging anscheinend eine Veränderung vor, und gleichzeitig fühlte er ein starkes Bedürfnis nach Gesellschaft. Er war nach diesem Monat gespannter Qual und düsterer Erregung so sehr müde, daß er wenigstens eine Minute lang in einer anderen Welt aufatmen wollte, ganz gleich, in was für einer Welt, – und er blieb, trotz des ganzen Schmutzes der Umgebung, mit Vergnügen in der Schenke.

Der Besitzer des Lokals befand sich in einem anderen Zimmer, kam aber oft in das Hauptzimmer, in das er einige Stufen hinabstieg, wobei sich immer erst seine eleganten Schmierstiefeln mit rotem Besatz zeigten. Er trug einen ärmellosen Rock und eine furchtbar fettige, schwarze Atlasweste, hatte keine Halsbinde an, und sein Gesicht schien wie ein eisernes Schloß mit Öl eingeschmiert zu sein. Hinter dem Schenktisch stand ein etwa vierzehnjähriger Junge; es war auch noch ein anderer, etwas jüngerer Junge da, der den Gästen das Verlangte brachte. Auf dem Schenktische lagen kleingehackte Gurken, schwarzer Zwieback und in Stücke geschnittene Fische; dies alles roch sehr schlecht. Die Luft war so dumpf, daß es beinahe unerträglich war, in dem Raume zu sitzen, und alles war dermaßen von Branntweingeruch durchdrungen, daß man von dieser Luft allein in fünf Minuten betrunken werden konnte.

Zuweilen begegnen wir sogar uns völlig unbekannten Menschen, für die wir uns gleich auf den ersten Blick, ganz plötzlich, noch ehe wir mit ihnen ein Wort gesprochen haben, zu interessieren anfangen. Einen solchen Eindruck machte auf Raskolnikow der Gast, welcher abseits saß und wie ein verabschiedeter Beamter aussah. Der junge Mann erinnerte sich später einige Male dieses ersten Eindrucks und schrieb ihn sogar einer Vorahnung zu. Er blickte unausgesetzt den Beamten an, natürlich auch aus dem Grunde, weil jener ihn ebenfalls unverwandt ansah und mit ihm sogar wohl ein Gespräch beginnen wollte. Die übrigen Leute, die sich in der Schenke befanden, den Wirt nicht ausgenommen, sah der Beamte mit gewohnten Blicken gelangweilt an, zugleich mit einem Anfluge einer gewissen hochmütigen Geringschätzung, wie Menschen von niedriger Stellung und Bildung, mit denen er doch gar nicht sprechen konnte. Es war ein Mann von über fünfzig Jahren, von mittlerer Größe und gedrungenem Körper, mit graumelierten Haaren und einer großen Glatze, mit einem vom Trinken aufgedunsenen, gelben, sogar grünlichen Gesicht und angeschwollenen Lidern, unter denen kleine, doch begeisterte, rötliche Schlitzäuglein hervorlugten. Es war aber etwas Seltsames an ihm; aus seinen Augen leuchtete sogar etwas wie Begeisterung – vielleicht auch Geist und Verstand –, aber zugleich lag in ihnen auch etwas wie Wahnsinn. Er war mit einem alten, vollkommen zerrissenen Frack ohne Knöpfe bekleidet. Ein einziger Knopf war noch irgendwie erhalten, und mit diesem knöpfte er den Frack zu, da er offenbar den Anstand nicht ganz aufgeben wollte. Unter der Nankingweste steckte ein zerknittertes, verschmiertes und beflecktes Vorhemd. Das Gesicht war nach Beamtenart glattrasiert, doch schon vor längerer Zeit, so daß überall bläuliche Stoppeln hervortraten. Auch in seinen Manieren lag etwas Solides und Beamtenartiges. Aber er war in großer Unruhe, er zerzauste sich die Haare und stützte zuweilen den Kopf wie vor Schmerz in beide Hände, wobei er die durchgewetzten Ellenbogen auf den begossenen, klebrigen Tisch legte. Schließlich blickte er Raskolnikow gerade ins Gesicht und sagte laut und sicher:

»Darf ich es wagen, mein sehr verehrter Herr, mich an Sie mit einem anständigen Gespräch zu wenden? Denn obwohl Ihr Aussehen unbedeutend ist, erkennt meine Erfahrung in Ihnen einen gebildeten und ans Trinken nicht gewöhnten Menschen. Ich habe die Bildung, die sich mit herzlichen Gefühlen paart, stets geschätzt, und außerdem stehe ich im Range eines Titularrates. Marmeladow – so ist mein Name, Titularrat. Darf ich fragen, ob Sie im Staatsdienst gewesen sind?«

»Nein, ich studiere ...« antwortete der junge Mann, etwas erstaunt, wie über den eigentümlichen, hochtrabenden Stil dieser Ansprache, so auch darüber, daß der Mann sich so unvermittelt an ihn wandte. Obwohl er erst eben den Wunsch nach irgendeiner Gemeinschaft mit Menschen gehabt hatte, empfand er bei den ersten, wirklich an ihn gerichteten Worten seine gewohnte, unangenehme und gereizte Scheu vor jeder fremden Person, die mit ihm in Berührung kam oder bloß in Berührung kommen wollte.

»Also Student, oder gewesener Student!« rief der Beamte aus. »Das dachte ich mir auch! Es ist die Erfahrung, geehrter Herr, die langjährige Erfahrung!« Wie um sich selbst zu loben, führte er den Finger an die Stirn. »Sie waren Student oder haben sich sonstwie mit den Wissenschaften abgegeben! Aber gestatten Sie ...«

Er erhob sich schwankend, nahm seine Flasche und sein Glas und setzte sich zu dem jungen Mann, ihm etwas schräg gegenüber. Er war angetrunken, sprach aber beredt und gewandt und kam nur hie und da aus dem Konzept oder zog die Sätze allzusehr in die Länge. Er fiel über Raskolnikow mit einer gewissen Gier her, als hätte auch er einen ganzen Monat mit niemand gesprochen.

»Verehrter Herr«, begann er fast feierlich. »Armut ist kein Laster, das steht fest. Ich weiß auch, daß der Trunk keine Tugend ist, und das steht noch mehr fest. Doch die äußerste Armut, mein Herr, ist wohl ein Laster. In der gewöhnlichen Armut bewahrt man noch den Adel der angeborenen Gefühle; aber in der äußersten Armut – niemals. Für eine solche Armut wird man aus der menschlichen Gesellschaft nicht mal mit einem Stocke gejagt, sondern mit dem Besen hinausgefegt, damit es beleidigender sei; und das ist auch gerecht, denn in der äußersten Armut bin ich als erster bereit, mich selber zu beleidigen. Davon kommt auch das Trinken! Verehrter Herr, vor einem Monat hat der Herr Lebesjatnikow meine Gattin verprügelt, und meine Gattin ist doch etwas ganz anderes als ich! Verstehen Sie das? Gestatten Sie die Frage, und wenn auch aus purer Neugier. Haben Sie schon auf der Newa in den Heubarken übernachtet?«

»Nein, ich hatte noch nicht die Gelegenheit,« antwortete Raskolnikow. »Was ist denn das?«

»Nun, ich komme von dort, schon die fünfte Nacht ...«

Er schenkte sich ein Gläschen ein, trank es aus und wurde nachdenklich. An seinen Kleidern und selbst in den Haaren sah man hie und da hängengebliebene Heuhalme. Es war sehr wahrscheinlich, daß er sich seit den fünf Tagen weder ausgekleidet noch gewaschen hatte. Besonders schmutzig waren seine fettigen, roten Hände mit den schwarzen Nägeln.

Sein Gespräch schien eine allgemeine, wenn auch träge Aufmerksamkeit erregt zu haben. Die beiden Jungen hinter dem Schenktische begannen zu kichern. Der Wirt war wohl absichtlich aus dem oberen Zimmer gekommen, um del »lustigen Kerl« zu hören, er setzte sich abseits und gähnte träge, doch selbstbewußt. Marmeladow war hier offenbar bekannt. Auch seine Neigung für hochtrabende Redensarten hatte er sich wohl durch die Gewohnheit, in den Schenken mit Unbekannten zu sprechen, angeeignet. Diese Gewohnheit wird bei vielen Trinkern zu einem Bedürfnis, besonders bei solchen, die zu Hause streng behandelt werden und sich alles gefallen lassen müssen. Darum bemühen sie sich immer, in der Gesellschaft von Betrunkenen eine Rechtfertigung und, wenn möglich, auch Achtung zu gewinnen.

»Ein komischer Kerl«, sagte der Wirt laut. »Warum arbeitest du aber nicht, warum sind Sie nicht im Dienst, wenn Sie Beamter sind?«

»Warum ich nicht im Dienste bin, verehrter Herr?« fiel ihm Marmeladow ins Wort, sich ausschließlich an Raskolnikow wendend, als hätte dieser die Frage gestellt. »Warum ich nicht im Dienste bin? Tut mir denn nicht das Herz weh, daß ich mich müßig herumtreibe? Als Herr Lebesjatnikow vor einem Monat eigenhändig meine Gattin verprügelte, tat mir das nicht weh? Gestatten Sie, junger Mann, ist es Ihnen schon passiert ... hm ... nun, jemand hoffnungslos um eine Anleihe zu bitten?«

»Das ist mir schon passiert ... das heißt, was verstehen Sie unter hoffnungslos?«

»Das heißt völlig hoffnungslos, schon im voraus davon überzeugt, daß nichts daraus wird. Sie wissen zum Beispiel im voraus und ganz sicher, daß dieser Herr, dieser äußerst wohlgesinnte und äußerst nützliche Bürger Ihnen für nichts in der Welt Geld geben wird, denn ich frage Sie, warum soll er mir welches geben? Er weiß doch, daß ich es nicht zurückgeben werde. Aus Mitleid? Herr Lebesjatnikow, der die neuen Ideen verfolgt, hat neulich erklärt, daß das Mitleid in unserer Zeit von der Wissenschaft verboten sei und daß man sich in England, wo es die politische Ökonomie gibt, schon danach richte. Warum also, frage ich Sie, soll er geben? Und nun, trotzdem Sie im voraus wissen, daß er nichts geben wird, machen Sie sich dennoch auf den Weg und ...«

»Warum soll man denn hingehen?« warf Raskolnikow ein.

»Wenn man aber sonst keinen Menschen und keinen Ort weiß, um hinzugehen? Jeder Mensch muß doch einmal irgendwo hingehen können! Denn es gibt Zeiten, wo man unbedingt irgendwo hingehen muß? Als meine einzige Tochter zum ersten Male mit einem gelben Paß ausging, so ging ich auch ... (denn meine Tochter lebt mit einem gelben Paß ...)« fügte er in Klammern hinzu und blickte den jungen Mann mit einiger Unruhe an. »Macht nichts, verehrter Herr, macht nichts!« beeilte er sich sofort und anscheinend ruhig zu erklären, als die beiden Jungen hinter dem Schenktische zu lachen anfingen und auch der Wirt selbst lächelte. »Macht nichts! Dieses Kopfschütteln bringt mich nicht in Verlegenheit, denn alles ist allen bekannt, und alles Verborgene wird offenbar; ich trage es auch nicht mit Verachtung, sondern mit Demut. Sollen sie nur! ›Sehet, welch ein Mensch!‹ Erlauben Sie, junger Mann: können Sie ... Aber nein, ich will es stärker und eindringlicher aussprechen: nicht könnenSie, sondern wagenSie, wenn Sie mich jetzt anblicken, positiv zu erklären, daß ich kein Schwein bin?«

Der junge Mann erwiderte kein Wort.

»Nun«, fuhr der Redner solid und sogar mit gehobenem Selbstbewußtsein fort, nachdem er abgewartet hatte, daß das Kichern im Zimmer verstumme. »Nun, mag ich ein Schwein, mag sie eine Dame sein. Ich habe die Gestalt eines Tieres, aber Katerina Iwanowna, meine Gattin, ist eine gebildete Person und eine geborene Stabsoffizierstochter. Mag ich ein Schuft sein, mag sie von Großmut und von Gefühlen, die durch die Erziehung veredelt sind, erfüllt sein. Und doch ... oh, wenn sie mit mir doch Mitleid hätte! Sehr verehrter Herr, sehr verehrter Herr, jeder Mensch müßte doch einen Ort haben, wo man mit ihm Mitleid hätte! Katerina Iwanowna ist aber wohl eine großmütige, doch ungerechte Dame. Und obwohl ich auch selbst einsehe, daß sie, wenn sie mich an den Haaren herumzerrt, es doch nur aus herzlichem Mitleid tut, denn sie zerrt mich, ich wiederhole es ohne Scham, an den Haaren herum, junger Mann!« – (versicherte er mit unterstrichener Würde, als er wieder ein Kichern hörte) »aber, mein Gott, hätte sie doch nur ein einziges Mal ... Doch nein! Nein! Das ist umsonst! Ich brauche davon gar nicht zu reden! ... Denn was ich mir ersehne, wurde mir schon mehr als einmal zuteil, ich wurde schon mehr als einmal bemitleidet, doch ... das ist schon einmal eine Eigenschaft von mir, ich aber bin ein geborenes Vieh!«

»Und ob!« bemerkte gähnend der Wirt.

Marmeladow schlug energisch mit der Faust auf den Tisch.

»Das ist mal eine Eigenschaft von mir! Wissen Sie, wissen Sie, mein Herr, daß ich auch ihre Strümpfe vertrunken habe? Nicht die Schuhe, was doch einiger maßen natürlich wäre, aber die Strümpfe, ihre Strümpfe habe ich vertrunken! Auch ihr Tuch aus Ziegenwolle habe ich vertrunken, das sie mal früher geschenkt bekommen hat, es war ihr Eigentum und nicht meines; wir wohnen aber in einem kalten Loch, und sie hat sich im letzten Winter erkältet und zu husten angefangen, jetzt schon mit Blut. Wir haben aber drei kleine Kinder, und Katerina Iwanowna arbeitet von früh bis spät, wäscht und scheuert, hält auch die Kinder rein, denn sie ist von Kind auf an Reinlichkeit gewöhnt; dabei hat sie aber eine schwache Brust, die zur Schwindsucht neigt, und ich fühle das! Fühle ich es denn nicht? Und je mehr ich trinke, um so mehr fühle ich es. Darum trinke ich auch, weil ich im Trunke Mitleid und Gefühle suche ... Ich trinke, weil ich doppelt leiden möchte!«

Und er legte seinen Kopf wie in Verzweiflung auf den Tisch.

»Junger Mann,« fuhr er fort, sich wieder aufrichtend, »in Ihrem Gesicht lese ich einen gewissen Gram. Gleich, als Sie eintraten, las ich ihn, und darum wandte ich mich auch an Sie. Denn ich erzähle Ihnen meine Lebensgeschichte nicht, um den müßigen Menschen, die schon alles auch ohnehin wissen, ein schändliches Schauspiel zu liefern, sondern, weil ich einen gefühlvollen und gebildeten Menschen suche. Sie sollen also wissen, daß meine Gattin in einem vornehmen adligen Gouvernementspensionat erzogen worden ist und bei der Abschiedsfeier mit dem Schal vor dem Gouverneur und sonstigen Persönlichkeiten getanzt hat, wofür sie eine goldene Medaille und ein lobendes Attest erhielt. Die Medaille ... ja, die Medaille haben wir längst verkauft ... hm ... das lobende Attest hat sie aber auch jetzt noch im Koffer liegen und hat es erst vor kurzem unserer Wirtin gezeigt. Obwohl sie sich mit dieser Wirtin ständig herumzankt, wollte sie dennoch vor jemand prahlen und von den vergangenen glücklichen Tagen berichten. Ich verurteile sie nicht, ich verurteile sie nicht, weil ihr nur dieses Letzte in den Erinnerungen geblieben, alles andere aber zugrunde gegangen ist! Ja, ja, sie ist eine hitzige, stolze und unbeugsame Dame. Sie scheuert selbst den Fußboden und lebt von Schwarzbrot, wird aber eine Mißachtung ihrer Person nicht dulden. Darum wollte sie sich auch Herrn Lebesjatnikows Grobheit nicht gefallen lassen, und als er sie verprügelte, wurde sie weniger der Schläge als der verletzten Gefühle wegen krank. Ich heiratete sie als Witwe mit drei Kindern, eines kleiner als das andere. Ihren ersten Mann, einen Infanterieoffizier, hatte sie aus Liebe geheiratet und war mit ihm aus dem Elternhause geflohen. Ihren Mann liebte sie über die Maßen, er gab sich aber dem Kartenspiel hin, kam vors Gericht und starb. In der allerletzten Zeit hatte er sie auch geschlagen; sie ließ es sich zwar nicht gefallen, was mir ganz sicher und aus Urkunden bekannt ist, gedenkt seiner aber auch jetzt noch mit Tränen und stellt ihn mir als Muster hin, und ich bin froh, ich bin froh, weil sie wenigstens in der Phantasie glaubt, daß sie einst glücklich gewesen sei ... Er ließ sie als Witwe, mit drei kleinen Kindern, in einem fernen und wilden Landkreise, in dem ich mich damals aufhielt, zurück, in einer so hoffnungslosen Armut, die ich, obwohl ich schon manches gesehen habe, gar nicht beschreiben kann. Auch ihre Verwandten hatten sie verstoßen. Sie war aber stolz, viel zu stolz ... Und dann bot ich ihr, sehr geehrter Herr, der ich auch ein Witwer war und eine vierzehnjährige Tochter von meiner ersten Frau hatte, meine Hand an, da ich solche Qual nicht mitansehen konnte. Auf welche Stufe von Not sie herabgesunken war, können Sie daraus ersehen, daß sie, die gebildet und wohlerzogen war und aus einer bekannten Familie stammte, sich bereit erklärte, mich zu heiraten. Ja, sie heiratete mich! Weinend, schluchzend und händeringend heiratete sie mich! Denn sie konnte sonst nirgends hin. Verstehen Sie es, verstehen Sie es, verehrter Herr, was es heißt, wenn man nirgends mehr hin kann? Nein! Das verstehen Sie noch nicht ... Und ich erfüllte meine Pflichten ein ganzes Jahr fromm und heilig und rührte dieses (er wies mit dem Finger auf die Schnapsflasche) nicht an, denn ich habe Gefühl. Aber auch damit stellte ich sie nicht zufrieden; und da verlor ich auch noch meine Stelle, und zwar nicht durch eigene Schuld, sondern wegen einer Änderung im Etat; und nun erst griff ich danach! ... Es sind schon anderthalb Jahre, seit wir, nach Irrfahrten und vielen Schicksalsschlägen, endlich in diese großartige und mit zahlreichen Denkmälern geschmückte Residenzstadt geraten sind. Und hier bekam ich einen Posten ... Ich bekam ihn und verlor ihn gleich wieder. Verstehen Sie das? Diesmal verlor ich ihn aus eigener Schuld, denn ich hatte den Strich erreicht ... Jetzt bewohnen wir ein halbes Zimmer bei der Wirtin Amalie Fjodorowna Lippewechsel; wovon wir aber leben und womit wir bezahlen, das weiß ich nicht. Viele andere Leute wohnen dort außer uns ... Es geht dort furchtbar zu, ein wahres Sodom ... hm! ... ja ... Indessen ist meine Tochter aus erster Ehe herangewachsen, und was sie, meine Tochter, als sie heranwuchs, von ihrer Stiefmutter alles auszustehen hatte, das verschweige ich. Denn Katerina Iwanowna ist zwar von großmütigen Gefühlen erfüllt, aber eine hitzige und gereizte Dame, sehr streng, und läßt einen gar nicht zu Worte kommen ... Jawohl! Nun, ich will davon lieber nicht sprechen! Eine Erziehung hat meine Ssonja, wie Sie sich wohl denken können, nicht genossen. Vor vier Jahren versuchte ich einmal, sie in Geographie und Weltgeschichte zu unterrichten; da ich aber in diesen Dingen nicht gut beschlagen bin und auch keine ordentlichen Lehrbücher hatte, denn die Bücher, die vorhanden waren ... hm! sie sind jetzt nicht mehr da, diese Bücher, – so endigte damit der ganze Unterricht. Beim Cyrus von Persien blieben wir stehen. Später, als sie schon erwachsen war, las sie einige Romane, und vor kurzem bekam sie durch Vermittlung des Herrn Lebesjatnikow das Buch › Physiologie‹ von Lewes – kennen Sie es? – sie las es mit großem Interesse und teilte auch uns einige Bruchstücke daraus mit: das ist ihre ganze Bildung. Nun wende ich mich an Sie, verehrter Herr, mit einer privaten Frage: wieviel kann nach Ihrer Meinung ein armes, doch ehrliches junges Mädchen durch ehrliche Arbeit verdienen? ... Sie verdient keine fünfzehn Kopeken im Tag, verehrter Herr, wenn sie ehrlich ist und über keine besonderen Talente verfügt, und auch das nur, wenn sie unermüdlich arbeitet! Und da hat ihr noch der Staatsrat Klopstock, Iwan Iwanowitsch – haben Sie von ihm nichts gehört? – nicht nur das Geld für das Nähen von einem halben Dutzend holländischer Hemden bis heute nicht bezahlt, sondern sie auch noch unter Beleidigungen hinausgeworfen, indem er mit den Füßen trampelte und sie mit einem unanständigen Worte beschimpfte, unter dem Vorwande, daß der Hemdkragen nicht nach Maß und schief genäht sei. Meine Kinder sind aber hungrig ... Und Katerina Iwanowna geht händeringend im Zimmer auf und ab und hat rote Flecken auf den Wangen, was bei dieser Krankheit immer der Fall ist. ›Du lebst,‹ sagte sie, ›du Müßiggängerin, bei uns, ißt und trinkst und hast es warm‹; was ist das aber für ein Essen und Trinken, wenn selbst die kleinen Kinder oft drei Tage lang keine Brotrinde zu sehen bekommen! Ich aber lag damals ... ach, was soll ich viel reden! – ich lag betrunken da und hörte meine Ssonja sagen (sie ist sonst schweigsam und hat ein so sanftes Stimmchen ... blond ist sie, das Gesichtchen immer bleich und mager), ich hörte sie sagen: ›Wie, Katerina Iwanowna, soll ich auf eine solche Sache eingehen?‹ Darja Franzewna, ein übles und der Polizei gut bekanntes Frauenzimmer hat sich aber schon an die dreimal durch die Wirtin erkundigt. ›Warum nicht?‹ antwortet Katerina Iwanowna zum Spott: ›Was sollst du es hüten? So eine Kostbarkeit!‹ Sie dürfen sie aber nicht anklagen, mein Herr, nein, nicht anklagen! Dies war nicht bei gesundem Verstand gesagt worden, sondern in Erregung aller Gefühle und angesichts der kranken und weinenden Kinder, die nichts gegessen haben, und auch mehr in beleidigender Absicht, als im genauen Sinne des Wortes ... Denn Katerina Iwanowna hat mal einen solchen Charakter, und wenn die Kinder zu weinen anfangen, und sei es auch nur aus Hunger, fängt sie sie gleich zu schlagen an. So sehe ich, wie Ssonjetschka so gegen sechs Uhr abends aufsteht, ihr Tüchlein umnimmt, das Mäntelchen anzieht und die Wohnung verläßt und in der neunten Stunde wieder heimkommt. Sie kam heim, ging gleich auf Katerina Iwanowna zu und legte vor ihr schweigend dreißig Rubel auf den Tisch. Kein Wörtchen sprach sie dabei, sah sie nicht mal an, sondern nahm nur unser großes grünes Drap-de-dames-Tuch (wir haben so ein gemeinsames Drap-de-dames-Tuch), bedeckte damit ganz den Kopf und das Gesicht und legte sich aufs Bett mit dem Gesicht zu der Wand, bloß die Schultern und der ganze Körper zitterten. Ich aber lag noch im gleichen Zustande wie früher ... Und da sah ich, junger Mann, da sah ich, wie Katerina Iwanowna, auch ohne ein Wort zu sagen, an Ssonetschkas Bettchen herantrat und den ganzen Abend zu ihren Füßen kniete und ihr die Füße küßte und nicht aufstehen wollte, und dann schliefen sie beide zusammen ein, umschlungen ... beide ... beide ... jawohl ... und ich ... ich lag betrunken da.«

Marmeladow verstummte, als versagte ihm die Stimme. Dann schenkte er sich plötzlich ein Gläschen ein, trank es aus und räusperte sich.

»Seit jener Zeit, mein Herr,« fuhr er nach kurzem Schweigen fort, »seit jener Zeit wurde meine Tochter, Ssonja Ssemjonowna, infolge eines unglücklichen Umstandes und auf Anzeige übelwollender Menschen, wozu Darja Franzewna besonders viel beitrug, weil man ihr angeblich nicht die gebührende Achtung erwiesen hatte, – gezwungen, einen gelben Paß zu nehmen und konnte infolgedessen nicht mehr bei uns bleiben. Denn auch unsere Wirtin, Amalie Fjodorowna wollte es nicht zulassen (vorher hatte sie aber die Darja Franzewna bei ihren Bemühungen unterstützt), und auch der Herr Lebesjatnikow ... hm! ... Nun, der Ssonja wegen kam es eben zu dieser Geschichte zwischen ihm und Katerina Iwanowna. Anfangs hatte er sich selbst um Ssonetschka beworben, plötzlich stieg er aber aufs hohe Roß: ›Wie kann ich, ein gebildeter Mensch, in der gleichen Wohnung mit so einer leben?‹ Katerina Iwanowna wollte es sich aber nicht bieten lassen und trat für Ssonja ein ... So kam die Geschichte ... Ssonjetschka besucht uns aber meistens in der Abenddämmerung, sie hilft Katerina Iwanowna und unterstützt uns nach Kräften mit Geldmitteln ... Sie wohnt beim Schneider Kapernaumow, mietete bei ihm ein Zimmer; dieser Kapernaumow ist aber lahm und stottert, und auch seine ganze zahlreiche Familie stottert. Auch seine Frau stottert. Sie wohnen alle in einem Zimmer, Ssonja hat aber ihr eigenes Zimmer mit einem Alkoven ... Hm! ... ja ... Es sind bettelarme Menschen und stottern alle ... ja ... Also ich stand damals am Morgen auf, zog meine Lumpen an, hob beide Arme gen Himmel und begab mich zu Seiner Exzellenz Iwan Afanassjewitsch. Geruhen Sie Seine Exzellenz Iwan Afanassjewitsch zu kennen? ... Nein? Nun, dann kennen Sie einen göttlichen Mann nicht! Er ist ein Stück Wachs ... Wachs vor dem Antlitz des Herrn; er schmilzt wie Wachs! ... Es traten ihm sogar einige Tränen in die Augen, als er mich anzuhören geruhte. ›Nun,‹ sagte er, ›Marmeladow, du hast schon einmal meine Hoffnungen getäuscht ... Ich stelle dich aber wieder an, auf meine persönliche Verantwortung‹, so sagte er mir. ›Merk es dir und geh!‹ Ich küßte den Staub seiner Füße, in Gedanken natürlich, denn in Wirklichkeit hätte er es mir gar nicht erlaubt, denn er ist doch ein hoher Würdenträger und von der neuen politischen und gebildeten Gesinnung; ich kam nach Hause, und als ich erklärte, daß ich wieder einen Posten habe und Gehalt bekommen werde – mein Gott, was gab es da ...«

Marmeladow hielt wieder in großer Erregung inne. In diesem Augenblick kam von der Straße ein ganzer Trupp schon ohnehin betrunkener Säufer, und vor dem Eingange ertönten die Klänge eines von ihnen gemieteten Leierkastens und die gleichsam gesprungene Stimme eines siebenjährigen Kindes, das einen Gassenhauer sang. Es gab großen Lärm. Der Wirt und die Bedienung widmeten sich den neuen Gästen. Marmeladow schenkte ihnen keine Beachtung und fuhr in seiner Erzählung fort. Er schien sehr schwach, doch je mehr er trank, um so redseliger wurde er. Die Erinnerungen an den Erfolg, den er neulich im Dienste gehabt hatte, belebten ihn gleichsam und spiegelten sich sogar in seinem Gesichte wie ein Leuchten. Raskolnikow hörte ihm aufmerksam zu.

»Das war aber, mein Herr, vor fünf Wochen ... Ja ... Kaum hatten beide, Katerina Iwanowna und Ssonjetschka, es erfahren, da war es mir, mein Gott! – wie wenn ich ins Himmelreich geraten wäre. Früher konnte ich wie ein Vieh daliegen und bekam nichts als Schimpfworte zu hören. Aber jetzt: sie gehen auf den Fußspitzen und rufen die Kinder zur Ruhe. ›Ssemjon Sacharytsch ist im Dienste müde geworden und ruht aus ... Pst!‹ Kaffee gaben sie mir, wenn ich morgens in den Dienst gehe, und kochten Sahne für mich! Richtige Sahne kauften sie für mich, hören Sie?! Und wo sie nur die elf Rubel fünfzig Kopeken für eine anständige Equipierung hergenommen haben? Das weiß ich wirklich nicht! Stiefel, ein prachtvolles Kattunvorhemd, ein Uniformfrack – dies alles richteten sie in vorzüglicher Qualität für elf Rubel fünfzig Kopeken her. Wie ich am ersten Tage des Morgens vom Dienste herkomme, sehe ich: Katerina Iwanowna hat zwei Gerichte gekocht, eine Suppe und Pökelfleisch mit Meerrettich, wovon wir früher keinen Begriff hatten. Sie hat nichts anzuziehen, aber wirklich gar nichts, diesmal aber putzte sie sich aus, als wollte sie Besuche machen; und dabei hatte sie nichts Besonderes an, sie verstand es nur, aus nichts alles zu machen: sie frisiert sich, tut einen sauberen Kragen und Manschetten an, und gleich ist sie ein ganz anderer Mensch, jünger und hübscher. Ssonjetschka, mein Täubchen, hatte nur Geld beigesteuert, doch sie selbst, sagt sie, kann uns jetzt noch nicht besuchen, höchstens in der Abenddämmerung, daß es niemand sieht. Hören Sie es, hören Sie es? Wie ich am Nachmittag komme und etwas schlafen will, was denken Sie sich wohl? – Katerina Iwanowna konnte es sich doch nicht versagen: vor einer Woche noch hatte sie mit der Wirtin Amalie Fjodorowna einen großen Krach gehabt, aber diesmal lud sie sie zu einer Tasse Kaffee ein. Zwei Stunden saß sie mit ihr und flüsterte fortwährend: ›Ssemjon Sacharowitsch‹, sagte sie, ›ist jetzt im Dienste und bekommt Gehalt, und er ist selbst zu Seiner Exzellenz gegangen, und Seine Exzellenz kam selbst heraus, ließ alle warten und führte Ssemjon Sacharytsch an allen vorbei zu sich ins Zimmer.‹ Hören Sie, hören Sie? ›Ich erinnere mich,‹ sagte er, ›Ssemjon Sacharytsch, Ihrer Verdienste. Sie haben zwar diese leichtsinnige Schwäche, da Sie mir es aber versprechen und auch weil es ohne Sie bei uns nicht gut ging (hören Sie, hören Sie!), so verlasse ich mich jetzt‹, sagt er, ›auf Ihr Ehrenwort‹ – ich muß Ihnen sagen, das hat sie alles erfunden, doch nicht aus Leichtsinn, um damit zu prahlen. Nein, sie glaubt es alles selbst und erfreut sich an ihrer eigenen Erfindung, bei Gott! Und ich verurteile es nicht, bei Gott, ich verurteile es nicht! Als ich aber vor sechs Tagen mein erstes Gehalt – dreiundzwanzig Rubel und vierzig Kopeken heimbrachte und ihr vollzählig ablieferte, nannte sie mich Schätzchen: ›Mein Schätzchen!‹ sagte sie mir. Und das unter vier Augen, verstehen Sie? Nun, bin ich denn schön, und was bin ich für ein Gatte? Doch nein, sie kniff mich in die Backe und sagte: ›Du, mein Schätzchen!‹«

Marmeladow hielt inne, wollte lächeln, doch sein Kinn begann plötzlich heftig zu zittern. Er beherrschte sich aber. Diese Schenke, sein liederliches Aussehen, die fünf Nächte auf den Heubarken und die Schnapsflasche, zugleich aber diese krankhafte Liebe zur Frau und Familie hatten seinen Zuhörer ganz wirr gemacht. Raskolnikow hörte ihm gespannt, doch mit schmerzvollem Gefühl zu. Er ärgerte sich, daß er hier eingekehrt war.

»Sehr verehrter Herr, sehr verehrter Herr!« rief Marmeladow aus, als er sich wieder zusammengenommen hatte. »Oh, mein Herr, vielleicht kommt Ihnen das alles lächerlich vor, wie den andern, und ich belästige Sie nur mit der Dummheit dieser elenden Einzelheiten meines Lebens, aber mir ist es wirklich nicht zum Lachen! Denn ich kann das alles fühlen! ... Und im Verlauf jenes paradiesischen Tages meines Lebens und des ganzen Abends gab ich mich auch selbst flüchtigen Träumen hin: wie ich wohl alles einrichten und den Kindern Kleider kaufen werde, wie ich ihr selbst die Ruhe gebe und meine einzige Tochter aus der Schmach in den Schoß der Familie zurückbringe ... Und vieles, vieles andere ... Das durfte ich wohl, mein Herr! Und nun, mein Herr (Marmeladow fuhr plötzlich zusammen, hob den Kopf und blickte seinen Zuhörer aufmerksam an), nun, am nächsten Tage nach diesen Träumen – es werden genau fünf Tage her sein –, gegen Abend, stahl ich auf listige Weise, wie ein Dieb in der Nacht, den Schlüssel von ihrem Koffer, nahm alles, was vom mitgebrachten Gehalt noch übrig blieb, wieviel es war, weiß ich nicht mehr, und nun, sehen Sie mich an, jetzt ist es alle! Den fünften Tag bin ich von zu Hause weg, sie suchen mich dort, und auch die Stelle ist hin, und mein Uniformfrack liegt in der Schenke bei der Egyptischen Brücke, und im Tausch dafür habe ich diese Bekleidung erhalten ... und alles ist zu Ende!«

Marmeladow schlug sich mit der Faust vor die Stirn, preßte die Zähne zusammen und stemmte den Ellenbogen fest gegen den Tisch. Doch nach einer Minute schon war sein Gesicht wieder verändert, er blickte Raskolnikow mit gespielter Verschmitztheit und Frechheit an, lachte und sagte:

»Und heute war ich bei Ssonja, habe sie um Geld zu Schnaps, zur Stärkung nach dem letzten Rausch, gebeten! He-he-he!«

»Hat sie's gegeben?« schrie jemand von den Neuangekommenen abseits; er schrie es und fing aus vollem Halse zu lachen an.

»Hier diese halbe Flasche ist für ihr Geld gekauft«, sagte Marmeladow, sich ausschließlich an Raskolnikow wendend. »Dreißig Kopeken gab sie mir, mit eigenen Händen, die letzten, alles, was sie hatte, das hab' ich selbst gesehen ... Sie sagte nichts, sah mich nur schweigend an ... So klagt und weint man über die Menschen nicht hier auf Erden ... sondern dort ... und ohne ein Wort des Vorwurfs, ohne ein Wort des Vorwurfs! Und das tut viel mehr weh, viel mehr weh, wenn man keinen Vorwurf zu hören bekommt! ... Dreißig Kopeken, jawohl. Sie braucht aber das Geld selbst, wie? Was glauben Sie, mein lieber Herr? Sie muß jetzt doch auf Reinlichkeit sehen! Diese Reinlichkeit, diese besondere Reinlichkeit kostet aber Geld, verstehen Sie? Nun, dann muß sie auch mal Pomade kaufen, anders geht es ja nicht; gestärkte Unterröcke muß sie haben, so ein elegantes Schuhchen, um ihr Füßchen zu zeigen, wenn sie über eine Pfütze gehen will. Verstehen Sie, verstehen Sie, mein Herr, was diese Reinlichkeit bedeutet? Nun, und ich, ihr leiblicher Vater, habe ihr diese dreißig Kopeken weg genommen, um mich zu stärken! Und nun trinke ich! Und habe sie schon vertrunken! ... Nun, wer wird mit so einem, wie ich, Mitleid haben? Wie? Tue ich Ihnen jetzt leid, mein Herr, oder nicht? Sag', mein Herr, tue ich dir leid, oder nicht? He-he-he-he!«

Er wollte sich wieder einschenken, aber es war nichts mehr da. Die Flasche war leer.

»Was soll man mit dir Mitleid haben?« rief der Wirt, der plötzlich neben ihnen stand.

Man hörte Lachen und sogar Schimpfen. Alle, die Marmeladow zugehört hatten, und auch solche, die ihm nicht zugehört hatten, lachten und schimpften beim bloßen Anblick des verabschiedeten Beamten.

»Mitleid haben?! Was soll man mit mir Mitleid haben?!« schrie plötzlich Marmeladow, so laut er konnte, mit vorgestrecktem Arm aufstehend, in sichtbarer Begeisterung, als hätte er auf diese Worte nur gewartet. »Was man mit mir Mitleid haben soll, fragst du? Ja! Man soll auch kein Mitleid mit mir haben! Man muß mich kreuzigen, ans Kreuz schlagen, und nicht bemitleiden! Doch kreuzige, Richter, kreuzige ihn, und nachdem du ihn gekreuzigt hast, hab' mit ihm Mitleid! Und dann komme ich selbst zu dir, um mich kreuzigen zu lassen, denn ich suche keine Freude, sondern Schmerz und Tränen! ... Glaubst du vielleicht, du Schnapsverkäufer, daß diese Flasche mir süß war? Trauer, Trauer suchte ich auf ihrem Grunde, Trauer und Tränen, und die habe ich gefunden und gekostet; bemitleiden wird uns aber der, der mit allen Mitleid hatte, der alle und alles verstand. Er ist der Einzige, er ist auch der Richter. Er wird an jenem Tage kommen und fragen: ›Wo ist die Tochter, die sich einer bösen und schwindsüchtigen Stiefmutter und fremden kleinen Kindern zuliebe verkauft hat? Wo ist die Tochter, die mit ihrem irdischen Vater, dem abscheulichen Trunkenbold, ohne vor seiner Tierheit zurückzuschrecken, Mitleid gehabt hat?‹ Und er wird sagen: ›Komm! Ich habe dir schon einmal vergeben ... Ich habe dir einmal vergeben ... Vergeben werden dir auch jetzt deine vielen Sünden, weil du viel geliebet hast ...‹ Und er wird meiner Ssonja vergeben, wird ihr vergeben, ich weiß es, daß er ihr vergeben wird ... Das fühlte ich, als ich neulich bei ihr war, in meinem Herzen! Und er wird alle richten und allen vergeben, den Guten und den Bösen, den Weisen und den Demütigen ... Und wenn er mit allen fertig sein wird, da wird an uns der Ruf ergehen: ›Kommt‹, wird er sagen, ›auch ihr! Kommt, ihr Trunkenen, kommt, ihr Schwachen, kommt, ihr Schamlosen!‹ Und wir werden alle, ohne uns zu schämen, vortreten und uns vor ihn hinstellen. Und er wird sagen: ›Ihr Schweine! Ihr Ebenbilder des Tieres und mit seinem Siegel Gezeichnete! Kommt aber auch ihr!‹ Und die Weisen werden sprechen, und die Klugen werden sagen: ›Herr, warum nimmst du diese auf?‹ Und er wird antworten: ›Darum, ihr Weisen, darum, ihr Klugen, weil keiner von ihnen sich für dessen würdig hielt ...‹ Und er wird seine Hände gegen uns ausstrecken, und wir werden niederfallen ... und weinen ... und alles verstehen! Dann werden wir es verstehen! Und alle werden es verstehen ... auch Katerina Iwanowna wird es verstehen! Herr, dein Reich komme!«

Und er ließ sich, erschöpft und entkräftet, auf die Bank sinken, ohne jemand anzusehen, als hätte er alles, was ihn umgab, vergessen und wäre in Gedanken versunken. Seine Worte machten einigen Eindruck; für eine Weile wurde es still, doch bald ertönte wieder das Lachen und Schimpfen.

»Klug gesprochen!«

»Hat sich verrannt!«

»Ein netter Beamter!«

Und so weiter, und so weiter ...

»Kommen Sie, Herr,« sagte Marmeladow, den Kopf hebend und sich an Raskolnikow wendend, »begleiten Sie mich nach Hause ... Es ist das Koselsche Haus, im Hofe ... Es ist Zeit ... zu Katerina Iwanowna ...«

Raskolnikow wollte schon längst weggehen; auch hatte er schon selbst daran gedacht, Marmeladow zu helfen. Dieser zeigte sich viel schwächer auf den Beinen als im Reden und stützte sich fest auf den jungen Mann. Sie hatten zwei- bis dreihundert Schritte zu gehen. Je mehr sie sich dem Hause näherten, um so mehr bemächtigten sich des Betrunkenen Verwirrung und Angst.

»Ich fürchte jetzt nicht Katerina Iwanowna,« stammelte er erregt, »und auch nicht, daß sie mir die Haare raufen wird. Was sind Haare! ... Die Haare sind Unsinn! ... Das sage ich! Es ist sogar besser, wenn sie sie mir zu raufen anfängt, das fürchte ich nicht ... ich ... fürchte ihre Augen ... ja ... die Augen ... Die roten Flecken an den Wangen fürchte ich auch ... dann fürchte ich noch ihren Atem ... Hast du mal gesehen, wie man bei diesem Leiden atmet ... wenn man erregt ist? Auch das Weinen der Kinder fürchte ich ... Denn, wenn Ssonja ihnen nichts zu essen gebracht hat, so weiß ich gar nicht! Ich weiß nicht! Die Schläge aber fürchte ich nicht ... Wisse, mein Herr, daß diese Schläge mir keinen Schmerz, sondern einen Genuß bedeuten ... Denn ohne dies kann ich selbst nicht auskommen. Es ist besser so. Soll sie mich nur schlagen und ihrem Herzen Luft machen ... es ist besser ... Da ist schon das Haus. Das Koselsche Haus. Kosel ist Schlosser. Ein reicher Deutscher ... Führe mich!«

Sie gingen durch den Hof und stiegen in den dritten Stock. Auf der Treppe wurde es immer dunkler. Es war fast elf Uhr, und obwohl es um diese Jahreszeit in Petersburg keine richtige Nacht gibt, war es oben auf der Treppe sehr dunkel.

Eine kleine verrauchte Tür ganz oben am Ende der Treppe stand offen. Ein Lichtstumpf beleuchtete ein furchtbar armes Zimmer von etwa zehn Schritt Länge; aus dem Flur war alles zu sehen. Alles lag hier durcheinander, besonders verschiedene Kinderlumpen. Die hinterste Ecke war durch ein zerrissenes Laken abgeteilt. Hinter diesem stand wohl das Bett. Im Zimmer selbst befanden sich nur zwei Stühle und ein wachstuchüberzogenes, zerrissenes Sofa, vor dem ein alter ungestrichener und ungedeckter Küchentisch aus Fichtenholz stand. Am Rande des Tisches brannte in einem eisernen Leuchter ein kleiner Talglichtstumpf. Marmeladow wohnte also doch in einem eigenen Zimmer, und nicht in einem »halben«; es war aber ein Durchgangszimmer. Die Tür zu den anderen Räumen oder Käfigen, in die die Wohnung der Amalie Lippewechsel eingeteilt war, stand offen. Dort wurde gelärmt und geschrien. Man lachte. Man spielte wohl auch Karten und trank Tee. Zuweilen tönten von dort recht unschickliche Worte herüber.

Raskolnikow erkannte Katerina Iwanowna auf den ersten Blick. Sie war eine furchtbar abgemagerte Frau, schlank und recht groß mit noch schönem dunkelblondem Haar und tatsächlich mit roten Flecken an den Wangen. Sie ging in ihrem kleinen Zimmer auf und ab, die Hände an die Brust gedrückt, mit vertrockneten Lippen, und atmete nervös und stoßweise. Ihre Augen glänzten wie im Fieber, doch der Blick war scharf und unbeweglich, und ihr schwindsüchtiges und erregtes Gesicht, auf dem der Widerschein des ausgehenden Lichtes zitterte, machte einen krankhaften Eindruck. Raskolnikow hielt sie für dreißig Jahre alt, und sie paßte auch gar nicht zu Marmeladow ... Die Eintretenden hatte sie weder gehört noch gesehen; sie war wie geistesabwesend und schien nichts zu hören und zu sehen. Im Zimmer war es dumpf, sie hatte aber das Fenster nicht geöffnet; von der Treppe her stank es, doch die Tür zur Treppe stand offen; aus den inneren Räumen drangen durch die offene Tür Wolken von Tabakrauch herein, sie hustete, machte aber diese Tür nicht zu. Das jüngste Mädchen, etwa sechs Jahre alt, schlief auf dem Fußboden zusammengekauert, den Kopf ans Sofa gelehnt. Ein Junge, ein Jahr älter als sie, zitterte in einer Ecke am ganzen Leibe und weinte. Offenbar hatte er eben Schläge bekommen. Das älteste Mädchen, an die neun Jahre alt, hochaufgeschossen und dünn wie ein Streichholz, stand im bloßen, fadenscheinigen und zerrissenen Hemdchen, ein altes Mäntelchen aus Drap-de-dames, das wohl vor zwei Jahren gemacht worden war, weil es ihr jetzt nicht mal bis zu den Knien reichte, über die bloßen Schultern geworfen, in der Ecke neben dem kleinen Bruder und umschlang mit ihrem langen, wie ein Streichholz dürren Arm seinen Hals. Sie schien ihn beruhigen zu wollen; sie flüsterte ihm etwas zu und hielt ihn auf jede Weise zurück, damit er nicht wieder zu weinen anfange, und verfolgte zugleich ängstlich mit ihren auffallend großen dunklen Augen, die in dem ausgemergelten und erschrockenen Gesichtchen noch größer aussahen, die Mutter. Marmeladow kniete, ohne in das Zimmer zu treten, in der Tür nieder und schob Raskolnikow vor. Als die Frau den Fremden erblickte, blieb sie zerstreut vor ihm stehen; sie kam für einen Augenblick zur Besinnung und schien sich zu fragen: wozu ist er hergekommen? Aber sie sagte sich wohl gleich darauf, daß er in ein anderes Zimmer wolle, da das ihrige doch ein Durchgangszimmer war. Nachdem sie sich dies überlegt hatte, schenkte sie ihm keine weitere Beachtung und ging zu der Flurtür, um sie zu schließen; plötzlich erblickte sie ihren auf der Schwelle knienden Mann und schrie auf.

»Ah!« schrie sie wütend. »Du bist zurückgekommen! Zuchthäusler! Verbrecher! ... Und wo ist das Geld?! Was hast du in der Tasche? Zeig' es her! Das sind auch nicht deine Kleider! Wo sind deine Kleider? Wo ist das Geld? Sprich! ...«

Und sie fing ihn zu durchsuchen an. Marmeladow streckte sofort gehorsam und demütig die Arme nach beiden Seiten aus, um ihr die Durchsuchung der Taschen zu erleichtern. Vom Geld war keine Kopeke mehr da.

»Wo ist denn das Geld?« schrie sie. »O Gott, hat er denn alles vertrunken?! Zwölf Rubel waren ja im Koffer übrig geblieben! ...«

Und plötzlich packte sie ihn wie rasend an den Haaren und schleppte ihn ins Zimmer. Marmeladow erleichterte ihr selbst die Mühe, indem er ihr demütig auf den Knien nachrutschte.

»Und das ist mir ein Genuß! Und das ist mir kein Schmerz, sondern ein Ge-nuß, sehr ge-ehr-ter Herr!« schrie er, während sie ihn an den Haaren herumzerrte und er sogar einmal mit der Stirn gegen den Boden anschlug.

Das Kind, das auf dem Fußboden schlief, erwachte und fing zu weinen an. Der Junge in der Ecke hielt es nicht länger aus: er fing zu zittern an, schrie auf und stürzte in furchtbarer Angst, beinahe in einem Krampfe, zu seiner Schwester hin. Das älteste Mädchen fuhr wie aus dem Schlafe auf und zitterte wie Espenlaub.

»Vertrunken! Alles, alles vertrunken!« schrie die arme Frau in ihrer Verzweiflung. »Auch die Kleider sind hin! Und die sind hungrig, hungrig! (sie zeigte händeringend auf die Kinder). O, dieses verfluchte Leben! Und Sie, Sie schämen sich nicht?« wandte sie sich plötzlich zu Raskolnikow: »Aus der Schenke! Du hast mit ihm getrunken? Auch du hast mit ihm getrunken?! Hinaus!«

Der junge Mann beeilte sich, ohne ein Wort zu sagen, hinauszugehen. Da ging auch noch die Innentür sperrweit auf, und aus ihr blickten mehrere Neugierige herein. Freche, lachende Gesichter, mit Zigaretten und Pfeifen zwischen den Zähnen und Kappen auf dem Kopfe, drängten sich in die Tür. Man sah Gestalten in offenen Schlafröcken, in sommerlicher Kleidung, die beinahe unanständig war, manche mit Karten in der Hand. Sie unterhielten sich besonders gut und lachten, wenn der an den Haaren herumgezerrte Marmeladow schrie, daß dies ihm ein Genuß sei. Manche traten sogar ins Zimmer; schließlich erklang ein unheildrohendes Kreischen: es war Amalie Lippewechsel, die sich einen Weg durch die Zuschauer bahnte, um auf ihre Weise Ordnung zu schaffen und die arme Frau zum hundertsten Male durch den von Schimpfworten begleiteten Befehl, die Wohnung morgen zu räumen, zu erschrecken. Beim Weggehen fand Raskolnikow noch Zeit, die Hand in die Tasche zu stecken und einige von den Kupfermünzen, die er in der Schenke auf den Rubel herausbekommen hatte, ohne zu zählen, zusammenzuraffen und auf die Fensterbank zu legen. Später, auf der Treppe, besann er sich und wollte umkehren.

»Was habe ich eben für eine Dummheit gemacht,« sagte er sich, »sie haben ja ihre Ssonja, und ich brauche mein Geld selber.« – Als er aber eingesehen hatte, daß er das Geld nicht mehr zurückholen konnte und daß er es sowieso nicht mehr zurücknehmen würde, machte er eine unbestimmte Gebärde mit der Hand und ging nach Hause. – »Ssonja braucht ja auch Pomade« – fuhr er fort, durch die Straße gehend und giftig lächelnd. – »Diese Reinlichkeit kostet doch Geld ... Hm! Ssonjetschka wird vielleicht heute selbst Bankerott machen, denn es ist immerhin ein Risiko, diese Jagd auf den reichen Mann ... eine Art Goldgräberei ... So würden sie vielleicht morgen ohne mein Geld auf dem Trocknen sitzen ... Ja, die Ssonja, alle Achtung! Was für einen Brunnen haben sie sich gegraben! Und sie schöpfen aus ihm! Sie schöpfen doch aus ihm! Und sie haben sich daran gewöhnt. Sie haben ein wenig geweint und haben sich dann gewöhnt. An alles gewöhnt sich der Mensch, dieser Schuft!«

Er wurde nachdenklich.

»Nun, und wenn ich gelogen habe,« rief er plötzlich aus, »wenn der Mensch wirklich kein Schuftist, der Mensch im allgemeinen, das heißt das ganze Menschengeschlecht, so ist alles übrige nur ein Vorurteil, eine Angst, die man sich selbst gemacht hat, und es gibt keine Schranken, und so muß es auch sein! ...«

III

Er erwachte am anderen Tage nach einem unruhigen Schlafe sehr spät, der Schlaf hatte ihn aber nicht gestärkt. Er erwachte in einer galligen, reizbaren, bösen Stimmung und sah sich voll Haß in seiner Kammer um. Es war ein Loch von etwa sechs Schritt Länge, das mit seinen gelben, staubigen und überall von den Wänden abstehenden Tapeten den jämmerlichsten Eindruck machte; es war dabei so niedrig, daß es jedem einigermaßen großen Menschen ganz unheimlich wurde, vor Angst, er würde gleich mit dem Kopf an die Decke stoßen. Die Möbel entsprachen durchaus dem Zimmer: es gab da drei alte, nicht ganz heile Stühle, einen gestrichenen Tisch in der Ecke, auf dem einige Hefte und Bücher lagen; schon der Staub, mit dem sie bedeckt waren, ließ darauf schließen, daß sie schon lange von keiner Menschenhand berührt worden waren; und schließlich ein großes plumpes Sofa, das fast die ganze Wand und die Hälfte des Zimmers einnahm und einst mit Kattun bezogen gewesen, jetzt aber ganz zerfetzt war und Raskolnikow als Bett diente. Oft schlief er darauf, ohne sich auszuziehen, ohne Laken, mit seinem alten, abgetragenen Studentenmantel als Bettdecke und einem einzigen kleinen Kissen unter dem Kopfe, worunter er alles, was er an sauberer Wäsche besaß, stopfte, damit es höher sei. Vor dem Sofa stand ein kleines Tischchen.

Es würde einem Menschen schwer fallen, noch tiefer zu sinken und noch mehr zu verkommen; Raskolnikow war das aber in seiner jetzigen Gemütsverfassung nur angenehm. Er hatte sich von allen Menschen vollkommen zurückgezogen, wie eine Schildkröte in ihre Schale, und selbst das Gesicht der Dienstmagd, die ihn zu bedienen hatte und zuweilen in sein Zimmer hineinschaute, reizte seine Galle und brachte ihn zu Krämpfen. So geht es manchen Monomanen, die sich allzu stark auf etwas konzentriert haben.

Seine Wirtin hatte schon seit zwei Wochen aufgehört, ihm Essen zu geben, und es war ihm bisher noch gar nicht eingefallen, zu ihr zu gehen und sich mit ihr auseinanderzusetzen, obwohl er ohne Mittagessen saß. Nastasja, die Köchin und einzige Dienstmagd der Wirtin, war über diese Gemütsverfassung des Zimmerherrn zum Teil sogar froh und hatte ganz aufgehört, bei ihm aufzuräumen und den Boden zu kehren; nur ab und zu, so einmal in der Woche, griff sie, wie aus Versehen, nach dem Besen. Sie war es auch, die ihn jetzt geweckt hatte.

»Steh auf, was schläfst du!« schrie sie über seinem Kopfe, »es ist bald zehn. Ich habe dir Tee gebracht; willst du Tee? Bist wohl hungrig!?«

Der Zimmerherr öffnete die Augen, fuhr zusammen und erkannte Nastasja.

»Ist der Tee von der Wirtin, wie?« fragte er, indem er sich langsam und mit krankhaftem Ausdruck vom Sofa erhob.

»Ach was, von der Wirtin!«

Sie stellte vor ihn ihre eigene, gesprungene Teekanne mit dem schon einmal aufgebrühten Tee hin und legte zwei Stückchen gelben Zucker dazu.

»Hier, Nastasja, nimm das, bitte«, sagte er, nachdem er in seiner Tasche gesucht (er hatte in den Kleidern geschlafen) und eine Handvoll Kupfergeld hervorgeholt hatte. »Geh und kaufe mir eine Semmel. Bring auch etwas Wurst aus dem Wurstladen mit, doch von der billigen.«

»Die Semmel bringe ich dir sofort, willst du aber vielleicht statt der Wurst Kohlsuppe? Es ist eine gute Kohlsuppe von gestern. Ich hatte sie gestern für dich zurückgestellt, du kamst aber spät heim. Eine gute Kohlsuppe.«

Als die Kohlsuppe vor ihm stand und er sie zu löffeln begann, setzte sich Nastasja neben ihn aufs Sofa und fing zu schwatzen an. Sie stammte vom Lande und war sehr geschwätzig.

»Praskowja Pawlowna will sich über dich bei der Polizei beschweren«, sagte sie.

Er verzog schmerzvoll das Gesicht.

»Bei der Polizei? Was will sie denn?«

»Du zahlst nichts und ziehst nicht aus. Kannst dir wohl denken, was sie will.«

»Zum Teufel, das hat mir noch gefehlt«, murmelte er, mit den Zähnen knirschend. »Nein, das ist mir jetzt ... sehr ungelegen ... Eine dumme Gans ist sie«, fügte er laut hinzu. »Ich will heute zu ihr gehen und mit ihr reden.«

»Sie ist wohl eine dumme Gans wie ich, aber warum liegst du, Kluger, wie ein Sack da, warum sieht man dich nichts tun? Früher, sagst du, hast du Kindern Stunden gegeben; warum tust du aber jetzt nichts?«

»Ich tue ...« versetzte Raskolnikow unwillig und düster.

»Was tust du denn?«

»Eine Arbeit ...«

»Was für eine Arbeit?«

»Ich denke«, antwortete er nach einem Schweigen ernst.

Nastasja schüttelte sich vor Lachen. Sie war von den Lachlustigen, und wenn man sie zum Lachen brachte, lachte sie lautlos, sich schüttelnd und am ganzen Leibe bebend, bis es ihr übel wurde.

»Hast du dir schon viel Geld erdacht?« brachte sie endlich hervor.

»Ohne Stiefel kann man keine Stunden geben. Ich spucke auch darauf.«

»Spuck nicht in den Brunnen.«

»Das Stundengeben bringt nur Kupfergeld ein. Was kann man mit den paar Kopeken anfangen?« fuhr er unwillig fort, als antwortete er seinen eigenen Gedanken.

»Du willst aber wohl das ganze Kapital auf einmal haben?«

Er sah sie sonderbar an.

»Ja, das ganze Kapital«, antwortete er mit fester Stimme nach einer Pause.

»Platz doch nicht gleich damit heraus, sonst machst du einem Angst; es ist gar zu schrecklich. Soll ich dir die Semmel holen oder nicht?«

»Wie du willst.«

»Ja, ich hab's vergessen! Gestern, als du fort warst, kam ein Brief für dich.«

»Ein Brief?! Für mich?! Von wem?!«

»Von wem, das weiß ich nicht. Drei Kopeken habe ich dem Briefträger aus eigenem Geld geben müssen. Wirst du sie mir zurückgeben?«

»Bring ihn doch um Gottes willen her!« schrie Raskolnikow ganz aufgeregt. »Mein Gott!«

Nach einer Minute erschien der Brief. »Also wirklich von der Mutter aus dem R-schen Gouvernement.« Er erbleichte sogar, als er ihn in die Hand nahm. Lange schon hatte er keine Briefe erhalten, und jetzt preßte ihm auch noch etwas anderes das Herz zusammen.

»Nastasja, geh fort, um Gottes willen; da hast du deine drei Kopeken, geh aber um Gottes willen schnell fort!«

Der Brief zitterte in seinen Händen; er wollte ihn nicht in ihrer Anwesenheit öffnen: er wollte mit dem Briefe alleinbleiben. Als Nastasja gegangen war, führte er den Brief schnell an seine Lippen und küßte ihn; dann studierte er lange die Handschrift der Adresse, die ihm so gut bekannte und liebe, feine, schräge Schrift der Mutter, die ihn einst im Lesen und Schreiben unterrichtet hatte. Er zögerte; er schien sogar etwas zu fürchten. Endlich öffnete er ihn: der Brief war lang, ganze zwei Lot schwer; zwei große Briefbogen waren eng beschrieben.

»Mein lieber Rodja,« schrieb die Mutter, »es sind schon über zwei Monate her, daß ich mit Dir nicht mehr brieflich gesprochen habe; darunter habe ich selbst gelitten und konnte manche Nacht vor lauter Denken nicht einschlafen. Du wirst mir sicher aus diesem ungewollten Schweigen einen Vorwurf machen. Du weißt doch, wie ich Dich liebe; Du bist unser Einziger, Du bist für mich und Dunja unser alles, unsere ganze Hoffnung und Zuversicht. Was habe ich nicht alles gelitten, als ich erfuhr, daß Du schon vor einigen Monaten die Universität aus Mangel an Mitteln verlassen hast und daß das Stundengeben und die übrigen Einkünfte aufgehört haben! Wie hätte ich Dir auch bei meiner Pension von hundertzwanzig Rubeln im Jahre helfen können? Die fünfzehn Rubel, die ich Dir vor vier Monaten schickte, habe ich, wie Du selbst weißt, von unserem Kaufmann Wasilij Iwanowitsch Wachruschin auf meine Pension hin geliehen. Er ist ein guter Mensch und war einst mit Deinem Vater befreundet. Indem ich ihn aber ermächtigte, die Pension für mich zu empfangen, mußte ich warten, bis die ganze Schuld gedeckt war; dies ist soeben erst eingetreten, und darum konnte ich Dir die ganze Zeit nichts schicken. Aber jetzt, Gott sei Dank, kann ich Dir wohl wieder schicken; wir können uns jetzt überhaupt mit einer Besserung unserer Finanzen rühmen, und das beeile ich mich, Dir mitzuteilen. Erstens – wirst Du es wohl erraten, lieber Rodja, – daß Deine Schwester schon seit anderthalb Monaten mit mir wohnt und daß wir uns auch in Zukunft nicht mehr trennen werden? Gott sei Dank, ihre Martern haben ein Ende genommen, ich will es Dir aber alles der Reihe nach erzählen, damit Du weißt, wie sich alles zutrug und was wir vor Dir bisher verheimlicht haben. Als Du mir vor zwei Monaten schriebst, Du hättest gehört, daß Dunja im Hause der Herrschaften Swidrigailow viele Grobheiten zu leiden habe, und von mir genaue Erklärungen verlangtest, was konnte ich Dir damals antworten? Hätte ich Dir die ganze Wahrheit geschrieben, so wärest Du imstande, alles liegen zu lassen und, sei es auch zu Fuß, zu uns zu kommen, denn ich kenne Deinen Charakter und Deine Gefühle, und Du würdest die Beleidigung Deiner Schwester nicht dulden. Ich war auch selbst verzweifelt, aber was konnte ich tun? Ich kannte damals auch selbst nicht die ganze Wahrheit. Die größte Schwierigkeit bestand aber darin, daß Dunjetschka, als sie im vorigen Jahre die Gouvernantenstelle annahm, sich ganze hundert Rubel als Vorschuß auszahlen ließ, unter der Bedingung, daß das Geld ihr monatlich vom Gehalt abgezogen werde; sie konnte also die Stelle nicht aufgeben, bevor die ganze Schuld abgetragen war. Diese Summe aber (jetzt kann ich Dir alles erklären, teurer Rodja) hatte sie hauptsächlich darum genommen, um Dir die sechzig Rubel schicken zu können, die Du damals so dringend gebraucht und die Du von uns im vorigen Jahre auch wirklich erhalten hast. Wir haben Dich damals betrogen, wir schrieben Dir, es sei von dem Gelde, das Dunjetschka sich früher erspart hätte; es war aber nicht so, jetzt teile ich Dir die ganze Wahrheit mit, weil alles sich plötzlich nach Gottes Fügung zum Besten gewendet hat, und damit Du weißt, wie sehr Dich Dunja liebt und was für ein kostbares Herz sie hat. Herr Swidrigailow hatte sie zuerst wirklich sehr grob behandelt und sich ihr gegenüber allerlei Unhöflichkeiten und Sticheleien bei Tisch erlaubt ... Ich will mich aber auf diese traurigen Einzelheiten nicht einlassen, um Dich jetzt, wo alles vorbei ist, nicht aufzuregen. Kurz, trotz des gutmütigen und vornehmen Verhaltens Marfa Petrownas, der Gattin des Herrn Swidrigailow, wie auch der ganzen Familie, hatte es Dunjetschka sehr schwer, besonders wenn Herr Swidrigailow nach seiner alten Regimentsangewohnheit unter dem Einfluß des Gottes Bacchus stand. Aber was stellte sich später heraus? Denke Dir nur: dieser Wahnsinnige hatte schon früher eine Leidenschaft zu Dunja gefaßt, verbarg sie aber immer unter der Maske von Grobheit und Verachtung. Vielleicht schämte er sich auch und entsetzte sich, als er, der doch ein bejahrter Mann und Familienvater ist, sich auf solchen leichtsinnigen Hoffnungen ertappte, und ließ darum seine Wut unwillkürlich an Dunja aus. Vielleicht wollte er auch unter dem Deckmantel seines groben Benehmens und Spottes die Wahrheit vor den andern verbergen. Zuletzt hielt er es nicht mehr aus und erfrechte sich, Dunja einen offenen und gemeinen Antrag zu machen unter der Versprechung, sie reich zu belohnen und auch alles im Stich zu lassen und mit ihr auf ein anderes Gut oder sogar ins Ausland zu ziehen. Du kannst Dir wohl alle ihre Leiden vorstellen! Sie konnte aber ihre Stellung nicht sofort aufgeben, und zwar nicht nur wegen der Geldangelegenheit, sondern auch aus Rücksicht auf Marfa Petrowna, die dadurch Verdacht schöpfen könnte, was zu einem Zerwürfnis in der Familie hätte führen können. Und auch für Dunjetschka wäre es ein Skandal; ohne einen solchen wäre es doch nicht abgelaufen. Es waren auch noch viele andere Gründe da, so daß Dunja gar nicht rechnen durfte, früher als in sechs Wochen aus diesem schrecklichen Hause herauszukommen. Du kennst natürlich Dunja und weißt, wie klug und charakterfest sie ist. Dunjetschka kann vieles ertragen und im äußersten Falle noch soviel Mut aufbringen, um nicht ihre Kraft zu verlieren. Sie hat mir nichts darüber geschrieben, um mich nicht aufzuregen; wir tauschten aber oft Briefe. Die Lösung kam sehr unerwartet. Marfa Petrowna belauschte einmal zufällig ihren Mann, wie er Dunjetschka im Garten anflehte; sie faßte aber alles falsch auf, schob die ganze Schuld auf Dunja und glaubte, sie hätte angefangen. Es kam gleich im Garten zu einer fürchterlichen Szene: Marfa Petrowna schlug sogar Dunja, wollte auf nichts hören, schrie eine ganze Stunde und gab zuletzt den Befehl, Dunja sofort zu mir in die Stadt zu bringen, in einem einfachen Bauernwagen, in den man alle ihre Sachen – Wäsche und Kleider, alles, wie es gerade lag, unverpackt und nicht zusammengelegt – hineinwarf. Da kam aber gerade ein Guß, und Dunja mußte, beleidigt und geächtet, unter strömendem Regen ganze siebzehn Werst mit dem Bauer im offenen Wagen fahren. Nun überlege Dir, was konnte ich Dir in meinem Antwortbrief auf den Deinigen, den ich vor zwei Monaten erhalten habe, schreiben? Ich war selbst verzweifelt; Dir die Wahrheit zu schreiben, wagte ich nicht, weil Du unglücklich, erbittert und empört geworden wärest; und was hättest Du auch in der Sache tun können? Du hättest Dich vielleicht zugrunderichten können, und auch Dunjetschka wollte es mir nicht erlauben; aber einen Brief mit Dummheiten füllen, wo ich im Herzen solchen Kummer hatte, das konnte ich nicht. Einen ganzen Monat lang erzählte man sich in unserer ganzen Stadt allerlei Klatsch über diese Geschichte, und es kam so weit, daß ich mit Dunja vor Tuscheln und verächtlichen Blicken nicht mal in die Kirche gehen konnte; die Leute sprachen sogar ganz laut in unsrer Gegenwart. Alle Bekannten sagten sich von uns los, alle hörten sogar auf, uns zu grüßen, und ich erfuhr aus sicherer Quelle, daß die Ladenkommis und einige Kanzlisten uns eine gemeine Beleidigung durch das Beschmieren unseres Haustores mit Teer antun wollten, so daß die Wirtsleute verlangten, daß wir die Wohnung räumen. Schuld an alledem hatte Marfa Petrowna, die es fertigbrachte, Dunja in allen Häusern zu verleumden und anzuschwärzen. Sie kennt hier alle Leute und kam in diesem Monat jeden Augenblick in die Stadt; und da sie ein wenig geschwätzig ist und gern über ihre Familienangelegenheiten spricht, mit besonderer Vorliebe aber jedem, der es hören will, über ihren Mann klagt, was doch sehr häßlich ist, so hat sie diese Geschichte in kürzester Zeit nicht nur in der Stadt, sondern auch im ganzen Landkreise ausposaunt. Ich wurde ganz krank, Dunjetschka war aber fester als ich, und Du hättest nur sehen sollen, wie sie alles trug und auch mich noch tröstete und mir Mut zusprach! Sie ist ein Engel! Doch dank der Barmherzigkeit Gottes wurden unsere Qualen abgekürzt: Herr Swidrigailow besann sich, bereute und legte, wohl aus Mitleid mit Dunja, Marfa Petrowna volle und überzeugende Beweise für die Unschuld Dunjetschkas vor, und zwar einen Brief, den Dunja, noch bevor Marfa Petrowna sie im Garten überraschte, ihm zu schreiben und einzuhändigen gezwungen war, um alle persönlichen Erklärungen und geheimen Zusammenkünfte, die er von ihr verlangte, abzulehnen, – und dieser Brief war nach Dunjetschkas Abreise in den Händen des Herrn Swidrigailow geblieben. In diesem Briefe warf sie ihm mit der glühendsten und tiefsten Entrüstung sein gemeines Benehmen gegen Marfa Petrowna vor – und erklärte ihm, wie niedrig es von ihm, einem Vater und Gatten sei, ein ohnehin schon unglückliches, wehrloses Mädchen so zu quälen und noch unglücklicher zu machen. Mit einem Wort, lieber Rodja, der Brief war so edel und rührend geschrieben, daß ich beim Lesen weinte und ihn auch jetzt nicht ohne Tränen lesen kann. Zur Rechtfertigung Dunjas kamen jetzt auch noch die Aussagen der Dienstboten hinzu, die viel mehr gesehen hatten und wußten, als es Herr Swidrigailow annahm, wie es auch immer zu gehen pflegt. Marfa Petrowna war ganz bestürzt und ›von neuem erschlagen‹, wie sie uns selbst gestand, aber völlig von der Unschuld Dunjetschkas überzeugt. Gleich am nächsten Tag, einem Sonntag, fuhr sie direkt in die Domkirche und erflehte sich von der Mutter Gottes kniefällig und unter Tränen die Kraft, diese neue Prüfung zu ertragen und ihre Pflicht zu erfüllen. Direkt aus der Kirche, ohne jemand anderen zu besuchen, kam sie zu uns, erzählte uns alles, weinte bitterlich, umarmte Dunja voller Reue und bat sie um Verzeihung. Am selben Morgen begab sie sich unverzüglich, direkt von uns in alle Häuser der Stadt und stellte überall in den schmeichelhaftesten Ausdrücken, unter Tränen, Dunjetschkas Unschuld fest und sprach vom Adel ihrer Gefühle und ihres Betragens. Und noch mehr als das: sie zeigte allen den eigenhändigen Brief Dunjetschkas an Herrn Swidrigailow, las ihn vor und ließ von ihm sogar Abschriften anfertigen (was ich sogar für überflüssig halte). So mußte sie einige Tage hintereinander alle Menschen in der Stadt aufsuchen, so daß manche sich sogar gekränkt fühlten, weil sie erst nach den anderen kamen; auf diese Weise wurde eine Reihenfolge festgesetzt, so daß man sie in jedem Hause schon im voraus erwartete, und alle Menschen wußten, daß Marfa Petrowna an dem und dem Tage dort und dort den Brief vorlesen würde; zu jeder Vorlesung versammelten sich immer neue Leute, und auch solche, die den Brief schon einige Male wie bei sich, so auch bei ihren Bekannten gehört hatten. Ich meine, daß hierbei vieles, sehr vieles überflüssig war. Aber Marfa Petrowna ist einmal so. Jedenfalls stellte sie die Ehre Dunjetschkas vollkommen wieder her, und die ganze Gemeinheit dieser Sache fiel als unverwischbare Schmach auf ihren Mann, als den Hauptschuldigen, so daß er mir sogar leid tut; man hat diesen Wahnsinnigen doch zu streng bestraft. Dunja bekam sofort mehrere Aufforderungen, in verschiedenen Häusern Unterricht zu geben, doch sie schlug es ab. Alle begannen ihr überhaupt eine besondere Achtung zu zeigen. Dies alles trug hauptsächlich zu dem unerwarteten Ereignis bei, durch das sich jetzt unser ganzes Schicksal sozusagen wendet. Wisse nun, lieber Rodja, daß ein Freier um Dunja angehalten und daß sie ihm bereits ihr Jawort gegeben hat: dies beeile ich mich, Dir mitzuteilen. Obwohl diese Sache auch ohne Deinen Ratschlag zustande gekommen ist, wirst Du wohl weder mir noch Deiner Schwester Vorwürfe machen, denn Du kannst aus der Sache selbst ersehen, daß es uns unmöglich war, zu warten und die Entscheidung bis zum Eintreffen Deiner Antwort hinauszuschieben. Auch hättest Du das alles von Petersburg aus gar nicht beurteilen können. Es kam aber so. Er ist schon Hofrat, heißt Pjotr Petrowitsch Luschin und ist ein entfernter Verwandter von Marfa Petrowna, die die ganze Sache lebhaft gefördert hat. Es fing damit an, daß er durch sie den Wunsch äußerte, unsere Bekanntschaft zu machen; dann wurde er, wie es sich ziemt, empfangen, trank bei uns Kaffee und schickte schon am nächsten Tag einen Brief, in dem er sehr höflich seinen Antrag darlegte und um eine schnelle und bestimmte Antwort ersuchte. Er ist ein vielbeschäftigter Mensch und hat die Absicht, so fort nach Petersburg zu reisen, und will keinen Augenblick verlieren. Natürlich waren wir zuerst sehr bestürzt, denn es war allzu schnell und unerwartet gekommen. Wir überlegten uns die Sache gemeinsam den ganzen Tag. Er ist ein zuverlässiger, gut versorgter Mann, bekleidet zwei Stellungen und besitzt schon ein eigenes Kapital. Allerdings ist er schon fünfundvierzig Jahre alt, aber von recht angenehmem Außern und kann noch Frauen gefallen; er ist auch überhaupt ein höchst solider und anständiger Mann, nur ein wenig düster und vielleicht auch hochmütig. Es mag sein, daß das nur auf den ersten Blick so vorkommt. Ich bitte Dich schon jetzt, lieber Rodja, ihn, wenn Du ihn in Petersburg siehst, was sehr bald geschehen wird, nicht so voreilig und zu hitzig zu beurteilen, wie es Dir eigen ist, wenn Dir auf den ersten Blick etwas an ihm mißfällt. Ich sage das für jeden Fall, obwohl ich überzeugt bin, daß er auf Dich einen angenehmen Eindruck machen wird. Außerdem muß man an einen Menschen, den man wirklich kennenlernen will, ganz allmählich und mit der größten Vorsicht herantreten, um nicht in Fehler oder Vorurteile zu verfallen, die später sehr schwer zu korrigieren und zu beseitigen sind. Pjotr Petrowitsch ist aber, wenigstens nach vielen Anzeichen zu schließen, ein höchst ehrenwerter Mann. Gleich bei seinem ersten Besuch erklärte er uns, daß er ein nüchterner Mensch sei, doch in vielen Dingen, wie er sich selbst ausdrückte, ›die Überzeugungen unserer jüngsten Generation‹ teile und ein Feind von allen Vorurteilen sei. Er sagte noch vieles andere, denn er scheint etwas ehrgeizig zu sein und es zu lieben, daß man ihm zuhöre, aber das ist ja fast kein Fehler. Ich habe davon natürlich wenig verstanden, aber Dunja erklärte mir, daß er zwar nicht übermäßig gebildet, doch klug und anscheinend auch gut sei. Du kennst doch den Charakter Deiner Schwester, Rodja. Sie ist ein starkes, vernünftiges, geduldiges und großmütiges Mädchen, wenn auch etwas zu hitzig, was ich an ihr genau studiert habe. Natürlich liegt hier weder auf seiner noch auf ihrer Seite eine besondere Liebe vor, aber Dunja ist nicht nur ein kluges Mädchen, sondern auch ein edles Wesen, ein Engel, und wird es für ihre Pflicht halten, das Glück eines Mannes auszumachen, der auch seinerseits für ihr Glück sorgt; das letztere zu bezweifeln, haben wir zunächst keine zwingenden Gründe, obwohl die Sache, offen gestanden, doch etwas zu schnell zustandegekommen ist. Außerdem ist er ein klug berechnender Mann und wird natürlich selbst einsehen, daß sein eigenes Eheglück um so gesicherter sein wird, je glücklicher Dunjetschka mit ihm ist. Was aber irgendwelche Unebenheiten im Charakter, irgendwelche alte Angewohnheiten und sogar gewisse Gegensätze in den Ansichten (die sich ja auch in den glücklichsten Ehen nicht vermeiden lassen) betrifft, so hat mir Dunjetschka gesagt, daß sie sich darin auf sich selbst verläßt; daß kein Grund zur Beunruhigung vorliege und daß sie vieles tragen könne, unter der Bedingung, daß das Verhältnis auch in Zukunft ebenso ehrlich und gerecht bleibe. Das Außere eines Menschen ist aber oft trügerisch. Mir erschien er zum Beispiel im ersten Augenblick etwas schroff; das kann aber auch darauf beruhen, daß er gerade und offenherzig ist, und das ist auch sicher der Fall. Zum Beispiel schon bei seinem zweiten Besuche, als er das Jawort hatte, äußerte er sich im Gespräch, daß er sich schon früher, ehe er noch Dunja kennengelernt, vorgenommen hätte, ein ehrliches Mädchen, doch ohne Mitgift, zu heiraten, und zwar unbedingt eines, das schon in einer Notlage gewesen sei: er erklärte es damit, daß ein Mann, nach seiner Meinung, seiner Frau durch nichts verpflichtet sein müsse und daß es viel besser sei, wenn die Frau den Mann für ihren Wohltäter halte. Ich bemerke, daß er sich etwas weicher und liebenswürdiger ausdrückte, als ich es Dir hier schreibe, denn ich habe seine genauen Ausdrücke vergessen und erinnere mich nur des Sinnes; außerdem sagte er dies durch aus nicht mit Absicht, sondern ließ es nur in der Hitze des Gesprächs wohl ganz zufällig fallen, so daß er sich später bemühte, es zu vertuschen und zu mildern; und doch kam mir dies etwas schroff vor, und ich teilte diese Bedenken später auch Dunja mit. Aber Dunja antwortete mir sogar geärgert: ›Worte sind noch keine Taten‹, und hat natürlich recht. Vor ihrem Entschluß hatte Dunjetschka eine ganze Nacht nicht geschlafen und war, in der Meinung, daß ich schon schlafe, vom Bett aufgestanden und die ganze Nacht im Zimmer auf und ab gegangen; schließlich kniete sie nieder und betete lange und heiß vor dem Heiligenbilde; am anderen Morgen erklärte sie mir aber, daß sie sich entschlossen habe.

Ich habe schon erwähnt, daß Pjotr Petrowitsch jetzt nach Petersburg reist. Er hat dort viel zu tun und will in Petersburg ein öffentliches Bureau für Rechtsangelegenheiten eröffnen. Er beschäftigt sich schon seit langer Zeit mit der Führung von Zivilklagen und Prozessen und hat erst dieser Tage einen bedeutenden Prozeß gewonnen. Darum muß er auch nach Petersburg, weil er dort vor dem Senat einen wichtigen Prozeß zu führen hat. So kann er auch Dir sehr nützlich sein, lieber Rodja, sogar in jeder Beziehung, und für mich und Dunja steht es schon fest, daß Du vom heutigen Tage an Deine zukünftige Karriere ganz bestimmt beginnen wirst und Deine Zukunft für gesichert ansehen darfst. Oh, wenn dies doch in Erfüllung ginge! Das wäre so ein Gewinn, daß man es nur für eine Gnade des Allerhalters ansehen dürfte. Dunja träumt überhaupt nur davon. Wir haben schon riskiert, einige Worte darüber Pjotr Petrowitsch zu sagen. Er äußerte sich sehr vorsichtig und sagte, daß er, da er ohne einen Sekretär nicht auskommen könne, es natürlich vorziehen würde, das Gehalt einem Verwandten und nicht einem Fremden zu zahlen, wenn dieser Verwandte sich nur für den Posten eigne (Du solltest Dich nicht eignen!); zugleich äußerte er aber auch Bedenken, ob Deine Studien an der Universität Dir genug Zeit für die Arbeit in seinem Bureau übrig lassen würden. Damit endete auch das erste Gespräch; Dunja will jetzt an nichts anderes denken. Seit einigen Tagen ist sie wie im Fieber und hat schon ein ganzes Projekt ausgeheckt, daß Du in Zukunft Gehilfe und sogar Kompagnon von Pjotr Petrowitsch in seinen Rechtsangelegenheiten werden könntest, um so mehr, als Du Jus studierst. Ich bin mit ihr vollkommen einverstanden, Rodja, und teile alle ihre Pläne und Hoffnungen, da ich sie für durchaus erfüllbar halte; und trotz der jetzigen, wohl verständlichen Zurückhaltung Pjotr Petrowitschs (weil er Dich noch gar nicht kennt) ist Dunja fest überzeugt, daß sie alles durch ihren guten Einfluß auf ihren künftigen Mann durchsetzen wird; ja, davon ist sie fest überzeugt. Wir nahmen uns natürlich sehr in acht, Pjotr Petrowitsch auch nur etwas von unseren Hoffnungen und davon, daß Du sein Kompagnon werden sollst, zu verraten. Er ist ein nüchterner Mensch und könnte es vielleicht etwas trocken aufnehmen, da ihm dies alles als ein leerer Traum erschienen wäre. Ebenso haben wir, weder ich noch Dunja, auch nur ein Sterbenswörtchen von unserer festen Zuversicht fallen lassen, daß er uns helfen werde, Dich mit Geld zu unterstützen, solange Du noch auf der Universität bist; wir sprachen nicht davon, erstens, weil er mit der Zeit ganz von selbst kommt und weil er es uns doch sicher selbst, ohne viele Worte, anbieten wird (kann er denn Dunjetschka etwas abschlagen?), um so mehr, als Du seine rechte Hand im Bureau werden kannst und diese Unterstützung nicht als eine Wohltat, sondern als ein verdientes Gehalt bekommen kannst. So will es Dunjetschka einrichten, und ich bin mit ihr vollkommen einverstanden. Zweitens haben wir mit ihm darüber nicht gesprochen, weil ich durchaus möchte, daß Du bei der bevorstehenden Begegnung auf dem gleichen Fuße mit ihm stehen sollst. Als Dunja zu ihm mit Entzücken über Dich sprach, antwortete er, daß man jeden Menschen zuerst persönlich und aus nächster Nähe sehen müsse, um über ihn urteilen zu können, und daß er sich selbst vorbehalte, nachdem er Dich einmal kennengelernt, seine Meinung über Dich zu bilden. Weißt Du was, mein teuerer Rodja, mir scheint aus gewissen Erwägungen, (die sich übrigens gar nicht auf Pjotr Petrowitsch beziehen, sondern aus meinen eigenen, persönlichen Erwägungen, vielleicht sogar aus einer Altweiberlaune) – mir scheint, daß ich vielleicht besser tue, wenn ich nach ihrer Hochzeit allein, so wie jetzt, lebe, und nicht mit ihnen. Ich bin fest davon überzeugt, daß er so vornehm und zartfühlend sein wird, mich selbst einzuladen und aufzufordern, mich von meiner Tochter nicht zu trennen; wenn er darüber noch nicht gesprochen hat, so doch natürlich nur darum, weil es sich auch ohne Worte ganz von selbst versteht; ich werde aber die Einladung nicht annehmen. Ich habe in meinem Leben mehr als einmal gesehen, daß die Schwiegermütter den Männern nicht sehr sympathisch sind, ich aber will nicht nur keinem Menschen zur Last fallen, sondern auch vollkommen frei und unabhängig sein, solange ich noch ein Stück Brot und solche Kinder habe wie Dich und Dunjetschka. Wenn es geht, werde ich mich in Euerer Nähe niederlassen, denn das Angenehmste habe ich für den Schluß des Briefes aufgespart, Rodja: erfahre nun, mein lieber Freund, daß wir uns alle drei vielleicht sehr bald nach der fast dreijährigen Trennung wiedersehen und umarmen werden! Es ist schon festbeschlossen, daß ich und Dunja nach Petersburg reisen; wann, weiß ich noch nicht, jedenfalls aber sehr, sehr bald, vielleicht sogar in einer Woche. Alles hängt von den Anordnungen Pjotr Petrowitschs ab, der uns, sobald er sich in Petersburg umgesehen hat, Nachricht geben wird. Aus verschiedenen Gründen will er die Eheformalitäten möglichst beschleunigen und die Hochzeit womöglich in der Fastnachtswoche feiern, und wenn das infolge der kurzen Frist nicht mehr geht, dann gleich nach Mariä Himmelfahrt. Oh, mit welchem Glück werde ich Dich an mein Herz drücken! Dunja ist vor Freude, Dich wiederzusehen, ganz aufgeregt und hat einmal im Scherz gesagt, daß sie schon deswegen den Pjotr Petrowitsch heiraten würde. Sie ist ein Engel! Sie schreibt Dir diesmal nicht, bittet mich aber, Dir zu schreiben, daß sie mit Dir so viel zu sprechen hat, so viel, daß sie sich jetzt scheut, nach einer Feder zu greifen, – weil man in einigen Zeilen gar nichts sagen, sondern sich nur aufregen kann; sie läßt Dich herzlich umarmen und unzähligemal küssen. Obwohl wir uns vielleicht sehr bald sehen werden, werde ich Dir dieser Tage Geld, soviel ich kann, schicken. Jetzt, wo alle erfahren haben, daß Dunjetschka Pjotr Petrowitsch heiratet, ist auch mein Kredit gestiegen, und ich weiß auch ganz bestimmt, daß Afanassij Iwanowitsch mir jetzt auf meine Pension hin eine größere Summe vorstrecken wird, vielleicht sogar fünfundsiebzig Rubel, so daß ich Dir vielleicht fünfundzwanzig oder sogar dreißig Rubel schicken werde. Gern würde ich Dir noch mehr schicken, aber ich fürchte die Reisekosten; obwohl Pjotr Petrowitsch so gut war, einen Teil der Kosten unserer Reise nach Petersburg auf sich zu nehmen, – er hat uns nämlich selbst angeboten, unser Gepäck und den großen Koffer auf eigene Rechnung (irgendwie durch Bekannte) zu befördern, müssen wir aber doch auch mit dem Aufenthalt in Petersburg rechnen, wo man doch wenigstens in den ersten Tagen nicht ohne einen Pfennig Geld dasitzen darf. Ich habe übrigens schon alles mit Dunjetschka genau berechnet, und es kam dabei heraus, daß die Reise selbst nicht viel kosten wird. Bis zur Bahnstation sind es nur neunzig Werst, und wir haben uns schon für jeden Fall mit einem bekannten Bauern, der Fuhrmann ist, geeinigt; in der Eisenbahn fahren wir aber glücklich in der dritten Klasse. So ist es möglich, daß es mir gelingt, Dir nicht fünfundzwanzig, sondern ganz sicher dreißig Rubel zu schicken. Doch genug davon; zwei Bogen habe ich vollgeschrieben, und es bleibt kein Platz mehr übrig. Da hast Du unsere ganze Geschichte; nun, es hat sich ja eine Menge von Ereignissen angesammelt! Ich umarme Dich, mein teuerer Rodja, bis zu unserem baldigen Wiedersehen und schicke Dir meinen mütterlichen Segen. Liebe Deine Schwester Dunja, Rodja; liebe sie so, wie sie Dich liebt, und wisse, daß sie Dich grenzenlos, mehr als sich selbst liebt. Sie ist ein Engel, und Du, Rodja, Du bist unsere ganze Hoffnung und unsere ganze Zuversicht. Wenn Du bloß glücklich bist, so sind wir auch glücklich. Betest Du noch zu Gott, Rodja, wie früher und glaubst Du an die Güte unseres Schöpfers und Erlösers? Ich fürchte in meinem Herzen, ob Dich nicht schon der neueste moderne Unglaube angesteckt hat. Wenn dem so ist, so bete ich für Dich. Denke doch, Liebster, daran, wie Du in Deiner Kindheit, als Dein Vater noch lebte, auf meinen Knien Deine Gebete stammeltest und wie glücklich wir damals waren! Lebe wohl, oder besser: Auf Wiedersehen! Ich umarme Dich fest und küsse Dich unzählige Male.

Bis zum Grabe Deine

Pulcheria Raskolnikowa.«

Fast die ganze Zeit, als Raskolnikow diesen Brief las, gleich von Anfang an, war sein Gesicht feucht von Tränen; als er ihn aber zu Ende gelesen hatte, war es bleich, von einem Krampfe verzerrt, und ein schweres, galliges, böses Lächeln spielte um seine Lippen. Er ließ seinen Kopf auf das magere und abgenutzte Kissen fallen und dachte lange, lange nach. Mächtig schlug sein Herz, und mächtig regten sich seine Gedanken. Schließlich wurde es ihm in dieser gelben Kammer, die einem Schrank oder einem Koffer glich, zu dumpf und zu eng. Seine Blicke und Gedanken verlangten nach Freiheit und Raum. Er ergriff seinen Hut und ging hinaus, diesmal ohne Angst, jemand auf der Treppe zu begegnen; er hatte das ganz vergessen, er schlug die Richtung nach der Wassiljewski-Insel durch den W–schen Prospekt ein, als eile er in einer wichtigen Angelegenheit hin; er ging aber, wie immer, ohne auf den Weg zu achten, vor sich hinflüsternd und sogar laut mit sich selbst sprechend, wodurch er die Vorübergehenden in Erstaunen setzte. Viele hielten ihn für betrunken.

IV

Der Brief der Mutter hatte ihn müdegequält. Doch über den wichtigsten Punkt, den Kardinalpunkt, war er auch nicht einen Augenblick im Zweifel, selbst als er den Brief noch nicht zu Ende gelesen hatte. Die Hauptsache war in seinem Kopfe beschlossen, und zwar unumstößlich beschlossen: »Aus der Heirat wird nichts, solange ich lebe, und zum Teufel mit dem Herrn Luschin!«

»Denn die Sache ist ja ganz klar«, murmelte er vor sich hin, grinsend und über den Erfolg seines Entschlusses im voraus triumphierend. – »Nein, Mama, nein, Dunja, ihr werdet mich nicht anführen! ... Und sie entschuldigen sich noch, daß sie mich nicht um Rat gefragt und die Sache ohne mich entschieden haben! Das will ich meinen! Sie glauben, daß es nicht mehr zu zerreißen ist; wir wollen sehen, ob es geht, oder nicht geht! Was für eine kapitale Ausrede: ›Pjotr Petrowitsch ist so beschäftigt, so furchtbar beschäftigt, daß er nicht anders als mit der Post, beinahe mit der Eisenbahn heiraten kann!‹ Nein, Dunjetschka, ich sehe alles und weiß, worüber du mit mir so vielzu sprechen hast; ich weiß auch, worüber du dachtest, als du die ganze Nacht im Zimmer auf und ab gingst und vor dem Bilde der Mutter Gottes von Kasan betetest, das in Mamas Schlafzimmer steht. Der Gang nach Golgatha ist wohl schwer. Hm! ... Es ist also schon endgültig beschlossen: einen tüchtigen Geschäftsmann und Rationalisten belieben Sie zu heiraten, Awdotja Romanowna, der sein Kapital besitzt (der schonsein eigenes Kapital besitzt: das klingt solider und eindrucksvoller), der zwei Stellungen bekleidet, die Überzeugungen der jüngsten Generation teilt (wie Mama schreibt) und auch gut zu sein scheint, heiraten! Großartig! ... Großartig! ...

Es ist immerhin interessant, warum Mama mir das über ›die jüngste Generation‹ geschrieben hat: bloß zur Charakteristik der Person, oder mit einer weiteren Absicht: mich für Herrn Luschin günstig zu stimmen? O diese Schlauen! Interessant wäre es, auch noch diesen Umstand aufzuklären: wie weit ging ihre gegenseitige Aufrichtigkeit an jenem Tage, in jener Nacht und in der ganzen folgenden Zeit? Wurde alles in Wortegekleidet, oder hatte eine jede erraten, was die andere denkt und auf dem Herzen hat, so daß man es gar nicht laut auszusprechen brauchte und es sogar überflüssig wäre, ein Wort zu viel zu sagen? Wahrscheinlich verhielt es sich zum Teil so; das ist aus dem Brief zu ersehen: der Mama kam er ein wenigschroff vor, und die naive Mama kam sofort zu Dunja mit ihren Wahrnehmungen. Jene aber wurde natürlich böse und antwortete ihr ›geärgert‹. Das will ich meinen! Wer wird nicht böse auffahren, wenn die Sache auch ohne die naiven Fragen verständlich ist und wenn alles fest beschlossen ist, so daß man nicht mehr zu reden braucht! Und warum schreibt sie mir das: ›Liebe Deine Schwester Dunja, Rodja; liebe sie so, wie sie dich liebt‹? Hat sie nicht heimlich Gewissensbisse, daß sie sich entschlossen hat, die Tochter dem Sohne zum Opfer zu bringen? ›Du bist unsere Hoffnung, du bist unser Alles!‹ – O Mama! ...«

Er schäumte immer mehr vor Wut, und wäre ihm jetzt Herr Luschin begegnet, er hätte ihn wohl erschlagen!

»Hm! ... Es ist wahr« – fuhr er fort, den Wirbel der Gedanken, die in seinem Kopfe schwirrten, verfolgend –, »es ist wahr, daß man an einen Menschen, den man wirklich kennenlernen will, ganz allmählich und vorsichtig herantreten muß: aber Herr Luschin ist mir klar. Die Hauptsache: ›Ein tüchtiger und anscheinendguter Mensch‹; das ist doch kein Spaß: das Gepäck hat er auf sich genommen und befördert den großen Koffer auf eigene Kosten! Und der sollte nicht gut sein! Sie aber, die Brautund die Mutter mieten einen Bauern und fahren in einem mit Bastmatten gedeckten Wagen (ich bin ja selbst mit den dortigen Fuhrwerken gefahren)! Das macht doch nichts! Es sind ja nur neunzig Werst, ›und weiter fahren wir glücklich in der dritten Klasse‹ – an die tausend Werst. Ist auch durchaus vernünftig: ein jeder strecke sich nach seiner Decke; aber Sie, Herr Luschin, was denken Sie sich? Sie ist doch Ihre Braut! ... Und sollte es Ihnen unbekannt sein, daß die Mutter für diese Reise ihre Pension verpfändet? Natürlich, es ist ein Kompaniegeschäft, ein Unternehmen mit gleichen Einlagen und gleichen Vorteilen, darum müssen auch die Auslagen geteilt werden; Brot und Salz sind gemeinsam, den Tabak hat jeder für sich, wie es im Sprichworte heißt. Der tüchtige Geschäftsmann hat sie aber ein wenig beschummelt; das Gepäck kostet viel weniger als ihre Reise, vielleicht kostet es ihm überhaupt nichts. Sehen denn die beiden nichts, oder wollen sie es nicht sehen? Sie sind doch zufrieden, zufrieden! Und wenn man bedenkt, daß das nur die Blüten sind und die eigentliche Frucht erst nachkommt! Was ist dabei das wichtigste? Es ist nicht der Geiz, nicht die Knauserei, sondern der Ton des Ganzen. Das ist ja der künftige Ton nach der Hochzeit, eine Prophezeiung ... Ja, und die Mama, warum ist sie auf einmal so verschwenderisch? Mit was kommt sie nach Petersburg? Mit drei Rubeln oder mit zwei ›Banknoten‹, wie jene sagt ... die Alte ... hm! ... Wovon hofft sie später in Petersburg zu leben? Sie ist ja schon irgendwie dahinter gekommen, daß sie mit Dunja, selbst in der ersten Zeit nach der Verheiratung nicht leben können wird! Der liebe Mensch hat wohl auch hier irgendeine Bemerkung fallen lassen, hat einen Willen geäußert, obwohl Mama es mit beiden Händen zurückweist: ›Ich nehme die Einladung nicht an.‹ Was denkt sie sich, worauf hofft sie noch: auf die hundertzwanzig Rubel Pension mit Abzug der Schuld an Afanassij Iwanowitsch? Sie strickt warme Tüchlein, stickt Manschetten, ruiniert sich ihre alten Augen. Diese Tüchlein bringen ihr doch nur zwanzig Rubel im Jahre zu den hundertzwanzig Rubeln ein, das ist mir bekannt. Folglich hoffen sie doch auf die edle Gesinnung des Herrn Luschin: ›Er wird es selbst vorschlagen, wird mich darum bitten.‹ Ja, Schnecken! Und so geht es immer diesen Schillerschen schönen Seelen: bis zum letzten Augenblick schmücken sie einen Menschen mit Pfauenfedern, bis zum letzten Augenblick erhoffen sie das Beste und nicht das Schlimmste; und obwohl sie die Kehrseite der Medaille ahnen, werden sie nie die Dinge mit ihrem wahren Namen nennen; sie schrecken vor dem bloßen Gedanken zurück; sie wehren sich mit beiden Händen gegen die Wahrheit, so lange, bis der mit Pfauenfedern geschmückte Mensch sie eigenhändig hereinlegt. Es wäre auch interessant, zu wissen, ob der Herr Luschin Orden hat; ich möchte wetten, daß er einen Annenorden im Knopfloch hat und ihn zu den Diners bei Kaufleuten und Staatslieferanten anlegt. Vielleicht wird er ihn auch bei seiner Hochzeit tragen! Übrigens, hol' ihn der Teufel! ...

Nun, Mama ist einmal so, aber was denkt sich bloß Dunja? Liebe Dunjetschka, ich kenne Sie ja! Sie waren ja schon fast zwanzig Jahre alt, als wir uns zum letztenmal sahen: Ihren Charakter habe ich schon damals erfaßt. Da schreibt Mama, daß ›Dunjetschka vieles ertragen kann‹. Das habe ich gewußt. Das habe ich schon vor zweiundeinhalb Jahren gewußt und habe zweiundeinhalb Jahre lang daran gedacht, nämlich daß ›Dunjetschka vieles ertragen kann‹. Wenn Sie den Herrn Swidrigailow mit allen Folgen ertragen kann, so kann sie wohl wirklich vieles ertragen. Nun hat sie sich zugleich mit Mama eingeredet, daß man auch den Herrn Luschin ertragen könne, der die Theorie von den Vorzügen der Frauen predigt, die man aus den ärmsten Kreisen nimmt und die ihre Männer als ihre Wohltäter ansehen sollen, – der davon fast bei der ersten Zusammenkunft spricht. Nun, geben wir zu, daß er sich ›versprochen‹ hat, obwohl er ein nüchterner Mensch ist (also ist es wohl möglich, daß er sich gar nicht versprochen hat, sondern eben die Absicht hatte, alles sofort aufzuklären). Aber Dunja, Dunja! Der Mensch ist ihr doch klar, und sie wird mit dem Menschen leben müssen. Sie wird eher von Brot und Wasser leben, aber ihre Seele wird sie nicht verkaufen, wird ihre sittliche Freiheit für keinen Komfort hergeben; für ganz Schleswig-Holstein wird sie sie nicht hergeben, geschweige denn für Herrn Luschin. Nein, Dunja war ganz anders, soweit ich sie kannte, und ... und sie hat sich natürlich auch jetzt nicht verändert! ... Was ist da noch zu reden! Schwer sind die Swidrigailows zu tragen! Schwer ist es, sich für zweihundert Rubel sein ganzes Leben lang in allen Gouvernements als Gouvernante herumzutreiben, aber ich weiß, daß meine Schwester lieber unter die Neger zu einem Plantagenbesitzer oder unter die Letten zu einem Ostseedeutschen gehen wird, als daß sie ihren Geist und ihr sittliches Gefühl durch die Verbindung mit einem Menschen beschmutzt, den sie nicht achtet und mit dem sie nichts anfangen kann, – für alle Ewigkeit, bloß aus persönlichem Vorteil! Und wäre Herr Luschin sogar aus reinstem Golde oder aus einem einzigen Brillanten, auch dann würde sie niemals darauf eingehen, die legitime Mätresse des Herrn Luschin zu sein! Warum geht sie aber jetzt darauf ein? Wo ist der Haken, wo ist die Lösung? Die Sache ist ja klar: ihrer selbst, ihres Komforts wegen, selbst wenn es um ihr Leben ginge, wird sie sich nicht verkaufen; aber für einen anderen verkauft sie sich! Für einen geliebten, vergötterten Menschen wird sie sich verkaufen. Das ist eben der ganze: Witz für den Bruder, für die Mutter wird sie sich verkaufen! Alles wird sie verkaufen! Jawohl, bei einer solchen Gelegenheit werden wir auch unser sittliches Gefühl unterdrücken, unsere Freiheit, unsere Ruhe, selbst unser Gewissen, alles auf den Markt tragen. Soll nur das Leben zugrunde gehen! Wenn nur die von uns geliebten Wesen glücklich sind! Und noch mehr als das: wir werden unsere eigene Kasuistik erfinden, werden von den Jesuiten lernen und für eine Zeitlang uns selbst beruhigen und überzeugen, daß es so nötig sei und einem guten Zwecke diene. So sind wir eben, und alles ist so klar wie der Tag. Es ist klar, daß hier niemand anderes als Rodion Romanowitsch Raskolnikow im Spiele ist und sogar im Vordergrunde steht. Ja, natürlich, man kann ihn glücklich machen, man kann ihm seine Universitätsstudien bezahlen, ihn zum Kompagnon am Bureau machen und sein Schicksal sicherstellen; vielleicht wird er mit der Zeit ein reicher, allgemein geachteter Mensch sein, wird vielleicht auch als berühmter Mann sein Leben beschließen. Und die Mutter? Ja, hier handelt es sich doch um Rodja, um den teuren Rodja, den Erstgeborenen! Wie soll man nicht einem solchen Erstgeborenen selbst eine solche Tochter zum Opfer bringen! O ihr lieben und ungerechten Herzen! Herr Gott, wir werden vielleicht auch vor dem Lose Ssonjetschkas nicht zurückschrecken! Ssonjetschka, Ssonjetschka Marmeladowa, die ewige Ssonjetschka, solange die Welt steht! Das Opfer, haben Sie das Opfer genau ermessen? Wirklich? Geht es nicht über Ihre Kraft? Ist es zum Nutzen? Ist es vernünftig? Wissen Sie denn auch, Dunjetschka, daß Ssonjetschkas Los durchaus nicht schlechter ist als Ihr Los mit Herrn Luschin? ›Von Liebe ist hier nicht die Rede‹, schreibt Mama. ›Wenn aber nicht nur von Liebe und Achtung nicht die Rede ist, sondern, im Gegenteil, Abscheu, Verachtung und Ekel vorhanden sind, was dann? Dann geht es wieder darauf hinaus, daß man auf die Reinlichkeit sehen muß‹. Ist es vielleicht nicht so? Wissen Sie, wissen Sie, wissen Sie, was diese Reinlichkeit bedeutet? Wissen Sie, daß die Luschinsche Reinlichkeit dasselbe ist wie die Reinlichkeit Ssonjetschkas, vielleicht noch ärger, gemeiner, weil Sie, Dunjetschka, immerhin auf einen erhöhten Komfort rechnen, während es sich dort einfach um den Hungertod handelt! ›Teuer, teuer kommt diese Reinlichkeit zu stehen, Dunjetschka!‹ Nun, und wenn es einmal über Ihre Kraft geht und Sie bereuen? Wieviel Gram, Trauer, Flüche und heimliche Tränen wird es da geben, denn Sie sind doch nicht die Marfa Petrowna! Und was soll dann mit der Mutter geschehen? Sie ist ja auch jetzt schon unruhig und quält sich; aber später, wenn sie alles klar sieht? Und was wird mit mir geschehen? ... Was haben Sie sich tatsächlich von mir gedacht? Ich will nicht Ihr Opfer, Dunjetschka, ich will es nicht, Mama! Es wird nicht geschehen, solange ich lebe, es darf nicht geschehen! Ich nehme es nicht an!«

Er kam plötzlich zur Besinnung und blieb stehen.

»Es soll nicht geschehen? Und was willst du tun, damit es nicht geschieht? Wirst du es verbieten? Was für ein Recht hast du dazu? Was kannst du ihnen deinerseits versprechen, um dieses Recht zu beanspruchen? Dein ganzes Schicksal, deine ganze Zukunft ihnen zu weihen, wenn du die Studien absolviert und einen Posten bekommen hast? Das haben wir schon gehört, das ist das ›B‹, wo ist aber das ›A‹, was soll ich jetzt tun? Man muß doch jetzt gleich etwas unternehmen, verstehst du das? Was tust du aber jetzt? Du beutest sie doch nur aus. Sie bekommen ihr Geld doch nur als Vorschuß auf ihre Pension oder auf das Gehalt von einem Herrn Swidrigailow! Wie willst du sie denn vor den Swidrigailows, vor Afanassij Iwanowitsch Wachruschin schützen, du zukünftiger Millionär, du Zeus, der du ihr Schicksal in deiner Hand hast? Nach zehn Jahren? Nach zehn Jahren wird aber deine Mutter vor dem Tücherstricken, vielleicht auch vor Tränen erblindet sein; wird am Fasten zugrunde gehen; und die Schwester? Nun, denk dir mal aus, was mit deiner Schwester nach zehn Jahren oder in diesen zehn Jahren geschehen kann! Weißt du es?«

So quälte und reizte er sich mit diesen Fragen, sogar mit einer gewissen Wollust. Alle diese Fragen waren übrigens nicht neu und plötzlich, sondern alt und in Schmerzen gereift. Seit langem hatten sie ihn zu martern angefangen und ihm sein Herz zerrissen. Sein jetziger Gram war in ihm schon längst entstanden; er war gewachsen, hatte sich angesammelt, war in der letzten Zeit zur Reife gekommen, hatte sich konzentriert und die Gestalt einer schrecklichen, wilden und phantastischen Frage angenommen, die sein Herz und seinen Geist zerquälte und gebieterisch nach Lösung verlangte. Der Brief der Mutter hatte ihn wie ein Blitz getroffen. Es war ihm klar, daß er jetzt weder passiv trauern und leiden noch sich mit den Erörterungen, daß diese Fragen unlösbar seien, zermartern durfte, sondern unbedingt sofort und schnell etwas unternehmen mußte. Um jeden Preis mußte er sich zu etwas entschließen, ganz gleich wozu – oder ...

»Oder sich ganz vom Leben lossagen!« rief er plötzlich wie rasend. – »Das Schicksal, so wie es ist, ein für allemal hinnehmen, in sich alles ersticken, auf jedes Recht, zu handeln, zu leben und zu lieben, verzichten! ...«

»Verstehen Sie das, verstehen Sie das, sehr verehrter Herr, was das heißt, wenn man nirgends mehr hingehen kann?« Plötzlich fiel ihm die gestrige Frage Marmeladows ein. »Denn jeder Mensch muß doch irgendwo hingehen können ...«

Plötzlich fuhr er zusammen: ein Gedanke, ein gestriger Gedanke durchzuckte ihn wieder. Er fuhr aber nicht deshalb zusammen, weil ihn dieser Gedanke durchzuckte. Er wußte ja, er ahnte, daß der Gedanke ihn unbedingt »durchzucken« würde, und er erwartete ihn; der Gedanke war ja auch gar nicht von gestern. Der Unterschied bestand aber darin, daß der Gedanke vor einem Monat, selbst noch gestern ein bloßer Traum war, doch jetzt ... ihm nicht als Traum erschien, sondern in einer neuen, drohenden und ihm völlig unbekannten Gestalt ... und das kam ihm plötzlich zum Bewußtsein ... Er fühlte einen heftigen Schmerz im Kopf, und es wurde ihm finster vor den Augen.

Er sah sich schnell um, er suchte etwas. Er wollte sich hinsetzen und suchte eine Bank; er ging aber gerade durch den K–schen Boulevard. Etwa hundert Schritte vor ihm stand eine Bank. Er ging, so schnell er konnte, auf sie zu; doch unterwegs hatte er ein kleines Erlebnis, das für einige Minuten seine ganze Aufmerksamkeit fesselte.

Als er sich nach einer Bank umschaute, sah er etwa zwanzig Schritte vor sich ein weibliches Wesen gehen, schenkte ihm aber zuerst ebensowenig Beachtung wie allen Gegenständen, die an ihm vorbeihuschten. Es passierte ihm oft, daß er z.B. nach Hause ging und zuletzt gar nicht mehr wußte, welchen Weg er gegangen war; er war es schon gewöhnt. Doch an der Person, die vor ihm ging, war etwas so Seltsames, gleich auf den ersten Blick in die Augen Fallendes, daß er seine Aufmerksamkeit allmählich auf sie lenkte, – zuerst unwillkürlich und sogar ärgerlich, dann aber immer intensiver. Plötzlich kam ihm der Wunsch, sich klar zu machen, was an dieser Person so seltsam war? Erstens war sie wohl noch ein blutjunges Ding, sie ging in der Hitze mit bloßem Kopf, ohne Schirm und ohne Handschuhe und bewegte komisch die Hände. Sie hatte ein Kleidchen aus leichtem Seidenstoff an; es saß aber sehr merkwürdig, war kaum zugeknöpft und hinten an der Taille, wo der Rock anfängt, zerrissen; ein ganzer Fetzen hing herab. Ein kleines Tüchlein war um den bloßen Hals geworfen, doch es saß irgendwie schief. Außerdem ging das Mädchen mit unsicheren Schritten, stolpernd und sogar schwankend. Diese Begegnung erregte endlich die ganze Aufmerksamkeit Raskolnikows. Er holte das Mädchen vor der Bank ein; als sie aber die Bank erreichte, ließ sie sich sofort in eine Ecke fallen, warf den Kopf in die Lehne zurück und schloß die Augen, anscheinend in äußerster Erschöpfung. Als er sie näher betrachtete, sah er gleich, daß sie gänzlich betrunken war. Der Anblick war seltsam und erschütternd. Er glaubte sogar, daß er sich getäuscht habe. Er sah vor sich ein außerordentlich jugendliches Gesichtchen von sechzehn, vielleicht auch nur von fünfzehn Jahren, doch auffallend gerötet und gleichsam geschwollen. Das Mädchen schien nicht bei vollem Bewußtsein; es hatte ein Bein über das andere geschlagen und zeigte davon viel mehr, als anständig war; anscheinend wußte es kaum, daß es sich auf der Straße befand.

Raskolnikow setzte sich nicht, wollte auch nicht weggehen, sondern stand ratlos vor ihr. Dieser Boulevard ist auch sonst immer menschenleer, doch jetzt um die zweite Nachmittagstunde und bei dieser Hitze war fast kein Mensch da. Aber etwas abseits, etwa fünfzehn Schritte von der Bank, am Rande des Boulevards, war ein Herr stehen geblieben, dem man es ansah, daß er sich dem Mädchen mit irgendwelchen Absichten nähern wollte. Auch er hatte sie wohl schon aus der Ferne erblickt und einzuholen versucht, aber Raskolnikow war ihm in den Weg gekommen. Er warf ihm boshafte Blicke zu, bemühte sich übrigens, daß er es nicht merke, und wartete ungeduldig, daß der zerlumpte Kerl weggehe, damit er an die Reihe komme. Der Sachverhalt war klar. Der Herr war etwa dreißig Jahre alt, feist, wohlbeleibt, frisch wie Milch und Blut, mit rosigen Lippen und kleinem Schnurrbart und sehr elegant gekleidet. Raskolnikow ärgerte sich furchtbar; er spürte plötzlich Lust, diesen dicken Gecken irgendwie zu beleidigen. Er verließ für eine Weile das Mädchen und ging auf den Herrn zu.

»He, Sie, Swidrigailow! Was wollen Sie hier?« schrie er, die Fäuste ballend, während ein Lächeln seine Lippen verzerrte, auf die vor Wut Schaum getreten war.

»Was soll das heißen?« fragte der Herr streng, mit hochmütigem Erstaunen, die Stirne runzelnd.

»Packen Sie sich, heißt das!«

»Wie unterstehst du dich, Kanaille! ...«

Und er holte mit seiner Gerte aus. Raskolnikow stürzte sich mit den Fäusten auf ihn hin, ohne zu bedenken, daß der kräftige Herr auch mit zwei solchen, wie er, fertig werden könnte. Doch in diesem Augenblick packte ihn jemand fest von hinten, und zwischen ihnen erschien ein Schutzmann.

»Lassen Sie es, meine Herren, Sie dürfen sich an einem öffentlichen Platze nicht herumschlagen. Was wollen Sie? Wer bist du?« wandte er sich streng an Raskolnikow, als er seine zerlumpte Kleidung bemerkte.

Raskolnikow betrachtete ihn aufmerksam. Es war ein braves Soldatengesicht mit grauem Schnurrbart und Backenbart und einem klugen Blick.

»Sie brauche ich eben«, rief er, ihn bei der Hand packend. »Ich bin ehemaliger Student, Raskolnikow ... Das dürfen Sie auch erfahren«, wandte er sich an den Herrn. »Kommen Sie mal mit, ich will Ihnen etwas zeigen ...«

Er packte den Schutzmann bei der Hand und schleppte ihn zur Bank ...

»Hier, schauen Sie, ganz betrunken ist sie, soeben ging sie durch den Boulevard; wer weiß, was sie ist, sie sieht aber nicht so aus, als ob es ihr Gewerbe wäre. Wahrscheinlich hat man sie irgendwo betrunken gemacht und verführt ... zum erstenmal ... verstehen Sie? ... und hat sie dann laufen lassen. Schauen Sie nur, wie ihr Kleid zerrissen ist und wie es sitzt; man hat es ihr angezogen, nicht sie selbst, ungeschickte Männerhände haben es ihr angezogen. Das sieht man. Jetzt aber schauen Sie bitte her: dieser Geck, den ich eben schlagen wollte, – ich kenne ihn nicht und sehe ihn zum erstenmal; er hat sie auch soeben bemerkt, wie sie betrunken und bewußtlos ging, und hat furchtbar große Lust, sich an sie heranzumachen, sie abzufangen und, da sie in diesem Zustande ist, – irgendwohin zu verschleppen ... Es ist sicher so; verlassen Sie sich darauf, daß ich mich nicht täusche. Ich habe selbst gesehen, wie er sie beobachtete und verfolgte, ich kam ihm aber zuvor, und er wartete immer, daß ich weggehe. Da ist er eben ein wenig zurückgegangen, steht da und tut, als wolle er sich eine Zigarette drehen ... Wie machen wir es bloß, daß er sie nicht kriegt? Wie bringen wir sie nur nach Hause, – denken Sie mal nach!«

Der Schutzmann hatte sofort alles begriffen. Was der dicke Herr wollte, war ihm klar; nun blieb noch das Mädchen. Der alte Soldat beugte sich über sie, um sie genauer zu betrachten, und seine Züge nahmen den Ausdruck aufrichtigen Mitleides an.

»Ach, wie die einem leid tut!« sagte er kopfschüttelnd. »Sie ist ja noch ein Kind. Man hat sie verführt, das ist mal sicher. Hören Sie, Fräulein,« begann er sie zu rufen, »wo wohnen Sie denn?«

Das Mädchen öffnete die müden, verschlafenen Augen, blickte die Fragenden stumpf an und machte eine abwehrende Handbewegung.

»Hören Sie mal,« sagte Raskolnikow, »hier, nehmen Sie dies ... (er suchte in der Tasche und holte zwanzig Kopeken hervor; soviel hatte er noch), nehmen Sie eine Droschke und sagen Sie dem Kutscher, daß er sie nach Hause bringt. Wenn wir nur ihre Adresse erfahren könnten!«

»Fräulein, Sie, Fräulein!« begann der Schutzmann von neuem, nachdem er das Geld eingesteckt hatte. »Ich will gleich eine Droschke nehmen und Sie selbst nach Hause bringen. Wohin befehlen Sie? Wie? Wo geruhen Sie zu wohnen?«

»Fort! ... Die lassen einen nicht in Ruhe!« murmelte das Mädchen und winkte wieder mit der Hand ab.

»Ach, ach, wie häßlich! Sie sollten sich doch schämen, Fräulein! Diese Schande!« Er schüttelte wieder mißbilligend, mitleidig und entrüstet den Kopf. »Eine schwierige Sache!« wandte er sich an Raskolnikow und musterte ihn wieder vom Kopf bis zu den Füßen. Er kam ihm wohl merkwürdig vor: ist so zerlumpt, hat aber Geld hergegeben!

»Haben Sie das Fräulein weit von hier gefunden?« fragte er ihn.

»Ich sage Ihnen ja: sie ging schwankend vor mir her, hier auf diesem Boulevard. Wie sie die Bank erreichte, da fiel sie auch gleich hin.«

»Ach, welch eine Schande macht sich jetzt in der Welt breit, mein Gott! Ein so unerfahrenes Ding und schon betrunken! Man hat sie verführt, das steht fest! Auch das Kleidchen ist zerrissen ... Wie liederlich und zuchtlos sind jetzt die Leute! Vielleicht ist sie auch aus anständiger Familie, die aber verarmt ist ... Heute gibt es viele von dieser Art. Dem Aussehen nach ist sie was Besseres, ganz wie ein Fräulein ...« Und er beugte sich wieder über sie.

Vielleicht hatte er auch selbst solche heranwachsenden Töchter, »ganz wie Fräuleins, wie was Besseres«, mit Gewohnheiten von wohlerzogenen jungen Mädchen und nachgeäfften modischen Manieren ...

»Die Hauptsache ist, daß man sie vor diesem Schuft da rettet«, sagte Raskolnikow besorgt. »Warum soll auch er ihr noch Schande antun! Man sieht ihm ja an, was er gerne möchte. Sie sehen, daß er gar nicht weggehen will!«

Raskolnikow sprach laut und zeigte mit der Hand auf den Mann. Jener hörte es und wollte wieder auffahren, überlegte es sich aber und beschränkte sich auf einen verächtlichen Blick. Dann ging er noch an die zehn Schritte weiter und blieb wieder stehen.

»Das kann man wohl machen, daß er sie nicht kriegt«, antwortete der Unteroffizier nachdenklich. »Wenn sie mir nur sagen wollte, wohin ich sie bringen soll, sonst ... Fräulein, Sie, Fräulein!« Er beugte sich wieder über sie.

Jene machte plötzlich ihre Augen weit auf, blickte aufmerksam um sich, als hätte sie etwas verstanden, erhob sich von der Bank und ging in dieselbe Richtung zurück, aus der sie gekommen war.

»Pfui, diese Schamlosen, sie lassen einen gar nicht in Ruhe!« sagte sie, mit der gleichen abwehrenden Handbewegung.

Sie ging sehr schnell, doch wie früher schwankend. Der Geck folgte ihr, aber durch eine andere Allee, ohne sie aus den Augen zu lassen.

»Seien Sie unbesorgt, ich werde es nicht zulassen«, sagte der Schutzmann energisch und folgte den beiden.

»Ach, wie sich jetzt die üblen Sitten breit machen!« wiederholte er laut und seufzte.

Raskolnikow fühlte sich plötzlich wie von einer Schlange gebissen: in einem Nu war er verändert.

»Sie, hören Sie, he!« rief er dem Schutzmann nach.

Jener wandte sich um.

»Lassen Sie es! Was geht es Sie an? Geben Sie's auf! Soll er sich nur amüsieren (er zeigte auf den Gecken). Was geht Sie das an?«

Der Schutzmann verstand ihn nicht und starrte ihn an. Raskolnikow lachte.

»Ach!« sagte der Schutzmann, winkte mit der Hand und folgte dem Gecken und dem Mädchen. Er hielt Raskolnikow wohl für einen Verrückten oder für etwas noch Schlimmeres.

»Meine zwanzig Kopeken hat er mitgenommen«, sagte Raskolnikow böse, als er allein geblieben war. »Soll er auch von dem anderen etwas nehmen und ihm das Mädchen überlassen; damit wird es auch enden ... Was habe ich mich auch mit meiner Hilfe hineinmischen brauchen? Kann ich denn helfen? Habe ich überhaupt ein Recht, zu helfen? Sollen sie doch einander bei lebendigem Leibe auffressen, was geht mich das an? Und wie wagte ich es, ihm diese zwanzig Kopeken zu geben? Gehören sie denn mir?«

Trotz dieser seltsamen Worte wurde es ihm sehr schwer zumute. Er setzte sich auf die verlassene Bank. Seine Gedanken waren zerstreut ... Es fiel ihm überhaupt schwer, jetzt an irgend etwas zu denken. Er wollte sich vollkommen vergessen, alles vergessen, später erwachen und alles von neuem beginnen ...

»Das arme Mädchen!« sagte er sich mit einem Blick auf die nun leere Ecke der Bank. »Sie wird zu sich kommen, wird etwas weinen, dann wird es die Mutter erfahren ... Zuerst wird sie sie schlagen, dann ordentlich mit Ruten züchtigen und dann vielleicht mit Schande aus dem Hause jagen ... Und wenn sie sie nicht aus dem Hause jagt, so erfährt es irgendeine Darja Franzowna, und mein Mädchen fängt an, sich auf den Straßen herumzutreiben ... Dann kommt sie bald ins Krankenhaus (so geht es immer denen, die bei sehr achtbaren Müttern leben und hinter ihren Rücken auf Abenteuer ausgehen), und dann ... dann kommt wieder das Krankenhaus ... Schnaps ... Kneipen ... und wieder das Krankenhaus ... nach zwei oder drei Jahren ist sie ein Krüppel, sie hat also im ganzen neunzehn oder achtzehn Jahre zu leben ... Habe ich denn nicht auch solche gesehen? Und wie kamen sie dazu? Alle auf diesem selben Wege ... Pfui! Sollen sie nur! Man sagt, das sei ganz in Ordnung, man sagt, so ein Prozentsatz müsse jedes Jahr ... wohl zum Teufel gehen, um die anderen zu erfrischen und sie nicht zu stören! Ein Prozentsatz? Was sie doch für nette Wörtchen haben: so beruhigend und so wissenschaftlich. Es heißt einmal: Prozentsatz, also braucht man keine weiteren Sorgen zu haben. Wäre es ein anderes Wort, dann ... dann wäre es vielleicht beunruhigend ... Und was, wenn auch Dunjetschka mal in einen Prozentsatz gerät? ... Und wenn nicht in diesen, so in einen andern ...

Wohin gehe ich aber?« fragte er sich plötzlich. »Seltsam. Ich wollte doch irgendwohin. Nachdem ich den Brief gelesen hatte, ging ich aus dem Hause ... Auf die Wasiljewskij-Insel zu Rasumichin wollte ich, jetzt weiß ich es. Wozu aber? Wie kam mir gerade jetzt der Gedanke, zu Rasumichin zu gehen? Das ist doch merkwürdig.«

Er staunte über sich selbst. Rasumichin war einer von seinen früheren Universitätskollegen. Es ist zu bemerken, daß Raskolnikow, als er auf der Universität war, fast keine Freunde hatte, allen aus dem Wege ging, niemand besuchte und auch ungern jemand bei sich empfing. Bald wandten sich auch die anderen von ihm ab. Er nahm keinen Anteil an den allgemeinen Versammlungen, Gesprächen oder Unterhaltungen. Er arbeitete mit großem Fleiß, ohne sich zu schonen; man achtete ihn deswegen, doch niemand liebte ihn. Er war sehr arm und zugleich hochmütig, stolz und verschlossen, als trüge er ein Geheimnis in sich. Manchen seiner Kollegen kam es vor, daß er auf sie alle, wie auf Kinder, von oben herabsehe, als hätte er sie alle wie in der Entwicklung, so auch im Wissen und in den Überzeugungen überholt und als betrachtete er ihre Überzeugungen und Interessen als etwas Minderwertiges.

Dem Rasumichin hatte er sich aber aus irgendeinem Grunde etwas näher angeschlossen, oder genauer gesagt, er war ihm gegenüber mitteilsamer und aufrichtiger. Es war übrigens auch unmöglich, sich zu Rasumichin irgendwie anders zu verhalten. Rasumichin war ein ungewöhnlich lustiger und mitteilsamer Bursche, von einer Güte, die an Einfalt grenzte. Unter dieser Einfalt steckte aber auch viel Tiefe und Würde. Die besten seiner Kameraden fühlten das und liebten ihn. Er war gar nicht dumm, wenn er auch zuweilen einen einfältigen Eindruck machte. Sein Außeres war sehr eindrucksvoll: er war groß, hager, immer schlecht rasiert und schwarzhaarig. Zuweilen machte er Skandal und galt als stark. Eines Nachts hatte er in lustiger Gesellschaft mit einem Hiebe einen hünenhaften Hüter der öffentlichen Ordnung niedergeschlagen. Trinken konnte er unendlich viel, konnte sich aber auch des Trinkens enthalten; manchmal stellte er Dinge an, die ans Unerlaubte grenzten, er konnte aber auch nichts anstellen. Rasumichin war auch in der Beziehung bemerkenswert, daß ihn kein Mißerfolg entmutigte und keine noch so widrigen Verhältnisse zu erdrücken vermochten. Er war imstande, selbst auf einem Dache zu wohnen, höllischen Hunger und jede Kälte zu leiden. Er war sehr arm und verschaffte sich selbst seinen Unterhalt durch irgendwelche Arbeiten. Er kannte eine Menge Quellen, um aus ihnen zu schöpfen, natürlich durch ehrliche Arbeit. Einmal heizte er einen ganzen Winter seine Kammer nicht und behauptete, daß es so angenehmer sei, weil man in der Kälte besser schlafen könne. Zurzeit war er gezwungen, die Universität zu verlassen, doch nur vorübergehend, und bemühte sich aus allen Kräften, seine Verhältnisse zu bessern, um das Studium fortsetzen zu können. Raskolnikow hatte ihn seit vier Monaten nicht besucht, und Rasumichin kannte Raskolnikows Wohnung nicht. Vor zwei Monaten waren sie sich einmal zufällig auf der Straße begegnet, Raskolnikow hatte sich aber abgewandt und war auf die andere Straßenseite hinübergegangen, damit jener ihn nicht sehe. Rasumichin hatte ihn zwar gesehen, ging aber vorbei, weil er den Freundnicht belästigen wollte.

V

»In der Tat, ich hatte doch vor kurzem die Absicht, Rasumichin zu bitten, daß er mir eine Arbeit oder Stunden verschaffe ...« erinnerte sich Raskolnikow, »womit kann er mir aber jetzt helfen? Angenommen, daß er mir Stunden vermittelt, angenommen, daß er mit mir die letzte Kopeke teilt, wenn er überhaupt eine Kopeke hat, so daß ich mir sogar ein Paar Stiefel kaufen und meinen Anzug instandsetzen lassen kann ... hm ... Nun, und weiter? Was fange ich mit den Fünfkopekenstücken an? Brauche ich denn jetzt das? Es ist einfach lächerlich, daß ich zu Rasumichin wollte ...«

Die Frage, warum er zu Rasumichin aufgebrochen war, beunruhigte ihn mehr, als er sich dessen bewußt war; mit Unruhe suchte er in dieser anscheinend so gewöhnlichen Handlung einen unheilkündenden Sinn.

»Wie, will ich denn alles durch Rasumichin allein in Ordnung bringen, habe ich denn in Rasumichin den letzten Ausweg gefunden?« fragte er sich erstaunt.

Er dachte nach und rieb sich die Stirn, und plötzlich, ganz von selbst und unerwartet, kam ihm nach langen Überlegungen ein sehr seltsamer Gedanke.

»Hm ... zu Rasumichin«, sagte er sich plötzlich ganz ruhig, als sei es sein endgültiger Entschluß, »zu Rasumichin werde ich natürlich gehen, doch ... nicht jetzt ... Ich will zu ihm ... am anderen Tage nach demgehen, wenn es schon vorbei ist und wenn alles sich gewendet hat ...«

Plötzlich kam er zur Besinnung.

» Nach dem«, rief er aus, von der Bank aufspringend: »Ja, wird denn das überhaupt sein? Wird es denn wirklich sein?«

Er verließ die Bank und ging, oder rannte vielmehr fort; er wollte schon nach Hause zurückkehren, doch dieser Gedanke, nach Hause zu gehen, erschien ihm plötzlich widerlich: dort, in der Ecke, in jenem schrecklichen Schrank war dasschon seit mehr als einem Monat gereift. Er ging nicht nach Hause, sondern aufs Geratewohl und ohne Ziel.

Sein nervöses Zittern ging in ein fieberhaftes über; er fühlte sogar Schüttelfrost; trotz dieser Hitze war es ihm kalt. Er begann, mit Anstrengung, beinahe unbewußt, aus irgendeiner inneren Notwendigkeit heraus, alle Gegenstände, denen er begegnete, zu betrachten, als suche er angestrengt nach Zerstreuung; dies wollte ihm aber nicht recht gelingen, und er versank jeden Augenblick wieder in seine Gedanken. Und wenn er zusammenfuhr, den Kopf hob und um sich blickte, so vergaß er sofort alles, was er sich eben gedacht hatte, selbst den Weg, den er gegangen war. Auf diese Weise durchschritt er die ganze Wassiljewskij-Insel, kam zur Kleinen Newa heraus, passierte die Brücke und wandte sich den Inseln zu. Das Grün und die frische Natur erfreuten anfangs seine müden Augen, die an den Staub, Kalk und an die großen, erdrückenden und beengenden Häuser der Stadt gewöhnt waren. Hier gab es weder die Schwüle, noch den Gestank, noch die Kneipen. Bald gingen aber diese neuen angenehmen Empfindungen in krankhafte und aufreizende über. Zuweilen blieb er vor einem im Grün liegenden, reichgeschmückten Landhause stehen, blickte durch den Zaun und sah in der Ferne auf den Balkonen und Terrassen ausgeputzte Frauen sitzen und im Garten Kinder herumlaufen. Besonders interessierten ihn die Blumen; auf ihnen verweilten seine Blicke am längsten. Er begegnete auch prunkvollen Equipagen, Reitern und Amazonen; er begleitete sie interessiert mit den Augen und vergaß sie, noch ehe sie seinen Blicken entschwanden. Einmal blieb er stehen und zählte sein Geld nach; er hatte noch an die dreißig Kopeken. »Zwanzig bekam der Schutzmann, drei – Nastasja für den Brief, also habe ich den Marmeladows gestern siebenundvierzig oder fünfzig Kopeken gegeben«, sagte er sich, nachdem er aus irgendeinem Grunde diese Berechnung angestellt hatte, vergaß aber gleich, wozu er das Geld aus der Tasche hervorgeholt hatte. Es fiel ihm wieder ein, als er an einer Speiseanstalt, einer Art Garküche vorbeiging, und er fühlte plötzlich Hunger. Er kehrte ein, trank ein Glas Schnaps und nahm dazu eine gefüllte Pastete. Diese aß er später im Gehen zu Ende. Er hatte seit sehr langer Zeit keinen Schnaps getrunken, und die Wirkung trat sofort ein, obwohl er nur ein einziges Glas getrunken hatte. Seine Füße wurden schwer, und er wollte schlafen. Er schlug den Weg nach Hause ein, als er aber schon die Petrowskij-Insel erreicht hatte, blieb er völlig erschöpft stehen, bog vom Wege ins Gebüsch ab, fiel ins Gras nieder und schlief sofort ein.

Bei krankhaften Zuständen pflegen die Träume äußerst lebhaft und überzeugend zu sein und der Wirklichkeit täuschend ähnlich zu sehen. Dabei entsteht oft ein ganz ungeheuerliches Bild, aber alle Umstände und der ganze Vorstellungsprozeß sind dabei so natürlich und glaubhaft und enthalten so viele unerwartete, feine und in wunderbarem künstlerischem Gleichgewicht zu dem ganzen Bilde stehende Einzelheiten, wie sie dem Träumenden im wachen Zustande nie einfallen könnten, selbst wenn er ein Künstler wie Puschkin oder Turgenjew wäre. Solche krankhaften Träume prägen sich immer tief ins Gedächtnis ein und haben eine starke Wirkung auf einen kranken und bereits erregten Organismus.

Raskolnikow sah einen schrecklichen Traum. Er sah sich in seine Jugend, in seine kleine Heimatstadt versetzt. Er ist sieben Jahre alt und geht an einem Feiertag abends mit seinem Vater in der Vorstadt spazieren. Der Tag ist schwül, es dämmert, die Landschaft ist genau so, wie er sie in seiner Erinnerung bewahrt hat, sie ist sogar viel deutlicher gezeichnet als in der Erinnerung. Das ganze Städtchen ist leicht zu überblicken, in der Umgebung ist kein Strauch oder Baum zu sehen, nur am fernen Horizonte sieht man etwas Dunkles – ein Wäldchen. Einige Schritte hinter dem letzten Gemüsegarten des Städtchens steht eine Branntweinschenke. Sie machte auf ihn, sooft er mit seinem Vater vorüberging, den unangenehmsten Eindruck, sie flößte ihm sogar Schrecken ein. Eine johlende Menge stand immer um die Schenke herum, man schrie, lachte und sang mit heiseren, trunkenen Stimmen, und immer gab es da Schlägereien. Man begegnete hier schrecklich versoffenen Individuen, und er schmiegte sich jedesmal zitternd an seinen Vater. Dicht an der Schenke geht eine Fahrstraße vorbei, sie ist staubig, und der Staub ist immer schwarz. Die Straße schlängelt sich etwa dreihundert Schritte von der Schenke entfernt um den städtischen Friedhof. Auf dem Friedhof steht eine Kirche aus Backstein mit einer grünen Kuppel. Diese Kirche pflegte er mit seinen Eltern zweimal jährlich zu den Seelenmessen für seine Großmutter zu besuchen, die vor vielen Jahren gestorben war und die er nicht gekannt hatte. Sie nahmen dann jedesmal in einer weißen Serviette eine weiße Schüssel mit dem Totengericht mit; es bestand aus süßem Reisbrei, in den Rosinen in Form eines Kreuzes hineingedrückt waren. Er liebte diese Kirche und die alten Heiligenbilder, die zum großen Teil keine Beschläge hatten, und den alten Priester mit dem zitternden Kopf. Neben dem Grabstein der Großmutter war das kleine Grab seines Bruders, der im Alter von sechs Monaten gestorben war und den er gleichfalls nicht gekannt hatte; es wurde ihm aber gesagt, er hätte einmal einen kleinen Bruder gehabt, und er bekreuzte sich jedesmal voll Andacht und küßte das Grab. Und da träumte ihm, er gehe mit seinem Vater diese Straße zum Friedhof an der Schenke vorbei. Er hat den Arm des Vaters umklammert und blickt ängstlich zu der Schenke hinüber. Sie interessiert ihn heute mehr als sonst; es scheint da ein Volksfest zu sein, es wimmelt von geputzten Weibern, Bauern und allem möglichen Gesindel. Alle sind betrunken und alle singen; vor der Schenke steht ein Wagen. Es ist einer von jenen großen Leiterwagen, die gewöhnlich mit schweren Lastgäulen bespannt werden und zum Transport von Schnapsfässern und anderen Waren dienen. Er liebte es, solchen langmähnigen und dickbeinigen Lastgäulen zuzuschauen, wie sie ruhig und sicher ganze Berge schleppen und sich dabei gar nicht abmühen, als spürten sie die schwere Last überhaupt nicht. Aber jetzt ist diesem schweren Wagen ein kleines schwaches hellbraunes Bauernpferd vorgespannt, eines von denen, die, wie er es oft gesehen hatte, mit einem Wagen Heu oder Brennholz stecken bleiben, besonders, wenn der Wagen in Kot gerät; in solchen Fällen pflegen die Bauern das Pferd erbarmungslos zu peitschen, die Peitschenhiebe fallen oft auf die Schnauze und auf die Augen; sooft er eine solche Szene beobachtet hatte, waren ihm Tränen in die Augen getreten, und die Mutter hatte ihn vom Fenster wegführen müssen. In die Menge kommt plötzlich Bewegung: aus der Schenke tritt ein Trupp gänzlich besoffener, riesengroßer, schreiender und singender Bauern, sie tragen rote und blaue Kittel, ihre Filzmäntel sind lose um die Schultern geworfen, und sie halten Balalaikas in der Hand. »Setzt euch alle, alle!« schreit ein junger Bauer mit fleischigem Hals und ziegelrotem Gesicht. »Ich fahre euch alle! Setzt euch nur!« Ringsum erschallt Gelächter, man ruft ihm zu:

»So eine Schindmähre soll uns schleppen?!«

»Bist du verrückt, Mikolka? Ein solches Pferd in diesen Wagen zu spannen!«

»Die Stute ist ja mindestens zwanzig Jahre alt!«

»Setzt euch nur, ich fahre euch alle!« schreit Mikolka, in den Wagen springend und die Zügel ergreifend. »Matwej ist vorhin mit dem braunen Hengst fortgefahren, und diese Mähre da ärgert mich nur, ich möchte sie gerne totschlagen, sie frißt ihr Futter ganz umsonst. Ich sage, setzt euch! Ich werde Galopp fahren! Ja, im Galopp!« Und mit diesen Worten ergreift er die Peitsche und bereitet sich auf den Genuß vor, die Stute zu schlagen.

»Setzt euch nur! Warum denn nicht?« johlt man in der Menge. »Ihr hört doch: er wird im Galopp fahren.«

»Die Braune ist wohl seit zehn Jahren nicht Galopp gelaufen.«

»Wird schon laufen!«

»Kein Erbarmen! Nehmt alle eure Peitschen her!«

»Hallo, haut los!«

Alle besteigen Mikolkas Wagen, man lacht und reißt Witze. Sechs Mann stehen schon auf dem Wagen, es ist aber noch Platz da. Man nimmt auch ein dickes rotbackiges Weib mit. Sie trägt ein grellrotes Kattunkleid, und ihr Kopfputz ist mit Glasperlen bestickt; sie knackt Nüsse und grinst. Auch die Zuschauer lachen: wie sollte man da nicht lachen: diese Schindmähre soll den schweren Wagen ziehen! Zwei Burschen im Wagen ergreifen ihre Peitschen, um Mikolka zu helfen. Das Pferd zieht mit allen Kräften an, es wird aber kein Galopp, es vermag den schweren Wagen selbst im Schritt nicht von der Stelle zu bringen, es keucht, schwankt und duckt sich unter den niederprasselnden Schlägen der drei Peitschen. Die Leute im Wagen und auf der Straße lachen wie toll. Mikolka gerät in Wut und schlägt immer wahnsinniger los, als wollte er wirklich das Pferd in Galopp bringen.

»Brüder, laßt auch mich herauf!« ruft ein Bursche aus der Zuschauermenge, der gleichfalls Appetit bekommen hat.

»Setzt euch nur! Setzt euch alle!« schreit Mikolka. »Sie wird euch alle ziehen. Ich peitsche sie tot!« Und es regnet wieder Peitschenhiebe; in seiner Raserei weiß er nicht mehr, womit er schlagen soll.

»Papa, Papa!« schreit der Knabe. »Papa, was tun die Leute? Papa, sie schlagen das arme Pferdchen!«

»Gehen wir, gehen wir,« sagt der Vater, »die Betrunkenen treiben ihre Possen. Sieh nicht hin!« Er will ihn wegführen, der Knabe reißt sich aber von ihm los und läuft ganz außer sich zum Pferd. Dem armen Tier geht es schon sehr schlecht: es ringt um Atem, bleibt stehen, zieht wieder an und fällt beinahe um.

»Peitscht sie tot!« schreit Mikolka. »Jetzt ist mir alles gleich. Ich schlage sie tot!«

»Bist du denn kein Christenmensch?« ruft ein alter Bauer. »Du Teufel!«

»Hat man es denn schon je gesehen, daß ein solches Pferd eine solche Last schleppen soll?« sagt ein anderer.

»Du wirst es noch umbringen!« schreit ein dritter.

»Ruhig! Es ist mein Gut! Was ich will, das tu ich. Setzt euch noch herauf! Alle! Ich will, daß sie Galopp läuft!«

Plötzlich ertönt schallendes Gelächter: die Stute hält es nicht länger aus und beginnt in ihrer Wehrlosigkeit auszuschlagen. Selbst der alte Bauer lacht mit; es ist in der Tat zu lächerlich: eine solche Schindmähre wagt es noch, auszuschlagen!

Zwei Burschen nehmen je eine Peitsche und laufen zu dem Pferd, um es von den Seiten zu schlagen, der eine rechts, der andere links.

»Schlagt sie auf die Schnauze, auf die Augen!« schreit Mikolka. »Auf die Augen!«

»Singt doch, Brüder!« schreit jemand im Wagen, und sofort ertönt ein ausgelassenes Lied, Schellen rasseln, beim Refrain wird gepfiffen. Das junge Weib knackt Nüsse und grinst.

... Der Knabe läuft neben dem Pferde her, er sieht, wie es auf die Augen, mitten auf die Augen geschlagen wird! Er weint. Sein Herz zuckt zusammen. Tränen laufen ihm aus den Augen. Ein Peitschenhieb trifft sein Gesicht, doch er fühlt ihn nicht; er ringt die Hände, er schreit, er wendet sich zu dem alten Bauer, der den Kopf schüttelt und das Ganze zu verurteilen scheint. Eine Frau nimmt ihn bei der Hand, um ihn wegzuführen, aber er reißt sich los und rennt wieder zu dem Pferd. Dieses ist schon halbtot und schlägt wieder aus.

»Daß dich der Teufel!« schreit Mikolka voller Wut; er wirft die Peitsche weg und holt aus dem Innern des Wagens eine lange dicke Deichselstange, er ergreift sie mit beiden Händen und schwingt sie über der Stute.

»Er bringt sie um!« rufen die Zuschauer.

»Er schlägt sie tot!«

»Es ist mein Gut!« Mikolka läßt die schwere Stange mit aller Wucht auf das Pferd niedersausen. Ein dumpfer Schlag ertönt.

»Peitscht sie, peitscht! Was steht ihr da?« klingt es aus der Menge.

Mikolka holt zu einem neuen Schlage aus, und die Stange saust wieder auf den Rücken der unglücklichen Stute nieder. Sie setzt sich auf die Hinterbeine, erhebt sich wieder und macht den letzten Versuch, den Wagen vorwärts zu ziehen, doch die Hiebe der sechs Peitschen prasseln auf sie von neuem, und die Deichsel saust zum dritten-, dann zum viertenmal nieder. Mikolka ist ganz wild, weil es ihm nicht gelungen ist, die Stute gleich beim ersten Schlag zu töten.

»Die ist zäh!« ertönt es in der Menge.

»Gleich fällt sie um, Brüder, gleich ist sie hin!« sagt ein Kenner.

»Nehmt doch eine Axt! Macht rascher ein Ende!« schlägt ein dritter vor.

»Daß dich die Mücken fressen!« brüllt Mikolka. Dann wirft er die Deichsel fort und nimmt eine schwere eiserne Brechstange. »Vorsicht!« und er läßt das Eisen mit voller Wucht auf seine arme Stute niedersausen. Das Tier taumelt, duckt sich und macht Anstalten, wieder zu ziehen, aber die Brechstange prallt ihr wieder auf den Rücken. Das Pferd stürzt, als hätte man ihm zugleich alle vier Beine entzweigeschlagen.

»Macht ein Ende!« schreit Mikolka und springt wie toll vom Wagen. Einige betrunkene Burschen mit roten Gesichtern ergreifen, was sie gerade finden – Peitschen, Stöcke und eine Deichsel – und eilen zu der verendenden Stute. Mikolka pflanzt sich an der Seite auf und bearbeitet mit seiner Eisenstange den Rücken. Die Stute reckt ihren Kopf, seufzt schwer auf und verendet.

»Nun hat er ihr den Garaus gemacht!« sagt jemand.

»Warum wollte sie auch nicht Galopp laufen!«

»Es ist mein Gut!« schreit Mikolka. Er hat noch immer die Eisenstange in der Hand, seine Augen sind blutunterlaufen. Es scheint ihm leid zu tun, daß er nun nichts zum Schlagen hat.

»Du bist wirklich kein Christenmensch!« tönt es in der Menge.

Der arme Knabe ist ganz außer sich. Er bahnt sich schreiend den Weg zu der Stute, er umarmt ihren toten, blutigen Kopf, küßt ihre Augen und Nüstern ... Dann springt er auf und stürzt sich, seine schwachen Hände zu Fäusten ballend, auf Mikolka. Aber in diesem Augenblick erwischt ihn endlich der Vater, er nimmt ihn auf die Arme und trägt ihn fort.

»Papa! Warum ... haben sie ... das arme Pferdchen getötet ...« Er schluchzt, und die Worte dringen wie Schreie aus seiner Brust.

»Es sind Betrunkene ... die machen sich einen Spaß ... uns geht es ja nichts an ... gehen wir!« sagt der Vater. Er umarmt den Vater. Er spürt eine schwere Last auf der Brust ... er will Atem holen, aufschreien und – erwacht.

Er ist in Schweiß gebadet, seine Haare triefen von Schweiß, er atmet schwer und richtet sich entsetzt auf.

»Gott sei Dank! Es war nur ein Traum!« sprach er zu sich. Dann setzte er sich unter dem Baume hin und holte tief Atem. »Was ist das nun eigentlich? Fiebere ich? So ein gräßlicher Traum!«

Sein Körper war wie zerschlagen. In seiner Seele war es dunkel und öde. Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und das Kinn in die Hände.

»Mein Gott!« rief er aus, »werde ich nun wirklich ein Beil nehmen, werde ihr den Schädel einschlagen ... werde im warmen klebrigen Blut herumtasten. Kästen aufbrechen, stehlen und zittern und mich dann, mit Blut besudelt, zu verbergen suchen ... mit dem Beile ... Mein Gott, wird es so kommen?«

Er zitterte wie Espenlaub, als er dies sprach.

»Was ist nur mit mir?« fuhr er mit Erstaunen fort. »Ich habe ja gewußt, daß ich es nicht ertragen kann; warum habe ich mich bis jetzt so gequält? Gestern, ja gestern, als ich zu ihr ging, um die ... Probezu machen, war es mir ja ganz klar, daß ich es nicht über mich bringe ... Was ist nur jetzt mit mir? Wie konnte ich noch zweifeln? Als ich gestern die Treppe hinunterging, hab' ich mir ja selbst gesagt, daß es häßlich, schlecht, gemein ist ... Mir wurde ja beim bloßen Gedanken im wachen Zustandso schlecht, und ich war wie gelähmt vor Angst.

Nein, ich ertrage es nicht, ich ertrage es nicht! Wenn in meinen Berechnungen auch gar keine Fehler enthalten sind, wenn auch alles, was ich mir in den letzten vier Wochen zurechtgelegt habe, so klar wie die Sonne, so logisch wie die Mathematik ist ... Mein Gott! Ich werde mich doch nie entschließen können! Ich werde es nicht ertragen, ich werde es nicht ertragen ... Was habe ich mir nur bisher gedacht?! ...«

Er erhob sich, blickte erstaunt um sich, als begreife er nicht, wie er hergeraten sei. Dann schlug er den Weg zu der T–schen Brücke ein. Er war blaß, seine Augen brannten, er fühlte eine große Müdigkeit in allen Gliedern, doch er atmete viel leichter als früher. Er fühlte, daß er die schwere Last, die ihn so lange bedrückte, von sich geworfen habe, und dies gab ihm tiefen Frieden und Erleichterung. »O Herr!« betete er. »Zeige mir den Weg, den ich gehen soll, ich will mich aber von jenem verfluchten ... Wahn lossagen!«

Er ging über die Brücke und betrachtete ruhig und friedevoll die Newa und das leuchtende Abendrot. Trotz seiner Schwäche spürte er nichts von Müdigkeit. Es war, als sei das Geschwür auf seinem Herzen, das während der letzten Woche reif geworden war, plötzlich geplatzt ... Freiheit ... Freiheit! Er fühlte sich frei von jenem Zauber, von Verführung und Versuchung.

Als er später an diese Tage und Ereignisse zurückdachte und sie Minute für Minute, Punkt für Punkt durchnahm, wunderte er sich jedesmal über einen Umstand, der zwar an sich durchaus nicht merkwürdig war, den er aber als einen Fingerzeig des Schicksals auffaßte.

Er fragte sich nämlich, warum er damals, trotz seiner Müdigkeit und Abspannung nicht den kürzesten Weg nach Hause genommen, sondern einen völlig überflüssigen Umweg über den Heumarkt gemacht hatte. Der Umweg war allerdings nicht groß, aber doch ganz sinnlos und unnötig. Es passierte ihm zwar oft, daß er heimging, ohne auf den Weg zu achten. Er fragte sich aber, warum die wichtige, entscheidende und höchst zufällige Begegnung auf dem Heumarkte gerade mit jener Stimmung, mit jenen Umständen und mit jenem Augenblick seines Lebens zusammenfiel, in denen diese Begegnung einen entscheidenden Einfluß auf sein ganzes Schicksal haben mußte? Als hätte dieser Augenblick auf ihn gelauert ...

Es war gegen neun Uhr, als er über den Platz ging. Alle Händler, die in Läden, auf Tischen und im Herumziehen ihre Geschäfte betrieben, machten Feierabend, räumten ihre Waren fort und gingen, ebenso wie die Käufer, nach Hause. In der Nähe der Garküchen, in den schmutzigen und stinkenden Höfen und besonders bei den Schenken drängten sich noch viele Händler und Trödler. Raskolnikow bevorzugte bei seinen Spaziergängen gerade diese Gegend und die anstoßenden Gassen. Seine schäbige Kleidung fiel hier niemand auf, und hier konnte er in jedem Aufzug erscheinen, ohne Anstoß zu erregen. An der Ecke der K–Gasse trieb ein Kleinbürgerpaar an zwei Tischen Handel mit Garn, Bändern, billigen Tüchern und ähnlichem Kram. Sie waren gleichfalls im Begriff, Feierabend zu machen, da kam aber zu ihrem Verkaufsstand eine Bekannte und hielt sie auf. Diese Bekannte war Lisaweta Iwanowna, oder kurzweg Lisaweta, wie sie von allen genannt wurde, eine jüngere Schwester der alten Aljona Iwanowna, der Kollegienregistratorswitwe und Wucherin, bei der Raskolnikow gestern gewesen war, um ihr eine Uhr zum Pfand anzubieten und dabei seine Probezu machen ... Er kannte Lisaweta seit längerer Zeit sehr genau, und auch sie kannte ihn flüchtig. Es war eine lange, plumpe, schüchterne alte Jungfer, beinahe eine Idiotin; sie war etwa fünfunddreißig und wurde von ihrer Schwester wie eine Sklavin behandelt; sie arbeitete für sie Tag und Nacht, hatte vor ihr den größten Respekt und bekam von ihr zuweilen Schläge. Sie stand nachdenklich mit einem Bündel in der Hand vor dem Händlerehepaar und hörte aufmerksam zu. Diese redeten auf sie mit besonderem Eifer ein. Als Raskolnikow sie erkannte, bemächtigte sich seiner ein tiefes Erstaunen, obwohl an der Begegnung eigentlich nichts Wunderbares war.

»Entscheiden Sie, Lisaweta Iwanowna, doch selbst über die Sache«, sprach der Kleinbürger. »Kommen Sie morgen so gegen sieben, und dann treffen Sie auch die Leute.«

»Morgen?« fragte nachdenklich und gedehnt Lisaweta. Sie konnte sich wohl nicht entschließen.

»Wie Sie die Aljona Iwanowna eingeschüchtert hat!« sagte die Frau, ein geriebenes Weib. »Wenn ich Sie so anschaue, kommen Sie mir wie ein kleines Kind vor. Sie ist nicht einmal eine richtige Schwester von Ihnen, nur eine Stiefschwester, und doch hat sie Sie so unter dem Pantoffel.«

»Sagen Sie doch der Aljona Iwanowna diesmal überhaupt nichts!« unterbrach der Händler seine Frau. »So rate ich Ihnen. Kommen Sie einfach her, ohne ihr ein Wort zu sagen. Das Geschäft ist doch glänzend. Ihre Schwester wird es hinterdrein schon selbst einsehen.«

»Soll ich wirklich kommen?«

»Morgen um sieben. Dann kommen auch die Leute her. Sie können dann alles persönlich abschließen.«

»Es wird auch Tee geben«, bemerkte die Frau.

»Gut. Ich werde kommen«, sagte endlich Lisaweta. Sie war noch immer unschlüssig und verließ zögernd den Verkaufsstand.

Dies war alles, was Raskolnikow im Vorbeigehen hörte. Er ging leise und unbemerkt vorbei und gab sich Mühe, jedes Wort aufzufangen. Sein Erstaunen von vorhin ging allmählich in Grauen über; es überlief ihn kalt: er hatte ja soeben erfahren, daß Lisaweta, die Schwester und einzige Hausgenossin der alten Wucherin, morgen um sieben Uhr abends fortgehen und daß die Alte um diese Zeit ganz allein bleiben werde.

Er hatte nur noch wenige Schritte bis zu seiner Wohnung. Er betrat sein Zimmer in der Stimmung eines zum Tode Verurteilten. Er überlegte sich nichts mehr und war dazu auch nicht imstande. Aber mit seinem ganzen Wesen fühlte er, daß er von nun an weder über die Freiheit seiner Vernunft noch über seinen Willen verfügte und daß nun alles endgültig besiegelt sei.

Wenn er auch viele Jahre auf eine geeignete Gelegenheit gelauert hätte, so hätte er selbst bei einem endgültig gefaßten Entschluß kaum einen größeren Erfolg auf dem Wege zur Ausführung seines Entschlusses erzielen können als diesen, den er soeben erreicht hatte. Jedenfalls wäre es sehr schwierig gewesen, am Vorabend des entscheidenden Tages mit größerer Sicherheit und mit geringerem Risiko, ganz ohne alle gefährlichen Umfragen, festzustellen, daß die Alte, gegen die er ein Attentat plante, zur betreffenden Stunde ganz mutterseelenallein zu Hause sein würde.

VI

Raskolnikow erfuhr später durch Zufall, wozu die Händler Lisaweta zu sich bestellt hatten. Es war eine ganz gewöhnliche Angelegenheit. Eine zugereiste verarmte Familie wollte verschiedene Kleidungsstücke verkaufen. Da der Verkauf auf offenem Markt unvorteilhaft gewesen wäre, so suchte man eine Trödlerin. Lisaweta Iwanowna betrieb gerade solche Geschäfte und Kommissionen. Sie hatte eine große Kundschaft, denn sie war ehrlich und pflegte immer feste Preise zu machen. Sonst war sie ja sehr wortkarg und, wie schon gesagt, schüchtern und scheu.

Raskolnikow war in der letzten Zeit abergläubisch. Spuren von Aberglauben bewahrte er auch in seinem späteren Leben. Und die ganze Sache erschien ihm sehr seltsam und geheimnisvoll, als hätte das Schicksal selbst diese Zufälligkeiten angeordnet. Im letzten Winter hatte ihm ein Student namens Pokorew vor seiner Abreise nach Charkow die Adresse der alten Aljona Iwanowna gegeben, für den Fall, wenn er etwas versetzen wolle. Lange Zeit machte er keinen Gebrauch von dieser Adresse, denn er konnte mit Stundengeben einigermaßen auskommen. Vor etwa sechs Wochen war ihm die Adresse wieder eingefallen, er hatte zwei Gegenstände zum Versetzen: eine alte silberne Uhr von seinem Vater und einen kleinen goldenen Ring mit drei roten Steinchen – ein Abschiedsgeschenk von seiner Schwester. Er entschloß sich, den Ring zu versetzen; er ging zu der Alten, die ihm gleich beim ersten Blick einen unüberwindbaren Ekel einflößte, bekam von ihr zwei »Banknoten« und kehrte auf dem Heimwege in ein billiges Restaurant ein. Er bestellte sich Tee und versank in Gedanken. Aus seinem Gehirne schälte sich, wie ein Küchlein aus einem Ei, eine seltsame Idee aus, die ihn vollkommen fesselte.

Am Nebentisch saßen ein Student, den er nicht kannte, und ein junger Offizier. Sie hatten soeben Billard gespielt und tranken Tee. Plötzlich hörte er, wie der Student dem Offizier die Adresse der alten Wucherin und Kollegienregistratorswitwe Aljona Iwanowna mitteilte. Dies fiel Raskolnikow sofort auf: er kam ja soeben von der Alten, und da hörte er gleich von ihr sprechen. Es war ja selbstverständlich reiner Zufall, aber er stand noch ganz unter dem sehr ungewöhnlichen Eindruck, den die Alte auf ihn gemacht hatte; der Student schien aber diesen Eindruck absichtlich verstärken zu wollen, denn er erzählte seinem Freund auch allerlei Details über Aljona Iwanowna.

»Sie ist ja sehr nett,« erzählte der Student, »man bekommt von ihr immer Geld; sie ist reich wie ein Jude und kann jederzeit selbst fünftausend Rubel beschaffen, und dabei lehnt sie auch ein Pfand von einem Rubel nie ab. Viele von den Kollegen haben mit ihr zu tun. Sie ist aber ein Luder.«

Und dann erzählte er, wie böse und eigensinnig sie sei; wenn man nur einen Tag im Verzug wäre, sei das Pfand unrettbar verloren. Sie beleihe die Gegenstände nur mit einem Viertel ihres Wertes, nehme aber fünf bis sieben Prozent Monatszinsen. Der Student erzählte noch vieles, und unter anderem auch von der Schwester der Alten; die Alte sei zwar klein und schwächlich, und doch schlage sie die Lisaweta jeden Augenblick, behandele sie wie eine Sklavin, während Lisaweta mindestens zweimal so groß wie sie sei ...

»Die ist auch ein Unikum!« rief der Student lachend aus.

Und nun sprachen sie von Lisaweta. Dem Studenten schien seine Erzählung besonderes Vergnügen zu bereiten, und er lachte jeden Augenblick auf; der Offizier hörte mit großem Interesse zu und beauftragte ihn, ihm die Lisaweta zu schicken: er wolle ihr Wäsche zum Ausbessern geben. Raskolnikow hörte schweigend zu und erfuhr alles: Lisaweta sei die jüngere und eine Stiefschwester der Alten (von verschiedenen Müttern); sie zähle etwa fünfunddreißig Jahre, arbeite Tag und Nacht und sei zugleich Waschfrau und Köchin bei ihrer Schwester, dabei finde sie noch Zeit, Näharbeit anzunehmen und sich als Taglöhnerin zu verdingen; alles, was sie dabei verdiene, liefere sie der Alten ab. Ohne Erlaubnis der Alten nehme sie keine Bestellung oder Arbeit an. Die Alte habe schon ihr Testament gemacht, nach welchem, wie es auch der Lisaweta bekannt sei, ihr nur einige Stühle und sonstiger Hausrat zufielen, während das ganze Geld für ein Kloster im N–schen Gouvernement zu ewigen Seelenmessen bestimmt sei. Lisaweta sei eine Kleinbürgerin und von äußerst lächerlicher äußerer Erscheinung; sie sei ungeheuer lang, habe lange krumme Beine, trage immer abgetretene Schuhe aus Bockleder und halte sich sonst sehr sauber. Worüber aber der Student besonders lachte, war, daß Lisaweta sich meistens in gesegneten Umständen befand ...

»Du sagst ja, sie sei ein Scheusal?« bemerkte der Offizier.

»Ja, sie hat eine so dunkle Hautfarbe, sieht wie ein verkleideter Soldat aus, aber eigentlich ist sie gar kein Scheusal. Ihr Gesicht und ihre Augen drücken große Güte aus. Wirklich! Darum gefällt sie auch vielen. Sie ist so still, sanft, dienstfertig, gefügig, ja, zu allem gefügig. Ihr Lächeln ist sogar direkt schön.«

»Ich glaube gar, sie gefällt auch dir?« Der Offizier lachte.

»Ihrer Originalität wegen. Aber ich will dir etwas sagen. Ich hätte die verfluchte Alte gern ermordet und beraubt; ich schwöre dir, ohne mein Gewissen irgendwie zu belasten.«

Der Offizier lachte laut auf. Raskolnikow zuckte zusammen: das Ganze kam ihm so seltsam vor!

»Erlaube mal,« sagte der Student erregt, »ich will dir eine ernste Frage vorlegen. Ich habe ja natürlich gescherzt, aber denke dir nur; einerseits die dumme, nichtsnutzige, sinnlose, böse und kranke Alte, die jeden Augenblick sterben kann ... Verstehst du mich?«

»Ja, ich verstehe«, sagte der Offizier. Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf den Studenten.

»Höre nur weiter. Andererseits gehen Tausende junger, lebensfähiger Existenzen hilflos zugrunde. Und so ist es überall! Mit dem Geld der Alten, das für ein Kloster bestimmt ist, könnte man Hunderte und Tausende guter Werke verrichten! Man könnte Hunderte, Tausende von Existenzen auf den richtigen Weg bringen! Unzählige Familien vor Armut, Verfall, Verderben, Unzucht, Geschlechtskrankheiten erretten! Und alles mit ihrem Geld. Wenn ich sie nun töte und ihr Geld nehme, um mich dann dem Dienste der Menschheit, der Allgemeinheit zu widmen, – glaubst du denn nicht, daß das kleine Vergehen – mit den Tausenden von guten Werken ganz aufgewogen wird? Mit einem Leben werden tausend vor Verfall und Auflösung gerettete Leben erkauft. Ein Tod und hundert Leben – das ist ja ein Rechenexempel! Und was bedeutet denn auf der großen Wage das Leben dieser schwindsüchtigen, dummen und bösen Alten? Doch kaum mehr als das Leben einer Laus, einer Küchenschabe und noch weniger, denn die Alte ist schädlich; sie schädigt auch das Leben einer anderen; sie hat neulich die Lisaweta aus Bosheit in den Finger gebissen. Der Finger mußte beinahe amputiert werden!«

»Ja, sie hat kein Recht auf das Leben,« bemerkte der Offizier, »aber so will es wohl die Natur.«

»Aber Freund! Die Natur soll man verbessern und korrigieren, sonst müßte man ja in Vorurteilen versinken. Wir hätten dann keinen einzigen großen Menschen. Man sagt: Pflicht, Gewissen; ich habe ja nichts gegen Pflicht und Gewissen einzuwenden, – aber wie verstehen wir sie? Warte, ich will noch eine Frage stellen. Höre!«

»Nein, warte du; ich will dich fragen. Höre!«

»Nun?«

»Du redest und predigst jetzt, aber sage mir: bist du imstande, die Alte selbstumzubringen, oder nicht?«

»Natürlich nicht! Ich sage ja nur, was die Gerechtigkeit verlangt ... Sonst ist es ja nicht meine Sache ...«

»Da will ich dir folgendes sagen: wenn du dich selbst nicht entschließt, so darfst du hier nicht von Gerechtigkeit sprechen! ... Komm, spielen wir noch eine Partie!«

Raskolnikow war äußerst aufgeregt. Es waren zwar nur ganz gewöhnliche und ganz private Gedanken junger Menschen, wie er sie in anderen Worten und über andere Stoffe schon oft gehört hatte. Warum mußte er aber dies Gespräch gerade in diesem Augenblick anhören, als auch in seinem Kopf die ganz gleichenGedanken keimten? Warum geriet er gerade in dem Augenblick, als in ihm dieser Keim aufging, auf dieses Gespräch? ... Dieses Zusammentreffen kam ihm immer seltsam vor. Dieses unbedeutende Restaurantgespräch hatte im folgenden einen entscheidenden Einfluß auf ihn: darin schien wirklich eine Vorbedeutung, ein Fingerzeig zu liegen ...

Vom Heumarkte zurückgekehrt, stürzte er sich auf sein Sofa und saß eine ganze Stunde lang regungslos da. Inzwischen war der Abend angebrochen; er hatte keine Kerze, auch fühlte er kein Bedürfnis, Licht zu machen. Er konnte sich später nie genau erinnern, ob er in dieser Stunde überhaupt an etwas gedacht hatte. Endlich fühlte er einen neuen Fieberanfall, und da fiel es ihm ein, daß er sich auf dem Sofa auch hinlegen könnte. Bald überfiel ihn ein schwerer, bleierner, bedrückender Schlaf.

Er schlief ungewöhnlich lange, ohne zu träumen. Der Dienstmagd Nastasja, die am nächsten Morgen um zehn Uhr in sein Zimmer kam, gelang es nur mit Mühe, ihn zu wecken. Sie brachte ihm Tee und Brot. Der Tee war wie immer vom zweiten Aufguß, und sie brachte ihn in ihrer eigenen Kanne.

»Wie er nur so schlafen kann!« rief sie empört aus. »Nichts als schlafen!«

Er erhob sich mit großer Anstrengung. Sein Kopf schmerzte; er stand ganz auf, machte einige Schritte durch seine Kammer, fiel aber gleich wieder aufs Sofa.

»Wieder schlafen!« rief Nastasja aus. »Bist du denn krank?«

Er gab keine Antwort.

»Willst du Tee?«

»Später«, brachte er mit Mühe heraus; er schloß wieder die Augen und kehrte sich zur Wand.

»Er ist vielleicht wirklich krank«, sagte sie und ging weg.

Sie kam um zwei Uhr wieder und brachte ihm Suppe. Er lag noch immer. Der Tee stand unberührt. Nastasja fühlte sich dadurch verletzt und begann ihn wie wütend zu rütteln.

»Was schnarchst du noch!« schrie sie und blickte ihn dabei wie angeekelt an. Er erhob sich und setzte sich, erwiderte aber kein Wort und sah immer zu Boden.

»Bist du krank oder nicht?« fragte Nastasja. Sie bekam wieder keine Antwort.

»Du solltest wenigstens etwas ins Freie gehen!« sagte sie nach einer Pause. »Dann bekommst du Luft. Wirst du etwas essen?«

»Später«, sagte er mit schwacher Stimme. »Geh!« Und er winkte ihr ab.

Sie blieb noch eine Weile stehen, sah ihn voll Mitleid an und ging.

Nach einigen Minuten öffnete er die Augen, starrte lange den Tee und die Suppe an, ergriff darauf den Löffel und das Brot und begann zu essen.

Er nahm nur drei oder vier Löffel zu sich, ganz automatisch und ohne Appetit. Der Kopf schmerzte etwas weniger. Nach dem Essen streckte er sich wieder auf dem Sofa aus, aber er schlief nicht mehr ein. Er lag unbeweglich, den Kopf in das Kissen vergraben. Er phantasierte, und seine Phantasien waren sehr eigenartig; er sah sich in Afrika, in einer ägyptischen Oase. Die Karawane hielt Rast, die Kamele lagen ruhig da. Palmen standen im Kreise umher. Alle aßen zu Mittag, er aber trank Wasser aus einem Bach, der gleich an seiner Seite rauschte. Das kühle, wunderbar blaue Wasser lief über bunte Steine und goldig schimmernden Sand ... Plötzlich hörte er ganz deut lich eine Uhr schlagen. Er zuckte zusammen, kam zu sich, hob den Kopf, schaute zum Fenster hinaus, um nach der Zeit zu sehen, sprang dann rasch vom Sofa auf, als hätte ihm jemand einen Stoß versetzt. Er ging auf den Fußspitzen zur Tür, machte sie leise auf und horchte zur Stiege hinunter. Er hatte heftiges Herzklopfen. Aber auf der Stiege war es so still, als schlafe das ganze Haus ... Es kam ihm so dumm und sonderbar vor, daß er imstande gewesen war, die ganze Zeit durchzuschlafen, und daß er noch gar keine Vorbereitungen getroffen hatte ... Vielleicht hatte es schon sechs geschlagen ... An Stelle der Schläfrigkeit trat jetzt eine fieberhafte, unruhige Geschäftigkeit. Er hatte übrigens nicht viel vorzubereiten. Er spannte seine ganze Denkkraft an, um ja nichts zu vergessen; sein Herz pochte wie wild, und sein Atem ging schwer. Zuerst mußte er eine Schlinge machen und sie an seinen Mantel nähen; das war bald getan. Er langte unter sein Kopfkissen und holte aus der Wäsche, mit der es gefüllt war, ein ganz zerrissenes ungewaschenes Hemd hervor. Er riß davon einen Streifen, etwa zwei Zoll breit und vierzehn Zoll lang ab. Diesen Streifen legte er zusammen, zog seinen weiten Sommermantel, der aus einem sehr festen Baumwollstoff gefertigt war, aus und begann den Streifen mit beiden Enden auf die Innenseite des Mantels unter der linken Achsel anzunähen. Seine Hände zitterten während der Arbeit, doch war von den Nähten nichts zu sehen. Nadel und Faden hatte er längst zurechtgelegt, sie lagen in Papier eingewickelt in seiner Tischlade. Diese Schlinge war seine eigene höchst geistreiche Erfindung: sie war für das Beil bestimmt. Er konnte das Beil ja nicht offen auf der Straße tragen. Hätte er es einfach unter dem Mantel verborgen, so hätte er es ja mit einer Hand halten müssen, was aufgefallen wäre. Wenn er nun das Beil mit der Schneide in diese Schlinge hängte, so konnte er es ganz unauffällig unter dem Arm tragen. Die Hand konnte er in die Manteltasche stecken und so den Griff des Beiles festhalten, damit dieser nicht hin und her pendele. Der Mantel war sehr weit, und man konnte unmöglich erraten, daß seine Hand den Beilgriff hielt. Diese Erfindung hatte er bereits vor vierzehn Tagen gemacht.

Als er damit fertig war, langte er mit der Hand in den schmalen Spalt zwischen seinem »türkischen« Sofa und dem Fußboden, suchte in der linken Ecke und holte das längst vorbereitete und versteckte Pfand heraus. Dieses »Pfand« bestand aus einem glatt gehobelten Holzbrettchen in der Größe eines gewöhnlichen silbernen Zigarettenetuis. Das Brettchen hatte er bei einem seiner Spaziergänge zufällig auf einem Hof in der Nähe einer Werkstatt gefunden. Später fügte er noch eine dünne Eisenplatte hinzu, die er wohl auch zufällig gefunden hatte. Die Eisenplatte war etwas kleiner als das Brettchen; er legte beide übereinander und band sie kreuzweise mit einem Faden zusammen; das Ganze wickelte er dann elegant in ein sauberes Papier und schnürte das Paket noch einmal zusammen, und zwar sehr kompliziert, damit die Alte einige Zeit zum Aufschnüren brauchte und er dabei einen günstigen Augenblick abwarten konnte. Die Eisenplatte diente zur Vergrößerung des Gewichts, damit die Alte nicht gleich sähe, daß der »Gegenstand« aus Holz sei. Das Ganze lag schon einige Zeit bereit. Als er das Pfand herausholte, hörte er jemand im Hof schreien:

»Es hat ja längst sechs geschlagen!«

»Längst! Mein Gott!«

Er stürzte zur Tür, horchte, nahm den Hut und begann unhörbar wie eine Katze die siebzehn Stufen hinabzugehen. Jetzt galt es noch, aus der Küche das Beil zu stehlen. Er hatte schon längst beschlossen, die Tat mit einem Beil auszuführen. Er besaß noch ein zusammenklappbares Gärtnermesser; er wollte sich aber nicht auf dies Messer und besonders auf seine Kräfte verlassen und wählte daher endgültig ein Beil. Wir wollen hier auf eine Eigentümlichkeit aller seiner endgültigen Entschlüsse hinweisen: je endgültiger sie wurden, um so dümmer und sinnloser erschienen sie ihm. Trotz seiner qualvollen inneren Kämpfe konnte er auch nicht einen Augenblick an die Ausführbarkeit seiner Pläne glauben.

Und selbst wenn es ihm gelungen wäre, alles bis zum allerletzten Detail durchzudenken und endgültig zu beschließen, wenn er gar keine Zweifel mehr gehabt hätte, so hätte er sich schließlich doch von allem losgesagt wie von einer Dummheit, Ungeheuerlichkeit und Unmöglichkeit. Es gab aber noch eine große Menge von Zweifeln und ungeklärten Details. Die Beschaffung eines Beils machte ihm gar keine Schwierigkeiten, denn nichts war leichter als das. Nastasja ging jeden Augenblick, besonders in den Abendstunden aus; sie steckte bei den Nachbarn oder beim Krämer, die Küchentür ließ sie weit offenstehen. Die Wirtin zankte mit ihr immer darüber. Er brauchte also nur leise in die Küche zu gehen, das Beil zu nehmen und es eine Stunde später (wenn alles geschehen war) wieder hinzubringen. Es waren allerdings auch da Zweifel: wenn z.B. in einer Stunde, wenn er das Beil wiederbringen will, Nastasja zufällig in der Küche ist. Dann muß er natürlich an der Küche vorbeigehen und abwarten, bis Nastasja wieder fort ist. Wenn sie aber inzwischen das Beil sucht, es nicht findet und zu schimpfen beginnt, – so ist gleich ein Verdacht oder wenigstens ein Verdachtsmoment vorhanden.

Das waren nur Kleinigkeiten, über die er noch gar nicht nachgedacht hatte, auch hatte er keine Zeit zum Nachdenken. Er dachte nur an die Hauptsache und schob alles andere hinaus. Das Wichtigste schien ihm absolut unausführbar. Er konnte sich z.B. gar nicht vorstellen, daß er einmal zu denken aufhören und sich auf den Weg machen sollte ... Auch seine Probe(d.h. den Besuch bei der Alten mit der Absicht, den Ort auszukundschaften) hatte er nur probiert, d.h. nicht mit vollem Ernst unternommen; er hatte sich gesagt, ich will einmal hingehen und probieren, statt noch länger zu grübeln – und er hatte es ja auch nicht ausgehalten; er hatte ausgespuckt und war, wütend über sich selbst, davongelaufen. Und doch schien es ihm, daß er mit der Analyse der Sache vom Standpunkte der Moral aus gänzlich fertig sei: seine Kasuistik war nun so scharf wie ein Rasiermesser, und er kannte keine ernstlichen Einwände mehr. Doch zuletzt glaubte er sich selbst nicht mehr und suchte hartnäckig und sklavisch nach Einwänden, als ob er dazu von jemand gezwungen oder gestoßen worden wäre. Der letzte Tag, der so unerwartet angebrochen war und alles entschieden hatte, wirkte auf ihn rein mechanisch: als ob jemand seine Hand ergriffen und ihn mit sich fortgerissen hätte, blind, mit ungewöhnlicher Kraft, ohne Einwände und Gegenwehr. Als wäre er mit einem Rockzipfel in das Rad einer Maschine geraten, das ihn nun mit sich fortriß.

Anfangs – es war übrigens vor längerer Zeit – interessierte ihn die Frage, warum die meisten Verbrechen so leicht aufgedeckt wurden und warum die Spuren der Verbrecher so leicht zu finden wären. Allmählich kam er zu verschiedenartigen, sehr interessanten Schlußfolgerungen: der Grund liege nicht so sehr in der physischen Unmöglichkeit, alle Spuren der Tat zu verwischen, wie im Täter selbst; dieser erfahre im Augenblick der Tat eine sonderbare Abschwächung des Willens und der Vernunft, an deren Stelle ein ungewöhnlicher Leichtsinn träte, und zwar gerade in dem Augenblick, da Vernunft und Vorsicht besonders notwendig seien. Er glaubte, daß diese Vernunfts- und Willensschwäche sich wie eine Krankheit ganz allmählich entwickele, unmittelbar vor der Tat ihren Höhepunkt erreiche, in diesem Stadium auch während der Tat und einige Zeit nach derselben – je nach Veranlagung des Täters – verbleibe und schließlich, wie jede Krankheit, weiche. Er fühlte jedoch nicht die Kraft, über die Frage, ob die Krankheit das Verbrechen zur Folge habe, oder ob das Verbrechen die Krankheit mit sich bringe, zu entscheiden.

Als er zu dieser Schlußfolgerung gekommen war, gewann er auch die Überzeugung, daß er für seine Person vor solchen krankhaften Zuständen gefeit sei und daß er seinen Willen, seine Vernunft während der Ausführung seines Vorhabens bewahren werde, denn das, was er vorhatte, sei ja »kein Verbrechen«. Wir wollen den ganzen Denkprozeß, durch den er zu die ser letzten Folgerung gelangte, nicht untersuchen; wir sind auch sonst den Ereignissen zu weit vorausgeeilt ... Wir wollen nur erwähnen, daß alle rein praktischen Schwierigkeiten für ihn eine untergeordnete Bedeutung hatten. »Wenn man sie nur unter der Gewalt seines ganzen Willens und seiner ganzen Vernunft behält, so werden alle diese Schwierigkeiten sofort überwunden sein, sobald man das Unternehmen mit allen Details vor sich sieht ...« Er kam aber noch immer nicht zum entscheidenden Schritt. Seinen endgültigen Beschlüssen traute er nicht, und als die Stunde geschlagen hatte, entwickelte sich alles gar nicht so, wie er es sich zurechtgelegt hatte, sondern ganz automatisch und beinahe unerwartet.

Ein Umstand verblüffte ihn, noch ehe er die Stiege hinuntergegangen war. Als er an der Küchentür, die wie immer weit offenstand, vorbeiging, schielte er hinein, um sich zu überzeugen, ob in Nastasjas Abwesenheit nicht die Wirtin selbst in die Küche gekommen sei; und wenn die Küche leer war, ob die Tür zum Zimmer der Wirtin ordentlich zugemacht sei, damit sie nicht hörte, wie er das Beil holte, und nicht in die Küche hinausguckte. Wie groß war sein Erstaunen, als er bemerkte, daß Nastasja ausnahmsweise nicht nur zu Hause und in der Küche war, sondern auch arbeitete! Sie stand vor einem Waschkorb und hängte auf eine Leine Wäsche zum Trocknen auf. Als sie ihn bemerkte, hielt sie in ihrer Arbeit inne, wandte sich zu ihm und verfolgte ihn mit den Augen. Er sah weg und ging vorüber, als hätte er nichts gemerkt. Die Sache war aber verloren: er hatte kein Beil! Er war sehr bestürzt.

»Wie konnte ich nur so bestimmt darauf rechnen,« sagte er sich, während er das Tor passierte, »daß sie gerade in diesem Augenblick nicht zu Hause sein würde! Wie kam ich nur auf diesen Fehler?« Er war zerknirscht und tief erniedrigt. Er wollte über sich selbst lachen; stumpfer, tierischer Haß erfüllte ihn.

Unten im Torweg blieb er nachdenklich stehen. Es war ihm unerträglich, jetzt zum Schein einen Spaziergang zu machen, aber noch unerträglicher – nach Hause zurückzukehren. »So ein günstiger Zufall ist nun für immer verloren!« murmelte er, während er im Torweg automatisch vor der offenen Kammer des Hausknechts stehen blieb. Plötzlich zuckte er zusammen: unter der Bank in der finsteren Kammer, etwa zwei Schritte vor ihm, sah er etwas aufblitzen ... Er blickte um sich: kein Mensch war zu sehen. Er ging unhörbar die zwei Stufen zur Kammer hinunter und rief mit schwacher Stimme nach dem Hausknecht. »Es stimmt! Er ist nicht zu Hause. Er wird irgendwo in der Nähe sein, denn die Tür steht weit offen.« – Er stürzte sich blitzschnell auf das Beil (denn es war ein Beil) und zog es unter der Bank, wo es zwischen zwei Holzklötzen lag, hervor, er befestigte es in der Schlinge, steckte beide Hände in die Taschen und verließ, von niemand bemerkt, die Kammer. »Hilft nicht die Vernunft, so hilft der Teufel« sagte er sich mit einem sonderbaren Lächeln. Dieser Zufall ermutigte ihn außerordentlich.

Er ging langsam und gesetztseinen Weg, ohne Eile, um keinerlei Verdacht zu erregen. Die Passanten sah er gar nicht an und gab sich die größte Mühe, möglichst wenig aufzufallen. Da fiel ihm sein Hut ein. – »Mein Gott! Ich hatte ja noch vorgestern Geld, warum habe ich mir nicht statt des Hutes eine Mütze gekauft?« Er fluchte.

Er schielte in einen Laden hinein und sah auf die Wanduhr: es war zehn Minuten über sieben. Er mußte sich beeilen und dabei noch einen Umweg machen, um an das Haus von einer anderen Seite heranzukommen ...

Als er sich früher diesen Gang vorstellte, glaubte er, daß er sich sehr fürchten werde. Jetzt spürte er aber nichts von Furcht. Er beschäftigte sich sogar mit einigen ganz nebensächlichen Gedanken, allerdings nur kurze Zeit. Als er beim Jussupow-Park vorbeiging, dachte er daran, wie gut es doch wäre, wenn man auf allen Plätzen der Stadt so große Springbrunnen errichten würde, die die Luft so köstlich erfrischen. Dann dachte er, wie nützlich es für die Stadt wäre, wenn man den Sommergarten über das ganze Marsfeld ausdehnen und ihn mit dem Michailowschen Schloßpark verbinden würde. Dann hielt er sich bei der Frage auf, warum die Bewohner der großen Städte ohne besondere Notwendigkeit und eigentlich mehr instinktiv sich gerade in solchen Stadtteilen niederlassen, in denen es weder Gärten noch Springbrunnen gibt und die von Unrat und Schmutz starren. Dann fielen ihm seine eigenen Spaziergänge auf dem Heumarkte ein, und er kam für einen Augenblick zu sich. »Was für ein Blödsinn! Lieber will ich an gar nichts denken.«

»So klammern sich wohl alle, die zum Schafott geführt werden, mit ihren Gedanken an die Gegenstände, denen sie begegnen«, ging es ihm durch den Kopf, aber nur für einen Augenblick, rasch wie ein Blitz, und er beeilte sich selbst, diesen Gedanken niederzudrücken ... Da ist ja auch schon das Haus und das Tor. Eine Uhr schlug irgendwo einmal. »Was ist das? Schon halb acht? Unmöglich! Die Uhr geht vor.«

Im Tor lief alles glücklicherweise glatt ab. Zufällig wurde unmittelbar vor ihm ein großer Heuwagen in den Hof gefahren, der ihn, während er das Tor passierte, ganz verdeckte. Kaum fuhr der Wagen durch das Tor, so schwenkte Raskolnikow blitzschnell nach rechts ab. Von der anderen Seite des Wagens klangen mehrere Stimmen durcheinander, man schrie und zankte sich; ihn merkte aber niemand. Von den vielen Fenstern, die in den quadratischen Hof gingen, standen mehrere offen; er hatte aber nicht die Kraft, hinaufzublicken. Die Stiege zur Wohnung der Alten war gleich in der Nähe der Einfahrt. Nun war er schon auf der Stiege.

Er holte Atem, drückte seine Hand auf das wild pochende Herz, betastete und richtete den Beilgriff und begann nun langsam und vorsichtig horchend die Treppe hinaufzusteigen. Das Stiegenhaus war ganz leer. Alle Wohnungstüren waren zu, und er begegnete niemand. Im zweiten Stock stand die Tür einer leeren Wohnung weit offen, und in der Wohnung arbeiteten Anstreicher; diese sahen ihn aber gar nicht an. Er blieb eine Weile stehen, überlegte und ging schließlich weiter. – »Es wäre allerdings besser, wenn die Anstreicher nicht da wären, aber es liegen ja noch zwei Stockwerke dazwischen.«

Da ist schon der vierte Stock und die Wohnung der Alten. Die Wohnung gegenüber steht leer. Die Wohnung im dritten Stock, unter der Wohnung der Alten, scheint auch unbewohnt zu sein: die Visitenkarte, die früher an die Tür genagelt war, fehlte; die Partei war wohl ausgezogen. Er keuchte. »Soll ich nicht umkehren?« ging es ihm blitzartig durch den Kopf. Er gab sich keine Antwort darauf und begann an der Wohnungstür der Alten zu horchen, alles still! Dann horchte er noch auf die Stiege hinunter: er horchte lange und aufmerksam ... Dann blickte er noch zum letztenmal hinab, raffte sich auf, betastete noch einmal das Beil. »Bin ich nicht zu blaß, sehe ich nicht zu aufgeregt aus? Sie ist ja argwöhnisch ... Sollte ich nicht noch ein wenig warten, damit sich das Herz beruhigt? ...«

Das Herz wollte sich aber nicht beruhigen. Es schien sogar immer wilder zu pochen ... Er hielt es nicht aus, führte die Hand langsam an den Glockenzug und läutete. Nach einer halben Minute läutete er wieder, diesmal stärker.

In der Wohnung regte sich nichts. Es hatte keinen Sinn, wieder zu läuten, es würde sich auch nicht gut ausnehmen. Die Alte war natürlich zu Hause, aber sie war mißtrauisch und ganz allein in der Wohnung. Er kannte ihre Gewohnheiten und drückte noch einmal sein Ohr fest an die Tür. Waren seine Sinne so sehr geschärft (was eigentlich wenig wahrscheinlich war), oder war es wirklich wahrzunehmen, jedenfalls glaubte er das leise Geräusch einer Hand, die auf die Türklinke gelegt wurde und das Rascheln eines Kleides an der Türe zu hören. Jemand stand unsichtbar an der Tür und horchte, wie er, vielleicht gleichfalls das Ohr an die Tür gelegt, hinaus ...

Er machte absichtlich eine Bewegung und murmelte etwas vor sich hin, um nicht den Anschein zu er wecken, daß er hier lauere; dann läutete er zum drittenmal, solid und nicht zu laut, und ganz ohne Ungeduld. Dieser Augenblick prägte sich für immer grell und klar seinem Gedächtnisse ein. Er konnte später nie begreifen, wie er mit solcher List und Vorsicht hatte handeln können, während seine Vernunft im Verlöschen war und er selbst seinen Körper nicht mehr fühlte ... Einen Augenblick später hörte er, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde.

VII

Die Tür ging auf und ließ, wie bei seinem ersten Besuch, nur einen schmalen Spalt offen. Zwei scharfe mißtrauische Augen richteten sich auf ihn aus der Dunkelheit. Raskolnikow verlor die Selbstbeherrschung und machte einen Fehler.

Er fürchtete, daß die Alte vor ihm Angst bekäme und daß seine Gestalt ihr wenig Vertrauen einflöße. Damit sie die Tür nicht wieder zuschlüge, ergriff er die Türklinke und zog sie zu sich. Die Alte machte keine Gegenbewegung, sie ließ jedoch auch ihre Klinke nicht aus der Hand, so daß er sie mit der Tür beinahe auf den Flur hinauszog. Als er sie mitten in der Tür stehen und ihm so den Eingang versperren sah, ging er auf sie zu. Sie taumelte erschrocken zurück und schien etwas sagen zu wollen, sagte aber nichts und sah ihn nur durchdringend an.

»Guten Abend, Aljona Iwanowna«, begann er möglichst ungezwungen. Aber er verlor die Gewalt über seine Stimme, und sie begann zu zittern. »Ich habe Ihnen da ... einen Gegenstand gebracht ... Wollen wir lieber hineingehen ... zum Licht ...« Er schob sie zur Seite und ging ohne Aufforderung in die Wohnung. Sie lief ihm nach; ihre Zunge löste sich.

»Mein Gott! Was wollen Sie da? ... Wer sind Sie? Was wünschen Sie?«

»Erlauben Sie, Aljona Iwanowna, Sie kennen mich ja! ... Raskolnikow ... da habe ich Ihnen das Pfand gebracht, wie neulich versprochen ...« Mit diesen Worten reichte er ihr den Gegenstand.

Die Alte warf einen Blick auf das Paket und blickte dann den ungebetenen Gast wieder durchdringend an. Sie betrachtete ihn aufmerksam, feindselig und mißtrauisch. So verging eine Minute; da schien ihm, daß sie lächelte, als hätte sie alles erraten. Er fühlte, wie er den Boden unter sich verlor und von einem namenlosen Entsetzen ergriffen wurde. Wenn sie ihn noch eine halbe Minute so angestarrt hätte, ohne ein Wort zu sprechen, wäre er davongelaufen.

»Was starren Sie mich so an? Erkennen Sie mich nicht?« sagte er mit verhaltener Wut. »Wenn Sie wollen, nehmen Sie es, wenn nicht, – gehe ich zu einer andern. Ich habe keine Zeit.«

Er sagte dies ganz automatisch ohne Überlegung.

Die Alte kam zu sich, und sein energischer Ton schien sie zu ermutigen.

»Was denn, Väterchen, so plötzlich ... Was ist's denn?« fragte sie mit einem Blick auf das Pfand.

»Ein silbernes Zigarettenetui; ich habe Ihnen davon erzählt.«

Sie streckte ihre Hand aus.

»Warum sind Sie denn so blaß? Auch zittern Ihre Hände! Haben Sie ein Bad genommen?«

»Ich habe Fieber«, sagte er kurz. »Man muß schon blaß aussehen ... wenn man nichts zu essen hat«, fügte er mit schwacher Stimme hinzu. Seine Kräfte verließen ihn wieder. Seine Antwort erschien ihr glaubwürdig; die Alte nahm das Pfand in die Hand.

»Was ist es denn?« fragte sie wieder, Raskolnikow aufmerksam musternd und das Pfand mit der Hand auf sein Gewicht prüfend.

»Ein Pfand ... Ein Zigarettenetui ... aus Silber ... Schauen Sie nach.«

»Es scheint doch nicht Silber zu sein ... Wie er das nur verschnürt hat!«

Sie machte sich nun an der Verschnürung zu schaffen und wandte sich zum Fenster (trotz der drückenden Luft waren alle Fenster zu), ihm für einige Augenblicke den Rücken kehrend. Er knöpfte seinen Mantel auf, nahm das Beil aus der Schlinge und hielt es mit der Rechten unter dem Mantel bereit. Seine Hände waren wie gelähmt; er spürte, wie sie mit jedem Augenblick starrer und hölzerner wurden. Er fürchtete, das Beil fallen zu lassen ... plötzlich schwindelte ihm der Kopf.

»Wie er das nur verpackt hat!« rief die Alte geärgert und wandte sich halb zu ihm.

Er durfte keinen Augenblick mehr verlieren. Er zog das Beil hervor, hob es mit beiden Händen hoch und ließ es dann ganz ohne Anstrengung halb mechanisch mit dem Rücken auf den Kopf der Alten niederfallen. Es kostete ihn gar keinen Kraftaufwand. Kaum hatte er aber das Beil einmal fallen gelassen, als er auch Kräfte in sich spürte.

Die Alte war, wie immer, barhäuptig. Ihr helles, leicht ergrautes dünnes Haar war stark eingefettet und zu einem dünnen Zopf geflochten, der mit einem zerbrochenen Hornkamm im Nacken festgesteckt war. Der Schlag traf sie direkt auf den Scheitel, denn sie war klein gewachsen. Sie schrie schwach auf und setzte sich plötzlich auf den Boden; sie hatte noch die Kraft, beide Hände zum Kopf zu heben. In der einen Hand hielt sie noch immer das Pfand. Da schlug er sie zum zweiten- und zum drittenmal immer mit dem Beilrücken und immer auf den Scheitel. Das Blut lief wie aus einem umgefallenen Glas, und der Körper fiel auf den Rücken. Er trat etwas zurück, ließ dem Körper Zeit, ganz umzusinken, und beugte sich dann über ihr Gesicht; sie war tot. Die Augen traten so stark aus ihren Höhlen hervor, als ob sie herausspringen wollten; die Stirn und das ganze Gesicht waren runzlig und vom Todeskampf entstellt.

Er legte das Beil auf den Fußboden neben der Toten nieder und steckte seine Hand in ihre rechte Tasche, aus der sie bei seinem vorigen Besuch ihre Schlüssel hervorgeholt hatte; er gab sich die größte Mühe, um sich nicht mit dem Blut zu beschmieren. Er war bei vollem Bewußtsein, hatte weder Kopfschwindel noch Schwächeanfälle, aber seine Hände zitterten noch. Er war sogar, wie er sich später erinnerte, sehr aufmerksam und vorsichtig und gab sich immer Mühe, Blutflecken zu vermeiden ... Bald hatte er die Schlüssel in den Händen, es war das ihm bekannte Schlüsselbund auf einem Stahlreifen. Er eilte sofort in die Schlafkammer. Es war ein ganz kleiner Raum mit einem großen Heiligenschrein. An der anderen Wand stand ein großes, sehr sauberes Bett mit einer aus Seidenflecken zusammengesetzten wattierten Decke. An der dritten Wand stand eine Kommode. Im Augenblick, als er sich an der Kommode zu schaffen machte und das Rasseln der Schlüssel hörte, ging ein krampfartiges Zucken durch seinen Körper. Er wollte schon wieder alles im Stich lassen und davonlaufen. Es war nur ein kurzer Augenblick; auch war es schon zu spät, umzukehren. Er lächelte über diesen Gedanken, da kam ihm aber gleich ein anderer: wenn nun die Alte noch lebt und zu sich kommt! Er ließ das Schlüsselbund bei der Kommode, eilte zur Leiche, erhob das Beil, ließ es aber nicht niederfallen. Er zweifelte nicht, daß sie tot sei. Er sah sie sich genauer an und bemerkte, daß der Schädel gespalten und sogar etwas verrenkt war. Er wollte ihn betasten, zog aber die Hand gleich wieder zurück; er konnte es ja auch so sehen. Das Blut hatte inzwischen eine große Lache gebildet. Plötzlich bemerkte er auf ihrem Hals eine Schnur. Er zog an ihr, doch sie war zu fest und riß nicht, auch war sie mit Blut durchtränkt. Er versuchte, die Schnur herunterzuzerren, es gelang ihm aber nicht, denn er stieß auf einen Widerstand. In seiner Ungeduld griff er wieder zum Beil, um die Schnur direkt auf dem Körper entzweizuhauen, aber er wagte nicht, es zu tun. Er arbeitete noch einige Minuten, und endlich gelang es ihm, die Schnur zu zerschneiden, ohne den Körper mit dem Beil zu berühren; er beschmierte sich dabei seine Hände und auch das Beil mit dem Blut. Er hatte sich nicht geirrt: da war ein Beutel. An der Schnur hingen zwei Kreuze – eins aus Zypressenholz und eins aus Messing, ein kleines Heiligenbild aus Email und ein kleiner schmieriger Geldbeutel aus Sämischleder mit Stahlbügel und Ring. Der Beutel war ganz vollgestopft. Raskolnikow steckte ihn ein, ohne ihn näher zu untersuchen; die Kreuze warf er der Alten auf die Brust. Dann ging er mit dem Beil in die Schlafkammer.

Er hatte große Eile. Er nahm wieder die Schlüssel vor, es gelang ihm aber nicht, die richtigen zu finden und die Kommode aufzusperren. Seine Hände zitterten eigentlich nicht, er verwechselte aber immer die Schlüssel, und selbst wenn er sah, daß er den unrichtigen hatte, fuhr er doch fort, mit ihm am Schloß zu hantieren. Dann überlegte er sich, daß der große Schlüssel mit dem zackigen Bart, der neben dem kleineren hing, wohl kaum zu der Kommode, sondern zu irgendeiner Truhe gehörte, in der vielleicht alles verwahrt war. Er verließ die Kommode und kroch unter das Bett, denn er wußte, daß alte Frauen ihre Truhen gewöhnlich unter dem Bett verwahren. Es stimmte: er fand eine ziemlich große Truhe, über einen Arschin breit, mit gewölbtem Deckel, mit rotem Saffian ausgeschlagen und kleinen Stahlnägeln geschmückt. Der zackige Schlüssel paßte sofort. Oben lag unter einem weißen Tuch ein roter Mantel mit Hasenpelzbesatz; dann kam ein Seidenkleid, dann ein Schal; darunter schienen lauter Lumpen zu liegen. Zuerst machte er sich daran, seine blutbefleckten Finger an dem roten Mantel abzuwischen. »Der Mantel ist ja rot, und das Blut wird nicht zu sehen sein.« So überlegte er, und plötzlich kam er zu sich und erschrak: »Mein Gott! Werde ich nicht verrückt?« Kaum rührte er an den Lumpen, als aus dem Mantel eine goldene Uhr hinausglitt. Nun untersuchte er alles sorgfältig: zwischen den Lumpen lagen wirklich viele Goldsachen – Armbänder, Ketten, Ohrringe, Nadeln usw. – wohl lauter verfallene und auch nicht verfallene Pfänder. Einzelne Gegenstände steckten in Etuis, die anderen waren einfach in Zeitungspapier gewickelt, doch sauber und ordentlich verschnürt. Er begann sofort seine Hosen-und Manteltaschen zu füllen. Er wählte nicht und untersuchte die Pakete und Etuis nicht näher. Doch gelang es ihm nicht, viel einzustecken.

Er hörte plötzlich im Zimmer, wo die Alte lag, Schritte. Er blieb regungslos und hielt den Atem an. Alles blieb still, folglich war es eine Halluzination. Aber plötzlich hörte er einen heiseren Schrei oder ein kurzes Aufstöhnen. Dann war zwei oder drei Minuten lang wieder alles still. Er hockte neben dem Koffer und wartete mit angehaltenem Atem. Plötzlich sprang er auf, ergriff das Beil und lief ins Zimmer.

Mitten im Zimmer stand Lisaweta mit einem großen Bündel in der Hand; sie betrachtete ihre ermordete Schwester, war weiß wie Kreide und schien nicht die Kraft zu haben, zu schreien. Als sie ihn gewahrte, begann sie wie Espenlaub zu zittern, ein Beben lief durch ihre Gesichtszüge, sie hob einen Arm, öffnete den Mund, doch sie schrie nicht auf; sie wich langsam in die Ecke zurück, ohne ihn aus den Augen zu lassen; sie schien keine Luft zum Aufschreien zu haben. Er stürzte sich auf sie mit dem Beil: ihr Mund verzog sich wie bei einem sehr kleinen Kinde, das, durch etwas erschreckt, den schreckeneinflößenden Gegenstand anstarrt und Anstalten macht, zu schreien. Die unglückliche Lisaweta war schon von früher her dermaßen eingeschüchtert, scheu und einfältig, daß sie nicht einmal versuchte, ihr Gesicht mit den Händen zu schützen, obwohl dies die einzige notwendige und natürliche Bewegung in diesem Augenblick gewesen wäre, denn das Beil war direkt über ihrem Gesichte erhoben. Sie hob nur etwas ihren linken Arm und streckte ihn ihm entgegen, als ob sie ihn abwehren wollte. Das Beil traf sie mit der Schneide auf die Stirn und spaltete ihren Schädel fast bis zum Scheitel. Sie fiel schwer hin. Raskolnikow verlor die Fassung: er ergriff ihr Bündel, das er gleich wieder fortwarf, und lief ins Vorzimmer.

Nach dieser zweiten, ganz unerwarteten Mordtat wurde er noch mehr von Entsetzen gepackt. Er wollte möglichst schnell entkommen. Hätte er in diesem Augenblick die Fähigkeit gehabt, klar zu sehen und zu denken, hätte er die Schwierigkeit, Ungeheuerlichkeit und Unsinnigkeit seiner verzweifelten Lage erfaßt und eingesehen, wieviel Schwierigkeiten, vielleicht auch Mordtaten er noch zu überwinden und zu verüben haben würde, um aus dieser Wohnung weglaufen und nach Hause kommen zu können, – so hätte er vielleicht jetzt alles aufgegeben und sich der Polizei gestellt, und zwar nicht so sehr aus Furcht für sich selbst wie aus Entsetzen und Abscheu vor seiner Tat. Dieser Abscheu verstärkte sich in ihm von Minute zu Minute. Um nichts in der Welt wäre er jetzt zu der Truhe und zum Tatort zurückgekehrt.

Eine seltsame Nachdenklichkeit und Zerstreutheit bemächtigte sich seiner; zeitweise vergaß er sich oder vielmehr die Hauptsache ganz und klammerte sich an Kleinigkeiten. Als er in die Küche hineinsah und dort einen halb mit Wasser gefüllten Eimer bemerkte, fiel es ihm übrigens ein, seine Hände und das Beil zu waschen. Die Hände waren blutig und klebrig. Er legte das Beil mit der Schneide ins Wasser, fand dann auf dem Fensterbrett ein Stückchen Seife, das auf einer zerschlagenen Untertasse lag und wusch sich direkt im Eimer die Hände. Als er mit den Händen fertig war, zog er das Beil aus dem Wasser und wusch das Eisen und dann, etwa drei Minuten lang, den Holzgriff. Dann wischte er alles mit den Wäschestücken, die in der Küche an einer Leine zum Trocknen aufgehängt waren, ab. Darauf ging er mit dem Beil zum Fenster und unterzog es einer eingehenden Untersuchung: von Blut war keine Spur mehr zu sehen, der Griff war nur noch etwas feucht. Er befestigte es wieder in der Schlinge. Dann untersuchte er noch, soweit es das spärliche Licht in der halbfinsteren Küche erlaubte, seinen Mantel, Hose und Stiefel. Bei der oberflächlichen Betrachtung war nichts zu merken, nur auf den Stiefeln waren einige Flecke. Er befeuchtete einen Lappen und wischte die Stiefel ab. Er wußte übrigens, daß seine Untersuchung nur flüchtig war und daß er leicht etwas Auffälliges übersehen haben konnte. Er blieb nachdenklich mitten im Zimmer stehen. Ein quälender, dunkler Gedanke tauchte in ihm auf: daß er wahnsinnig werde, daß er in diesem Augenblick weder richtig denken noch sich verteidigen könne und daß alles, was er jetzt tue, möglicherweise ganz verkehrt sei ... »Mein Gott! Ich muß fort ins Vorzimmer!« Hier sah er aber etwas, was ihn mit solchem Entsetzen erfüllte, wie er es noch nie im Leben empfunden hatte.

Er stand da, sah hin und traute seinen Augen nicht: die Wohnungstür, die Tür aus dem Vorzimmer auf die Treppe, die Tür, an der er vorhin gelautet und gelauert hatte, – war nicht versperrt und ließ einen handbreiten Spalt frei; Schloß und Riegel waren die ganze Zeit über offen gewesen! Die Alte hatte, wohl aus Vorsicht, hinter ihm nicht abgesperrt. Aber mein Gott! Er hatte ja auch Lisaweta gesehen und konnte sich doch denken, daß sie irgendwie hereingekommen war! Sie hatte ja nicht durch die Wand eintreten können!

Er stürzte zur Tür und verriegelte sie.

»Nein! Es ist wieder nicht das Richtige! Ich muß ja fort, fort ...«

Er riegelte wieder auf, öffnete die Tür und horchte hinunter.

Er horchte so eine lange Weile. Irgendwo weit unten, vermutlich im Torweg, klangen zwei kreischende Stimmen, man schimpfte und zankte sich. »Was wollen die? ...« Er wartete geduldig. Endlich wurde mit einemmal alles still: sie waren wohl fort. Er machte die Tür ganz auf und wollte schon hinuntergehen, als unten im dritten Stock eine Tür aufgerissen wurde und jemand, eine Melodie summend, die Stiege hinunterzugehen begann. »Wie die Leute immer lärmen!« ging es ihm durch den Kopf. Er schloß die Tür und wartete ab. Endlich war alles wieder still. Als er aber den Fuß auf die Treppe gesetzt hatte, hörte er unten neue Schritte.

Diese Schritte tönten weit unten ganz am Anfang der Stiege, er hatte aber gleich beim ersten Schritt, wie er sich später genau erinnerte, den Verdacht, daß da jemand hierher, in den dritten Stock, zur Alten hinaufwollte. Warum? Klangen denn die Schritte irgendwie eigentümlich und bedeutungsvoll? Es waren schwere, gleichmäßige, langsame Schritte. Da ist er schon im ersten Stock, nun steigt er höher, die Schritte werden immer hörbarer. Er hörte auch schon den keuchenden Atem des Unbekannten. Nun ist er bereits im zweiten Stock. Er kommt her! Und plötzlich fühlte er, wie alle seine Glieder hölzern wurden. Er hatte das Gefühl, das man im Traume hat, wenn man sich von einem Mörder verfolgt sieht, fliehen will und dabei nicht vom Platz kommt und nicht einmal eine Hand zu rühren vermag.

Endlich, als der Gast sich bereits dem dritten Stock näherte, raffte er sich auf, sprang in das Vorzimmer zurück und schloß die Tür. Dann riegelte er vorsichtig und unhörbar zu. Hier half ihm der Instinkt. Als er damit fertig war, postierte er sich mit verhaltenem Atem dicht an der Tür. Die beiden standen sich jetzt genau so gegenüber, mit der Tür dazwischen, wie Raskolnikow vorhin der Alten gegenüber gestanden hatte.

Der Gast holte einige Male schwer Atem. Er ist wohl groß und dick, kombinierte Raskolnikow; er hielt das Beil fest umklammert. Das war wirklich wie im Traum. Der Gast ergriff den Glockenzug und läutete stark.

Beim ersten Ton der Klingel glaubte er ein Geräusch im Zimmer zu vernehmen. Einige Sekunden lang horchte er auch ernsthaft hinüber. Der Unbekannte läutete wieder, wartete einige Augenblicke und begann dann ungeduldig an der Türklinke zu zerren. Raskolnikow sah entsetzt, wie der Riegel dabei wackelte, und erwartete mit Angst, daß der Verschluß aufginge. Dies konnte leicht geschehen, denn der Gast riß mit aller Kraft an der Klinke. Er wollte anfangs den Riegel mit der Hand festhalten, aber dann fiel ihm ein, daß der andere es merken könnte. Er fühlte wieder Kopfschwindel. »Ich falle gleich hin!« ging es ihm durch den Kopf, aber in diesem Augenblick begann der Unbekannte zu sprechen, und Raskolnikow beherrschte sich wieder.

»Schlafen dort alle, oder hat sie jemand erwürgt? Die Verfluchten!« Seine Stimme klang wie aus einem hohlen Faß. »He, Aljona Iwanowna, alte Hexe! Lisaweta Iwanowna, unbeschreibliche Schönheit! Macht auf! Ha, diese Verfluchten, schlafen sie beide?«

Er geriet in Wut und riß noch an die zehnmal am Glockenzug. Offenbar war er im Hause gut bekannt und genoß Respekt.

In diesem Augenblick ertönten neue rasche Schritte auf der Stiege. Es kam noch jemand herauf. Raskolnikow hatte es anfangs überhört.

»Ist denn niemand da?« fragte der Neuankömmling mit heller, klingender Stimme den ersten Gast, der noch immer am Glockenzug riß. »Guten Abend, Koch!«

»Seiner Stimme nach scheint er jung zu sein«, dachte Raskolnikow.

»Das weiß der Teufel! Ich habe schon beinahe das Schloß abgerissen«, erwiderte Koch. »Wieso kennen Sie mich?«

»Haben Sie es schon vergessen? Ich habe Ihnen ja vorgestern im ›Gambrinus‹ drei Partien Billard abgewonnen!«

»Ach so ...«

»Es ist also niemand da? Sonderbar. Es ist übrigens dumm. Wo kann die Alte nur hingegangen sein? Ich muß sie sprechen.«

»Ja, Väterchen, ich muß sie auch sprechen!«

»Was soll man da machen? Umkehren? Und ich habe gehofft, daß ich hier Geld bekomme!« rief der junge Mann.

»Natürlich müssen wir umkehren. Warum bestellt sie aber einen zu einer bestimmten Stunde? Ich mußte ja einen weiten Weg machen. Wo treibt sie sich nur herum? Das ganze Jahr hockt die alte Hexe zu Hause, so daß sie schwarz wird und ihr die Füße schmerzen, und gerade heute muß sie einen Ausflug machen!«

»Soll man nicht den Hausknecht fragen?«

»Was denn?«

»Wo sie hingegangen ist, und wann sie heimkommt?«

»Hm ... den Teufel auch! ... fragen ... Sie geht aber nie aus ...« Er riß noch einmal an der Türklinke.

»Zum Teufel, nichts zu machen! Wir müssen umkehren!«

»Warten Sie!« rief plötzlich der Jüngere. »Schauen Sie her; sehen Sie, wie die Tür wackelt, wenn man an der Klinke zieht?«

»Nun?«

»Folglich ist sie nicht versperrt, sondern nur verriegelt. Hören Sie, wie der Riegel klirrt?«

»Nun?«

»Verstehen Sie noch immer nicht? Folglich ist eine von den beiden zu Hause. Wären sie ausgegangen, so hätten sie die Tür von außen mit einem Schlüssel abgesperrt und nicht von innen zugeriegelt! Sie hören doch, wie der Riegel klirrt! Um aber die Tür von innen zu verriegeln, muß man zu Hause sein, nicht wahr? Folglich sind sie zu Hause und sperren nicht auf!«

»Wirklich!« rief Koch erstaunt aus. »Was treiben die aber da?« Und er zerrte wieder mit aller Kraft an der Klinke.

»Warten Sie!« sagte der junge Mann. »Ziehen Sie nicht! Wir haben ja geläutet und geklopft, sie sperren aber nicht auf. Folglich liegen beide in Ohnmacht, oder ...«

»Was denn?«

»Wir wollen den Hausknecht holen, damit er sie weckt.«

»Gut!« Beide begannen die Treppe hinabzusteigen.

»Warten Sie! Bleiben Sie hier, und ich gehe allein zum Hausknecht.«

»Warum soll ich dableiben?«

»Man kann nie wissen ...«

»Sie haben vielleicht recht ...«

»Ich will ja Untersuchungsrichter werden. Hier ist aber offenbar, offenbar etwas nicht in Ordnung!« Mit diesen Worten rannte er hinunter.

Koch, der allein zurückblieb, rührte noch am Glockenzug. Die Klingel ertönte einmal. Dann faßte er langsam und nachdenklich die Klinke, drückte sie nieder und ließ sie los, um sich zu überzeugen, daß die Tür nur verriegelt sei. Dann beugte er sich keuchend zum Schlüsselloch, um hineinzusehen. Im Schloß steckte aber von innen der Schlüssel, folglich konnte er nichts sehen.

Raskolnikow stand mit dem Beil in der Hand. Er fieberte und war bereit, wenn sie hereinkämen, Widerstand zu leisten. Während sie vor der Tür sprachen und klopften, kam ihm einige Male der Wunsch, schneller ein Ende zu machen und sie von seinem Posten aus anzurufen. Er wollte sogar schimpfen und sie necken, solange die Tür nicht aufgerissen war. »Daß nur alles schneller ein Ende nimmt!« ging es ihm durch den Kopf.

»Daß ihn der Teufel ...«

Es vergingen mehrere Minuten, niemand kam herauf. Koch wurde ungeduldig:

»Daß ihn der Teufel!« schrie er plötzlich aus, gab seinen Posten auf und stieg ungeduldig, mit großem Lärm eilig die Treppe hinunter. Seine Schritte waren bald verhallt.

»Mein Gott, was soll ich tun?«

Raskolnikow riegelte auf, öffnete etwas die Tür und ging plötzlich, ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, hinaus. Er schloß hinter sich die Tür und begann die Treppe hinunterzugehen.

Als er drei Treppen hinter sich hatte, hörte er unten lärmen. Was tun? Er konnte sich nirgend verstecken. Er wollte zuerst wieder hinaufgehen.

»Teufel! Haltet ihn!«

Aus einer Wohnung ganz unten stürzte jemand wie verrückt heraus und lief – es war mehr ein Fallen – hinunter. Dabei schrie er wie besessen:

»Mitjka! Mitjka! Mitjka! Mitjka! Mitjka! Daß dich der Teufel!«

Das Schreien ging in Winseln über. Die letzten Töne klangen schon im Hof. Dann wurde alles still. In diesem Augenblick kamen aber mehrere Männer, die laut und eifrig sprachen, die Treppe hinauf. Es waren ihrer drei oder vier, Raskolnikow erkannte die Stimme des Jüngeren. »Das sind sie!«

Verzweifelt und auf alles gefaßt ging er ihnen entgegen. Wenn sie ihn stellen – ist alles verloren; stellen sie ihn nicht, so ist auch alles verloren, denn sie werden ihn sich merken. Sie kamen immer näher, nun war nur noch eine Treppe zwischen ihm und ihnen; plötzlich – Rettung! – einige Stufen unter ihm steht die leere Wohnung offen; es ist jene Wohnung im ersten Stock, in der früher die Anstreicher arbeiteten, die jetzt – wie auf Bestellung – weggegangen sind. Den Lärm von vorhin machten wohl die Anstreicher, als sie die Wohnung verließen. Der Fußboden ist frisch gestrichen, mitten im Zimmer steht ein Kübel, liegt ein Topfscherben mit Farbe und ein Pinsel. Er schlich rasch in die offene Wohnung und verbarg sich hinter der Wand; es war auch die höchste Zeit, denn sie waren bereits an der Tür. Dann gingen sie, immer noch laut sprechend, zum vierten Stock hinauf. Er wartete ab, verließ auf den Fußspitzen die Wohnung und lief die Treppe hinunter.

Auf der Treppe war kein Mensch! Auch im Torweg niemand! Er ging rasch durch das Tor und schwenkte nach links ab.

Er wußte ganz genau, daß sie sich in diesem Augenblick schon in der Wohnung befanden, daß sie erstaunt waren, die Wohnung offen zu finden, während sie früher versperrt war, daß sie nun die Leichen entdeckt hatten und daß sie in höchstens einer Minute einsahen, daß der Mörder eben noch da war und sich nun irgendwo versteckt hatte; sie würden vielleicht darauf kommen, daß er sich in der leeren Wohnung versteckt gehalten hatte, während sie hinaufgingen. Er wagte aber nicht, schneller zu gehen, obwohl die nächste Straßenecke höchstens hundert Schritte entfernt war. – Soll ich nicht in irgendeinen Torweg abschwenken oder auf einer unbekannten Straße abwarten? Nein, es ist gefährlich! Oder das Beil wegschmeißen? Oder eine Droschke nehmen? Es ist gefährlich ...

Da war auch schon die Quergasse, er erreichte sie mehr tot als lebendig. Hier war er beinahe außer Gefahr; er sah es ein, denn hier konnte er schwerlich Verdacht erregen: auch war die Straße sehr belebt, und er verschwand vollkommen in der Menge. Alle inneren Qualen hatten ihn so schwach gemacht, daß er sich nur mit Mühe fortbewegte. Der Schweiß lief in Strömen, sein Hals war ganz durchnäßt. »Wie der besoffen ist!« rief ihm jemand zu, als er an den Kanal trat.

Er ging wie im Traume, und mit jedem Augenblick wurde es schlimmer. Als er aber an den Kanal kam, erschrak er, weil da weniger Menschen waren und er daher mehr auffiel, und er versuchte wieder auf die Straße zu gelangen. Trotz seiner großen Schwäche machte er den Umweg, um aus einer anderen Richtung nach Hause zu kommen.

Als er sein Tor passierte, war er nicht bei vollem Bewußtsein; das Beil fiel ihm erst dann ein, als er eine Treppe hinaufgestiegen war. Er hatte noch eine schwierige Aufgabe vor sich: er mußte das Beil zurücktragen und es unbemerkt auf den alten Platz legen. Er hatte nicht mehr die Kraft, zu überlegen, daß es durchaus nicht notwendig war, das Beil zurückzutragen, und daß er es später einmal auf irgendeinem fremden Hof fallen lassen konnte.

Aber alles lief glücklich ab. Die Tür zur Hausknechtskammer war zu, aber nicht versperrt, der Hausknecht war also höchstwahrscheinlich zu Hause. Raskolnikow hatte aber jede Fähigkeit zu denken verloren; er ging direkt auf die Tür los und öffnete sie. Wenn ihn der Hausknecht gefragt hätte, was er wollte, so hätte er ihm wohl gleich das Beil gereicht. Der Hausknecht war aber wieder nicht da, Raskolnikow legte das Beil auf den alten Platz unter die Bank und verdeckte es mit einem Holzklotz. Auf dem Wege über die Stiege und in sein Zimmer traf er keinen Menschen; die Tür zum Zimmer der Wirtin war zu. Sobald er in sein Zimmer kam, fiel er sofort, so wie er war, auf sein Sofa nieder. Er schlief nicht, war aber bewußtlos. Wäre jetzt jemand in sein Zimmer getreten, so hätte er aufgeschrien. Fetzen und Bruchstücke von Gedanken zogen ihm durch den Kopf; es gelang ihm aber nicht, so sehr er sich auch anstrengte, bei irgendeinem dieser Gedanken stehen zu bleiben ...