Sechster Teil
I
Für Raskolnikow hatte eine merkwürdige Zeit begonnen. Vor ihm war gleichsam ein Nebelschleier herabgesunken, der ihn in eine ausweglose und schwere Vereinsamung einschloß. Als er sich dieser Zeit später, lange nachher erinnerte, kam er dahinter, daß sein Bewußtsein sich zeitweise getrübt und daß dieser Zustand mit einigen Unterbrechungen bis zur endgültigen Katastrophe angehalten hatte. Er war fest davon überzeugt, daß er sich damals in vielen Dingen geirrt hatte, zum Beispiel in den Zeitpunkten und der Dauer verschiedener Ereignisse. Wenigstens, als er sich später dessen entsann, erfuhr er vieles über sich selbst nur aus Mitteilungen, die er von anderen erhielt. Er verwechselte zum Beispiel ein Ereignis mit einem anderen und hielt ein anderes für die Folge eines dritten, das nur in seiner Einbildung existierte. Zeitweise bemächtigte sich seiner eine schmerzvolle und quälende Unruhe, die sogar in eine panische Angst überging. Er entsann sich aber auch, daß es Minuten, Stunden und vielleicht auch Tage vollständiger Apathie gegeben hatte, die sich seiner, im Gegensatz zu der früheren Angst, bemächtigte, – eine Apathie, die dem krank haft-gleichgültigen Zustand mancher Sterbenden glich. Überhaupt bemühte er sich in diesen letzten Tagen, der klaren und vollständigen Erkenntnis seines Zustandes aus dem Wege zu gehen; manche wichtigen Tatsachen, die einer sofortigen Aufklärung bedurften, bedrückten ihn besonders schwer; wie froh wäre er gewesen, sich von manchen Sorgen befreien zu können, deren Außerachtlassung ihn unvermeidlich und endgültig ins Verderben gestürzt hätte.
Die größte Sorge machte ihm Swidrigailow: man könnte sogar sagen, daß Swidrigailow ihm zu einer fixen Idee geworden war. Seit der Zeit, als er die allzu klar ausgesprochenen und für ihn so drohenden Worte von Swidrigailow in Ssonjas Wohnung, in der Todesstunde Katerina Iwanownas gehört hatte, war der gewöhnliche Fluß seiner Gedanken gleichsam gestört. Obwohl aber diese neue Tatsache ihn außerordentlich beunruhigte, beeilte sich Raskolnikow gar nicht, die Sache irgendwie aufzuklären. Zuweilen überraschte er sich selbst, wie er in irgendeinem entlegenen und einsamen Stadtteile, in irgendeinem elenden Wirtshause nachdenklich allein am Tische saß, ohne an wissen, wie er hingeraten war, und dann fiel ihm plötzlich Swidrigailow ein: er sah allzu klar und unruhig ein, daß er mit diesem Menschen so schnell als möglich sprechen und sich mit ihm, so weit es ging, einigen müßte. Als er sich einmal hinter die Stadtgrenze verirrte, bildete er sich ein, daß er Swidrigailow erwartete und daß sie hier eine Zusammenkunft verabredet hätten. Ein anderes Mal erwachte er bei Tagesgrauen irgendwo im Gesträuch, auf der nackten Erde, und konnte fast nicht begreifen, wie er hierhergekommen war. Übrigens hatte er in diesen zwei oder drei Tagen nach dem Tode Katerina Iwanownas den Swidrigailow schon an die zweimal getroffen, fast immer in Ssonjas Wohnung, wohin er ohne jede Absicht, stets nur auf einen Sprung kam. Sie wechselten miteinander einige wenige Worte und berührten niemals den Hauptpunkt, als bestünde zwischen ihnen eine Verabredung, darüber vorläufig zu schweigen. Die Leiche Katerina Iwanownas lag noch immer in der Wohnung. Swidrigailow traf Anordnungen für die Beerdigung und sorgte für alles. Auch Ssonja war sehr beschäftigt. Bei ihrer letzten Zusammenkunft erklärte Swidrigailow Raskolnikow, daß er die Kinder Katerina Iwanownas schon irgendwie versorgt habe, daß es ihm dank seinen Verbindungen gelungen sei, Personen zu finden, mit deren Hilfe man die drei Waisenkinder sofort in sehr anständigen Anstalten unterbringen könnte; daß das Geld, das er für sie deponiert habe, dabei sehr nützlich gewesen sei, da es viel leichter wäre, Waisen mit Kapital unterzubringen als solche, die gar nichts haben. Er sagte auch etwas über Ssonja, versprach Raskolnikow, ihn dieser Tage selbst aufzusuchen, und erwähnte nebenbei, daß er sich mit ihm beraten und ihn dringend sprechen müßte, da es sich um eine wichtige Angelegenheit handle ... Das Gespräch fand auf dem Flur an der Treppe statt. Swidrigailow blickte Raskolnikow unverwandt in die Augen und fragte ihn nach kurzem Schweigen mit gedämpfter Stimme:
»Was ist denn mit Ihnen, Rodion Romanowitsch? Man kann Sie ja kaum wiedererkennen! Wirklich! Sie schauen einen an und hören zu und scheinen nichts zu verstehen. Nehmen Sie sich zusammen. Wir müssen doch wirklich miteinander sprechen; es ist nur schade, daß ich so viel zu tun habe, für mich selbst und für andere ... Ach, Rodion Romanowitsch«, fügte er plötzlich hinzu, »alle Menschen brauchen Luft, Luft, Luft ... Vor allen Diagen Luft!«
Er trat plötzlich zur Seite, um den Geistlichen, der mit dem Küster die Treppe heraufkam, vorbeizulassen. Sie kamen, um die Totenmesse zu lesen. Auf Anordnung Swidrigailows wurden die Messen zweimal am Tage mit großer Pünktlichkeit abgehalten. Swidrigailow ging seiner Wege. Raskolnikow stand eine Weile da und folgte dann dem Geistlichen in Ssonjas Wohnung.
Er blieb in der Tür stehen. Der Gottesdienst begann leise, andächtig, traurig. Im Gedanken an den Tod und im Gefühl der Gegenwart des Todes lag für ihn stets, von früher Kindheit an, etwas Schweres und Mystisch-Schreckliches; auch hatte er schon lange keine Totenmesse mehr gehört. Es war auch etwas anderes, allzu Schreckliches und Unruhiges dabei. Er sah die Kinder an: sie lagen alle vor dem Sarg auf den Knien; Poljetschka weinte. Hinter ihnen betete Ssonja leise weinend. – In diesen Tagen hat sie mich aber kein einziges Mal angeschaut und kein Wort zu mir gesagt! – fiel es Raskolnikow plötzlich ein. Die Sonne erleuchtete hell das Zimmer; der Weihrauch stieg in leichten Wolken empor; der Geistliche las: »Schenke, Herr, die ewige Ruhe.« Raskolnikow blieb während der ganzen Messe da. Als der Geistliche den Segen erteilte und sich verabschiedete, sah er sich etwas eigentümlich um. Nach dem Gottesdienste ging Raskolnikow auf Ssonja zu. Sie ergriff plötzlich seine beiden Hände und schmiegte ihren Kopf an seine Schulter. Diese kurze freundschaftliche Regung überraschte ihn; es kam ihm sogar seltsam vor: Wie? Nicht der geringste Widerwille, nicht der geringste Ekel vor ihm, nicht das leiseste Zucken ihrer Hand! Es war die tiefste Stufe der Selbsterniedrigung. So faßte er es wenigstens auf. Ssonja sagte nichts. Raskolnikow drückte ihr die Hand und ging hinaus. Es wurde ihm so furchtbar schwer zumute. Wäre es ihm in diesem Augenblick möglich gewesen, fortzugehen und ganz allein zu bleiben, und wenn auch fürs ganze Leben, so würde er sich glücklich gefühlt haben. Die Sache war aber die, daß er in der letzten Zeit zwar fast immer allein war, aber sein Alleinsein unmöglich empfinden konnte. Oft ging er vor die Stadt, kam auf eine Landstraße und verirrte sich einmal sogar in ein Gehölz; doch je einsamer die Gegend war, um so stärker empfand er die nahe und beunruhigende Gegenwart von etwas, das wohl nicht grauenhaft war, aber ihn schon gar zu sehr belästigte, so daß er schleunigst in die Stadt zurückkehrte, sich unter die Menge mischte, in Wirtshäuser und Schenken einkehrte und auf den Trödelmarkt und Heumarkt ging. Hier war es ihm sogar leichter ums Herz, und erfühlte sich viel einsamer. In einem Wirtshause wurde den ganzen Spätnachmittag gesungen; hier blieb er eine ganze Stunde sitzen, hörte zu und erinnerte sich später, daß es ihm sehr angenehm gewesen war. Schließlich wurde er aber wieder unruhig, als ob ihn Gewissensbisse plagten. – Hier sitze ich höre dem Gesang zu, habe aber was ganz anderes zu tun! – ging es ihm durch den Sinn. Übrigens wurde es ihm sofort klar, daß dies nicht das einzige war, was ihn beunruhigte, daß noch etwas anderes da war, das eine unverzügliche Lösung erheischte, das er aber weder völlig erfassen noch in Worte kleiden konnte. Alles verwickelte sich zu einem Knäuel. – Nein, dann schon lieber den Kampf! Dann ziehe ich schon den Porfirij oder Swidrigailow vor ... Wenn doch schneller eine Herausforderung oder ein Überfall käme ... – Ja! Ja! – dachte er. Er verließ das Wirtshaus und lieffast fort. Der Gedanke an Dunja und an die Mutter machte ihm plötzlich panische Angst. In der folgenden Nacht erwachte er vor Tagesanbruch im Gebüsch auf der Krestowskij-Insel, ganz durchfroren und im Fieber; er ging nach Hause, wo er erst am Morgen anlangte. Nach einigen Stunden Schlaf war das Fieber vergangen, er erwachte aber sehr spät, um zwei Uhr nachmittags.
Er erinnerte sich, daß für diesen Tag die Beerdigung Katerina Iwanownas angesetzt war, und freute sich, daß er ihr nicht beigewohnt hatte. Nastasja brachte ihm sein Essen; er aß und trank mit großem Appetit, fast mit Gier. Sein Kopf war frischer und er selbst ruhiger als in den letzten drei Tagen. Er wunderte sich sogar flüchtig über die früheren Anfälle der panischen Angst. Die Tür ging auf, und herein trat Rasumichin.
»Aha! Er ißt, also ist er nicht krank!« sagte Rasumichin, nahm einen Stuhl und setzte sich an den Tisch, Raskolnikow gegenüber.
Er war aufgeregt und bemühte sich nicht, es zu verbergen. Er sprach mit sichtbarem Arger, doch ohne Übereilung und ohne die Stimme besonders zu erheben. Man könnte meinen, daß er von einer besonderen und ausschließlichen Ansicht besessen sei.
»Hör!« begann er entschlossen. »Ich kümmere mich den Teufel um euch alle, doch aus dem, was ich jetzt sehe, schließe ich, daß ich gar nichts verstehen kann; glaube, bitte, nicht, daß ich hergekommen bin, um dich auszufragen. Ich spucke darauf! Ich will es selbst nicht! Wenn du sogar selbst alles, alle eure Geheimnisse auskramen wolltest, würde ich vielleicht gar nicht zuhören, würde ausspucken und fortgehen. Ich bin gekommen, nur um persönlich und endgültig festzustellen, ob es wahr ist, daß du verrückt bist. Es besteht nämlich über dich die Meinung (irgendwo, bei irgend jemand), daß du vielleicht verrückt bist oder eine Anlage dazu hast. Offen gestanden, war ich auch selbst sehr geneigt, diese Ansicht zu verteidigen, erstens wegen deiner dummen und zum Teil gemeinen Handlungen (die durch nichts zu erklären sind), und zweitens wegen deines kürzlichen Benehmens gegen deine Mutter und Schwester. Nur ein Verbrecher und Schurke, wenn nicht ein Verrückter, hätte sie so behandeln können, wie du sie behandelt hast; folglich bist du verrückt ...«
»Ist es lange her, daß du sie gesehen hast?«
»Ich komme von ihnen. Und du hast sie seitdem nicht mehr gesehen? Wo treibst du dich herum? Sage es mir, bitte, ich war schon dreimal bei dir. Deine Mutter ist seit gestern ernstlich krank. Sie wollte unbedingt zu dir kommen; Awdotja Romanowna versuchte sie davon abzuhalten; sie wollte aber auf nichts hören. ›Wenn er krank ist,‹ sagte sie, ›wenn ihm der Wahnsinn droht, wer kann ihm dann helfen, wenn nicht seine Mutter?‹ So kamen wir alle her, denn wir konnten sie doch nicht allein gehen lassen. Bis zu deiner Tür flehten wir sie an, sich zu beruhigen. Wie wir hereinkamen, warst du nicht da; hier auf diesem Platz hat sie gesessen. Zehn Minuten saß sie da, und wir standen schweigend vor ihr. Endlich stand sie auf und sagte: ›Wenn er ausgehen kann, so ist er gesund und hat seine Mutter vergessen; es ist beschämend für die Mutter, vor seiner Schwelle zu stehen und um ein freundliches Wort wie um Almosen zu betteln.‹ Sie kam nach Hause und legte sich hin: jetzt liegt sie im Fieber. Sie sagt: ›Ich sehe jetzt, daß er für die SeineZeit hat.‹ Mit › Seine‹ meint sie – Ssofja Ssemjonowna, deine Braut oder Geliebte, – ich weiß es nicht. Ich ging sofort zu Ssofja Ssemjonowna, denn ich wollte alles erfahren, Bruder; – ich komme hin und sehe: ein Sarg steht da, die Kinder weinen. Ssofja Ssemjonowna probiert ihnen Trauerkleidchen an. Du bist nicht da. Ich sah mich um, entschuldigte mich und ging fort, und so berichtete ich es auch Awdotja Romanowna. Alles ist also Unsinn, es gibt gar keine › Seine‹, es ist also am ehesten Wahnsinn. Da sitzt du aber da und frißt gekochtes Fleisch, als hättest du drei Tage nichts gegessen. Die Verrückten essen allerdings auch; du hast mir zwar noch kein einziges Wort gesagt, aber du bist ... verrückt. Also hol euch alle der Teufel, denn es steckt irgendein Geheimnis, ein Rätsel dahinter, und ich bin nicht geneigt, mir über eure Rätsel den Kopf zu zerbrechen. Ich bin nur so heraufgekommen, um zu schimpfen«, schloß er und stand auf. »Um mir das Herz zu erleichtern; ich weiß aber, was ich jetzt tun soll!«
»Was willst du denn jetzt tun?«
»Was geht es dich an, was ich jetzt tun will?«
»Paß auf, da fängst noch zu trinken an!«
»Woher ... woher weißt du das?«
»Auch eine Frage!«
Rasumichin schwieg eine Weile.
»Da warst immer ein sehr vernünftiger Mensch und bist niemals, niemals verrückt gewesen«, bemerkte er plötzlich erregt. »Das stimmt: ich fange zu trinken an! Leb wohl!«
Und er schickte sich an, zu gehen.
»Ich habe über dich, glaube ich, vorgestern mit meiner Schwester gesprochen, Rasumichin.«
»Über mich?! Ja ... wo hast du sie denn vorgestern sehen können?« fragte plötzlich Rasumichin erstaunt und wurde sogar etwas blaß.
Man konnte ihm ansehen, daß sein Herz langsam und schwer klopfte.
»Sie war hergekommen, allein, hat hier gesessen und mit mir gesprochen.«
»Sie?!«
»Ja, sie!«
»Was hast du ihr denn gesagt ... ich meine – von mir?«
»Ich sagte ihr, daß du ein sehr guter, ehrlicher und arbeitsamer Mensch seist. Daß du sie liebst, habe ich ihr nicht gesagt, denn sie weiß es selbst.«
»Sie weiß es selbst?«
»Na, und ob! Wohin ich auch fortgehen würde, was mir auch zustieße, du bleibst ihnen immer eine Vorsehung. Ich übergebe sie dir, sozusagen, Rasumichin. Ich sage das, weil ich sicher weiß, wie du sie liebst, und weil ich von der Reinheit deines Herzens überzeugt bin. Ich weiß auch, daß auch sie dich lieben kann und vielleicht sogar auch schon liebt. Beschließe jetzt selbst, was du für das Beste hältst: – ob du zu trinken anfangen sollst oder nicht!?«
»Rodja ... Siehst du ... Nun ... Ach, Teufel! Wo willst du aber hin? Siehst du: wenn es ein Geheimnis ist, so laß es sein! Aber ich ... werde das Geheimnis erfahren ... Ich bin überzeugt, daß es unbedingt eine Dummheit und ein furchtbarer Unsinn ist und daß du alles allein ausgedacht hast. Ubrigens bist du ein prachtvoller Mensch! Ein prachtvoller Mensch! ...«
»Ich wollte dir vorhin noch sagen, du hast mich aber unterbrochen, daß es sehr klug von dir ist, wenn du alle diese Geheimnisse und Rätsel gar nicht erforschen willst. Laß sie vorläufig sein und mach dir keine Sorgen. Mit der Zeit wirst du alles erfahren, und zwar gerade dann, wenn es nötig sein wird. Gestern hat mir ein Mann gesagt, daß der Mensch Luft, Luft und noch einmal Luft braucht! Ich will gerade zu ihm gehen, um zu erfahren, was er damit meint.«
Rasumichin stand nachdenklich und erregt da und schien sich etwas zu überlegen.
– Er ist ein politischer Verschwörer! Ganz bestimmt! Und zwar unmittelbar vor einem entscheidenden Schritt, – ganz sicher! Anders kann es gar nicht sein und ... Dunja weiß davon ... – dachte er bei sich.
»Awdotja Romanowna kommt also zu dir«, sagte er, jedes Wort betonend, »und du selbst willst zu einem Menschen gehen, welcher sagt, daß man mehr Luft braucht und ... und folglich hat auch dieser Brief ... etwas damit zu tun«, schloß er wie vor sich hin.
»Was für ein Brief?«
»Sie hat heute einen Brief bekommen, der sie sehr aufgeregt hat. Sehr. Sogar furchtbar. Ich brachte die Rede auf dich, sie bat mich aber, zu schweigen. Dann ... dann sagte sie, daß wir uns vielleicht bald trennen werden, dann fing sie an, mir für etwas heiß zu danken ... dann ging sie auf ihr Zimmer und schloß sich ein.«
»Sie hat einen Brief bekommen?« fragte Raskolnikow wieder.
»Ja, einen Brief; hast du es nicht gewußt? Hm! ...«
Beide schwiegen eine Weile.
»Leb wohl, Rodion. Es gab eine Zeit ... wo ich, Bruder ... übrigens leb wohl; nun, es gab eine Zeit ... Leb wohl! Ich muß auch gehen. Trinken werde ich nicht. Jetzt brauche ich es nicht ... Unsinn!«
Er schien große Eile zu haben; als er aber schon hinausgegangen war und die Tür fast geschlossen hatte, machte er sie plötzlich wieder auf und sagte, irgendwo zur Seite blickend:
»Apropos! Kannst du dich noch an den Mord erinnern, mit dem sich Porfirij zu schaffen macht: an die Ermordung der Alten? Also wollte ich dir sagen, daß man den Mörder gefunden hat, er hat selbst alles eingestanden und alle Beweise geliefert. Er ist einer von jenen Arbeitern, den Anstreichern, denk dir nur! Kannst du dich noch erinnern, wie ich sie hier verteidigt habe? Wirst du es glauben: die ganze Szene, wo er sich mit seinem Kameraden auf der Treppe herumschlug und lachte, als der Hausknecht und die beiden Zeugen hinaufgingen, hat er absichtlich aufgeführt, um den Verdacht von sich abzulenken. Wie schlau, welch eine Geistesgegenwart bei so einem jungen Hunde! Es ist kaum zu glauben; er hat aber alles aufgeklärt und alles eingestanden! Wie bin ich doch hereingefallen! Nun, meiner Ansicht nach ist er bloß ein Genie der Verstellungskunst und der Findigkeit, ein Genie des juristischen Alibi – folglich ist hier nichts Bewundernswertes! Warum soll es auch nicht solche Leute geben? Daß er aber aus seiner Rolle gefallen ist und alles eingestanden hat, macht mir die Sache erst recht glaubhaft. So ist es wahrscheinlicher! ... Aber wie ich damals hereingefallen bin! Ich fuhr aus der Haut, um ihn zu verteidigen!«
»Sag, bitte, woher hast du das erfahren und warum interessiert dich das so sehr?« fragte Raskolnikow mit sichtlicher Unruhe.
»Auch eine Frage! Warum mich das interessiert! Wie du manchmal fragen kannst! ... Erfahren habe ich es unter anderem von Porfirij. Übrigens habe ich fast alles von ihm erfahren.«
»Von Porfirij?«
»Ja, von Porfirij.«
»Nun, und was ... was denkt er?« fragte Raskolnikow erschrocken.
»Er hat mir alles ausgezeichnet erklärt. Er hat es mir psychologisch erklärt, auf seine Weise.«
»Er hat es selbst erklärt? Er selbst?«
»Ja, er selbst. Leb wohl! Später einmal will ich dir noch mehr davon erzählen, jetzt habe ich keine Zeit. Es gab nämlich ... eine Zeit, wo ich glaubte ... Aber was soll ich jetzt davon reden, ein anderes Mal! ... Warum sollte ich mich jetzt betrinken? Du hast mich auch ohne Wein berauscht gemacht. Ich bin ganz betrunken, Rodja! Ohne Wein bin ich betrunken, leb wohl! Ich komme noch einmal vorbei, sehr bald.«
Er ging hinaus.
– Er ist ein politischer Verschwörer, ganz gewiß, ganz gewiß! – sagte sich Rasumichin endgültig, indem er die Treppe hinunterging. – Er hat auch seine Schwester hineingezogen; das ist beim Charakter Awdotja Romanownas sehr leicht möglich. Sie haben Zusammenkünfte miteinander! ... Sie hat mir aber auch schon Andeutungen gemacht ... Aus vielen ihrer Worte ... und Bemerkungen ... und Andeutungen kann man alles schließen! Wie sollte man sich diesen ganzen Wirrwarr auch anders erklären? Hm! Ich glaubte aber schon ... O Gott, was war mir nur eingefallen?! Es war eine Geistesverwirrung, und ich stehe vor ihm schuldig da! Er selbst hat mich so verwirrt, damals im Korridor vor der Lampe. Pfui! Was war es doch für ein häßlicher, roher, gemeiner Gedanke von mir! Mikolka ist ein braver Kerl, daß er alles eingestanden hat ... Und wie gut läßt sich jetzt alles Frühere erklären! Seine damalige Krankheit, alle seine sonderbaren Handlungen, sogar viel früher auf der Universität, als er immer so finster und verschlossen war ... Was hat aber jetzt jener Brief zu bedeuten? Es wird vielleicht doch etwas dahinterstecken. Von wem mag dieser Brief sein? Ich habe einen Verdacht ... Hm! Nein, ich werde alles erfahren. –
Alles, was mit Dunjetschka zusammenhing, ging ihm wieder durch den Sinn, und sein Herz stand still. Und er rannte davon, als hätte er sich von einer Kette losgerissen.
Sobald Rasumichin fortgegangen war, stand Raskolnikow auf, wandte sich zum Fenster, ging erst in eine Ecke, dann in eine andere, als hätte er die Enge seiner Kammer vergessen, und ... setzte sich wieder aufs Sofa. Er fühlte sich wie neugeboren; es stand ihm wieder ein Kampf bevor, also hatte sich ein Ausweg gefunden!
Ja, es hat sich ein Ausweg gefunden! Alles war so luftdicht abgeschlossen, hatte angefangen, so qualvoll zu drücken, es war wie ein Alp. Seit dem Auftritt mit Mikolka bei Porfirij glaubte er in der Enge ohne Ausweg ersticken zu müssen. Am gleichen Tage hatte er nach Mikolka die Szene mit Ssonja gehabt; er hatte diese Szene ganz anders durchgeführt und abgeschlossen, als er es sich früher hätte vorstellen können ... also war er plötzlich und radikal schwach geworden! Mit einem Male! Er hatte sich doch damals mit Ssonja geeinigt, hatte sich mit ganzem Herzen geeinigt, daß er mit einer solchen Last auf dem Herzen allein nicht leben könne! Und Swidrigailow? Swidrigailow ist ein Rätsel ... Swidrigailow beunruhigt ihn, das ist wahr, aber nicht in dieser Richtung. Vielleicht steht ihm auch noch ein Kampf mit Swidrigailow bevor. Vielleicht bedeutet auch Swidrigailow einen Ausweg; aber Porfirij ist eine andere Sache.
Porfirij hat also Rasumichin alles selbst erklärt, hat es ihm psychologischerklärt! Hat also wieder seine verfluchte Psychologie aufs Tapet gebracht! Porfirij? Kann denn Porfirij auch nur einen Augenblick lang glauben, daß Mikolka schuldig sei, nach allem, was sich zwischen ihm und Raskolnikow abgespielt hat, nach jener Szene unter vier Augen vor Mikolkas Erscheinen, für die es bloß eine einzigerichtige Erklärung gibt?! (In diesen Tagen war ihm einigemal diese ganze Szene mit Porfirij bruchstückweise in Erinnerung gekommen; aber sich ihrer ganz und zusammenhängend zu erinnern, wäre ihm unerträglich gewesen.) Es waren zwischen ihnen damals solche Worte gefallen, es hatte solche Bewegungen und Gebärden gegeben, es waren solche Blicke getauscht, es war manches mit einer solchen Stimme gesagt worden und alles hatte bereits solche Grenzen erreicht, daß nach alledem ein Mikolka, welchen Porfirij auf den ersten Blick durchschaut hatte, die Grundlage seiner Überzeugungen niemals hätte erschüttern können!
Wie ist es nun gekommen?! Sogar Rasumichin hatte angefangen, ihn zu verdächtigen! Die Szene im Korridor bei der Lampe war also nicht spurlos vorübergegangen. Darum war er gleich zu Porfirij gelaufen ... warum hat aber jener angefangen, ihn irrezuführen? Was für eine Absicht verfolgt er, wenn er Rasumichins Verdacht auf Mikolka lenkt? Er führt gewiß etwas im Schilde, er hat Absichten, aber was für welche? Allerdings war seit jenem Morgen viel Zeit vergangen, viel zu viel Zeit, und Porfirij hat von sich bisher nichts hören lassen. Nun, das ist natürlich schlimm ... – Raskolnikow nahm nachdenklich seine Mütze und wollte das Zimmer verlassen. Es war der erste Tag seit dieser ganzen Zeit, daß er sich wenigstens bei klarem Verstand fühlte. – Ich muß erst mit Swidrigailow fertigwerden – dachte er, – und zwar unbedingt so schnell als möglich; auch der scheint zu warten, daß ich zu ihm komme. – In diesem Augenblick erhob sich in seinem müden Herzen solch ein Haß, daß er imstande gewesen wäre, einen von den beiden zu ermorden: Swidrigailow oder Porfirij. Er fühlte wenigstens, daß er imstande sei, es wenn nicht jetzt so später zu tun. – Wir wollen sehen, wir wollen sehen! – wiederholte er vor sich hin.
Kaum hatte er aber die Tür zum Flur geöffnet, als er plötzlich mit Porfirij selbst zusammenstieß. Jener kam eben zu ihm. Raskolnikow erstarrte für einen Augenblick, aber nur für einen Augenblick. Seltsamerweise war er über Porfirijs Besuch nicht sehr erstaunt und fast nicht erschrocken. Er zuckte nur zusammen, machte sich aber schon im nächsten Augenblick auf alles bereit. – Vielleicht ist das die Lösung! Wie leise ist er aber gekommen, wie eine Katze, und ich habe nichts gehört! Hat er vielleicht an der Tür gehorcht? –
»Sie haben wohl denGast nicht erwartet, Rodion Romanowitsch?« rief Porfirij lachend. »Ich hatte schon längst die Absicht, Sie mal zu besuchen. Wie ich eben vorbeiging, dachte ich mir: Warum soll ich nicht für fünf Minuten hinaufgehen? Sie wollen ausgehen? Ich werde Sie nicht aufhalten. Bloß eine Zigarette will ich bei Ihnen rauchen, wenn Sie gestatten.«
»Setzen Sie sich doch, Porfirij Petrowitsch. Setzen Sie sich, bitte«, begrüßte Raskolnikow seinen Gast mit einem scheinbar so zufriedenen und freundlichen Ausdruck, daß er wohl selbst über sich erstaunt wäre, wenn er sich hätte sehen können.
Nun galt es den letzten Rest seiner Kraft zusammenzunehmen! So zittert ein Mensch zuweilen eine halbe Stunde vor Todesangst vor einem Räuber; wenn ihm aber jener endgültig das Messer an die Gurgel setzt, so verschwindet die ganze Angst. Er setzte sich Porfirij gegenüber und sah ihn ohne zu zwinkern an. Porfirij kniff die Augen zusammen und begann sich eine Zigarette anzustecken.
– Sprich doch, sprich doch – drängte es sich aus dem Herzen Raskolnikows: – Nun, warum sagst du nichts? –
II
»Ja, auch diese Zigaretten!« begann endlich Porfirij Petrowitsch, nachdem er die Zigarette angesteckt und Atem geholt hatte. »Sie sind schädlich, furchtbar schädlich, und doch kann ich das Rauchen nicht aufgeben! Ich huste, im Halse kratzt es, und ich leide Atemnot. Wissen Sie, ich bin ängstlich und ging darum neulich zu B. – er untersucht jeden Patienten mindestens eine halbe Stunde lang; als er mich sah, lachte er sogar; er klopfte und horchte an mir herum und sagte schließlich: ›Das Rauchen ist für Sie nichts, Ihre Lunge ist erweitert.‹ Wie soll ich aber das Rauchen aufgeben? Wodurch soll ich es ersetzen? Ich trinke doch nicht, das ist mein ganzes Unglück! He-he-he, es ist ein Unglück, daß ich nicht trinke! Alles ist doch relativ, Rodion Romanowitsch, alles ist relativ!«
– Fängt er schon wieder mit seinen alten Kunststücken an? – dachte Raskolnikow angeekelt. Die ganze letzte Szene zwischen ihnen kam ihm plötzlich in den Sinn, und dasselbe Gefühl wie damals erfüllte seine Seele.
»Ich war schon einmal bei Ihnen, vorgestern abend; Sie wissen es gar nicht?« fuhr Porfirij Petrowitsch fort, sich im Zimmer umsehend. »Ich bin hier in diesem Zimmer gewesen. Ebenso heute; ich gehe gerade vorbei und denke mir: Ich will ihn mal besuchen. Ich komme herauf, die Tür steht weit offen; ich sah mich um, wartete und meldete mich nicht mal bei ihrer Dienstmagd, und dann ging ich wieder fort. Sie pflegen Ihr Zimmer nicht abzuschließen?«
Raskolnikows Gesicht verfinsterte sich immer mehr. Porfirij hatte seine Gedanken gleichsam erraten.
»Ich komme her, liebster Rodion Romanowitsch, um mich mit Ihnen auszusprechen! Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig«, fuhr er mit einem Lächeln fort und klopfte ihn sogar leicht mit der Hand aufs Knie.
Aber sein Gesicht nahm fast im gleichen Augenblick einen ernsten und bekümmerten Ausdruck an; Raskolnikow sah darin zu seinem Erstaunen sogar einen Auflug von Trauer. Einen solchen Ausdruck hatte er an ihm noch niemals wahrgenommen und nicht einmal vermutet.
»Eine sonderbare Szene hat sich das letztemal zwischen uns abgespielt, Rodion Romanowitsch. Allerdings war auch unsere erste Begegnung sehr sonderbar, aber damals ... Jetzt ist es aber gleich! Nun, hören Sie: ich stehe vielleicht schuldig vor Ihnen da; ich fühle es. Erinnern Sie sich noch, wie wir uns trennten: Ihnen zittern die Nerven und schlottern die Knie, und auch mir zittern die Nerven und schlottern die Knie. Und wissen Sie, es ging damals zwischen uns so gar nicht anständig zu, nicht wie unter Ehrenmännern. Wir sind aber Ehrenmänner, das heißt in jedem Falle und unter allen Umständen Ehrenmänner, das soll man nicht vergessen. Sie erinnern sich noch, was weiter kam: es war einfach unanständig.«
– Was hat er denn, für was hält er mich? – fragte sich Raskolnikow erstaunt, Porfirij mit erhobenem Kopf anschauend.
»Ich bin zur Einsicht gekommen, daß es für uns jetzt das beste ist, aufrichtig vorzugehen«, fuhr Porfirij Petrowitsch fort, den Kopf etwas zur Seite gewandt und die Augen gesenkt, als wollte er sein früheres Opfer nicht mehr mit seinen Blicken irritieren und als hätte er seine früheren Kunstgriffe und Methoden verworfen. »Jawohl, solche Verdächtigungen und solche Szenen gehen auf die Dauer nicht. Mikolka war für uns damals eine Erlösung, sonst weiß ich gar nicht, wozu es noch alles gekommen wäre. Jener verfluchte Kleinbürger saß bei mir die ganze Zeit hinter dem Verschlag – können Sie es sich vorstellen? Sie wissen es natürlich schon; es ist mir auch bekannt, daß er nachher bei Ihnen war; aber was Sie damals angenommen hatten, war gar nicht der Fall: ich hatte nach niemand geschickt und noch keinerlei Anordnungen getroffen. Sie werden mich fragen, warum ich keine Anordnungen getroffen hatte? Wie soll ich es Ihnen sagen: Das Ganze war auch für mich ganz unerwartet gekommen. Es war mir sogar kaum eingefallen, die Hausknechte kommen zu lassen. (Die Hausknechte haben Sie doch sicher im Vorbeigehen bemerkt.) Ein Gedanke hat mich damals durchzuckt, so schnell wie ein Blitz; denn ich war damals gar zu fest überzeugt, Rodion Romanowitsch. Ich will mal – sagte ich mir – zunächst das eine aufgeben, dafür aber etwas anderes am Schwanze packen; so entgeht mir wenigstens das meinige nicht. Sie sind sehr reizbar von Natur, Rodion Romanowitsch, sogar viel zu reizbar, bei allen anderen Grundzügen Ihres Charakters, die ich, wenigstens zum Teil, erfaßt zu haben hoffe. Aber ich konnte mir natürlich damals auch sagen, daß es nicht immer so kommt, daß der Mensch einfach aufsteht und einem die ganze Wahrheit gesteht. Das kommt zwar vor, besonders wenn man einen Menschen ganz aus der Fassung bringt, aber in jedem Falle selten. Das habe ich mir auch damals sagen können. Ich dachte mir: Wenn ich doch bloß ein Endchen erwische! Wenn auch nur ein ganz winziges, doch ein solches, daß ich es mit den Händen packen kann, daß es eine greifbare Sache ist und keine Psychologie. Denn ich dachte mir: Wenn ein Mensch schuldig ist, so kann man von ihm jedenfalls etwas Wesentliches erwarten; es ist sogar erlaubt, auf ein ganz unerwartetes Resultat zu rechnen. Ich hatte damals auf Ihren Charakter gerechnet, Rodion Romanowitsch, vor allem – auf den Charakter! Große Hoffnungen hatte ich damals auf Sie gesetzt!«
»Ja, aber ... aber warum reden Sie jetzt immer so?« murmelte Raskolnikow, der selbst seine eigene Frage kaum verstand.
– Wovon redet er eigentlich? – fragte er sich ganz fassungslos: – Hält er mich denn wirklich für unschuldig? –
»Warum ich so rede? Nun, ich bin ja hergekommen, um mich mit Ihnen auszusprechen, ich halte es sozusagen für meine heilige Pflicht. Ich möchte Ihnen restlos darlegen, wie sich alles zugetragen hat, die ganze Geschichte der damaligen – sagen wir Verblendung. Ich habe Sie viel gequält, Rodion Romanowitsch. Ich bin kein Unmensch. Ich begreife es doch auch, wie schwer es für einen niedergedrückten, doch stolzen, herrschsüchtigen und ungeduldigen – in erster Linie ungeduldigen Menschen ist, dies alles zu tragen! Ich halte Sie in jedem Falle für einen höchst edlen Menschen, sogar mit Anlagen zu Großmut, obwohl ich mit Ihnen in Ihren Überzeugungen nicht einverstanden bin, und ich halte es auch für meine Pflicht, es Ihnen im voraus ganz offen und aufrichtig zu sagen, denn ich will Sie vor allen Dingen nicht betrügen. Nachdem ich Sie kennengelernt hatte, fühlte ich eine Neigung für Sie. Sie werden vielleicht über diese meine Worte lachen? Das Recht dazu haben Sie ja. Ich weiß, daß Sie mich gleich auf den ersten Blick nicht mochten, denn im Grunde genommen ist nichts an mir, wofür man mich hätte lieben können. Sie können davon halten, was Sie wollen, aber ich will jetzt meinerseits mit allen Mitteln den Eindruck, den ich auf Sie machte, verwischen und Ihnen beweisen, daß ich ein Mensch mit Herz und Gewissen bin. Ich sage das ganz aufrichtig.«
Porfirij Petrowitsch hielt selbstbewußt inne. Raskolnikow fühlte sich von einem neuen Schrecken ergriffen. Der Gedanke, daß Porfirij ihn für unschuldig halte, machte ihm plötzlich Angst.
»Alles der Reihe nach zu erzählen, wie es angefangen hat, ist wohl kaum nötig«, fuhr Porfirij Petrowitsch fort. »Ich werde es auch kaum fertigbringen können. Denn wie kann ich es umständlich erklären? Zuerst kamen Gerüchte auf. Ihnen zu erzählen, was es für Gerüchte waren, wann und woher sie kamen und aus welchem Anlaß die Rede auch auf Sie kam, halte ich gleichfalls für überflüssig. Bei mir persönlich fing es mit einer Zufälligkeit an, mit einer ganz zufälligen Zufälligkeit, die ebenso sein, wie auch nicht sein konnte. Was es für eine Zufälligkeit war? Hm! ... auch davon, glaube ich, lohnt es sich nicht zu reden. Dies alles, diese Gerüchte und Zufälligkeiten vereinigten sich bei mir zu einem Gedanken. Ich gestehe es offen – denn wenn man schon offen spricht, so soll man alles gestehen –, ich war der erste, der damals auf Sie kam. Alle die Vermerke der Alten auf den Sachen usw. – all das ist Unsinn. Solche Dinge kann man hundertweise aufzählen. Ich hatte damals auch Gelegenheit, Genaues über die Szene im Polizeibureau zu hören, auch ganz zufällig, und zwar nicht flüchtig, sondern von einem ganz hervorragenden Erzähler, der, ohne es selbst zu ahnen, diese Szene ganz wunderbar bewältigt hat. Eines griff immer ins andere hinein, eines ins andere, liebster Rodion Romanowitsch! Nun, wie sollte ich mich da nicht nach einer bestimmten Richtung wenden!? Aus hundert Kaninchen wird nie ein Pferd, aus hundert Verdachtsgründen nie ein Beweis, wie ein englisches Sprichwort sagt. Aber das bezieht sich doch nur auf die Vernunft; doch wenn die Leidenschaften hinzukommen – versuchen Sie nur mit der Leidenschaft fertigzuwerden, denn auch der Untersuchungsrichter ist ein Mensch! Ich erinnerte mich auch Ihres Artikels in der Zeitschrift; wissen Sie noch, bei Ihrem ersten Besuch haben wir ausführlich davon gesprochen. Ich hatte mich dann über Sie lustiggemacht, doch nur, um Sie zu weiteren Äußerungen zu verleiten. Ich wiederhole, Sie waren sehr ungeduldig und krank, Rodion Romanowitsch. Daß Sie kühn, herausfordernd und ernst sind, daß Sie innerlich viel erlebt hatten, das wußte ich schon längst. Mir sind diese Empfindungen bekannt, und Ihren Artikel las ich wie etwas mir Bekanntes. In schlaflosen Nächten und im Zustande von Raserei ist dieser Artikel in Ihrem Kopfe entstanden, unter Herzklopfen mit unterdrücktem Enthusiasmus. Dieser unterdrückte, stolze Enthusiasmus ist in der Jugend gefährlich! Damals hatte ich mich darüber lustiggemacht, jetzt will ich Ihnen aber sagen, daß ich diese erste jugendliche, leidenschaftliche Federprobe als Amateur über alles liebe. Ein Rauch, ein Nebel, und im Nebel klingt eine Saite. Ihr Artikel ist absurd und phantastisch, aber es leuchtet darin eine Aufrichtigkeit, ein jugendlicher und unbestechlicher Stolz, die Kühnheit der Verzweiflung; er ist so düster, dieser Artikel, aber das ist auch gut. Ich las Ihren Artikel damals durch, legte ihn dann beiseite und dachte mir dabei: ›Mit diesem Menschen wird es nicht so glatt ablaufen?‹ Nun, sagen Sie mir selbst: Wie sollte ich mich nach all dem Vorangegangenen nicht von dem Folgenden hinreißen lassen? Ach, mein Gott, sage ich denn überhaupt was? Behaupte ich denn was? Ich hatte es mir damals nur gemerkt. Was ist denn dabei? – fragte ich mich. Es ist nichts dabei, aber gar nichts, vielleicht sogar absolut nichts. Für mich, einen Untersuchungsrichter, ziemt es sich gar nicht, sich so hinreißen zu lassen: ich habe ja den Mikolka in Händen, und zwar mit Tatsachen, – wie Sie wollen: es sind Tatsachen! auch er kommt mit seiner Psychologie; ihm muß ich mich noch ordentlich widmen, denn bei ihm handelt es sich um Leben und Tod. Wozu ich Ihnen jetzt das alles erkläre? Damit Sie es wissen und mich nicht im Geist und im Herzen für mein damaliges boshaftes Benehmen verurteilen. Es war aber gar nicht boshaft. Ich versichere es aufrichtig, he-he! Sie glauben, ich hätte bei Ihnen keine Haussuchung abgehalten? Natürlich habe ich eine abgehalten, he-he! Es war, als Sie krank im Bettchen lagen. Nicht offiziell und nicht in eigener Person, aber ich habe eine gemacht. Bis aufs letzte Härchen wurde in Ihrer Wohnung alles durchsucht, sogar gleich nach der frischen Spur, aber – umsonst! Ich denke mir: Jetzt wird dieser Mensch kommen, wird selbst kommen, sogar sehr bald; wenn er schuldig ist, so wird er sicher kommen. Ein anderer wird nicht kommen, aber dieser wird kommen. Erinnern Sie sich noch, wie Herr Rasumichin anfing, sich zu verschnappen? Das haben wir absichtlich so gemacht, um Sie aufzuregen, darum haben wir auch das Gerücht losgelassen, damit er sich Ihnen gegenüber verschnappt, denn Herr Rasumichin ist ein Mensch, der seine Entrüstung nicht bei sich behalten kann. Dem Herrn Samjotow waren zuerst Ihr Zorn und Ihre offene Kühnheit aufgefallen; wie kann man auch so im Gasthause herausplatzen: ›Ich habe gemordet!‹ Viel zu kühn, viel zu frech, und wenn er schuldig ist, dachte ich mir, so ist er ein furchtbarer Kämpfer! Wirklich, so dachte ich mir damals. Und ich warte! Ich warte auf Sie gespannt, aber den Samjotow haben Sie damals ganz erdrückt, und ... das ist eben der Witz, daß diese ganze Psychologie zwei Enden hat! So warte ich auf Sie und sehe – Gott schickt Sie mir zu! Da stand mir das Herz still. Ach, was mußten Sie damals kommen? Ihr Lachen, Ihr Lachen, als Sie hereinkamen – können Sie sich noch erinnern? – Alles sah ich damals so klar wie durch Glas; hätte ich Sie damals nicht so besonders erwartet, so wäre mir auch in Ihrem Lachen nichts aufgefallen. Da sehn wir, was es heißt, in der rechten Stimmung zu sein. Auch Herr Rasumichin damals – ach! und der Stein, der Stein, unter dem die Sachen versteckt liegen? Mir ist es, als sehe ich ihn irgendwo in einem Gemüsefeld liegen. Sie sprachen doch zu Samjotow von einem Gemüsefeld, und dann zum zweitenmal sprachen Sie davon bei mir. Und als wir damals begannen, Ihren Aufsatz durchzunehmen, als Sie ihn zu erklären anfingen, da faßte ich jedes Ihrer Worte doppelt auf, als säße unter jedem Worte ein anderes! So kam ich, Rodion Romanowitsch, bis zur letzten Grenze, und als ich mich mit der Stirn anstieß, kam ich zum Bewußtsein. Nein, sagte ich mir, was fällt mir ein? Wenn man will, sagte ich mir, kann man das alles bis zum letzten Endchen auch im entgegengesetzten Sinne auslegen, und dann wird es sogar noch natürlicher klingen. Ich gestand mir selbst, daß es natürlicher klingen wird. Das war eine Plage! Nein, dachte ich mir, dann will ich doch lieber wenigstens ein Endchen von einer Tatsache haben! ... Als ich damals von diesem Klingeln hörte, erstarrte ich beinahe, es überlief mich kalt. Nun, denke ich mir, da hab ich so ein Endchen! Das ist es! Ich überlegte nicht mehr, ich wollte es einfach nicht. Tausend Rubel hätte ich in jedem Augenblick aus eigener Tasche hergegeben, nur um mit meinen eigenen Augenzu sehen, wie Sie an die hundert Schritte neben dem Kleinbürger hergingen, nachdem er Ihnen ›Mörder‹ ins Gesicht gesagt hatte und Sie ganze hundert Schritt lang nicht wagten, ihn etwas zu fragen! ... Nun, und das Frösteln im Rückenmark? Und dieses Klingeln im Fieber, während Ihrer Krankheit? Warum wundern Sie sich, Rodion Romanowitsch, nach alledem, daß ich mit Ihnen damals solche Scherze getrieben habe? Und warum waren Sie gerade in jenem Augenblick gekommen? Niemand hat Sie doch dazu getrieben, bei Gott, und wenn Mikolka uns damals nicht auseinandergebracht hätte, so ... und erinnern Sie sich noch an Mikolka damals? Haben Sie ihn sich gut gemerkt? Es war doch wie ein Donnerschlag! Wie ein Blitz aus einer Gewitterwolke, wie ein Donnerpfeil! Nun, und wie nahm ich ihn auf? Dem Donnerpfeil glaubte ich kein einziges Wort, wie Sie selbst zu sehen beliebten! Und noch mehr als das! Als Sie schon weggegangen waren und er anfing, außerordentlich vernünftig manche Punkte zu beantworten, so daß ich selbst darüber staunte, – auch dann glaubte ich ihm kein Wort! Sehen Sie, was es heißt, eine felsenfeste Grundlage zu haben! Nein, denke ich mir, Schnecken! Was hat Mikolka mit der Sache zu tun?«
»Rasumichin hat mir soeben gesagt, daß Sie auch jetzt noch den Nikolai beschuldigen, und Sie hätten ihn selbst davon überzeugt ...«
Sein Atem stockte, und er sprach den Satz nicht zu Ende. Er hörte in unbeschreiblicher Erregung zu, wie der Mensch, der ihn ganz durchschaut hatte, seine eigenen Worte verleugnete. Er fürchtete, daran zu glauben, und glaubte es auch nicht. In den noch doppelsinnigen Worten suchte er gierig nach etwas Bestimmterem und Endgültigem.
»Ja, der Herr Rasumichin!« rief Porfirij Petrowitsch, als freute er sich über die Frage Raskolnikows, der die ganze Zeit geschwiegen hatte. »He-he-he! Herrn Rasumichin mußte man ausschalten: wo zwei miteinander einig sind, soll der Dritte seine Nase nicht hineinstecken. Herr Rasumichin ist nicht der richtige Mensch, auch ist er ein Außenstehender, ganz bleich kam er zu mir gelaufen ... Nun, Gott sei mit ihm, was soll ich ihn in die Sache verwickeln! Und was den Mikolka betrifft, so wissen Sie doch, was er für ein Subjekt ist, das heißt, wie ich ihn auffasse? Erstens ist er noch ein unmündiges Kind, eigentlich kein Feigling, hat aber doch etwas von einem Künstler. Wirklich, lachen Sie, bitte, nicht, daß ich ihn so darstelle. Er ist unschuldig und für alles empfänglich. Er hat ein Herz, ist ein Phantast. Er versteht zu singen und zu tanzen und soll so vorzüglich Märchen erzählen können, daß die Leute sich versammeln, um ihm zuzuhören. Er ist imstande, eine Sonntagsschule zu besuchen, zu lachen, bis er umfällt, wenn man ihm bloß den kleinen Finger zeigt, und bis zur Bewußtlosigkeit zu trinken, doch nicht aus Verdorbenheit, sondern periodisch, wenn man ihn betrunken macht, ganz wie ein Kind. Er hat ja doch gestohlen, kann es aber selbst nicht einsehen, denn er sagt: ›Wenn ich's auf der Erde gefunden habe, so ist es doch kein Diebstahl!‹ Ist Ihnen auch bekannt, daß er ein Altgläubiger ist, das heißt weniger ein Altgläubiger als ein Sektierer? Einige von seiner Familie waren bei der ›Bjeguny‹-Sekte gewesen, und er selbst hat erst vor kurzem ganze zwei Jahre auf dem Lande bei einem frommen Greis als Jünger gelebt. Das alles erfuhr ich von Mikolka selbst und auch von seinen Landsleuten aus Saraisk. Und noch mehr: er wollte sogar in die Wüste fliehen! Großen Eifer hatte er in Glaubenssachen, betete nachts zu Gott und las fortwährend in den alten ›wahren‹ Büchern, bis er fast um den Verstand kam. Petersburg hatte auf ihn einen mächtigen Eindruck gemacht, besonders das weibliche Geschlecht, auch der Schnaps. Er ist so empfänglich und hat seinen frommen Greis und alles vergessen. Es ist mir bekannt, daß ihn ein hiesiger Maler liebgewonnen hat; er besuchte ihn auch, da kam aber diese Geschichte dazwischen. Er bekam Angst und wollte sich erhängen! Durchbrennen! Was soll man tun, wenn das Volk solche Begriffe von unserer Rechtspflege hat! Gar mancher fürchtet die ›Verurteilung‹. Wer ist schuld? Wie werden sich die neuen reformierten Gerichte einführen? Ach, möge Gott das Beste geben! Nun, im Zuchthause erinnerte er sich wohl wieder des frommen Greises; auch fing er wieder an, in der Bibel zu lesen. Wissen Sie, Rodion Romanowitsch, was bei manchen dieser Leute bedeutet, ›das Leiden auf sich zu nehmen?‹ Das heißt nicht, für jemand bestimmten zu leiden; nein, man muß einfach ein Leiden auf sich nehmen, und wenn es von der Obrigkeit kommt, so ist es noch besser. Da hatte ich seinerzeit im Zuchthause ein ganzes Jahr einen sehr stillen und braven Arrestanten sitzen. Nächte lang hockte er auf dem Ofen und las die Bibel; vor lauter Lesen wurde er ganz verrückt und packte eines Tages so mir nichts dir nichts einen Ziegelstein und schmiß ihn auf den Gefängnisdirektor, ohne daß dieser ihm irgendwas getan hätte. Und wie er den Stein schleuderte: er zielte absichtlich einen ganzen Arschin vorbei, um den Mann ja nicht zu verletzen! Nun, man weiß ja, was mit einem Arrestanten geschieht, der einen Vorgesetzten mit bewaffneter Hand überfällt; so ›nahm er das Leiden auf sich‹. Nun habe ich auch den Mikolka in Verdacht, daß er ›das Leiden auf sich nehmen‹ will, oder etwas Ähnliches. Es ist ganz gewiß so, ich habe sogar Beweise dafür. Er selbst weiß nur nicht, daß ich es weiß. Was, Sie werden wohl nicht zugeben, daß aus solch einem Volke so phantastische Menschen hervorgehen können? Das sehen wir aber auf Schritt und Tritt. Der fromme Greis hat jetzt wieder Einfluß auf ihn: besonders nach dem Selbstmordversuch muß er wohl immer wieder an ihn denken. Übrigens wird er mir das alles selbst erzählen, er wird schon kommen. Sie glauben, er wird es aushalten können? Warten Sie nur, er wird schon widerrufen! Von Stunde zu Stunde warte ich, daß er seine Aussage zurücknimmt. Diesen Mikolka habe ich liebgewonnen und will ihn genau erforschen. Und was glauben Sie! He-he! Auf manche Punkte gibt er mir recht vernünftige Antworten. Offenbar hat er die nötigen Mitteilungen bekommen und hat sich geschickt auf alles vorbereitet; bei anderen Punkten blamiert er sich aber furchtbar, weiß gar nichts, hat keinen blauen Dunst und ahnt nicht mal, daß er keinen blauen Dunst hat! Nein, Väterchen Rodion Romanowitsch, Mikolka war es nicht! Es ist eine phantastische, finstere Sache, eine moderne, zeitgemäße Sache, ein Fall, wo das menschliche Herz sich getrübt hat; wo die Phrase zitiert wird, daß das vergossene Blut ›erfrischt‹. Wo gepredigt wird, daß das Wichtigste im Leben der Komfort sei. Hier sind aus Büchern geschöpfte Gedanken, hier ist ein von Theorien gereiztes Herz; hier sieht man die Entschlossenheit zum ersten Schritt, aber eine Entschlossenheit besondrer Art, der Mensch faßt den Entschluß genau so, wie er von einem Berge herunterspringt oder sich von einem Glockenturme stürzt; er ist auch nicht mit eigenen Beinen zum Verbrechen gekommen. Er vergaß, die Tür hinter sich zu schließen, hat aber einen Mord begangen, hat zwei Menschen ermordet, nach der Theorie. Er hat gemordet, hat aber nicht verstanden, das Geld zu nehmen, und was er in der Eile erwischt hat, das hat er unter den Stein getan. Es genügte ihm wohl nicht, daß er die Qual durchgemacht hat, als er hinter der Tür stand und man die Tür aufzubrechen versuchte und an der Klingel riß, – nein, er kam dann noch einmal in die leere Wohnung, halb bewußtlos, um die Klingel noch einmal zu hören; er hatte das Bedürfnis, wieder die Kälte im Rücken zu fühlen ... Nun, nehmen wir an, daß er das alles im krankhaften Zustande gemacht hat; aber noch eins: er hat den Mord begangen, hält sich aber für einen anständigen Menschen, verachtet alle, schwebt als bleicher Engel daher, – nein, es ist nicht Mikolka, liebster Rodion Romanowitsch, es ist nicht Mikolka!«
Diese letzten Worte waren nach allem, was er früher gesagt und was wie eine Verleugnung des ursprünglichen Verdachts geklungen hatte, gar zu unerwartet. Raskolnikow erzitterte am ganzen Körper, wie von einem Pfeil getroffen.
»Also ... wer hat dann ... gemordet? ...« fragte er mit erstickender Stimme, da er sich nicht länger beherrschen konnte.
Porfirij Petrowitsch warf sich in die Stuhllehne zurück, als wären ihm diese Worte unerwartet gekommen und als hätte ihn die Frage überrascht.
»Wer gemordet hat? ...« wiederholte er, als traue er seinen Ohren nicht. » Siehaben doch gemordet, Rodion Romanowitsch! Siehaben gemordet ...« fügte er fast im Flüstertone, vollkommen überzeugt hinzu.
Raskolnikow sprang vom Sofa auf, stand einige Sekunden da – und setzte sich wieder, ohne ein Wort zu sagen. Sein ganzes Gesicht zuckte wie im Krampfe.
»Die Lippe zuckt ganz wie damals«, murmelte Porfirij Petrowitsch, scheinbar mit Teilnahme. »Sie haben mich, scheint es, nicht richtig verstanden, Rodion Romanowitsch«, fügte er nach einer Weile hinzu, »und darum sind Sie so erstaunt. Ich bin ja gerade darum gekommen, um alles auszusprechen und die Sache ganz offen zu behandeln«.
»Ich habe nicht gemordet«, flüsterte Raskolnikow wie ein erschrockenes kleines Kind, das man auf frischer Tat ertappt hat.
»Doch, Siewaren es, Rodion Romanowitsch, nur Sie und niemand anders«, flüsterte Porfirij streng und überzeugt.
Beide schwiegen, und das Schweigen dauerte erstaunlich lange, fast zehn Minuten. Raskolnikow hatte sich auf den Tisch gestützt und zerzauste sich schweigend mit den Fingern das Haar. Porfirij Petrowitsch saß ruhig da und wartete. Raskolnikow blickte ihn plötzlich verächtlich an.
»Sie kommen wieder mit Ihren alten Geschichten, Porfirij Petrowitsch! Immer die gleichen Kunststücke! Wird Ihnen das nicht zu dumm?«
»Ach, hören Sie auf, was brauche ich jetzt Kunststücke? Etwas anderes wäre, wenn Zeugen dabei wären; wir sitzen aber unter vier Augen da und flüstern. Sie sehen doch selbst, daß ich nicht gekommen bin, um Sie zu hetzen und zu jagen wie einen Hasen. Ob Sie gestehen oder nicht, ist mir augenblicklich einerlei. Ich persönlich bin auch ohne Ihr Geständnis überzeugt.«
»Wenn dem so ist, warum sind Sie dann hergekommen?« fragte Raskolnikow gereizt. »Ich richte an Sie die frühere Frage: Wenn Sie mich für schuldig halten, warum sperren Sie mich dann nicht ein?«
»Nun, das ist mal eine vernünftige Frage! Die will ich Ihnen auch Punkt für Punkt beantworten. Erstens ist es für mich nicht vorteilhaft, Sie sofort zu verhaften.«
»Warum ist es nicht vorteilhaft? Wenn Sie überzeugt sind, so müssen Sie doch ...«
»Ach, was macht es, daß ich überzeugt bin? Das ist ja vorläufig nur eine Phantasie von mir. Und was soll ich Sie auch einsperren, damit Sie dort Ruhehaben? Das wissen Sie doch selbst, wenn Sie darauf so bestehen. Wenn ich zum Beispiel den Kleinbürger herbringe, damit er Sie überführt, und Sie ihm sagen: ›Bist du betrunken oder was? Wer hat mich mit dir gesehen? Ich habe dich einfach für betrunken gehalten, und du warst auch betrunken‹ – nun, was soll ich Ihnen darauf antworten, um so mehr, als Ihre Aussage viel wahrscheinlicher klingt als die seinige; denn seine Aussage beruht nur auf Psychologie, was zu seiner Fratze nicht mal paßt, während Sie das Richtige treffen: der Kerl ist ja wirklich ein Säufer und als solcher bekannt. Ich habe ja auch selbst einigemal zugegeben, daß die Psychologie zwei Enden hat und daß das zweite Ende das dickere ist und viel mehr Wahrscheinlichkeit für sich hat und daß ich sonst vorläufig keine anderen Beweise gegen Sie habe. Obwohl ich Sie einmal wirklich einsperren werde und sogar selbst hergekommen bin, um Ihnen das mitzuteilen (was sonst doch gar nicht üblich ist), sage ich Ihnen ganz offen (was ja gleichfalls nicht üblich ist), daß es für mich unvorteilhaft ist. Und zweitens, bin ich darum zu Ihnen gekommen ...«
»Ja, und zweitens?« (Raskolnikow rang noch immer um Atem.)
»Zweitens, weil ich Ihnen, wie ich schon vorher gesagt habe, eine Erklärung schulde. Ich will nicht, daß Sie mich für einen Unmenschen halten, um so mehr als ich Ihnen aufrichtig gewogen bin, ob Sie es glauben oder nicht. Infolgedessen bin ich, drittens, mit einem offenen und direkten Vorschlag gekommen, daß Sie sich selbst anzeigen und ein Geständnis ablegen. Dies wird für Sie unendlich vorteilhafter sein, ebenso auch für mich, denn dann bin ich die Sache los. Nun, habe ich aufrichtig gesprochen oder nicht?«
Raskolnikow dachte eine Weile nach.
»Hören Sie mal, Porfirij Petrowitsch, Sie sagen ja selbst, daß Sie alles auf Psychologie begründen; da sind Sie aber schon bei der Mathematik angelangt. Was, wenn Sie sich irren?«
»Nein, Rodion Romanowitsch, ich irre mich nicht. Ich habe so ein Endchen in der Hand. Dieses Endchen habe ich schon damals gefunden, Gott selbst hat es mir geschickt!«
»Was für ein Endchen?«
»Das will ich Ihnen nicht sagen, Rodion Romanowitsch. Auch habe ich jetzt in keinem Falle das Recht, die Sache noch hinauszuschieben; ich werde Sie einsperren. Überlegen Sie es sich selbst: mir ist es jetztdoch ganz einerlei, folglich tue ich es nur für Sie. Bei Gott, so wird es besser für Sie sein, Rodion Romanowitsch!«
Raskolnikow lächelte gehässig.
»Es ist doch nicht bloß lächerlich, es ist auch unverschämt. Selbst wenn ich wirklich schuldig wäre (was ich aber gar nicht sage), warum sollte ich dann Ihnen ein Geständnis ablegen, wenn Sie selbst sagen, daß ich sowieso im Zuchthause zur Ruhekomme?«
»Ach, Rodion Romanowitsch, trauen Sie doch nicht jedem Worte; vielleicht wird es auch gar keine Ruhesein! Das ist ja bloß eine Theorie, und dazu nur eine von mir; was bin ich aber für eine Autorität für Sie? Vielleicht verheimliche ich auch jetzt noch etwas vor Ihnen? Ich kann doch wirklich nicht alles vor Ihnen auskramen, he-he! Die zweite Frage ist: Welchen Vorteil werden Sie davon haben? Wissen Sie denn auch, was für eine Strafermäßigung Ihnen gewährt werden kann? Bedenken Sie doch, in was für einem Augenblick Sie mit Ihrem Geständnis kommen! Ich bitte Sie! In einem Augenblick, wo schon ein anderer das Verbrechen auf sich genommen und die ganze Sache verwirrt hat! Ich schwöre Ihnen aber bei Gott, daß ich ›dort‹ alles so einrichten und arrangieren werde, daß Ihr Geständnis ganz unerwartet erscheinen wird. Diese ganze Psychologie wollen wir ganz streichen, alle gegen Sie vorliegenden Verdachtsmomente werde ich vernichten, so daß Ihr Verbrechen wie eine Verblendung erscheinen wird, denn, die Wahrheit zu sagen: es war wirklich eine Verblendung. Ich bin ein ehrlicher Mensch, Rodion Romanowitsch, und werde mein Wort halten.«
Raskolnikow schwieg traurig und ließ den Kopf sinken; er dachte lange nach und lächelte wieder; sein Lächeln war aber jetzt ganz sanft und traurig.
»Ach, das ist nicht nötig!« sagte er, als ob er vor Porfirij nichts mehr verheimlichen wollte. »Es lohnt sich nicht, ich will Ihre Strafermäßigung nicht!«
»Das fürchte ich eben!« rief Porfirij erregt, wie unwillkürlich. »Das fürchte ich eben, daß Sie unsere Strafermäßigung nicht wollen.«
Raskolnikow sah ihn traurig und durchdringend an.
»Ach, verschmähen Sie das Leben nicht!« fuhr Porfirij fort. »Es steht Ihnen noch viel davon bevor. Warum wollen Sie keine Strafermäßigung, warum nicht? Was sind Sie für ein ungeduldiger Mensch!«
»Wovon steht mir viel bevor?«
»Vom Leben! Sind Sie denn ein Prophet, wissen Sie denn viel? Suchet und ihr werdet finden. Vielleicht hat Sie Gott gerade hier erwartet. Sie werden ja auch nicht ewig an der Kette sitzen.«
»Ich bekomme ja eine Ermäßigung ...« bemerkte Raskolnikow lachend.
»Fürchten Sie vielleicht die bürgerliche Schande? Es ist möglich, daß Sie sie fürchten und es selbst nicht wissen, denn Sie sind noch jung! Und doch sind Sie nicht der Mensch, der es fürchten oder sich schämen sollte, mit einem Geständnis zu kommen.«
»Ach, ich spucke drauf!« flüsterte Raskolnikow verächtlich und angeekelt, als wollte er nicht mehr sprechen.
Er war schon aufgestanden, als ob er irgendwohin gehen wollte, setzte sich aber in sichtlicher Verzweiflung wieder hin ...
»Ja, Sie spucken drauf! Sie haben jeden Glauben verloren und meinen, daß ich Ihnen roh schmeichele. Haben Sie denn schon lange gelebt? Verstehen Sie viel? Er hat sich eine Theorie zurechtgelegt und schämt sich plötzlich, daß sie zusammengestürzt ist und daß es so gar nicht originell herauskam! Es kam wirklich gemein heraus, das ist wahr, aber Sie sind trotzdem kein hoffnungsloser Schuft. Sie sind gar nicht solch ein Schuft! Sie haben sich wenigstens nicht lange an der Nase herumgeführt, sind gleich bis zu der letzten Grenze gegangen. Für was halte ich Sie denn? Ich halte Sie für einen Menschen, dem man die Gedärme herausschneiden kann, der aber ruhig dastehen und seine Peiniger lächelnd ansehen wird – wenn er nur einen Glauben oder einen Gott findet. Nun, finden Sie ihn auch, und Sie werden leben. Vor allen Dingen brauchen Sie schon längst eine Luftveränderung. Nun, das Leiden ist eine gute Sache. Nehmen Sie doch auch ein Leiden auf sich. Mikolka hat vielleicht recht, daß er nach Leiden strebt. Ich weiß, daß Sie nicht glauben können; philosophieren Sie aber nicht; geben Sie sich dem Leben einfach, ohne zu grübeln hin; Sie können unbesorgt sein, es wird Sie schon an irgendein Ufer bringen und auf die Beine stellen. An was für ein Ufer? Wie soll ich das wissen? Ich glaube nur, daß Sie noch lange zu leben haben. Ich weiß, Sie nehmen jetzt alle meine Worte als eine auswendig gelernte Moralpredigt hin; vielleicht werden Sie sich ihrer aber erinnern und aus ihnen Nutzen ziehen; darum spreche ich auch. Es ist noch gut, daß Sie nur so eine elende Alte ermordet haben. Hätten Sie sich eine andere Theorie erdacht, so wären Sie imstande, etwas hundertmillionenmal Schlimmeres zu begehen! Man muß vielleicht noch Gott danken; woher wissen Sie es: vielleicht hebt Sie Gott für etwas auf. Seien Sie doch großherziger und fürchten Sie weniger. Fürchten Sie vielleicht die Größe der kommenden Erfüllungen? Nein, in diesem Falle sollten Sie sich schämen, zu fürchten. Wenn Sie diesen Schritt schon einmal gemacht haben, so müssen Sie sich zusammennehmen. Das verlangt die Gerechtigkeit. Erfüllen Sie mal das, was die Gerechtigkeit verlangt. Ich weiß, daß Sie nicht glauben, aber bei Gott, das Leben wird Sie schon an ein Ufer bringen. Sie werden daran später auch selbst Gefallen haben. Jetzt brauchen Sie bloß Luft, Luft, Luft!«
Raskolnikow fuhr sogar zusammen.
»Ja, wer sind Sie denn?« rief er aus. »Was sind Sie für ein Prophet? Was ist das für eine majestätische Ruhe, von deren Höhe herab Sie mir Ihre weisen Prophezeiungen verkünden?«
»Wer ich bin? Ein erledigter Mensch und sonst nichts. Ein Mensch, der vielleicht fühlt und mitfühlt, der vielleicht auch manches weiß, aber schon vollkommen erledigt ist. Sie sind aber eine ganz andere Nummer; Gott hat für Sie ein Leben vorbereitet (wer weiß, vielleicht wird sich bei Ihnen alles auch nur in Rauch auflösen). Nun, was macht's, daß Sie in eine andere Klasse von Menschen übergehen werden? Sie werden doch nicht den Komfort beweinen, Sie, mit Ihrem Herzen! Was macht's, daß man Sie vielleicht lange nicht mehr sehen wird? Es handelt sieh doch nicht um die Zeit, sondern um Sie selbst. Werden Sie zu einer Sonne, dann werden alle Sie sehen. Die Sonne muß vor allen Dingen eine Sonne sein! Was lächeln Sie schon wieder: daß ich wie ein Schiller rede? Ich wette, Sie glauben, daß ich Ihnen wieder schmeichle! Nun, vielleicht will ich Ihnen wirklich bloß schmeicheln, he-he-he! Sie dürfen mir, Rodion Romanowitsch, vielleicht auch nicht aufs Wort glauben, Sie dürfen mir auch überhaupt nicht glauben, so ist schon mal meine Art, ich gebe es zu; aber eines will ich nur noch sagen: ob ich ein gemeiner oder ein anständiger Mensch bin, das können Sie, glaube ich, selbst entscheiden!«
»Wann gedenken Sie mich zu verhaften?«
»Ja, so an die anderthalb oder zwei Tage lasse ich Sie noch frei herumlaufen. Denken Sie nach, mein Liebster, beten Sie zu Gott. So ist es auch vorteilhafter, bei Gott, vorteilhafter.«
»Wenn ich aber davonlaufe?« fragte Raskolnikow mit einem eigentümlichen Lächeln.
»Nein, Sie werden nicht davonlaufen. Ein Bauer wird davonlaufen, ein moderner Sektierer wird davonlaufen, ein Lakai fremder Gedanken, dem man nur ein Endchen von einem Finger zu zeigen braucht, damit er alles glaubt. Sie aber glauben auch an Ihre eigene Theorie nicht mehr – womit wollen Sie dann davonlaufen? Und was sollen Sie auch auf der Flucht tun? Auf der Flucht ist das Leben widerwärtig und schwer. Sie aber brauchen Leben, Sie brauchen eine bestimmte Lage, eine entsprechende Luft; ist aber die Luft auf der Flucht was für Sie? Sie werden entlaufen und dann selbst zurückkommen. Ohne uns können Sie nicht auskommen. Wenn ich Sie aber ins Gefängnis sperre, so werden Sie einen Monat, meinetwegen auch zwei oder drei Monate sitzen und dann plötzlich – denken Sie an meine Worte – selbst mit Ihrem Geständnis kommen, vielleicht sogar für Sie selbst unerwartet. Eine Stunde vorher werden Sie vielleicht noch selbst nicht wissen, daß Sie mit dem Geständnis kommen werden. Ich bin sogar überzeugt, daß Sie sich entschließen werden, ›das Leiden auf sich zu nehmen‹; jetzt glauben Sie mir nicht, und doch werden Sie selbst darauf kommen. Denn das Leiden ist eine große Sache, Rodion Romanowitsch; schauen Sie jetzt nicht darauf, daß ich so verfettet bin, das macht nichts, dafür weiß ich manches; lachen Sie nicht darüber, auch im Leiden steckt eine Idee. Mikolka hat recht. Nein, Sie werden nicht davonlaufen, Rodion Romanowitsch.«
Raskolnikow erhob sich von seinem Platz und nahm die Mütze. Auch Porfirij Petrowitsch stand auf.
»Sie wollen etwas spazieren gehen? Der Abend wird schön werden; daß nur kein Gewitter kommt! Übrigens wäre es sogar besser, wenn es die Luft etwas abkühlte ...«
Auch er griff nach seiner Mütze.
»Porfirij Petrowitsch, bilden Sie sich, bitte, ja nicht ein, daß ich Ihnen heute ein Geständnis abgelegt habe«, sagte Raskolnikow mit strenger Hartnäckigkeit. »Sie sind ein sonderbarer Mensch, und ich habe Ihnen bloß aus Neugierde zugehört. Doch ich habe Ihnen nichts gestanden ... Merken Sie sich das.«
»Gut, ich weiß es schon, ich werde es mir merken – sieh ihn nur einer an, wie er zittert. Seien Sie unbesorgt, mein Lieber, Ihr Wille geschehe. Spazieren Sie noch etwas frei herum, aber zu viel dürfen Sie nicht herumlaufen. Für jeden Fall habe ich noch eine Bitte an Sie,« fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu, eine peinliche, aber wichtige Bitte: »für den Fall (an dessen Möglichkeit ich übrigens nicht glaube und dessen ich Sie nicht für fähig halte), für den Fall – nun für jeden Fall –, wenn es Ihnen im Laufe dieser vierzig oder fünfzig Stunden einfiele, der Sache irgendwie anders, auf eine phantastische Weise ein Ende zu machen – zum Beispiel das Händchen an sich zu legen (eine ganz unsinnige Annahme, aber Sie müssen mir schon verzeihen), so hinterlassen Sie, bitte, einen kurzen, aber ausführlichen Bericht, so an die zwei Zeilen, bloß zwei Zeilen, und erwähnen Sie auch das vom Stein; so wird es anständiger sein. Nun, auf Wiedersehen ... Ich wünsche Ihnen gute Gedanken und segensreiches Beginnen!«
Porfirij ging seltsam geduckt hinaus und vermied scheinbar, Raskolnikow anzublicken. Raskolnikow trat ans Fenster und wartete gereizt und ungeduldig, bis jener auf die Straße kam und sich vom Hause entfernt hatte. Dann verließ auch er schnell das Zimmer.
III
Er eilte zu Swidrigailow. Was er sich von diesem Menschen erhoffen konnte, das wußte er selbst nicht. Doch in diesem Menschen lag irgendeine Gewalt über ihn. Als er das einmal erkannt hatte, konnte er sich nicht mehr beruhigen; nun war auch dazu die Zeit gekommen.
Unterwegs quälte ihn besonders eine Frage: ob Swidrigailow bei Porfirij gewesen war?
Soweit er es beurteilen konnte, und das hätte er auch beschwören können – war er bei ihm noch nicht gewesen! Er überlegte es sich noch einmal, ließ sich die ganze Szene mit Porfirij wieder durch den Kopf gehen und kam zur Einsicht: nein, er war nicht bei ihm gewesen, ganz gewiß nicht!
Aber wenn er noch nicht gewesen ist, wirder noch zu Porfirij hingehen oder nicht?
Vorläufig schien es ihm, daß er nicht hingehen würde. Warum? Er hätte sich auch dies nicht erklären können, aber selbst wenn er es sich erklären könnte, wollte er sich jetzt nicht den Kopf darüber zerbrechen. Dies alles quälte ihn, und doch kümmerte er sich darum nicht. Es war so seltsam, und niemand würde es vielleicht glauben können, aber für sein jetziges, unmittelbar bevorstehendes Schicksal hatte er nur ein zerstreutes, schwaches Interesse. Ihn quälte etwas anderes, etwas viel Wichtigeres, etwas Außerordentliches, etwas, was ebenfalls nur ihn allein und niemand anders anging, aber etwas ganz anderes, etwas Entscheidendes. Außerdem spürte er eine grenzenlose seelische Ermattung, obwohl sein Verstand an diesem Morgen besser arbeitete als in allen diesen letzten Tagen.
Lohnte es sich aber auch jetzt, nach allem, was vorgefallen war, alle diese neuen lächerlichen Schwierigkeiten zu besiegen? Lohnte es sich zum Beispiel zu intrigieren, damit Swidrigailow nicht zu Porfirij gehe? zu studieren, auszukundschaften, seine Zeit zu verlieren für einen Swidrigailow?
Oh, wie er dieser Dinge schon überdrüssig war!
Und doch eilte er zu Swidrigailow; erwartete er von ihm vielleicht etwas Neues, einen Fingerzeig, einen Ausweg? Der Mensch greift aber manchmal auch nach einem Strohhalm! War es vielleicht das Schicksal oder irgendein Instinkt, was sie jetzt zusammenführte? Vielleicht war es nur eine Ermattung, eine Verzweiflung; vielleicht brauchte er jetzt gar nicht Swidrigailow, sondern einen andern Menschen, und Swidrigailow war ihm nur zufällig in den Weg gekommen? Ssonja? Ja, was hätte er jetzt zu Ssonja gehen sollen? Um sie wieder um ihre Tränen zu bitten? Ssonja war ihm auch schrecklich. Ssonja war für ihn ein unerbittlicher Urteilsspruch, ein unabänderlicher Entschluß. Es galt die Wahl zwischen ihrem und seinem Weg. Besonders in diesem Augenblick wäre er nicht imstande, sie zu sehen. Nein, wäre es nicht besser, Swidrigailow auf die Probe zu stellen: was an ihm sei? Und er konnte nicht umhin, sich innerlich einzugestehen, daß er Swidrigailow schon längst zu etwas brauchte.
Aber was konnte zwischen ihnen Gemeinsames sein? Selbst ihre Verbrechen konnten einander nicht gleichen. Dieser Mensch war ihm außerdem unangenehm, offenbar äußerst verdorben, ganz gewiß schlau und verlogen, vielleicht auch sehr bösartig. Von ihm wurde doch manches erzählt. Allerdings hatte er sich der Kinder Katerina Iwanownas angenommen; aber wer weiß, was er damit bezweckte und was es zu bedeuten hatte? Dieser Mensch hatte immer irgendwelche Absichten und Projekte.
In allen diesen Tagen ging Raskolnikow unablässig ein gewisser Gedanke durch den Kopf, der ihn furchtbar beunruhigte, obwohl er sich sogar bemühte, ihn von sich zu verscheuchen – so schwer war ihm dieser Gedanke! Er dachte sich zuweilen: Swidrigailow bemühte und bemüht sich auch jetzt noch, ständig in seiner Nähe zu sein; Swidrigailow hat sein Geheimnis erfahren; Swidrigailow hat irgendwelche Absichten gegen Dunja gehabt. Und was, wenn er sie auch jetzt noch hat? Man kann doch fast mit Bestimmtheit sagen, daß er sie hat? Und was, wenn er jetzt, wo er sein Geheimnis erfahren und auf diese Weise eine Macht über ihn erhalten hat, diese Macht als eine Waffe gegen Dunja gebrauchen wird?
Dieser Gedanke quälte ihn zuweilen sogar im Traume, doch nie war er ihm so deutlich zum Bewußtsein gekommen wie jetzt, wo er auf dem Wege zu Swidrigailow war. Schon dieser Gedanke allein versetzte ihn in düstere Wut. Erstens würde sich dann alles sofort verändern, sogar seine eigene Lage; darum muß er das Geheimnis sofort Dunja mitteilen. Vielleicht muß er sich auch selbst ausliefern, um Dunja von irgendeinem unbedachten Schritte zurückzuhalten. Der Brief? Dunja hat heute früh irgendeinen Brief erhalten! Von wem in Petersburg kann sie Briefe erhalten? (Vielleicht von Luschin?) Allerdings paßt da Rasumichin auf, aber Rasumichin weiß nichts. Vielleicht sollte er alles auch Rasumichin enthüllen? Dieser Gedanke war ihm widerwärtig.
Jedenfalls mußte er Swidrigailow so schnell als möglich sehen, – das war sein endgültiger Entschluß. Gott sei Dank, es war hier weniger um die Einzelheiten als um den Kern der Sache zu tun; aber wenn er schon fähig ist, wenn Swidrigailow etwas gegen Dunja im Schilde führt, so ...
Raskolnikow war während dieser Zeit, während des letzten Monats so müde geworden, daß er ähnliche Fragen nicht mehr anders lösen konnte als auf die eine Weise: »Dann töte ich ihn!« Das sagte er sich auch jetzt in kalter Verzweiflung, Ein unerträgliches Gefühl preßte ihm das Herz zusammen; er blieb mitten auf der Straße stehen und begann sich umzusehen: welchen Weg er eingeschlagen hat und wohin er geraten ist? Er befand sich auf dem *schen Prospekt, an die dreißig oder vierzig Schritte vom Heumarkt entfernt, den er schon passiert hatte. Der ganze erste Stock des Hauses links von ihm war von einer Gastwirtschaft eingenommen. Alle Fenster standen weit offen; nach den vielen Gestalten zu urteilen, die an den Fenstern vorbeihuschten, war das Wirtshaus gesteckt voll. Im Saale sang ein Chor, klangen eine Klarinette, eine Geige und dröhnte eine türkische Trommel. Man hörte auch Weibergekreisch. Er wollte schon umkehren und begriff nicht, wie er auf den *schen Prospekt geraten war, als er plötzlich in einem der letzten offenen Fenster des Wirtshauses Swidrigailow erblickte, der mit einer Pfeife im Munde hinter einem Teetischchen saß. Dies verblüffte ihn, er spürte beinahe Entsetzen. Swidrigailow beobachtete und musterte ihn schweigend und wollte, was Raskolnikow gleichfalls in Erstaunen versetzte, wie es schien, aufstehen, um sich leise und unbemerkt aus dem Staube zu machen. Raskolnikow stellte sich sofort so, als hätte er ihn gar nicht bemerkt, und blickte nachdenklich zur Seite, fuhr aber fort, ihn mit einem Augenwinkel zu beobachten. Sein Herz klopfte unruhig. Es stimmte: Swidrigailow wollte offenbar nicht gesehen werden. Er nahm die Pfeife aus dem Munde und schickte sich schon an, zu verschwinden; als er aber aufgestanden war und den Stuhl zur Seite geschoben hatte, merkte er wohl plötzlich, daß Raskolnikow ihn sah und beobachtete. Es war wieder so wie bei ihrer ersten Begegnung bei Raskolnikow, als er schlief. Ein schelmisches Lächeln zeigte sich auf Swidrigailows Gesicht, und es wurde immer breiter. Beide wußten, daß sie einander gesehen und beobachtet hatten. Schließlich lachte Swidrigailow laut auf.
»Nun! Kommen Sie doch herauf, wenn Sie wollen; ich bin hier!« rief er ihm aus dem Fenster zu.
Raskolnikow ging in das Wirtshaus hinauf.
Er fand ihn in einem sehr kleinen einfenstrigen Hinterzimmer, das an den großen Saal anstieß, in dem an etwa zwanzig kleinen Tischen beim verzweifelten Geschrei eines Sängerchors Kaufleute, Beamte und allerlei Leute Tee tranken. Irgendwo klapperten Billardkugeln. Auf dem Tischchen vor Swidrigailow standen eine angefangene Flasche Champagner und ein halbgefülltes Glas. In dem kleinen Zimmer befanden sich noch ein Junge mit einer kleinen Drehorgel und ein kräftiges rotbackiges Mädel mit aufgestecktem Rock und einem Tiroler Hütchen mit Bändern auf dem Kopfe, eine etwa achtzehnjährige Sängerin, die, trotz des Chorgesanges im anderen Zimmer, zur Begleitung der Drehorgel mit einer ziemlich heiseren Kontraaltstimme irgendein Lakaienlied sang ...
»Nun, genug!« unterbrach Swidrigailow sie bei Raskolnikows Erscheinen.
Das Mädchen brach sofort ab und blieb in respektvoller Erwartung stehen. Auch ihr Lakaienlied hatte sie mit einer ernsten und respektvollen Miene gesungen.
»He, Philipp, noch ein Glas!« rief Swidrigailow.
»Ich werde nicht trinken«, sagte Raskolnikow.
»Wie Sie wollen, es ist nicht für Sie. Trink, Katja! Heute brauche ich von dir nichts mehr, geh!«
Er schenkte ihr ein volles Glas ein und legte einen gelben Rubelschein auf den Tisch. Katja trank das Glas auf einmal aus, wie Frauen immer zu trinken pflegen, das heißt, ohne es abzusetzen und zwanzigmal schluckend, nahm das Geld, küßte Swidrigailow die Hand, was er ihr mit höchst ernstem Gesicht gewährte, und ging aus dem Zimmer; ihr folgte auch der Junge mit der Drehorgel. Beide waren von der Straße heraufgeholt worden. Swidrigailow befand sich noch nicht mal eine Woche in Petersburg, aber um ihn herum herrschte schon eine patriarchalische Stimmung. Auch der Wirtshauskellner Philipp war schon sein »Bekannter« und bediente ihn höchst unterwürfig. Die Tür zum großen Saal wurde geschlossen, Swidrigailow benahm sich in diesem Zimmer wie zu Hause und verbrachte hier vielleicht ganze Tage. Das Wirtshaus war schmutzig, gemein und nicht mal zweiklassig.
»Ich ging zu Ihnen und suchte Sie«, begann Raskolnikow. »Warum bin ich aber jetzt vom Heumarkt in den *schen Prospekt abgebogen? Ich biege hier nie ein und komme nie her. Ich pflege vom Heumarkt immer nach rechts abzubiegen. Der Weg zu Ihnen führt hier auch gar nicht vorbei. Kaum bog ich ein, als ich Sie sofort erblickte! Das ist doch seltsam!«
»Warum sagen Sie nicht gleich: es ist ein Wunder?«
»Weil es vielleicht nur ein Zufall ist.«
»Was für eine merkwürdige Art haben all diese Leute!« sagte Swidrigailow, laut auflachend. »Er will nicht zugeben, selbst wenn er innerlich an ein Wunder glaubt! Sie sagen ja selbst, daß es ›vielleicht‹ nur ein Zufall sei. Wie sie hier alle fürchten, ihre eigene Meinung zu haben, das können Sie sich gar nicht vorstellen, Rodion Romanowitsch! Ich meine nicht Sie. Sie haben wohl eine eigene Meinung und fürchten nicht, sie zu haben. Dadurch haben Sie auch mein Interesse geweckt.«
»Sonst durch nichts?«
»Das genügt doch schon allein.«
Swidrigailow war offenbar in erregtem Zustande, doch nur ein klein wenig. Vom Champagner hatte er nur ein halbes Glas getrunken.
»Mir scheint, Sie kamen zu mir das erste Mal, noch ehe Sie erfahren hatten, ob ich fähig sei, das, was Sie eine eigene Meinung nennen, zu haben«, bemerkte Raskolnikow.
»Nun, damals war es eine andere Sache. Jeder hat seine eigenen Wege. Und was das Wunder betrifft, so will ich Ihnen sagen, daß Sie die letzten zwei oder drei Tage wohl verschlafen haben. Ich habe Ihnen selbst dieses Wirtshaus genannt, und es ist also gar kein Wunder dabei, daß Sie hergekommen sind: ich habe Ihnen selbst den Weg erklärt, die Stelle angegeben, wo es sich befindet, und die Stunden, wo ich hier zu treffen bin. Wissen Sie es noch?«
»Ich habe es vergessen«, sagte Raskolnikow erstaunt.
»Das glaube ich. Zweimal habe ich es Ihnen gesagt. Die Adresse hat sich Ihrem Gedächtnis rein mechanisch eingeprägt. Sie haben diesen Weg mechanisch eingeschlagen, streng nach der Adresse, ohne es selbst zu wissen. Als ich es Ihnen damals sagte, hoffte ich gar nicht, daß Sie mich verstehen würden. Sie verraten sich allzusehr, Rodion Romanowitsch. Und dann noch eins: ich bin überzeugt, daß es in Petersburg viele Menschen gibt, die im Gehen mit sich selbst sprechen. Es ist eine Stadt von Halbverrückten. Wenn es bei uns Wissenschaften gäbe, so hätten die Mediziner, Juristen und Philosophen die wertvollsten Untersuchungen über Petersburg anstellen können, ein jeder in seinem Fache. Selten wo gibt es so viel düstere, scharfe und sonderbare Einflüsse auf die Menschenseele wie in Petersburg. Was sind schon die klimatischen Einflüsse allein wert! Dabei ist Petersburg das administrative Zentrum Rußlands, und sein Charakter muß überall zum Ausdruck kommen. Es handelt sich aber nicht darum, sondern, daß ich Sie schon einigemal von der Seite beobachtet habe. Wenn Sie aus dem Hause treten, halten Sie den Kopf noch gerade. Aber nach zwanzig Schritten lassen Sie ihn sinken und verschränken die Hände im Rücken. Sie schauen vor sich und scheinen doch weder vor sich noch neben sich etwas zu sehen. Zuletzt fangen Sie an, die Lippen zu bewegen und mit sich selbst zu sprechen, wobei Sie eine Hand freimachen und deklamieren; endlich bleiben Sie auch lange mitten auf der Straße stehen. Das ist sehr übel. Vielleicht beobachtet Sie auch jemand außer mir, und das wäre sehr unvorteilhaft. Mir ist es im Grunde genommen ganz gleich, und ich werde Sie nicht kurieren, aber Sie verstehen mich natürlich.«
»Und Sie wissen, daß man mich beobachtet?« fragte Raskolnikow und sah ihn prüfend an.
»Nein, ich weiß nichts«, antwortete Swidrigailow wie erstaunt.
»Nun, dann wollen wir mich aus dem Spiele lassen«, murmelte Raskolnikow düster.
»Gut, lassen wir Sie aus dem Spiele.«
»Sagen Sie mir lieber folgendes: Wenn Sie herkommen, um zu trinken und mich selbst zweimal herbestellt haben, warum versuchten Sie dann jetzt, als ich von der Straße durchs Fenster hereinsah, sich zu verstecken, und wollten weggehen? Ich habe es sehr gut bemerkt.«
»He-he! Und warum lagen Sie, als ich auf der Schwelle stand, mit geschlossenen Augen auf Ihrem Sofa und stellten sich schlafend, während Sie gar nicht schliefen? Ich habe es sehr gut bemerkt.«
»Ich konnte ... Gründe haben ... Sie wissen es selbst.«
»Auch ich konnte meine Gründe haben, obwohl Sie sie nicht wissen.«
Raskolnikow stemmte den rechten Ellenbogen gegen den Tisch, stützte mit den Fingern der rechten Hand sein Kinn und sah Swidrigailow unverwandt an. Eine Minute lang betrachtete er dieses Gesicht, das ihn auch früher schon in Staunen gesetzt hatte. Dieses merkwürdige Gesicht erinnerte irgendwie an eine Maske: weiß, rotwangig mit hellroten Lippen, mit hellblondem Vollbart und noch ziemlich dichten hellblonden Haaren. Die Augen waren zu blau und ihr Blick zu schwer und unbeweglich. Etwas furchtbar Unangenehmes lag in diesem hübschen und für sein Alter auffallend jugendlichen Gesicht. Swidrigailows Kleidung war elegant, sommerlich und leicht, besonders viel schien er auf elegante Wäsche zu geben. An einem Finger trug er einen großen Ring mit wertvollem Stein.
»Soll ich mich denn auch noch mit Ihnen plagen?« sagte plötzlich Raskolnikow, mit krampfhafter Ungeduld den geraden Weg einschlagend. »Sie sind vielleicht auch der gefährlichste Mensch, wenn es Ihnen einfällt, mir zu schaden, aber ich möchte nicht noch länger Komödie spielen. Ich will Ihnen gleich zeigen, daß ich um mich selbst gar nicht so besorgt bin, wie Sie wohl annehmen. Hören Sie also: Ich bin gekommen, um Ihnen offen zu erklären, daß, wenn Sie Ihre früheren Absichten gegenüber meiner Schwester noch verfolgen und dabei etwas von dem, was Sie in der jüngsten Zeit erfahren haben, auszunützen gedenken, ich Sie töten werde, bevor Sie mich ins Zuchthaus bringen. Mein Wort ist zuverlässig, Sie wissen, daß ich es wirklich halten werde. Und zweitens, wenn Sie mir irgend etwas erklären wollen – mir schien die ganze Zeit, daß Sie mir etwas sagen möchten –, so erklären Sie es mir schnell, denn die Zeit ist kostbar, und vielleicht wird es sehr bald zu spät sein.«
»Wohin eilen Sie denn so?« fragte Swidrigailow, ihn neugierig betrachtend.
»Ein jeder hat seine Wege«, versetzte Raskolnikow düster und ungeduldig.
»Sie haben mich doch eben selbst zu Offenherzigkeit herausgefordert und wollen schon meine erste Frage nicht beantworten«, bemerkte Swidrigailow mit einem Lächeln. »Sie glauben immer, daß ich irgendwelche Ziele verfolge, und betrachten mich darum argwöhnisch. Nun, in Ihrer Lage ist es ja vollkommen begreiflich. Aber wie sehr ich auch wünschte, Ihnen näherzukommen, werde ich mich doch nicht der Mühe unterziehen, Sie vom Gegenteil zu überzeugen. Bei Gott, das Spiel ist nicht die Kerzen wert, und ich hatte auch nicht die Absicht, mich mit Ihnen über etwas Besonderes zu unterhalten.«
»Wozu brauchen Sie mich dann? Sie scherwenzeln doch die ganze Zeit um mich herum!«
»Sie interessierten mich einfach als ein Beobachtungsobjekt. Sie gefielen mir durch das Phantastische Ihrer Lage, das ist es! Außerdem sind Sie der Bruder der Person, die mich sehr interessierte, und schließlich habe ich von derselben Person seinerzeit sehr viel und oft über Sie gehört, woraus ich schloß, daß Sie auf sie einen großen Einfluß haben; genügt denn das noch nicht? He-he-he! Übrigens muß ich gestehen, daß Ihre Frage für mich sehr kompliziert ist und es mir schwer fällt, sie Ihnen zu beantworten. Zum Beispiel: Sie sind doch jetzt zu mir nicht bloß in der gewissen Angelegenheit gekommen, sondern Sie wollen auch etwas Neues hören. Nicht wahr? Nicht wahr?« sagte Swidrigailow eindringlich, mit einem listigen Lächeln. »Nun, denken Sie sich: ich selbst rechnete während meiner Reise hierher im Eisenbahnwagen darauf, daß auch Sie mir etwas Neuessagen werden und daß es mir gelingen wird, von Ihnen etwas zu profitieren! Sehen Sie, so reich sind wir beide!«
»Was denn profitieren?«
»Was soll ich darauf sagen? Weiß ich denn, was? Sehen Sie doch, in was für einer Spelunke ich die ganze Zeit sitze, und das ist mir ein Genuß, das heißt: weniger ein Genuß, aber der Mensch muß doch irgendwo sitzen. Nehmen wir zum Beispiel diese arme Katja, Sie haben sie doch gesehen? ... Wäre ich doch wenigstens ein Vielfraß, ein Klubmensch und Feinschmecker, aber ich bin imstande, auch solche Sachen zu essen! (Er zeigte mit dem Finger in die Ecke, wo auf einem kleinen Tischchen ein Blechteller mit den Resten eines entsetzlichen Beefsteaks mit Kartoffeln stand.) Übrigens, haben Sie schon zu Mittag gegessen? Ich habe schon einige Bissen heruntergeschluckt und will nicht mehr. Wein zum Beispiel trinke ich gar nicht. Außer Champagner gar keinen, und auch davon trinke ich im Laufe eines ganzen Abends nur ein einziges Glas, und das macht mir Kopfweh. Jetzt ließ ich mir die Flasche bringen, nur um mich etwas zu stärken, denn ich muß irgendwohin gehen, und Sie sehen mich in einer ganz besonderen Geistesverfassung. Darum versteckte ich mich vorhin wie ein Schuljunge, weil ich glaubte, Sie würden mich stören; aber ich denke (er holte seine Uhr hervor), daß ich mit Ihnen noch eine Stunde bleiben kann, jetzt ist es halb fünf. Glauben Sie mir, wenn ich doch irgendwas wäre, ein Gutsbesitzer, meinetwegen ein Familienvater, ein Ulan, ein Photograph, ein Journalist ... aber ich bin nichts, habe gar keine Spezialität! Manchmal langweilt mich das. Wirklich, ich glaubte, Sie würden mir etwas Neues erzählen.«
»Wer sind Sie denn und warum sind Sie nach Petersburg gekommen?«
»Wer ich bin? Sie wissen doch: ich bin adlig, habe zwei Jahre in der Kavallerie gedient, mich dann hier in Petersburg herumgetrieben, habe dann Marfa Petrowna geheiratet und mit ihr auf dem Lande gelebt. Das ist meine Biographie!«
»Ich glaube, Sie sind ein Spieler?«
»Nein, was bin ich für ein Spieler! Ein Falschspieler ist doch kein Spieler.«
»Waren Sie denn Falschspieler?«
»Ja, ich war auch Falschspieler.«
»Nun, haben Sie auch Prügel bekommen?«
»Es kam wohl vor. Warum?«
»Nun, man hätte Sie also auch zum Duell fordern können ... und überhaupt macht es das Leben bewegter.«
»Ich widerspreche Ihnen nicht und bin auch kein Meister im Philosophieren. Ich will Ihnen gestehen, ich bin hauptsächlich wegen der Weiber hergekommen.«
»Gleich nachdem Sie Marfa Petrowna beerdigt haben?«
»Nun ja«, antwortete Swidrigailow und lächelte mit einer Offenheit, die einen entwaffnete. »Was ist denn dabei? Mir scheint, Sie halten es für schlecht, daß ich von den Weibern so rede?«
»Das heißt, ob ich die Ausschweifung für gut oder schlecht halte?«
»Die Ausschweifung! So beurteilen Sie es also! Übrigens will ich Ihnen alles der Reihe nach beantworten, zuerst also über die Frauen im allgemeinen; wissen Sie, ich habe gerade Lust, zu plaudern. Sagen Sie mir, bitte, wozu soll ich mich beherrschen? Warum soll ich die Weiber aufgeben, wenn ich großer Liebhaber von ihnen bin? Es ist doch jedenfalls eine Beschäftigung.«
»Also setzen Sie alle Ihre Hoffnungen auf die Ausschweifung?«
»Nun, warum nicht –, meinetwegen auf die Ausschweifung! Wie Sie sich auf dieses Wort versessen haben! Ja, ich liebe jedenfalls eine offene Frage. In dieser Ausschweifung ist wenigstens etwas Beständiges, das in der Natur begründet und der Phantasie nicht unterworfen ist, etwas, was im Blute ständig wie Kohlenglut glimmt, was ewig anfeuert und sich vielleicht auch mit den Jahren nicht so schnell auslöschen läßt. Sie werden doch zugeben, daß es eine Art Beschäftigung ist?«
»Was freuen Sie sich darüber? Es ist eine Krankheit, und zwar eine gefährliche.«
»Ah, dawollen Sie hinaus! Ich gebe zu, daß es eine Krankheit ist, ebenso wie alles, was über das Maß hinausgeht; darin muß man aber unbedingt über das Maß hinausgehen. Aber das ist, erstens, bei dem einen so und bei dem anderen anders und, zweitens, muß man in allen Dingen Maß halten, und wenn es auch gemein ist, aber was soll man machen? Wäre das nicht, so müßte man sich vielleicht gar erschießen. Ich gebe zu, daß ein anständiger Mensch die Pflicht hat, sich zu langweilen, aber immerhin ...«
»Wären Sie imstande, sich zu erschießen?«
»Ach, warum nicht gar!« erwiderte Swidrigailow wie angeekelt. »Tun Sie mir den Gefallen und sprechen Sie nicht davon«, fügte er hastig und sogar ohne jede Großtuerei hinzu, die sich in allen seinen früheren Worten zeigte. Sogar sein Gesicht schien verändert. »Ich will die unverzeihliche Schwäche eingestehen, aber was soll ich tun; ich fürchte den Tod und liebe es nicht, wenn man von ihm spricht. Wissen Sie, daß ich zum Teil auch Mystiker bin?«
»Aha! Die Erscheinungen Marfa Petrownas! Nun, besucht sie Sie immer noch?«
»Ach, reden Sie lieber nicht davon; in Petersburg habe ich noch keine Erscheinungen gehabt, hol sie der Teufel!« rief er eigentümlich gereizt. »Nein, wollen wir lieber davon ... ja, übrigens ... Hm! Schade, daß ich so wenig Zeit habe und mit Ihnen nicht lange bleiben kann, schade! Ich hätte Ihnen schon manches mitzuteilen.«
»Was ist es denn, eine Weibergeschichte?«
»Ja, eine Weibergeschichte, eine ganz zufällige Sache ... nein, ich meine nicht das.«
»Nun, und das Abstoßende dieser ganzen Umgebung wirkt auf Sie schon gar nicht mehr? Haben Sie schon die ganze Kraft verloren, sich Halt zu gebieten?«
»Und Sie glauben wohl, daß Siedie Kraft haben? He-he! Ich mußte mich über Sie eben wundern, Rodion Romanowitsch, obwohl ich schon vorher wußte, daß es so kommen wird. Sie reden noch von der Ausschweifung und von der Ästhetik! Sie sind ein Schiller, Sie sind ein Idealist! Natürlich muß das alles so sein, und man sollte sich wundern, wenn es anders wäre; und doch ist es in Wirklichkeit so seltsam ... Ach, schade, daß ich so wenig Zeit habe, denn Sie sind ein höchst interessantes Subjekt! Übrigens, lieben Sie Schiller? Ich liebe ihn schrecklich.«
»Was sind Sie doch für ein Großtuer!« sagte Raskolnikow mit einigem Widerwillen.
»Bei Gott, ich bin es nicht!« antwortete Swidrigailow mit lautem Lachen. »Ich will nicht streiten, mag ich ein Großtuer sein; warum soll man es auch nicht sein, wenn es so harmlos ist? Ich habe sieben Jahre bei Marfa Petrowna auf dem Lande gelebt und bin darum froh, etwas plaudern zu können, da ich auf einen so klugen Menschen wie Sie gestoßen bin, auf einen klugen und im höchsten Grade interessanten Menschen; außerdem habe ich dieses halbe Glas Champagner getrunken, und es ist mir ein wenig zu Kopfe gestiegen. Vor allen Dingen gibt es einen Umstand, der mich sehr erregt hat, den ich aber ... verschweigen werde. Wo wollen Sie denn hin?« fragte Swidrigailow plötzlich erschrocken.
Raskolnikow schickte sich an, aufzustehen. Es war ihm so schwül und schwer und peinlich zumute, daß er hergekommen war. Von Swidrigailow hatte er die Überzeugung gewonnen, daß er der hohlste und flachste Schurke in der ganzen Welt sei.
»Ach! Bleiben Sie noch da«, bat ihn Swidrigailow. »Und lassen Sie sich wenigstens Tee bringen. Nun, bleiben Sie da, ich werde keinen Unsinn mehr schwatzen, das heißt: über mich. Ich will Ihnen etwas erzählen. Nun, wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen, wie mich eine Frau, wie Sie es so nennen, ›retten‹ wolltet Das wird eine Antwort auf Ihre erste Frage sein, denn diese Person ist Ihre Schwester. Darf ich es erzählen? So schlagen wir auch die Zeit tot.«
»Erzählen Sie; aber ich hoffe, daß Sie ...«
»Oh, machen Sie sich keine Sorgen! Außerdem kann Awdotja Romanowna sogar in einem so schlechten und hohlen Menschen, wie ich, bloß die tiefste Achtung wecken.«
IV
»Sie wissen vielleicht (ich habe es Ihnen übrigens selbst erzählt),« begann Swidrigailow, »daß ich hier wegen einer ungeheuren Schuld im Gefängnis saß und nicht die geringsten Aussichten hatte, sie zu bezahlen. Es lohnt sich nicht, mit allen Einzelheiten zu erzählen, wie mich damals Marfa Petrowna loskaufte; wissen Sie, bis zu welchem Grade von Bewußtlosigkeit eine Frau zuweilen lieben kann? Sie war eine ehrliche, gar nicht dumme, wenn auch vollkommen ungebildete Frau. Stellen Sie sich nur vor: Diese selbe eifersüchtige und ehrliche Frau hatte sich nach vielen schrecklichen Wutausbrüchen und Vorwürfen entschlossen, mit mir eine Art Vertrag zu schließen, den sie während unserer ganzen Ehe einhielt. Sie war nämlich bedeutend älter als ich und trug außerdem immer eine Gewürznelke im Munde. Ich hatte in meiner Seele so viel Gemeinheit und zugleich Ehrlichkeit, daß ich ihr geradeaus erklärte, ich würde ihr unmöglich ganz treu bleiben können. Dieses Geständnis machte sie rasend, aber meine rohe Offenheit schien ihr gefallen zu haben. – ›Also will er mich nicht betrügen,‹ dachte sie sich wohl, ›wenn er es mir selbst im voraus erklärt‹; für eine eifersüchtige Frau ist es aber das Wichtigste. Nach vielen Tränen wurde dann zwischen uns folgender mündliche Vertrag geschlossen: Erstens werde ich Marfa Petrowna nie verlassen und immer ihr Mann bleiben; zweitens werde ich ohne ihre Erlaubnis niemals verreisen; drittens werde ich mir nie eine ständige Geliebte halten; viertens erlaubt mir Marfa Petrowna dafür zuweilen, mich an einem Dienstmädchen zu vergreifen, doch nicht anders, als mit ihrem geheimen Wissen; fünftens soll mich Gott behüten, mich in eine Frau von unserem Stande zu verlieben; sechstens muß ich, wenn ich, Gott behüte, in einer großen und ernsten Leidenschaft entbrenne, es sofort Marfa Petrowna eröffnen. In bezug auf diesen letzten Punkt war Marfa Petrowna übrigens die ganze Zeit ziemlich ruhig; sie war eine kluge Frau und konnte mich daher für nichts anderes als für einen verdorbenen und leichtsinnigen Menschen halten, der gar nicht imstande ist, sich ernstlich zu verlieben. Aber eine kluge Frau und eine eifersüchtige Frau sind zwei verschiedene Dinge, und das ist eben das ganze Unglück. Übrigens, um über manche Menschen vorurteilslos urteilen zu können, muß man vorher manche voreingenommenen Ansichten und die alltägliche Gewöhnung an die uns vertrauten Menschen und Gewohnheiten aufgeben. Ich habe wohl recht, von Ihrem Urteil mehr zu erhoffen als von dem irgendeines anderen Menschen. Vielleicht haben Sie über Marfa Petrowna schon sehr viel Lächerliches und Unsinniges gehört. Sie hatte in der Tat manche komischen Angewohnheiten; aber ich will Ihnen offen sagen, daß ich den vielen Kummer, den ich ihr zugefügt habe, aufrichtig bedaure. Nun, das genügt wohl für eine sehr anständige oraison funėbre auf die zärtlichste Frau vom zärtlichsten Manne. Wenn es zu Streitigkeiten zwischen uns kam, schwieg ich meistenteils und kam nicht aus der Fassung, und dieses ritterliche Benehmen führte meistens zum Ziel; es machte Eindruck auf sie und gefiel ihr gut; es gab sogar Fälle, wo sie auf mich stolz war. Aber das mit Ihrer Schwester konnte sie dennoch nicht ertragen. Wie war es nur möglich, daß sie es riskierte, solch, eine Schönheit als Gouvernante zu sich ins Haus zu nehmen! Das erkläre ich damit, daß Marfa Petrowna eine feurige und begeisterungsfähige Frau war und sich in Ihre Schwester selbst verliebt hatte – buchstäblich verliebt. Aber auch Awdotja Romanowna war gut! Ich verstand es sehr gut auf den ersten Blick, daß die Sache gefährlich ist und ... – was glauben Sie? – ich entschloß mich selbst, sie gar nicht anzusehen. Aber Awdotja Romanowna machte selbst den ersten Schritt, ob Sie es mir glauben oder nicht. Werden Sie mir glauben, daß Marfa Petrowna mir anfangs sogar zürnte, weil ich mich über Ihre Schwester immer ausschwieg und die ständigen verliebten Urteile meiner Frau über Awdotja Romanowna so gleich gültig hinnahm? Ich verstehe gar nicht, was sie wollte. Selbstverständlich erzählte Marfa Petrowna Ihrer Schwester mein ganzes Vorleben mit allen Einzelheiten. Sie hatte diese unglückliche Angewohnheit, alle Menschen in unsere Familiengeheimnisse einzuweihen und sich bei allen über mich zu beklagen; wie sollte sie da auch nicht die neue schöne Freundin in alles einweihen? Ich nehme an, daß sie überhaupt von nichts anderem sprachen als von mir, und Awdotja Romanowna erfuhr wohl zweifellos alle jene finsteren, geheimnisvollen Märchen, die man mir zuschreibt ... Ich wette, daß Sie schon etwas Derartiges gehört haben?«
»Ich habe gehört. Luschin beschuldigte Sie sogar, daß Sie den Tod eines Kindes verursacht hätten. Ist es wahr?«
»Tun Sie mir den Gefallen und kommen Sie mir nicht mit diesen Dummheiten«, entgegnete Swidrigailow widerwillig und angeekelt. »Wenn Sie unbedingt etwas über diesen ganzen Unsinn hören wollen, so werde ich es Ihnen einmal erzählen, aber jetzt ...«
»Man erzählte sich auch von einem Diener, den Sie auf dem Lande hatten und bei dem Sie gleichfalls etwas verschuldet haben.«
»Tun Sie mir den Gefallen – genug davon!« unterbrach ihn Swidrigailow wieder mit sichtbarer Ungeduld.
»Ist es nicht derselbe Diener, der zu Ihnen nach seinem Tode kam, um die Pfeife zu stopfen? ... Sie haben mir sogar selbst schon davon erzählt!« fuhr Raskolnikow immer gereizter fort.
Swidrigailow sah Raskolnikow aufmerksam an, und jenem kam es vor, als ob in diesem Blicke blitzschnell ein boshaftes Lächeln aufzuckte; aber Swidrigailow beherrschte sich und antwortete sehr höflich:
»Ja, es ist derselbe. Ich sehe, daß auch dies alles Sie außerordentlich interessiert, und darum werde ich es für meine Pflicht halten, Ihre Neugier bei der ersten passenden Gelegenheit in allen Punkten zu befriedigen. Zum Teufel! Ich sehe, daß ich manchem Menschen tatsächlich als eine Romanfigur erscheinen kann. Nun können Sie sich nach alledem selbst denken, wie ich der verstorbenen Marfa Petrowna dankbar sein muß, daß sie Ihrer Schwester so viel Geheimnisvolles und Interessantes über mich erzählt hat. Ich wage nicht, über den Eindruck zu urteilen, aber es war für mich jedenfalls sehr vorteilhaft. Bei der natürlichen Abscheu Awdotja Romanownas gegen mich und trotz meines immer finsteren und abstoßenden Aussehens tat ich ihr schließlich leid; ich tat ihr leid als ein verlorener Mensch. Und wenn ein junges Mädchen in ihrem Herzen Mitleidhat, so ist es für sie am gefährlichsten. Dann will sie unbedingt ›retten‹ und überzeugen und zum neuen Leben auferwecken und zu edleren Zielen anspornen, zu einer neuen Tätigkeit rufen – nun, man weiß ja, was man sich in dieser Art alles einbilden kann. Ich merkte sofort, daß das Vöglein selbst ins Netz fliegt, und machte mich auch meinerseits bereit. Mir scheint, Sie ziehen Ihre Stirn kraus, Rodion Romanowitsch? Tut nichts, wie Sie wissen, hatte die Sache keine ernsten Folgen. (Zum Teufel, wieviel Wein ich jetzt trinke!) Wissen Sie, ich bedauerte immer, von Anfang an, daß das Schicksal es Ihrer Schwester versagt hat, im zweiten oder dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung irgendwo als die Tochter eines kleinen Fürsten oder Regenten oder Prokonsuls in Kleinasien zur Welt zu kommen. Sie wäre zweifellos eine von jenen, die das Martyrium erduldeten, und hätte natürlich gelächelt, wenn man ihr die Brust mit glühenden Zangen gebrannt hätte. Sie hätte dieses Los selbst erwählt, aber im vierten oder fünften Jahrhundert wäre sie in die Ägyptische Wüste gegangen und hätte dort dreißig Jahre lang von Wurzeln, Verzückungen und Visionen gelebt. Sie lechzt und verlangt bloß danach, für irgend jemand ein Martyrium auf sich zu nehmen, und wenn man ihr dieses Martyrium nicht gibt, so ist sie imstande, aus dem Fenster zu springen. Ich habe etwas von irgendeinem Herrn Rasumichin gehört. Man sagt, er sei ein vernünftiger Bursche (worauf auch sein Familienname hindeutet, wahrscheinlich kommt er aus einem geistlichen Seminar); soll er nur Ihre Schwester beschützen. Mit einem Wort, ich glaube sie durchschaut zu haben und rechne es mir auch als Ehre an. Aber damals, das heißt zu Beginn einer Bekanntschaft ist man immer, wie Sie wohl wissen, leichtsinniger und dümmer; man hat eine falsche Vorstellung von den Dingen und sieht nicht das Richtige. Zum Teufel, warum ist sie auch so schön? Das ist nicht meine Schuld! Mit einem Wort, es fing bei mir mit einer sehr starken wollüstigen Erregung an. Awdotja Romanowna ist furchtbar keusch, sie ist es in einem unerhörten und noch nie dagewesenen Maße. (Beachten Sie, bitte, ich teile Ihnen dies über Ihre Schwester als eine Tatsache mit. Sie ist vielleicht krankhaft keusch, trotz ihres ganzen großen Verstandes, und das kann ihr schaden.) Da tauchte bei uns ein Mädchen auf, eine gewisse Parascha, die schwarzäugige Parascha, die man erst eben aus einem anderen Dorfe zu uns gebracht hatte, ein Dienstmädchen, das ich bisher noch nie gesehen hatte, sehr hübsch, aber unglaublich dumm: sie fing gleich zu weinen an, heulte, daß man es im Hofe hörte, und so kam es zu einem Skandal. Awdotja Romanowna suchte mich eines Tages nach dem Essen absichtlich allein in einer Allee im Garten auf und fordertevon mir mit brennenden Augen, daß ich die arme Parascha in Ruhe lasse. Das war, glaube ich, unser erstes Gespräch unter vier Augen. Ich hielt es natürlich für eine Ehre, ihrem Wunsche nachzukommen, gab mir Mühe, mich überrascht und verlegen zu stellen, und spielte, mit einem Wort, meine Rolle gar nicht schlecht. Nun begannen Beziehungen, geheimnisvolle Unterredungen, Moralpredigten, Belehrungen, Bitten, Flehen und sogar Tränen, glauben Sie mir, sogar Tränen! Solche Ausmaße kann bei manchem jungen Mädchen die Leidenschaft zur Propaganda annehmen! Ich schob selbstverständlich die ganze Schuld auf mein Schicksal, stellte mich als nach Erleuchtung lechzend und dürstend und wandte schließlich das sicherste und erfolgreichste Mittel, Frauenherzen zu erobern, an, ein Mittel, das niemals und bei niemand versagt und auf jede Frau ohne Ausnahme wirkt. Es ist ein bekanntes Mittel: die Schmeichelei. Es gibt in der Welt nichts Schwierigeres als Offenheit und nichts Leichteres als Schmeichelei. Wenn in der Offenheit auch nur ein Hundertstel Lüge steckt, so entsteht sofort eine Dissonanz, und die führt zu einem Skandal. Wenn aber in der Schmeichelei sogar alles Lüge ist, selbst dann ist sie angenehm und wird mit Vergnügen angehört; und wenn es auch ein rohes Vergnügen ist, ein Vergnügen bleibt es doch. Wie roh die Schmeichelei auch ist, sie wird doch immer mindestens zur Hälfte als Wahrheit hingenommen. Das gilt für alle Bildungsstufen und für alle Gesellschaftsklassen. Selbst eine Vestalin kann man durch Schmeichelei verführen. Von gewöhnlichen Menschen rede ich schon gar nicht. Ich kann mich nicht ohne Lachen daran erinnern, wie ich mal eine ihrem Manne, ihren Kindern und ihren Tugenden ergebene Dame verführte. Wie lustig es war, und wie wenig Arbeit es mich kostete! Die Dame war aber wirklich tugendhaft, wenigstens in ihrer Art. Meine ganze Taktik bestand darin, daß ich jeden Augenblick den Erdrückten markierte und vor ihrer Keuschheit in den Staub fiel. Ich schmeichelte ihr gottlos, und so oft ich von ihr einen Händedruck oder sogar nur einen Blick errang, machte ich mir Verwürfe, daß ich ihn ihr mit Gewalt geraubt habe, daß sie mir Widerstand geleistet hätte; daß ich sicher nichts bekommen hätte, wenn ich nicht selbst so lasterhaft wäre; daß sie in ihrer Unschuld meine Tücke nicht durchschaut habe und unabsichtlich, ohne es zu wissen und zu ahnen, nachgegeben hätte, und dergleichen mehr. Mit einem Wort, ich erreichte bei ihr alles, aber meine Dame blieb im höchsten Maße davon überzeugt, daß sie unschuldig und keusch sei, daß sie alle Pflichten und Gebote erfülle und nur ganz zufällig gestrauchelt sei. Und wie wütend wurde sie, als ich ihr zuguterletzt erklärte, daß sie meiner aufrichtigen Überzeugung nach gleich mir nur einen Genuß gesucht habe. Auch die arme Marfa Petrowna fiel furchtbar leicht auf Schmeichelei herein, und wenn ich es nur wollte, hätte ich sicher ihr ganzes Vermögen noch bei ihren Lebzeiten auf meinen Namen umschreiben können. (Aber ich trinke so viel und schwatze.) Ich hoffe, Sie werden mir nicht böse werden, wenn ich jetzt erwähne, daß der gleiche Effekt sich auch bei Awdotja Romanowna zu zeigen begann. Aber ich war dumm und verdarb die ganze Sache. Awdotja Romanowna hatte schon einigemal früher (und einmal ganz besonders) eine furchtbare Abneigung gegen den Ausdruck meiner Augen gezeigt; können Sie es glauben? Mit einem Wort, in meinen Augen leuchtete immer stärker und unvorsichtiger ein gewisses Feuer auf, das ihr Angst machte und das sie schließlich zu hassen anfing. Es lohnt sich nicht, alle Einzelheiten zu erzählen, aber kurz und gut, wir gingen auseinander. Da machte ich wieder eine Dummheit. Ich fing nämlich an, mich in der rohesten Weise über ihre Propaganda und Bekehrungsversuche lustigzumachen: Parascha kam wieder auf die Bildfläche, und nicht allein sie; mit einem Wort, es begann ein wahres Sodom. Ach, Rodion Romanowitsch, wenn Sie doch nur einmal im Leben die Augen Ihrer Schwester gesehen hätten, wie sie zuweilen brennen können! Es macht doch nichts, daß ich jetzt betrunken bin und schon ein ganzes Glas geleert habe: ich spreche die Wahrheit; ich versichere Ihnen, daß ich von diesen Blicken träumte und das Rascheln ihres Kleides schließlich gar nicht mehr ertragen konnte. Wirklich, ich glaubte, daß ich die Fallsucht bekäme; nie hatte ich mir vorgestellt, daß ich in eine solche Raserei geraten könnte. Mit einem Wort, ich mußte mich mit ihr aussöhnen; das war aber nicht mehr möglich. Denken Sie sich nur, was ich dann tat! Wie stumpfsinnig kann doch die Raserei den Menschen machen! Unternehmen Sie nichts im Zustande von Raserei, Rodion Romanowitsch. Ich ging davon aus, daß Awdotja Romanowna im Grunde genommen eine Bettlerin ist (ach, entschuldigen Sie, ich wollte etwas anderes sagen ... aber ist es nicht ganz gleich, wenn es den gleichen Begriff wiedergibt?), mit einem Wort, daß sie von ihrer Hände Arbeit lebt, daß sie ihre Mutter und auch Sie zu erhalten hat (ach, zum Teufel, Sie verziehen wieder das Gesicht ...) – und entschloß mich, ihr mein ganzes Geld anzubieten (ich konnte damals etwa dreißigtausend Rubel flüssig machen), damit sie mit mir meinetwegen hierher nach Petersburg flieht. Natürlich würde ich ihr ewige Liebe, Seligkeit und dergleichen geschworen haben. Glauben Sie es mir: ich war damals so vernarrt, daß, wenn sie mir gesagt hätte: ›Ermorde oder vergifte Marfa Petrowna und heirate mich‹, ich es sofort getan hätte! Alles endete aber mit der Ihnen schon bekannten Katastrophe, und Sie werden nun selbst beurteilen können, wie wütend ich wurde, als ich erfuhr, daß Marfa Petrowna diesen gemeinen Federfuchser Luschin aufgegabelt und beinahe eine Heirat gedeichselt hatte, was im Grunde genommen dasselbe gewesen wäre, was ich ihr anbot. Ist es nicht so? Es stimmt doch? Ich sehe, daß Sie angefangen haben, mir sehr aufmerksam zuzuhören ... Sie interessanter junger Mann ...«
Swidrigailow schlug ungeduldig mit der Faust auf den Tisch. Er war ganz rot geworden. Raskolnikow sah deutlich, daß das eine oder die anderthalb Glas Champagner, die er unmerklich in kleinen Schlucken getrunken, auf ihn krankhaft gewirkt hatten, und er beschloß, diese Gelegenheit auszunützen. Swidrigailow kam ihm sehr verdächtig vor.
»Nun, nach alledem bin ich vollkommen überzeugt, daß Sie meiner Schwester wegen hergekommen sind«, sagte er Swidrigailow geradeaus und ohne sich zu verstellen, um ihn noch mehr zu reizen.
»Ach, hören Sie auf!« sagte Swidrigailow, gleichsam zur Besinnung kommend. »Ich sagte Ihnen ja schon ... und außerdem kann mich Ihre Schwester nicht leiden.«
»Ja, davon bin auch ich überzeugt, daß sie Sie nicht leiden kann; es handelt sich jetzt aber nicht darum.«
»Sind Sie denn wirklich überzeugt, daß sie mich nicht leiden kann?« (Swidrigailow kniff die Augen zusammen und lächelte spöttisch.) »Sie haben recht, sie liebt mich nicht; aber übernehmen Sie niemals eine Garantie in Dingen, die zwischen einem Gatten und einer Gattin oder zwischen einem Liebhaber und einer Geliebten passiert sind. Es gibt darin immer einen Winkel, der der ganzen Welt unbekannt bleibt und den nur die beiden allein kennen. Bürgen Sie dafür, daß Awdotja Romanowna mich wirklich mit Abscheu angesehen hat?«
»Aus einigen Worten und Redensarten in Ihrer Erzählung schließe ich, daß Sie auch jetzt noch Absichten, die Sie unverzüglich verwirklichen wollen, gegen Dunja haben, und zwar höchst gemeine Absichten.«
»Wie? Mir sind solche Worte und Redensarten entschlüpft?« rief Swidrigailow mit höchst naivem Erstaunen, ohne dem seinen Absichten zugeschriebenen Epitheton irgendeine Beachtung zu schenken.
»Sie entschlüpfen Ihnen auch jetzt. Was fürchten Sie denn so? Worüber sind Sie plötzlich so erschrocken?«
»Ich fürchte mich und bin erschrocken? Vielleicht vor Ihnen? Viel eher haben Sie Grund, mich zu fürchten, cher ami! Was für ein Unsinn! ... Ich bin übrigens betrunken, ich sehe es; um ein Haar hätte ich mich wieder versprochen. Zum Teufel den Champagner! He, Wasser!«
Er ergriff die Flasche und schmiß sie ohne jede Rücksicht zum Fenster hinaus. Philipp brachte Wasser.
»Das ist alles Unsinn«, sagte Swidrigailow, indem er ein Handtuch naß machte und es sich an den Kopf drückte. »Ich kann Sie mit einem einzigen Worte umwerfen und Ihren ganzen Verdacht zu Staub machen. Wissen Sie zum Beispiel, daß ich heirate?«
»Das haben Sie mir auch schon früher gesagt.«
»Ich habe es gesagt? Dann habe ich es vergessen. Damals aber konnte ich noch nichts Positives sagen, denn ich hatte die Braut noch gar nicht gesehen; ich trug mich bloß mit der Absieht herum. Nun, und jetzt habe ich schon eine Braut, und die ganze Sache ist abgeschlossen; hätte ich jetzt nicht andere dringende Geschäfte vor, so würde ich Sie unbedingt sofort mitnehmen und zu meiner Braut bringen – denn ich möchte Sie um Ihren Rat fragen. Ach, zum Teufel! Es bleiben mir nur noch zehn Minuten. Sehen Sie, hier ist die Uhr; übrigens will ich es Ihnen erzählen, denn meine Heirat ist eine interessante Sache, ich meine, in ihrer Art, – wo wollen Sie hin? Wollen Sie wieder gehen?«
»Nein, jetzt gehe ich nicht mehr fort.«
»Sie wollen gar nicht mehr fort? Wir wollen sehen! Ich werde Sie hinbringen und Ihnen die Braut zeigen, doch nicht jetzt, denn Sie müssen bald gehen. Sie gehen nach rechts und ich nach links. Kennen Sie diese Rößlich? Dieselbe Rößlich, bei der ich jetzt wohne? Hören Sie es? Nein, was denken Sie sich bloß, es ist dieselbe, von der man sich erzählt, daß das kleine Mädchen, im Wasser, zur Winterszeit ... nun, hören Sie es? Hören Sie es? Sie hat mir auch diese ganze Sache gedeichselt. Sie sagte mir: Du langweilst dich, zerstreue dich ein wenig. Ich bin aber ein finsterer und langweiliger Mensch. Sie glauben wohl, ich sei lustig? Nein, ich bin finster; ich tue niemand was zu leide, sitze aber in einer Ecke und bin zuweilen drei Tage nicht zum Sprechen zu bringen. Diese Rößlich ist aber eine geriebene Bestie, sage ich Ihnen; sie denkt sich wohl, ich fange mich wieder zu langweilen an, lasse die Frau sitzen und fahre fort, die Frau wird aber dann ihr zufallen, und sie wird sie in Verkehr bringen, das heißt, in unseren Kreisen und noch höher hinauf. Es gibt, sagte sie mir, einen gelähmten Vater, einen ehemaligen Beamten, der in einem Sessel sitzt und das dritte Jahr die Beine nicht bewegen kann. Es gibt, sagt sie mir, auch eine Mama, eine höchst vernünftige Dame. Der Sohn sitzt irgendwo in der Provinz und hilft ihnen nicht. Eine Tochter ist verheiratet und kommt nie zu den Eltern; dafür sitzen ihnen zwei kleine Neffen auf dem Halse (als ob sie nicht genug an den eigenen Kindern hätten), und sie haben ihre jüngste Tochter aus der Töchterschule genommen, die sie noch gar nicht absolviert hat; die wird in einem Monat erst sechzehn Jahre alt, also kann man sie in einem Monat verheiraten. Das heißt, mit mir. Wir gingen einmal hin; so komisch geht es bei solchen Leuten zu; ich stelle mich vor: Gutsbesitzer, Witwer, von guter Familie, mit den und den Verbindungen und einem Vermögen; was macht's, daß ich Fünfziger bin und sie nicht mal sechzehn ist? Wer sieht auf so was? Das ist doch verlockend, ha-ha! Sie hätten sehen sollen, wie ich mich mit dem Papa und der Mama unterhielt. Sie erscheint, macht einen Knicks; nun, Sie können sich denken, noch in kurzem Kleidchen, eine noch unaufgebrochene Knospe; sie errötet wie das Morgenrot (man hatte sie natürlich über meinen Besuch unterrichtet). Ich weiß nicht, was Sie für einen Geschmack in bezug auf Frauengesichter haben, ich bin aber der Ansicht, daß diese sechzehn Jahre, diese noch kindlichen Augen, diese Schüchternheit und diese Tränen der Scham schöner sind als die Schönheit selbst; zudem ist sie auch bildhübsch. Hellblonde Haare, zu Locken gekräuselt, wie ein Lämmchen, volle, rote Lippen, die Füßchen – ein Entzücken! ... Nun, wir lernten uns kennen, ich erklärte, daß ich infolge häuslicher Angelegenheiten Eile habe, und schon am nächsten Tage, das heißt vorgestern, gab man uns den Segen. Von nun an, wenn ich hinkomme, nehme ich sie sofort zu mir auf den Schoß und lasse sie nicht mehr herunter ... Nun, sie erglüht wie das Morgenrot, ich aber küsse sie jeden Augenblick; die Mama sagt ihr natürlich, daß ich ihr Gatte sei und daß es so sein müsse, mit einem Wort, ein Genuß! Mein jetziger Bräutigamstand ist vielleicht noch besser als der eines Gatten. Hier ist das, was man la nature et la vérité nennt! Ha-ha! An die zweimal habe ich mich mit ihr sogar unterhalten, das Mädel ist gar nicht dumm; manchmal sieht sie mich so verstohlen an, daß es durch Mark und Bein geht. Wissen Sie, sie hat das Gesicht wie die Madonna von Raffael. Die Sixtinische Madonna hat doch ein ganz phantastisches Gesicht, das Gesicht einer Trauernden und Wahnsinnigen, ist Ihnen das aufgefallen? Nun, auch ihr Gesicht ist in dieser Art. Kaum hatte man uns den Segen erteilt, als ich schon am nächsten Tage für fünfzehnhundert Rubel Geschenke mitbrachte: einen Brillantenschmuck, einen Perlenschmuck und einen silbernen Toilettenkasten, von dieser Größe, mit allen möglichen Dingen drin, und da errötete sogar ihr Madonnengesicht. Wie ich sie gestern zu mir auf den Schoß setzte, wahrscheinlich machte ich es schon gar zu ungeniert, da wurde sie über und über rot, die Tränen kamen ihr in die Augen; sie wollte es aber nicht zeigen und glühte nur wie im Fieber. Alle gingen für einen Augenblick hinaus, und als wir beide allein blieben, fiel sie mir plötzlich um den Hals (zum erstenmal), umarmte mich mit beiden Händchen, küßte mich und schwur, daß sie mir eine gehorsame, treue und gute Frau sein werde, daß sie mich glücklich machen werde, daß sie ihr ganzes Leben, jeden Augenblick ihres Lebens, alles, alles opfern wolle, nur um meine Achtung alleinzu erlangen; ›sonst‹, sagt sie, ›brauche ich nichts, nichts, keine Geschenke!‹ Sie werden doch zugeben, daß ein solches Geständnis unter vier Augen von einem solchen sechzehnjährigen kleinen Engel in Tüllkleidchen, mit blonden Locken, mit jungfräulicher Schamröte im Gesicht und den Tränen des Enthusiasmus in den Augen, anzuhören, – Sie werden doch zugeben, daß es recht verlockend ist! Es ist doch verlockend! Es ist doch was wert, nicht? Es ist was wert! Nun ... nun, hören Sie ... nun, wollen wir doch zu meiner Braut fahren ... aber nicht jetzt gleich!«
»Mit einem Wort, dieser ungeheuerliche Unterschied im Alter und in der Entwicklung weckt in Ihnen die Wollust! Werden Sie auch wirklich heiraten?«
»Warum denn nicht? Unbedingt. Ein jeder denkt nur an sich selbst, und am lustigsten lebt einer, der es am besten versteht, sich selbst zu betrügen. Ha-ha! Sind Sie denn wirklich so auf die Tugend versessen? Haben Sie doch Erbarmen, Väterchen, ich bin ein sündiger Mensch. He-he-he!«
»Aber Sie haben die Kinder Katerina Iwanownas untergebracht. Übrigens ... übrigens hatten Sie doch Ihre Gründe dazu ... jetzt verstehe ich alles.«
»Die Kinder habe ich überhaupt gern«, entgegnete Swidrigailow lachend. »In diesem Sinne kann ich Ihnen eine sehr interessante Episode erzählen, die noch nicht zu Ende ist. Gleich am ersten Tage nach meiner Ankunft machte ich einen Rundgang durch alle die Kloaken; nun nach den sieben Jahren stürzte ich mich auf alle diese Sachen. Es ist Ihnen wohl aufgefallen, daß ich mich gar nicht beeile, meine frühere Gesellschaft wieder aufzusuchen, alle die Freunde und Bekannten von einst. Nun, ich will mich auch möglichst lange ohne sie behelfen. Sie wissen: bei Marfa Petrowna auf dem Lande haben mich die Erinnerungen an alle die geheimnisvollen Orte und Örtchen, in denen der Wissende so vieles finden kann, halb zu Tode gequält. Hol der Teufel! Das Volk trinkt, die gebildete Jugend verglüht in unerfüllbaren Träumen und Phantasien zu Asche, wird von den Theorien verkrüppelt; irgendwoher sind zahllose Juden zusammengefahren, die das Geld auf die Seite bringen, und alles übrige lebt in Unzucht. So hauchte mich diese Stadt gleich in den ersten Stunden mit ihrem vertrauten Geruch an. Ich geriet auf einen sogenannten Tanzabend – eine schreckliche Kloake (ich aber liebe gerade solche schmutzigen Kloaken); natürlich gibt es da einen Kankan, wie man ihn sonst nirgends sieht und wie es ihn zu meiner Zeit nicht gab. Ja, in diesen Dingen sieht man einen Fortschritt. Plötzlich sehe ich ein etwa dreizehnjähriges Mädchen, reizend angezogen, tanzt mit einem ›Kavalier‹; ein anderer Kerl tanzt ihr vis-à-vis. Auf dem Stuhl an der Wand sitzt die Mutter. Nun, Sie können sich vorstellen, was das für ein Kankan war! Das Mädchen ist verlegen, errötet, fühlt sich schließlich gekränkt und fängt zu weinen an. Der Kerl packt sie, dreht sie um und produziert sich vor ihr; alle ringsum lachen – ich liebe in solchen Augenblicken unser Publikum, selbst beim Kankan; die Leute lachen und schreien: ›Geschieht schon recht! Man soll keine Kinder herbringen!‹ Nun, mich ging ja die Sache nichts an, ob die Menschen sich da logisch oder unlogisch trösteten! Ich faßte sofort meinen Plan, setzte mich neben die Mutter und begann ihr zu erzählen, daß auch ich hier fremd sei, daß alle Menschen hier so ungehobelt wären und es nicht verstünden, wahre Vorzüge zu unterscheiden und den gebührenden Respekt zu empfinden; ich gab ihr zu verstehen, daß ich viel Geld habe; dann schlug ich ihnen vor, sie in meinem Wagen nach Hause zu bringen; ich begleitete sie nach Hause, lernte sie kennen (sie wohnen irgendwo in einer Kammer in Aftermiete, sind soeben angekommen). Sie erklärten mir, wie die Mutter so auch die Tochter, daß sie meine Bekanntschaft nur als eine große Ehre auffassen könnten; ich erfuhr, daß sie keinen Pfennig haben und nach Petersburg gekommen sind, um sich bei irgendeiner Behörde um irgend etwas zu bemühen; ich bot ihnen meine Dienste und Geld an und hörte, daß sie zu diesem Tanzabend aus Versehen hingekommen waren, in der Meinung, daß dort in Wirklichkeit Tanzunterricht stattfinde; ich machte mich meinerseits erbötig, die Erziehung des jungen Mädchens und den Unterricht in Französisch und Tanzen zu fördern. Sie nahmen meinen Vorschlag mit Begeisterung an, hielten es für eine Ehre, und ich bin mit ihnen auch heute noch bekannt ... Wollen Sie, wir fahren hin, aber nicht jetzt gleich.«
»Lassen Sie, lassen Sie Ihre gemeinen, niederträchtigen Anekdoten, Sie verdorbener, gemeiner, wollüstiger Mensch!«
»Ja, der Schiller, da sieht man wieder unsern Schiller! Où va-t-elle la vertu se nicher? Wissen Sie, ich werde Ihnen mit Absicht solche Dinge erzählen, um Ihre Aufschreie zu hören. Es ist ein Genuß!«
»Das will ich meinen; bin ich mir denn jetzt auch selbst nicht lächerlich?« murmelte Raskolnikow voller Haß.
Swidrigailow lachte aus vollem Halse; schließlich rief er den Philipp, bezahlte die Zeche und machte sich zum Fortgehen bereit.
»Nun bin ich aber tüchtig betrunken, assez causé!« sagte er. »Es ist ein Genuß!«
»Wie sollten Sie auch keinen Genuß empfinden!« rief Raskolnikow, sich gleichfalls erhebend. »Ist es denn für einen solchen geriebenen Wollüstling kein Genuß, von solchen Abenteuern zu erzählen – wenn er dabei auch noch irgendeine ungeheuerliche Absicht in derselben Art hat, und obendrein unter solchen Umständen und solch einem Menschen, wie ich es bin ... Das bringt doch das Blut in Wallung!«
»Wenn Sie so reden«, antwortete Swidrigailow mit einigem Erstaunen, Raskolnikow musternd – »wenn Sie so reden, so sind Sie auch selbst ein ordentlicher Zyniker. Jedenfalls steckt in Ihnen ein ungeheures Material dazu. Sie können wohl vieles begreifen ... können aber auch vieles tun. Aber genug. Ich bedaure es aufrichtig, daß unsere Unterhaltung so kurz war, Sie entgehen mir aber nicht ... warten Sie nur ...«
Swidrigailow verließ das Wirtshaus. Raskolnikow folgte ihm. Swidrigailow war aber gar nicht so berauscht; der Wein war ihm bloß für einen Augenblick zu Kopfe gestiegen, der Rausch verflüchtete sich von Augenblick zu Augenblick. Er war um etwas besorgt, wohl um etwas sehr Wichtiges, und runzelte die Stirn. Irgendeine Erwartung regte ihn anscheinend auf und beunruhigte ihn. In seinem Benehmen gegen Raskolnikow war er in den letzten Minuten plötzlich ganz anders geworden und wurde von Augenblick zu Augenblick gröber und spöttischer. Raskolnikow merkte sich das alles und wurde auch unruhig. Swidrigailow kam ihm sehr verdächtig vor; er entschloß sich, ihm zu folgen.
Sie traten auf das Trottoir.
»Sie gehen nach rechts und ich nach links. Oder vielleicht auch umgekehrt. Aber, adieu mon plaisir, auf freudiges Wiedersehen!«
Und er ging nach rechts, in der Richtung zum Heumarkt.
V
Raskolnikow ging ihm nach.
»Was soll das bedeuten?!« rief Swidrigailow, sich umwendend. »Ich hab Ihnen doch, glaube ich, gesagt ...«
»Das bedeutet, daß ich Sie jetzt nicht mehr loslasse.«
»Wa-as?«
Beide blieben stehen und sahen einander eine Minute lang an, als wollten sie sich messen.
»Aus allen Ihren halbbetrunkenen Erzählungen«, sagte Raskolnikow schroff, »habe ich positiverfahren, daß Sie Ihre gemeinen Absichten gegen meine Schwester nicht nur nicht aufgegeben haben, sondern mit ihnen mehr als je beschäftigt sind. Mir ist es bekannt, daß meine Schwester heute früh irgendeinen Brief bekommen hat. Sie konnten die ganze Zeit nicht ruhig sitzen ... allerdings konnten Sie unterwegs irgendeine Braut aufgegabelt haben, aber das hat nichts zu sagen. Ich möchte mich persönlich überzeugen ...«
Raskolnikow hätte wohl kaum angeben können, was er jetzt vorhatte und wovon er sich persönlich überzeugen wollte.
»So! Wollen Sie, daß ich sofort die Polizei rufe?«
»Ruf nur!«
Sie standen wieder eine Minute einander gegenüber. Swidrigailows Gesicht veränderte sich plötzlich. Als er sich überzeugt hatte, daß Raskolnikow vor seiner Drohung nicht erschrak, nahm er plötzlich eine sehr heitere und freundschaftliche Miene an.
»Was sind Sie für ein Mensch! Ich hatte absichtlich mit Ihnen kein Wort von Ihrer Sache gesprochen, obwohl mich selbstverständlich die Neugierde plagt. Es ist ja eine ganz phantastische Sache. Ich hatte es auf ein anderes Mal verschoben, aber Sie können auch einen Toten reizen ... Gut, kommen Sie mit, ich sage Ihnen aber im voraus: Ich gehe jetzt bloß auf einen Sprung nach Hause, um Geld zu holen; dann sperre ich meine Wohnung ab, miete mir eine Droschke und fahre für den ganzen Abend auf die Inseln hinaus. Sie werden doch nicht mitkommen.«
»Ich aber gehe in die Wohnung mit, doch nicht zu Ihnen, sondern zu Ssofja Ssemjonowna, um mich zu entschuldigen, daß ich nicht bei der Beerdigung war.«
»Wie Sie wünschen, Ssofja Ssemjonowna ist jetzt aber nicht zu Hause. Sie ist mit allen Kindern zu einer Dame gegangen, zu einer vornehmen alten Dame, einer früheren alten Bekannten von mir, die Vorsteherin von Waisenanstalten ist. Ich bezauberte diese Dame, indem ich für alle drei Kinder Katerina Iwanownas Geld einzahlte und außerdem noch einen Betrag für die Anstalten spendete. Zuletzt erzählte ich die ganze Geschichte Ssofja Ssemjonownas, sogar mit allen Einzelheiten, ohne etwas zu verschweigen. Der Effekt war unbeschreiblich. Darum wurde Ssofja Ssemjonowna für heute ins Hotel bestellt, wo sich meine Dame, die von der Sommerfrische kommt, vorübergehend aufhält.«
»Macht nichts, ich werde doch zu ihr hinaufgehen.«
»Wie Sie wollen, wir sind aber doch keine Weggenossen! Nun, gleich sind wir da. Sagen Sie, ich bin überzeugt, daß Sie mich darum so argwöhnisch ansehen, weil ich bisher selbst so diskret war und Sie mit meinen Fragen nicht behelligte ... Sie verstehen doch? Das kam Ihnen ungewöhnlich vor; ich wette, daß es so ist! Nun, da soll man noch diskret sein!«
»Und an der Türe horchen!«
»Ah, Sie meinen das!« sagte Swidrigailow lachend. »Ja, ich müßte mich wundern, wenn Sie nach alledem diese Bemerkung nicht gemacht hätten. Ha-ha! Ich habe zwar manches davon verstanden, was Sie damals ... dort ... angestellt und Ssofja Ssemjonowna selbst erzählt haben, aber was ist das eigentlich? Ich bin vielleicht ein sehr zurückgebliebener Mensch und kann nichts mehr verstehen. Erklären Sie es mir um Gotteswillen, mein Liebster! Erleuchten Sie mich mit Ihren allerneuesten Prinzipien.«
»Sie können gar nichts gehört haben, Sie lügen!«
»Aber ich meine gar nicht das (obwohl ich wirklich manches gehört habe), nein, ich meine nur das, daß Sie fortwährend stöhnen und seufzen. Der Schiller in Ihnen wird jeden Augenblick verlegen. Und jetzt erklären Sie auch noch, man dürfe nicht an fremden Türen horchen. Wenn dem so ist, so gehen Sie hin und sagen Sie den Behörden, daß mit Ihnen so ein Zufall passiert ist: In der Theorie ist ein kleiner Fehler unterlaufen. Wenn Sie aber überzeugt sind, daß man an fremden Türen nicht horchen darf, aber das Recht hat, alte Weiber zu seinem eigenen Vergnügen mit beliebigen Gegenständen zu erschlagen, so fahren Sie doch schnell irgendwohin nach Amerika! Fliehen Sie, junger Mann! Vielleicht ist noch Zeit. Ich spreche jetzt aufrichtig. Haben Sie vielleicht kein Geld? Ich will Ihnen welches für die Reise geben.«
»Ich denke gar nicht daran«, unterbrach ihn Raskolnikow angeekelt.
»Ich verstehe (machen Sie sich übrigens keine Mühe: Wenn Sie nicht wollen, so brauchen Sie nicht viel zu sprechen); ich verstehe, was für Fragen Sie jetzt beschäftigen: Vielleicht moralische? Die Fragen des Bürgers und Menschen? Lassen Sie sie lieber beiseite; was brauchen Sie jetzt diese Fragen? He-he! Weil Sie noch immer Bürger und Mensch sind? Wenn Sie es sind, so hätten Sie sich auch nicht hineinmischen sollen; Sie hätten nicht eine Sache unternehmen sollen, der Sie nicht gewachsen sind. Nun, erschießen Sie sich; oder haben Sie keine Lust dazu?«
»Mir scheint, Sie wollen mich jetzt absichtlich reizen, damit ich Sie gehen lasse ...«
»Was sind Sie für ein Kauz! Nun sind wir aber schon da, gehen Sie, bitte, die Treppe hinauf. Sehen Sie, hier ist der Eingang zu Ssofja Ssemjonowna. Sie sehen doch, es ist niemand da! Sie glauben es nicht? Fragen Sie dann die Kapernaumows; ihnen pflegt sie ihren Schlüssel abzugeben. Da ist auch Madame de Kapernaumow selbst. Was? (Sie ist ein wenig taub.) Ist sie fort? Wohin? Nun, haben Sie es gehört? Sie ist nicht zu Hause und kommt vielleicht erst spät am Abend heim. Nun, kommen Sie jetzt zu mir. Sie wollten doch auch zu mir? So, jetzt sind Sie bei mir. Madame Rößlich ist nicht zu Hause. Diese Dame ist ewig beschäftigt, aber ich versichere Ihnen, sie ist eine gute Frau, vielleicht könnte sie auch Ihnen nützlich sein, wenn Sie vernünftiger wären. Nun, sehen Sie, hier nehme ich aus dem Schreibtisch dieses fünfprozentige Staatspapier (sehen Sie, wieviel ich davon noch habe!), dieses aber wird heute noch umgewechselt. Nun, haben Sie es gesehen? Jetzt habe ich keine Zeit mehr zu verlieren. Der Schreibtisch wird abgeschlossen, die Wohnung wird abgeschlossen, und wir sind wieder auf der Treppe. Nun, wollen Sie, daß ich eine Droschke miete? Ich fahre ja auf die Inseln hinaus. Wollen Sie nicht mitkommen? Ich nehme diesen Wagen zur Jelagin-Insel; was? Sie weigern sich? Sie halten es nicht mehr aus? Wollen wir doch etwas spazieren fahren, macht nichts. Ich glaube, ein Regen zieht auf, macht nichts, wir stellen das Verdeck auf ...«
Swidrigailow saß schon im Wagen. Raskolnikow sagte sich, daß sein Verdacht wenigstens in diesem Augenblick unbegründet sei. Ohne ein Wort zu antworten, drehte er sich um und ging zurück in der Richtung zum Heumarkt. Hätte er sich unterwegs auch nur einmal umgewandt, so würde er gesehen haben, daß Swidrigailow, nachdem er kaum mehr als hundert Schritte gefahren war, den Kutscher bezahlte und wieder aufs Trottoir trat. Er konnte aber nichts mehr sehen und war um die Ecke gebogen. Ein tiefer Ekel trieb ihn von Swidrigailow fort. »Wie konnte ich nur, auch nur einen Augenblick, etwas von diesem rohen Bösewicht, von diesem Wollüstling und Schurken erwarten!« rief er unwillkürlich aus. Raskolnikow hatte dieses Urteil allerdings allzu voreilig und leichtsinnig gefällt. Im ganzen Gebaren Swidrigailows lag etwas, was ihm wenigstens eine gewisse Originalität, wenn nicht etwas Geheimnisvolles verlieh. Was aber seine Schwester betraf, so war Raskolnikow dennoch fest überzeugt, daß Swidrigailow sie nicht in Ruhe lassen würde. Aber es war ihm schon allzu schwer und unerträglich, an all das zu denken!
Seiner Gewohnheit gemäß war er schon nach den ersten zwanzig Schritten, als er allein geblieben war, in tiefe Nachdenklichkeit versunken. Er ging auf die Brücke, blieb am Geländer stehen und begann in das Wasser zu starren. Indessen stand hinter ihm Awdotja Romanowna.
Er war ihr am Anfange der Brücke begegnet, war aber an ihr vorbeigegangen, ohne sie bemerkt zu haben. Dunjetschka hatte ihn noch nie in dieser Verfassung auf der Straße gesehen und war beinahe erschrocken. Sie blieb stehen und wußte nicht, ob sie ihn anrufen solle oder nicht? Plötzlich sah sie Swidrigailow, der sich schnell vom Heumarkt her näherte.
Jener schien aber geheimnisvoll und vorsichtig näher zu kommen. Er ging nicht auf die Brücke, sondern blieb abseits auf dem Trottoir stehen, wobei er sich die größte Mühe gab, von Raskolnikow nicht gesehen zu werden. Dunja hatte er schon längst bemerkt und machte ihr Zeichen. Ihr schien es, daß er sie mit seinen Zeichen bat, den Bruder nicht anzurufen und in Ruhe zu lassen, und sie zu sich heranwinkte.
Dunja tat auch so. Sie ging leise um den Bruder herum und näherte sich Swidrigailow.
»Gehen wir schneller«, flüsterte ihr Swidrigailow zu. »Ich möchte nicht, daß Rodion Romanowitsch von unserer Zusammenkunft erfährt. Ich sage Ihnen gleich, daß ich soeben mit ihm hier in der Nähe in einer Wirtschaft gesessen habe, wo er mich selbst aufgesucht hatte, und ich wurde ihn nur mit Mühe los. Er weiß irgendwie von meinem Briefe an Sie und hat einen Verdacht. Sie haben es ihm natürlich nicht erzählt? Und wenn Sie es nicht waren, wer dann?«
»Nun sind wir schon um die Ecke gekommen,« unterbrach ihn Dunja, »mein Bruder wird uns nicht mehr sehen. Ich erkläre Ihnen, daß ich mit Ihnen nicht weiter gehen will. Sagen Sie mir alles hier; Sie können ja alles auf der Straße sagen.«
»Erstens kann man das alles unmöglich auf der Straße sagen; zweitens müssen Sie auch Ssofja Ssemjonowna anhören; drittens werde ich Ihnen einige Dokumente zeigen ... Und schließlich, wenn Sie sich weigern, zu mir zu kommen, verzichte ich auf alle Erklärungen und gehe sofort weg. Dabei bitte ich Sie nicht zu vergessen, daß ein außerordentlich interessantes Geheimnis Ihres geliebten Bruders sich vollkommen in meinen Händen befindet.«
Dunja blieb unentschlossen stehen und blickte Swidrigailow durchdringend an.
»Was fürchten Sie?« versetzte er ruhig. »Die Stadt ist doch kein Dorf. Und im Dorfe haben Sie mir mehr Schaden zugefügt als ich Ihnen; hier aber ...«
»Ist Ssofja Ssemjonowna vorbereitet?«
»Nein, ich habe ihr kein Wort gesagt und bin auch nicht ganz sicher, ob sie zu Hause ist. Übrigens ist sie wahrscheinlich zu Hause. Sie hat heute ihre Verwandte beerdigt – das ist kein Tag, um Besuche zu machen. Vorläufig will ich mit niemand davon reden und bereue sogar teilweise, daß ich es Ihnen mitgeteilt habe. Die geringste Unvorsichtigkeit kommt in diesem Falle einer Denunziation gleich. Ich wohne hier in diesem Hause, nun sind wir gleich da. Das ist der Hausknecht von meinem Hause; der Hausknecht kennt mich sehr gut; da grüßt er mich; er sieht, daß ich mit einer Dame gehe, und hat sich schon natürlich ihr Gesicht gemerkt; daß kann Ihnen aber von Nutzen sein, wenn Sie sich sehr fürchten und mir nicht trauen. Entschuldigen Sie, daß ich so offen spreche. Ich selbst wohne in Aftermiete. Ssofja Ssemjonowna wohnt neben mir Wand an Wand, auch in Aftermiete. Das ganze Stockwerk ist voller Mieter. Was fürchten Sie denn wie ein Kind? Oder komme ich Ihnen so schrecklich vor?«
Swidrigailows Gesicht verzerrte sich zu einem herablassenden Lächeln; aber er wollte gar nicht lächeln. Sein Herz klopfte, und sein Atem stockte. Er sprach absichtlich laut, um seine immer anwachsende Erregung zu verbergen; aber Dunja hatte diese eigentümliche Erregung gar nicht bemerkt; die Frage, ob sie ihn wie ein Kind fürchte und ob er ihr so schrecklich sei, hatte sie zu sehr gereizt.
»Ich weiß zwar, daß Sie ein Mensch ... ohne Ehre sind, aber ich fürchte Sie nicht im geringsten. Gehen Sie voraus«, sagte sie mit scheinbarer Ruhe, aber ihr Gesicht war sehr blaß.
Swidrigailow blieb vor Ssonjas Wohnung stehen.
»Erlauben Sie, daß ich mich erkundige, ob sie zu Hause ist ... Nein, sie ist nicht da, dieses Pech! Aber ich weiß, daß sie sehr bald kommen kann. Wenn sie ausgegangen ist, so doch nur zu einer Dame wegen der Waisen, deren Mutter gestorben ist. Ich habe mich hineingemischt und manches besorgt. Wenn Ssofja Ssemjonowna nach zehn Minuten noch nicht zurück ist, so schicke ich sie selbst zu Ihnen; wenn Sie wollen, heute noch. Nun, hier ist meine Wohnung, da sind meine beiden Zimmer. Hinter der Tür wohnt meine Wirtin, Frau Rößlich. Nun schauen Sie her, ich will Ihnen meine Hauptdokumente zeigen: diese Tür führt aus meinem Schlafzimmer in zwei vollkommen leere Zimmer, die zu vermieten sind. Hier sind sie ... das müssen Sie sich etwas aufmerksamer ansehen ...«
Swidrigailow bewohnte zwei recht geräumige möblierte Zimmer. Dunjetschka sah sich mißtrauisch um, merkte aber weder in der Ausstattung, noch in der Lage der Zimmer etwas Besonderes, obwohl ihr einiges doch hätte auffallen müssen; zum Beispiel, daß Swidrigailows Wohnung zwischen zwei anderen leeren Wohnungen lag. Der Eingang zu ihm war nicht direkt vom Korridor aus, sondern durch zwei Zimmer der Wirtin, die fast leer waren. Swidrigailow sperrte die verschlossene Tür im Schlafzimmer auf und zeigte Dunja eine leere Wohnung, die gleichfalls zu vermieten war. Dunjetschka blieb an der Schwelle stehen, ohne zu begreifen, warum man sie aufforderte, es zu sehen, aber Swidrigailow beeilte ich, es ihr zu erklären.
»Schauen Sie, bitte, hier hinein, in dieses zweite große Zimmer. Beachten Sie diese Tür, sie ist abgeschlossen. Neben der Tür steht ein Stuhl, der einzige Stuhl in beiden Zimmern. Ich brachte ihn aus meiner Wohnung, um bequemer horchen zu können. Dort, gleich hinter der Tür, steht der Tisch Ssofja Ssemjonownas: dort saß sie und sprach mit Rodion Romanowitsch. Und ich horchte hier, auf diesem Stuhle sitzend, zwei Abende hintereinander, beide. Male je zwei Stunden – und konnte natürlich manches erfahren, – wie glauben Sie?«
»Haben Sie gehorcht?«
»Ja, ich habe gehorcht. Jetzt wollen wir aber zu mir gehen, hier kann man nicht mal sitzen.«
Er führte Awdotja Romanowna in sein erstes Zimmer zurück, das ihm als Empfangszimmer diente, und bot ihr einen Stuhl an. Er selbst setzte sich ans andere Ende des Tisches, mindestens einen Klafter von ihr entfernt, aber in seinen Augen brannte wohl wieder das gleiche Feuer, das Dunjetschka schon einmal er schreckt hatte. Sie fuhr zusammen und sah sich noch einmal argwöhnisch um. Diese Bewegung war unwillkürlich, sie wollte ihren Argwohn offenbar nicht zeigen. Aber die isolierte Lage der Wohnung Swidrigailows fiel ihr doch auf. Sie wollte schon fragen, ob wenigstens seine Wirtin zu Hause sei, fragte aber nicht ... aus Stolz. Zudem war in ihrem Herzen auch noch ein anderer Schmerz, viel größer als die Angst für sich selbst. Die Qual war unerträglich.
»Hier ist Ihr Brief«, begann sie, indem sie denselben auf den Tisch legte. »Ist es denn möglich, was Sie da schreiben? Sie machen Anspielungen auf ein Verbrechen, das mein Bruder verübt haben soll. Die Anspielung ist viel zu deutlich, Sie dürfen jetzt nicht mit Ausflüchten kommen. Nun sage ich Ihnen, daß ich dieses dumme Märchen schon vor Ihnen gehört habe und keinem Wort davon glaube. Es ist ein gemeiner und lächerlicher Verdacht. Ich kenne die Geschichte und weiß, wie und warum man sie erfunden hat. Sie können keinerlei Beweise haben, Sie haben aber versprochen, alles zu beweisen: sprechen Sie doch! Aber ich sage Ihnen gleich, daß ich Ihnen nicht glaube! Ich glaube es nicht!«
Dunjetschka sagte dies, sich überstürzend, mit großer Hast, und das Blut stieg ihr für einen Augenblick in den Kopf.
»Wenn Sie mir nicht glaubten, wäre es dann möglich, daß Sie riskiert hätten, allein zu mir zu kommen? Warum sind Sie dann hergekommen? Aus bloßer Neugier?«
»Quälen Sie mich nicht, sprechen Sie, sprechen Sie!«
»Es ist nicht zu leugnen, daß Sie ein tapferes Mädchen sind. Bei Gott, ich glaubte, Sie würden Herrn Rasumichin bitten, Sie hierher zu begleiten. Aber er war weder mit Ihnen noch in Ihrer Nähe; ich habe mich davon überzeugt. Das ist kühn, folglich wollten Sie Rodion Romanowitsch schonen. Bei Ihnen ist übrigens alles göttlich ... Was aber Ihren Bruder betrifft, – was kann ich Ihnen da sagen? Sie haben ihn doch eben selbst gesehen. Nun, wie sieht er aus?«
»Sie begründen doch alles nicht darauf!«
»Nein, nicht darauf, sondern auf seinen eigenen Worten. Zwei Abende hintereinander hat er hier Ssofja Ssemjonowna besucht. Ich zeigte Ihnen, wo sie gesessen haben. Er hat ihr alles gebeichtet. Er ist der Mörder. Er hat die alte Beamtenwitwe, die Wucherin, ermordet, bei der er auch selbst zu versetzen pflegte; er hat auch ihre Schwester, die Händlerin Lisaweta, ermordet, die zufällig während der Ermordung der Schwester gekommen war. Er hat sie beide mit einem Beil ermordet, das er mitgebracht hatte. Er ermordete die beiden, um sie zu berauben, und hat sie auch beraubt; er hat Geld und noch irgendwelche Gegenstände mitgenommen ... Das alles hat er selbst Wort für Wort Ssofja Ssemjonowna erzählt, die allein das Geheimnis weiß, aber am Morde weder durch Wort noch durch Tat teilgenommen hat; sie hat sich davor vielmehr ebenso entsetzt wie Sie jetzt. Sie können ruhig sein: sie wird ihn nicht verraten.«
»Das kann nicht sein!« stotterte Dunjetschka mit totenblassen Lippen; sie rang um Atem. »Es kann nicht sein, es gibt keine, nicht die geringste Ursache, gar keinen Grund ... Es ist eine Lüge, eine Lüge! ...«
»Er hat geraubt, das ist der ganze Grund. Er hat sich das Geld und die Sachen angeeignet. Allerdings hat er, nach seinem eigenen Geständnis, weder aus dem Geld noch aus den Sachen Nutzen gezogen, sondern hat sie irgendwo unter einem Stein versteckt, wo sie auch heute noch liegen. Aber nur deshalb, weil er nicht wagte, daraus Nutzen zu ziehen.«
»Ist es denn möglich, daß er imstande wäre, zu stehlen, zu rauben? Daß er daran auch nur denken konnte?« rief Dunja und sprang vom Stuhle auf. »Sie kennen ihn doch, Sie haben ihn gesehen? Kann er denn ein Dieb sein?«
Sie flehte Swidrigailow gleichsam an; sie hatte ihre ganze Angst vergessen.
»Es sind darin Tausende, Millionen von Kombinationen und Kategorien möglich, Awdotja Romanowna. Der Dieb stiehlt, dafür weiß er auch selbst, daß er ein Schuft ist; aber ich hörte, daß ein anständiger Mensch die Post beraubt hat; wer kann es wissen, vielleicht glaubt er wirklich, daß er eine brave Tat vollbracht hat! Natürlich würde ich es nicht geglaubt haben, ebensowenig wie Sie, wenn ich es aus zweiter Hand erfahren hätte. Aber meinen eigenen Ohren mußte ich glauben. Er hat Ssofja Ssemjonowna auch alle Gründe erklärt; sie aber glaubte zuerst auch den eigenen Ohren nicht, endlich glaubte sie es den eigenen Augen. Er hat ihr doch alles persönlich mitgeteilt.«
»Was waren es denn für Gründe?«
»Es ist eine lange Geschichte, Awdotja Romanowna. Es ist hier, wie soll ich es Ihnen sagen, eine eigene Theorie dabei, dasselbe, warum ich finde, daß zum Beispiel ein einzelnes Verbrechen erlaubt ist, wenn sein Hauptziel gut ist! Es ist natürlich für einen jungen Mann mit Vorzügen und maßlosem Ehrgeiz auch kränkend, zu wissen, daß, wenn er zum Beispiel nur dreitausend Rubel hätte, seine ganze Karriere, die Zukunft seiner Lebensziele sich anders gestaltet haben würden; aber er hat diese dreitausend Rubel nicht. Fügen Sie hinzu die Reizbarkeit und die Erbitterung infolge des Hungers, der engen Wohnung, der abgerissenen Kleidung, infolge der klaren Einsicht seiner häßlichen sozialen Lage, zugleich aber auch der Lage seiner Mutter und Schwester. Am meisten aber der Ehrgeiz, Stolz und Ehrgeiz – aber Gott weiß, vielleicht hat er dabei auch gute Eigenschaften ... Ich klage ihn ja nicht an, glauben Sie es nur nicht. Es ist auch nicht meine Sache. Er hatte auch eine eigene kleine Theorie, eine gar nicht so üble Theorie, daß die Menschen, sehen Sie, in ›Material‹ und in ›besondere Menschen‹ eingeteilt werden, das heißt in solche, für die, infolge ihrer hohen Stellung, das Gesetz nicht gilt, die vielmehr selbst die Gesetze für die übrigen Menschen, für das Material, für den Kehricht aufstellen. Die Theorie ist gar nicht übel, une théorie comme une autre. Napoleon hat ihn furchtbar begeistert, oder vielmehr die Überzeugung, daß sehr viele geniale Menschen das einzelne Verbrechen nicht als Übel ansahen, sondern sich darüber hinwegsetzten. Ich glaube, er hat sich eingebildet, daß auch er ein genialer Mensch ist, das heißt, er war wohl eine Zeitlang davon überzeugt. Er litt sehr und leidet auch jetzt noch unter dem Gedanken, daß er es fertiggebracht habe, eine Theorie aufzustellen, aber nicht imstande gewesen sei, sich, ohne nachzudenken, darüber hinwegzusetzen, daß er also kein genialer Mensch sei. Und das ist für einen ehrgeizigen jungen Mann erniedrigend, und in unserer Zeit ganz besonders ...«
»Und die Gewissensbisse? Sie sprechen ihm jedes sittliche Gefühl ab? Ist er denn so?«
»Ach, Awdotja Romanowna, jetzt hat sich alles getrübt, das heißt, es war wohl nie in besonderer Ordnung gewesen. Die russischen Menschen sind überhaupt ›breite‹ Menschen, Awdotja Romanowna, so breit wie die Erde, und außerordentlich geneigt zum Phantastischen und Unordentlichen, es ist aber ein Unglück, ›breit‹ zu sein, ohne wirkliche Genialität zu besitzen. Erinnern Sie sich noch, wieviel wir beide in dieser Art und über das gleiche Thema gesprochen haben, so oft wir nach dem Abendessen auf der Gartenterrasse saßen? Sie haben mir damals diese ›Breite‹ vorgeworfen. Wer weiß, vielleicht sagten Sie das gerade in derselben Zeit, als er hier lag und das seinige dachte. Unsere gebildete Gesellschaft hat ja keine besonders heiligen Überlieferungen, Awdotja Romanowna; höchstens stellt sich jemand solche aus Büchern zusammen ... oder konstruiert sie aus alten Chroniken. Das sind aber doch meistenteils Gelehrte und, wissen Sie, in ihrer Art Schlafmützen, so daß es für einen Mann der Gesellschaft sogar unpassend ist. Übrigens sind Ihnen meine Ansichten überhaupt bekannt; ich klage absolut niemand an. Ich selbst bin ein Zärtling und Nichtstuer und halte mich daran. Wir haben ja mehr als einmal darüber gesprochen. Ich hatte sogar das Glück, daß Sie sich für meine Ansichten interessierten ... Sie sind sehr blaß, Awdotja Romanowna!«
»Ich kenne diese seine Theorie. Ich habe seinen Artikel in der Zeitschrift gelesen, über die Menschen, denen alles erlaubt ist ... Rasumichin hat mir den Artikel gebracht.«
»Herr Rasumichin? Einen Artikel Ihres Bruders? In einer Zeitschrift? Es gibt einen solchen Artikel? Ich wußte es gar nicht. Das muß aber interessant sein! Wo wollen Sie denn hin, Awdotja Romanowna?«
»Ich will Ssofja Ssemjonowna sehen«, sagte Dunjetschka mit schwacher Stimme. »Wie komme ich zu ihr? Vielleicht ist sie schon heimgekommen; ich will sie unbedingt sofort sehen, Sie soll ...«
Awdotja Romanowna konnte nicht weitersprechen; ihr Atem stockte buchstäblich.
»Ssofja Ssemjonowna wird vor Anbruch der Nacht nicht heimkommen. So glaube ich wenigstens. Sie mußte sehr bald zurückkommen, und wenn sie noch nicht da ist, wird sie erst sehr spät kommen ...«
»Ah, du lügst also! Ich sehe ... du hast gelogen ... du hast alles gelogen! Ich glaube dir nicht! Ich glaube nicht! Ich glaube nicht!« schrie Dunjetschka, die den Kopf verloren hatte, in einem echten Anfall von Raserei.
Fast ohnmächtig fiel sie auf einen Stuhl, den ihr Swidrigailow eilig hinschob.
»Awdotja Romanowna, was haben Sie, kommen Sie zu sich! Hier ist Wasser! Nehmen Sie einen Schluck.«
Er spritzte sie mit Wasser an. Dunjetschka fuhr zusammen und kam zum Bewußtsein.
»Die Wirkung war zu stark!« murmelte Swidrigailow vor sich hin mit finsterer Miene. »Awdotja Romanowna, beruhigen Sie sich! Vergessen Sie nicht, daß er Freunde hat. Wir wollen ihn retten, wir wollen ihm helfen. Wollen Sie, daß ich ihn ins Ausland bringe? Ich habe Geld, in drei Tagen verschaffe ich einen Paß. Und was den Mord betrifft, so wird er noch so viele gute Werke tun, daß alles vergessen sein wird, beruhigen Sie sich. Er kann auch noch ein großer Mann werden. Nun, was haben Sie? Wie fühlen Sie sich?«
»Böser Mensch! Er spottet auch noch. Lassen Sie mich ...«
»Wohin denn? Wo wollen Sie hin?«
»Zu ihm. Wo ist er? Wissen Sie das? Warum ist diese Tür verschlossen? Wir sind durch diese Tür hereingekommen, und jetzt ist sie verschlossen. Wann haben Sie Zeit gehabt, sie abzuschließen?«
»Man konnte doch nicht durchs ganze Haus schreien, was wir hier eben sprachen. Ich spotte gar nicht; es ist mir nur zu dumm geworden, diese Sprache zu führen. Wo wollen Sie denn in dieser Verfassung hingehen? Oder wollen Sie ihn verraten? Sie machen ihn noch rasend, und dann wird er sich selbst anzeigen. Vergessen Sie nicht, daß man ihn schon verfolgt, daß man ihm auf der Spur ist. Sie werden ihn nur verraten. Warten Sie: Ich habe ihn eben gesehen und gesprochen; man kann ihn noch retten. Warten Sie, setzen Sie sich, wollen wir es uns zusammen überlegen. Darum habe ich Sie auch herbestellt, um alles unter vier Augen zu besprechen und gut zu überlegen. Setzen Sie sich doch!«
»Auf welche Weise können Sie ihn retten? Kann man ihn denn retten?«
Dunja setzte sich. Swidrigailow nahm an ihrer Seite Platz.
»Das alles hängt von Ihnen ab, von Ihnen allein«, begann er mit funkelnden Augen, fast flüsternd, stotternd und manche Worte nicht zu Ende sprechend.
Dunja wich erschrocken vor ihm zurück. Auch er zitterte am ganzen Leibe.
»Sie ... ein einziges Wort von Ihnen, und er ist gerettet; ich ... ich werde ihn retten. Ich habe Geld und Freunde. Ich will ihn sofort fortschicken, ich werde selbst einen Paß besorgen, zwei Pässe. Einen für ihn und einen für mich. Ich habe Freunde, ich kenne Geschäftsleute ... Wollen Sie? Ich nehme auch für Sie einen Paß ... für Ihre Mutter ... was brauchen Sie Rasumichin! Ich liebe Sie ebenso ... Ich liebe Sie grenzenlos. Lassen Sie mich den Saum Ihres Kleides küssen, lassen Sie mich! Lassen Sie mich! Ich kann nicht hören, wie es raschelt. Sagen Sie zu mir: Tue das – und ich werde es tun! Ich werde alles tun. Ich werde das Unmögliche tun. Woran Sie glauben, werde auch ich glauben. Ich will alles, alles tun! Sehen Sie mich nicht so an, nein, nicht so! Wissen Sie auch, daß Sie mich morden? ...«
Er fing sogar an, irre zu reden. Mit ihm war plötzlich etwas geschehen, als wäre ihm etwas zu Kopf gestiegen. Dunja sprang auf und stürzte zur Tür.
»Öffnet! Öffnet!« schrie sie, um jemand herbeizurufen, und rüttelte die Tür mit den Händen. »Öffnet doch! Ist denn niemand da?!«
Swidrigailow stand auf und kam zur Besinnung. Ein böses und spöttisches Lächeln zeigte sich langsam auf seinen noch zitternden Lippen.
»Dort ist niemand zu Hause«, sagte er langsam, jedes Wort betonend. »Die Wirtin ist fort, und es ist vergebliche Mühe, so zu schreien. Sie regen sich bloß unnütz auf.«
»Wo ist der Schlüssel? Öffne sofort die Tür, sofort, du gemeiner Mensch!«
»Ich habe den Schlüssel verloren und kann ihn nicht finden.«
»Ah! Also ist es eine Vergewaltigung!« schrie Dunja auf. Totenblaß stürzte sie in eine Ecke, wo sie sich schleunigst mit einem Tischchen schützte, das zufällig in der Nähe stand.
Sie schrie nicht; aber sie bohrte ihren Blick in ihren Peiniger und verfolgte scharf jede seiner Bewegungen. Auch Swidrigailow rührte sich nicht vom Fleck und stand ihr gegenüber am andern Ende des Zimmers. Er hatte sogar die Herrschaft über sich wiedererlangt, wenigstens äußerlich. Aber sein Gesicht war so bleich wie früher. Das spöttische Lächeln wich nicht von seinen Lippen.
»Sie sprachen eben von ›Vergewaltigung‹, Awdotja Romanowna. Wenn es eine Vergewaltigung ist, so können Sie sich denken, daß ich die nötigen Maßnahmen ergriffen habe. Ssofja Ssemjonowna ist nicht zu Hause, zu den Kapernaumows ist es weit: Fünf verschlossene Zimmer liegen dazwischen. Schließlich bin ich mindestens zweimal so stark als Sie; außerdem habe ich nichts zu befürchten, denn Sie dürfen sich auch nachher nicht beklagen: Sie werden doch Ihren Bruder nicht verraten wollen? Auch wird es Ihnen niemand glauben: Warum ist ein junges Mädchen allein zu einem alleinstehenden Herrn in die Wohnung gekommen? Also selbst wenn Sie Ihren Bruder opfern, beweisen Sie nichts: Eine Vergewaltigung läßt sich sehr schwer nachweisen, Awdotja Romanowna!«
»Schuft!« flüsterte Dunja entrüstet.
»Wie Sie wollen, aber beachten Sie, bitte, daß ich es nur als bloße Annahme ausgesprochen habe. Nach meiner persönlichen Meinung haben Sie vollkommen recht: Vergewaltigung ist eine Gemeinheit. Ich sagte es nur, damit auf Ihrem Gewissen nicht die geringste Last bleibt, selbst wenn ... selbst wenn Sie sich entschließen, Ihren Bruder freiwillig zu retten, so wie ich es Ihnen vorschlage. Dann haben Sie sich bloß den Umständen gefügt, nun, meinetwegen der Gewalt, wenn Sie sich ohne dieses Wort nicht behelfen können. Denken Sie doch daran: das Schicksal Ihres Bruders und Ihrer Mutter ist in Ihrer Hand. Ich aber werde Ihr Sklave sein mein Leben lang ... hier will ich auf Sie warten ...«
Swidrigailow setzte sich aufs Sofa, acht Schritte von Dunja entfernt. Sie zweifelte nicht mehr an der Unerschütterlichkeit seines Entschlusses. Außerdem kannte sie ihn ja.
Plötzlich holte sie aus der Tasche einen Revolver, spannte den Hahn und stützte die Hand mit dem Revolver auf das Tischchen. Swidrigailow sprang von seinem Platze auf.
»Aha! So ist die Sache!« rief er erstaunt, doch mit einem gehässigen Lächeln. »Das ändert vollkommen den Gang der Ereignisse! Sie erleichtern mir selbst die Sache ganz außerordentlich, Awdotja Romanowna! Wo haben Sie nur den Revolver her? Vielleicht von Herrn Rasumichin? Bah! der Revolver ist doch von mir! Ein alter Bekannter! Und ich habe ihn damals so gesucht! ... Der ländliche Schießunterricht, den ich Ihnen zu erteilen die Ehre hatte, ist also doch nicht unnütz gewesen!«
»Es ist nicht dein Revolver, er gehörte Marfa Petrowna, die du ermordet hast, Bösewicht! In ihrem Hause gehörte dir nichts! Ich nahm ihn mir, als ich zu ahnen begann, wozu du fähig bist. Untersteh dich nur, einen Schritt zu machen, und ich schwöre, daß ich dich töten werde!«
Dunja war ganz außer sich. Sie hielt den Revolver schußbereit.
»Nun, und der Bruder? Ich frage aus bloßer Neugier!« fragte Swidrigailow, noch immer am gleichen Fleck stehend.
»Zeig ihn an, wenn du willst! Nicht von der Stelle! Rühr dich nicht! Ich werde schießen! Du hast deine Frau vergiftet, ich weiß, daß du selbst ein Mörder bist! ...«
»Sind Sie denn fest davon überzeugt, daß ich Marfa Petrowna vergiftet habe?«
»Ja, du! Du hast es mir selbst angedeutet; du hast von Gift gesprochen ... Ich weiß, du bist einmal eigens dazu verreist, um dir Gift zu besorgen ... Du hattest alles vorbereitet ... Das warst du ... Das warst du ganz gewiß ... Schuft!«
»Wenn das auch wahr wäre, so hätte ich es doch nur deinetwegen getan ... du wärest immerhin die Ursache.«
»Du lügst! Ich habe dich immer, immer gehaßt ...«
»Aha, Awdotja Romanowna! Sie haben offenbar vergessen, wie Sie sich im Eifer der Propaganda schon beinahe vergeben hatten und ganz weich geworden waren ... Ich sah es Ihren Äuglein an; erinnern Sie sich noch, abends beim Mondschein, als die Nachtigall schmetterte? ...«
»Du lügst! (Dunjas Augen funkelten vor Wut.) Du lügst, Verleumder!«
»Ich lüge? Gut, mag sein. Ich habe gelogen. Frauen soll man an solche Dinge nicht erinnern. (Er lächelte.) Ich weiß, daß du schießen wirst, du niedliches Tierchen! Nun, schieß doch!«
Dunja hob den Revolver und sah ihn totenblaß, mit erbleichter, zitternder Unterlippe und wie Feuer leuchtenden großen schwarzen Augen an; sie war entschlossen und wartete nur die erste Bewegung von ihm ab. Noch nie hatte er sie so schön gesehen. Das Feuer, das in ihren Augen in dem Augenblick aufleuchtete, als sie den Revolver hob, versengte ihn, und sein Herz krampfte sich zusammen. Er trat einen Schritt vor, und da krachte schon ein Schuß. Die Kugel streifte seine Haare und schlug gegen die Wand hinter ihm. Er blieb stehen und fing leise zu lachen an.
»Die Wespe hat mich gestochen! Sie zielte gerade auf den Kopf ... Was ist das? Blut?«
Er nahm ein Tuch aus der Tasche, um das Blut abzuwischen, das in feinem Strome seine rechte Schläfe hinunterrieselte; die Kugel hatte wohl ganz leicht die Kopfhaut gestreift. Dunja ließ den Revolver sinken und sah Swidrigailow halb erschrocken, halb verblüfft an. Sie schien selbst nicht mehr zu begreifen, was sie tat und was da geschah.
»Nun, ein Fehlschuß! Schießen Sie noch einmal, ich will warten«, sagte Swidrigailow leise, noch immer lächelnd, aber sein Lächeln war jetzt finster. »So kann ich Sie packen, noch ehe Sie den Hahn gespannt haben!«
Dunjetschka fuhr zusammen, spannte schnell den Hahn und hob wieder den Revolver.
»Lassen Sie mich!« sagte sie verzweifelnd. »Ich schwöre Ihnen, ich werde wieder schießen ... Ich werde ... töten ...«
»Nun, warum auch nicht ... auf drei Schritte Distanz ist es schwer, nicht zu töten. Nun, und wenn Sie mich nicht töten ... dann ...«
Seine Augen funkelten, er kam zwei Schritte näher.
Dunjetschka drückte ab, – der Revolver versagte!
»Sie haben nicht sorgfältig genug geladen. Macht nichts! Sie haben noch ein Zündhütchen. Bringen Sie es in Ordnung, ich will warten.«
Er stand zwei Schritte vor ihr, wartete und sah sie mit wilder Entschlossenheit, mit einem glühend leidenschaftlichen, schweren Blicke an. Dunja begriff, daß er eher sterben als sie loslassen würde. – Jetzt wird sie ihn sicher töten – auf zwei Schritte Distanz! –
Plötzlich warf sie den Revolver weg.
»Weggeworfen!« sagte Swidrigailow erstaunt und holte tief Atem.
Eine Last fiel ihm plötzlich vom Herzen; vielleicht war es auch nicht die bedrückende Todesangst allein; in diesem Augenblick empfand er wohl kaum etwas. Es war die Erlösung von einem anderen, viel schmerzvolleren und finsteren Gefühl, das er in seiner ganzen Kraft wohl auch selbst nicht hätte bestimmen können.
Er ging auf Dunja zu und nahm sie leicht mit der Hand um die Taille. Sie widersetzte sich ihm nicht, zitterte aber am ganzen Leibe wie ein Espenblatt und sah ihn mit flehenden Augen an. Er wollte ihr etwas sagen, aber seine Lippen verzogen sich nur, und er konnte keinen Ton hervorbringen.
»Laß mich!« sagte Dunja flehend.
Swidrigailow fuhr zusammen: dieses »du« klang schon ganz anders als das von vorhin.
»Du liebst mich also nicht?« fragte er leise.
Dunja schüttelte verneinend den Kopf.
»Und ... kannst nicht? ... Niemals?« flüsterte er voll Verzweiflung.
»Niemals!« flüsterte Dunja.
Es verging ein Augenblick eines schrecklichen stummen Kampfes in Swidrigailows Seele. Mit einem unaussprechlichen Blicke sah er sie an. Plötzlich zog er seine Hand zurück, wandte sich weg, trat schnell ans Fenster und blieb vor ihr stehen.
Es verging noch ein Augenblick.
»Hier ist der Schlüssel! (Er holte ihn aus der linken Manteltasche und legte ihn hinter sich auf den Tisch, ohne sich umzuwenden und ohne Dunja anzusehen.) – Nehmen Sie ihn und gehen Sie schnell fort! ...«
Er starrte unverwandt zum Fenster hinaus.
Dunja trat an den Tisch, um den Schlüssel zu nehmen.
»Schneller! Schneller!« wiederholte Swidrigailow, immer noch ohne sich zu rühren und umzudrehen.
Aber in diesem »Schneller« lag wohl ein schrecklicher Ton.
Dunja verstand diesen Ton, ergriff den Schlüssel, eilte zur Tür, schloß sie schnell auf und stürzte aus dem Zimmer. Nach einer Minute war sie wie wahnsinnig, halb bewußtlos zum Kanal gekommen und lief in der Richtung zur *schen Brücke.
Swidrigailow blieb noch an die drei Minuten am Fenster stehen, endlich wandte er sich langsam um, blickte um sich und fuhr sich leise mit der Hand über die Stirn. Ein eigentümliches Lächeln verzerrte sein Gesicht; ein trauriges, klägliches, schwaches Lächeln, das Lächeln der Verzweiflung. Das Blut, das schon eintrocknete, hatte seine Hand beschmiert; er sah das Blut mit Haß an; dann feuchtete er ein Handtuch an und wusch sich die Schläfe ab. Plötzlich fiel ihm der von Dunja fortgeschleuderte Revolver, der zur Tür geflogen war, in die Augen. Er hob ihn auf und sah ihn sich an. Es war ein kleiner altmodischer Taschenrevolver für drei Schuß; es waren darin noch zwei Kugeln und ein Zündhütchen. Einmal konnte man noch schießen. Er dachte eine Weile nach, steckte sich den Revolver in die Tasche, nahm den Hut und verließ das Zimmer.
VI
Diesen ganzen Abend bis zehn Uhr verbrachte er in allerlei Wirtschaften und Kloaken, immer von der einen in die andere ziehend. Irgendwo fand er auch die Katja wieder, die ein anderes Lakaienlied sang, in dem davon die Rede war, daß irgendein »Schuft und Tyrann« –
»Fing mich süß zu küssen an.«
Swidrigailow traktierte Katja und den Orgeldreher, die Chorsänger, die Lakaien und zwei Schreiber mit Wein. Mit diesen Schreibern hatte er sich eigentlich bloß darum eingelassen, weil sie beide schiefe Nasen hatten: Bei dem einen war die Nase nach rechts gerichtet und bei dem andern nach links. Das kam Swidrigailow wunderlich vor. Sie schleppten Swidrigailow zuletzt in irgendeinen Vergnügungsgarten, wo er für sie das Eintrittsgeld bezahlte. In diesem Garten gab es eine schmächtige dreijährige Tanne und drei Büsche. Außerdem befand sich darin ein »Kursaal«, eigentlich eine Schenke, in der man aber auch Tee bekommen konnte; außerdem standen darin einige grüne Tische und Stühle. Ein Chor schlechter Sänger und ein betrunkener Deutscher aus München, eine Art Hanswurst, mit roter Nase, doch aus irgendeinem Grunde außerordentlich melancholisch, unterhielten das Publikum. Die beiden Schreiber gerieten mit anderen Schreibern in Streit und waren schon dabei, sich mit ihnen zu prügeln. Swidrigailow wurde von ihnen zum Schiedsrichter gewählt. Er saß schon eine Viertelstunde zu Gericht, sie schrien aber so, daß man unmöglich etwas verstehen konnte. Am wahrscheinlichsten war es, daß einer von ihnen etwas gestohlen und es sogar schon einem zufällig hinzugekommenen Juden verkauft hatte, aber das Geld mit seinem Freunde nicht teilen wollte. Zuletzt stellte es sich heraus, daß der verkaufte Gegenstand ein dem »Kursaal« gehöriger Teelöffel war. Man hatte ihn im »Kursaal« vermißt, und die Sache drohte eine schwierige Wendung zu nehmen. Swidrigailow bezahlte den Löffel, stand auf und verließ den Garten. Es war gegen zehn Uhr. Er selbst hatte während der ganzen Zeit keinen Tropfen Wein getrunken und sich im »Kursaal« nur Tee geben lassen, und auch das nur des Anstands halber. Der Abend war indessen schwül und düster. Gegen zehn Uhr waren von allen Seiten schwere Gewitterwolken aufgezogen; es donnerte, und der Regen strömte hernieder wie ein Wasserfall. Das Wasser fiel nicht tropfenweise, sondern stürzte in ganzen Bächen zur Erde. Jeden Augenblick blitzte es, und während eines jeden Aufleuchtens konnte man bis fünf zählen. Bis auf den letzten Faden durchnäßt, erreichte Swidrigailow seine Wohnung, schloß sich ein, öffnete seinen Schreibtisch, holte das ganze Geld heraus und zerriß zwei oder drei Papiere. Dann steckte er das Geld in die Tasche, wollte sich schon umziehen, blickte aber zum Fenster hinaus, hörte das Gewitter und den Regen und gab die Absicht auf. Dann nahm er den Hut und ging hinaus, ohne seine Wohnung abgeschlossen zu haben. Er ging direkt zu Ssonja. Sie war zu Hause.
Sie war nicht allein: Um sie herum waren die vier Kinder Kapernaumows versammelt. Ssofja Ssemjonowna bewirtete sie mit Tee. Sie begrüßte Swidrigailow schweigend und respektvoll, sah seine durchnäßte Kleidung und sagte kein Wort. Die Kinder liefen sofort alle in unbeschreiblicher Angst davon.
Swidrigailow setzte sich an den Tisch und bat Ssonja, neben ihm Platz zu nehmen. Sie machte sich schüchtern bereit, zuzuhören.
»Ich verreise vielleicht nach Amerika, Ssofja Ssemjonowna,« sagte Swidrigailow, »und da wir uns wahrscheinlich zum letztenmal sehen, bin ich hergekommen, um einige Anordnungen zu treffen. Nun haben Sie jene Dame heute gesehen! Ich weiß, was Sie Ihnen gesagt hat, Sie brauchen es nicht wiederzuerzählen. (Ssonja machte eine Bewegung und errötete.) Diese Menschen haben ihre besondere Art. Was aber Ihre beiden Schwesterchen und das Brüderchen betrifft, so sind sie tatsächlich untergebracht, und das Geld, das ihnen zukommt, habe ich für jeden von ihnen in sichere Hände gegen Quittung eingezahlt. Nehmen Sie übrigens diese Quittungen zu sich, für jeden Fall. Hier, nehmen Sie sie! Nun, das ist erledigt! Hier sind drei fünfprozentige Staatsschuldscheine, im ganzen dreitausend Rubel. Dieses Geld nehmen Sie, bitte, für sich persönlich, und das soll zwischen uns bleiben und niemand soll es erfahren, was Sie auch zu hören bekommen. Sie werden das Geld brauchen, denn das Leben, das Sie bisher führten, ist schlecht, und Sie haben es auch nicht mehr nötig.«
»Sie haben mir so große Wohltaten erwiesen, auch den Waisen und der Verstorbenen,« begann Ssonja hastig, »und wenn ich bis jetzt nur so wenig gedankt habe, so halten Sie es nicht ...«
»Ach, hören Sie auf, hören Sie auf.«
»Für das Geld bin ich Ihnen sehr dankbar, Arkadij Iwanowitsch, aber ich brauche es jetzt nicht mehr. Mich selbst kann ich ja immer ernähren, halten Sie es, bitte, nicht für Undank! Wenn Sie schon so gütig sind, so soll dieses Geld ...«
»Es gehört Ihnen, Ihnen, Ssofja Ssemjonowna, und reden Sie, bitte, nicht mehr davon, denn ich habe so gar keine Zeit. Sie aber können es brauchen. Rodion Romanowitsch hat nur zwei Wege vor sich: entweder eine Kugel durch den Kopf oder den Weg nach Sibirien. (Ssonja sah ihn wie wahnsinnig an und erzitterte.) Sie können ruhig sein, ich weiß alles von ihm selbst, und ich bin kein Schwätzer; ich werde es niemand sagen. Es war sehr gut, daß Sie ihm zuredeten, er solle sich selbst anzeigen. Das wird für ihn selbst viel vorteilhafter sein. Nun, und wenn er nach Sibirien muß, werden Sie ihm doch dorthin folgen – nicht wahr? Nicht wahr? Nun, in diesem Falle werden Sie das Geld brauchen können. Sie werden es doch für ihn selbst brauchen, verstehen Sie? Wenn ich es Ihnen gebe, so ist es das gleiche, als wie wenn ich es ihm gäbe. Außerdem haben Sie doch Amalia Iwanowna versprochen, die Schuld zu bezahlen, ich habe es selbst gehört. Was nehmen Sie auch, Ssofja Ssemjonowna, so unüberlegt solche Verträge und Verpflichtungen auf sich? Katerina Iwanowna schuldete dieser Deutschen das Geld, und nicht Sie, spucken Sie doch auf die Deutsche! So kann man auf der Welt nicht fortkommen! Nun, und wenn Sie jemand nach mir oder über mich befragt, – morgen, übermorgen, – man wird Sie sicher fragen –, so sagen Sie nicht, daß ich heute bei Ihnen war, zeigen Sie auch das Geld nicht und erzählen Sie davon niemand. Nun, und jetzt – auf Wiedersehen! (Er erhob sich vom Stuhl.) Einen Gruß an Rodion Romanowitsch! Übrigens: Halten Sie vorläufig dieses Geld meinetwegen bei Herrn Rasumichin. Kennen Sie Herrn Rasumichin? Natürlich kennen Sie ihn. Ein ganz braver Bursche. Bringen Sie ihm das Geld morgen oder ... wenn die Zeit kommt. Vorläufig verstecken Sie es, so gut Sie können.«
Ssonja sprang plötzlich vom Stuhl auf und sah ihn erschrocken an. Sie wollte ihm unbedingt etwas sagen, ihn etwas fragen, aber im ersten Augenblick wagte sie es nicht und wußte auch nicht, wie zu beginnen.
»Sie wollen ... Sie wollen ... jetzt bei diesem Regen fortgehen?«
»Nun, nach Amerika gehen und den Regen fürchten? ... He-he! Leben Sie wohl, liebe Ssofja Ssemjonowna! Leben Sie, und leben Sie lange, Sie werden anderen nützlich sein. Übrigens ... sagen Sie Herrn Rasumichin, daß ich ihn grüßen lasse. Sagen Sie es ihm wörtlich: ›Arkadij Iwanowitsch Swidrigailow läßt grüßen!‹ Unbedingt.«
Er ging hinaus und ließ Ssonja erstaunt, erschrocken und mit einem unklaren, schweren Verdacht zurück.
Wie es sich später herausstellte, hatte er am gleichen Abend in der zwölften Stunde noch einen anderen höchst exzentrischen und unerwarteten Besuch abgestattet. Der Regen wollte noch immer nicht aufhören. Ganz durchnäßt kam er um zwanzig Minuten auf Zwölf in die kleine Wohnung der Eltern seiner Braut auf dem Wassiljewskij-Ostrow, in der Dritten Linie des Kleinen Prospekts. Mit Mühe weckte er die Leute und versetzte zuerst alle in große Aufregung; aber Arkadij Iwanowitsch war, wenn er wollte, ein Mann von bezaubernden Manieren, so daß die ursprüngliche (übrigens gar nicht so dumme) Vermutung der klugen Brauteltern, daß Arkadij Iwanowitsch sich irgendwo bis zur Bewußtlosigkeit besoffen habe, in sich selbst zusammenstürzte. Die weichherzige und kluge Mutter der Braut rollte den gelähmten Vater im Krankensessel zu Arkadij Iwanowitsch heraus und begann sofort, ihrer Gewohnheit gemäß, mit gewissen weitausholenden Fragen. (Diese Frau stellte niemals direkte Fragen, sondern begann immer erst zu lächeln und sich die Hände zu reiben; und dann kam sie, wenn sie zum Beispiel unbedingt und sicher erfahren wollte, wann Arkadij Iwanowitsch die Hochzeit zu bestimmen gedenke, mit höchst interessierten und fast gierigen Fragen über Paris und das dortige Hofleben, um dann allmählich und der Reihe nach auf die Dritte Linie auf der Wassiljewskij-Insel zu kommen.) Zu einer anderen Zeit flößte dies alles großen Respekt ein; aber diesmal war Arkadij Iwanowitsch besonders ungeduldig und äußerte den dringenden Wunsch, sofort seine Braut zu sehen, obwohl man ihm gleich am Anfang erzählt hatte, daß die Braut schon zu Bette sei. Die Braut erschien selbstverständlich. Arkadij Iwanowitsch teilte ihr sofort mit, daß er in einer sehr wichtigen Angelegenheit vorübergehend aus Petersburg verreisen müsse und ihr darum fünfzehntausend Rubel in verschiedenen Scheinen gebracht habe, mit der Bitte, das Geld als Geschenk anzunehmen, da er schon längst die Absicht gehabt habe, ihr diese Bagatelle vor der Hochzeit zu schenken. Ein besonderer logischer Zusammenhang zwischen dem Geschenk und der sofortigen Abreise und der Notwendigkeit, deswegen bei Regen, um die Mitternachtsstunde zu kommen, wurde trotz dieser Erklärungen durchaus nicht ersichtlich, alles machte sich jedoch recht anständig. Selbst die unvermeidlichen Seufzer, Fragen und Ausdrücke des Erstaunens nahmen plötzlich eine ungewöhnlich gemäßigte und zurückhaltende Form an, dafür aber wurde der heißeste Dank geäußert und sogar durch die Tränen der vernünftigsten aller Mütter bekräftigt. Arkadij Iwanowitsch stand auf, lachte, küßte die Braut, tätschelte ihr die Wange und versprach noch einmal, sehr bald zurückzukommen; als er in ihren Augen neben der kindlichen Neugier auch eine ernste, stumme Frage las, dachte er noch eine Weile nach, küßte sie wieder und spürte aufrichtigen Arger, daß das Geschenk sofort in Verwahrung der vernünftigsten aller Mütter kommen würde. Er ging und hinterließ alle im Zustande ungewöhnlicher Aufregung. Aber die weichherzige Mama löste sofort im Flüstertone und hastig einige der wichtigsten Bedenken, nämlich, daß Arkadij Iwanowitsch ein Mann mit großen Geschäften und Verbindungen, ein reicher Mann sei; Gott allein könne wissen, was er für Pläne habe; wenn es ihm einfalle, reise er fort, wenn es ihm einfalle, mache er ein Geldgeschenk, also brauche man sich über ihn nicht zu wundern. Es sei natürlich sehr sonderbar, daß er ganz durchnäßt war, aber die Engländer seien zum Beispiel noch viel exzentrischer, und überhaupt kümmerten sich alle Leute der großen Welt sehr wenig darum, was man von ihnen sagt, und genierten sich nicht. Vielleicht gehe er absichtlich so umher, um zu zeigen, daß er nichts fürchte. Vor allen Dingen dürfe man aber keinem Menschen ein Wort davon sagen, denn Gott allein wisse, was daraus noch werden würde; das Geld müsse sofort eingeschlossen werden, und es sei sicher sehr gut, daß Fedoßja in der Küche geblieben war; das Wichtigste aber sei, kein Wort davon der gerissenen Rößlich zu sagen, und so weiter und so weiter. So blieben sie bis zwei Uhr tuschelnd sitzen. Die Braut ging übrigens viel früher schlafen, erstaunt und ein wenig traurig.
Swidrigailow passierte indessen Punkt zwölf Uhr die *sche Brücke in der Richtung nach der Petersburger Seite. Es hatte zu regnen aufgehört, aber der Wind brauste noch. Er fing zu zittern an und blickte eine Weile mit besonderem Interesse und sogar fragend auf das schwarze Wasser der Kleinen Newa. Aber es wurde ihm bald viel zu kalt, über dem Wasser zu stehen; er drehte sich um und ging in den *schen Prospekt. Lange, fast eine halbe Stunde, schritt er den unendlichen *schen Prospekt entlang, stolperte mehr als einmal auf dem Holzpflaster, hörte aber nicht auf, aufmerksam etwas auf der rechten Seite des Prospektes zu suchen. Hier, fast am Ende des Prospektes, hatte er einmal zufällig im Vorbeifahren ein hölzernes, doch großes Gasthaus bemerkt, dessen Name, soweit er sich erinnerte, ähnlich wie »Adrianopel« klang. Er hatte sich in seinen Erwartungen nicht getäuscht; das Gasthaus war in dieser Einöde ein so sichtbarer Punkt, daß es ganz unmöglich war, es selbst im Finstern nicht zu finden. Es war ein langgestrecktes, hölzernes, schwarzgewordenes Gebäude, in dem trotz der späten Stunden noch Licht brannte und ein reges Leben zu sehen war. Er trat ein und fragte einen abgerissenen Kerl, den er im Korridor traf, nach einem Zimmer. Der zerlumpte Kerl warf einen Blick auf Swidrigailow, schüttelte sich und führte ihn sofort in ein enges, dumpfes Zimmer, das ganz am Ende des Korridors, in der Ecke unter der Treppe, lag. Ein anderes war aber nicht zu haben; alle Zimmer waren besetzt. Der zerlumpte Kerl sah ihn fragend an.
»Gibt's Tee?« fragte Swidrigailow.
»Kann gemacht werden.«
»Was gibt's noch?«
»Kalbfleisch, Schnaps, kalten Imbiß.«
»Bring mir Kalbfleisch und Tee.«
»Sonst wünschen Sie nichts?« fragte der Kerl sogar mit einigem Erstaunen.
»Nein, nichts.«
Der zerlumpte Kerl verschwand vollkommen enttäuscht.
– Das muß wohl ein guter Ort sein, – dachte Swidrigailow: – wie kommt es, daß ich ihn nicht kannte? Ich habe wohl auch das Aussehen eines Menschen, der aus einem Tingeltangel kommt, aber unterwegs schon eine Geschichte gehabt hat. Es wäre interessant, zu erfahren, wer hier absteigt und übernachtet.
Er zündete ein Licht an und betrachtete sein Zimmer genauer. Es war eine winzige kleine Kammer, beinahe zu niedrig für Swidrigailows Körpergröße, mit nur einem Fenster. Die Wände sahen so aus, als wären sie aus Brettern zusammengenagelt, und die abgeriebene Tapete war so verstaubt und zerrissen, daß man ihre (gelbe) Farbe noch erraten, aber das Muster nicht mehr unterscheiden konnte. Der eine Teil der Wand und der Decke war schräg abgeschnitten, wie es gewöhnlich in Mansarden ist, aber hier befand sich darüber die Treppe. Swidrigailow stellte das Licht hin, setzte sich aufs Bett und versank in Gedanken. Aber ein sonderbares und ununterbrochenes Flüstern im Nebenzimmer, das sich zuweilen fast bis zu einem Geschrei steigerte, lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Dieses Geflüster hatte seit dem Augenblick, als er eingetreten war, nicht aufgehört. Er lauschte: jemand schimpfte und überschüttete einen anderen weinend mit Vorwürfen, aber man hörte nur eine Stimme. Swidrigailow erhob sich verdeckte mit der Hand die Kerzenflamme und sah sofort an der Wand eine Ritze aufblitzen; er ging heran und blickte hinein. In dem Zimmer, das etwas größer war als das seinige, befanden sich zwei Gäste. Der eine, ohne Rock, mit lockigem Kopf und rotem, erregtem Gesicht, stand in Rednerpose da, die Beine weit auseinander, um das Gleichgewicht zu bewahren, schlug sich mit der Hand vor die Brust und warf dem anderen pathetisch vor, daß er ein Bettler sei und sogar keinen Rang habe, daß er ihn aus dem Schmutz herausgezogen habe und ihn, wenn er wolle, wegjagen könne; das alles sehe aber der Finger Gottes allein. Der Freund, dem diese Rede galt, saß auf einem Stuhl und hatte die Miene eines Menschen, der sehr gerne niesen möchte, dem es aber nicht gelingen will. Ab und zu sah er mit einem trüben Schafsblicke den Redner an, schien aber nicht die geringste Ahnung davon zu haben, wovon die Rede war, und auch kaum etwas zu hören. Auf dem Tisch brannte ein Kerzenstumpf, standen und lagen eine fast leere Schnapsflasche, Gläser, Brot, Gurken und Teegeschirr; der Tee war schon längst ausgetrunken. Nachdem Swidrigailow dieses Bild aufmerksam betrachtet hatte, verließ er gleichgültig die Ritze und setzte sich wieder aufs Bett.
Der abgerissene Kerl, der mit dem Tee und dem Kalbfleisch gekommen war, konnte sich nicht enthalten, wieder zu fragen, ob der Herr nicht noch etwas wünsche, und entfernte sich, nachdem er abermals eine verneinende Antwort bekommen hatte, endgültig aus dem Zimmer. Swidrigailow stürzte sich über den Tee, um sich schneller zu erwärmen, und trank ein Glas, aber essen konnte er nicht, da er jeden Appetit verloren hatte. Offenbar begann er zu fiebern. Er zog Mantel und Jacke aus, wickelte sich in die Decke und legte sich aufs Bett. Er ärgerte sich: »Diesmal wäre es doch besser, gesund zu sein«, dachte er sich und lächelte. Im Zimmer war es dumpf, das Licht brannte trüb, draußen brauste der Wind, irgendwo in einer Ecke nagte eine Maus, und im Zimmer roch es überhaupt nach Mäusen und nach Leder. Er lag da und träumte, ein Gedanke löste den anderen ab. Es schien, als wollte er sich mit seiner Phantasie an etwas Bestimmtes klammern. »Draußen unter dem Fenster ist wohl irgendein Garten«, dachte er ... »Die Bäume rauschen; wie widerlich ist mir das Rauschen der Bäume in der Nacht, bei Sturm, im Finstern, – ein übles Gefühl!« Und er erinnerte sich, wie er, als er vorhin am Petrowskij-Park vorüberging, mit Widerwillen an ihn gedacht hatte. Bei dieser Gelegenheit erinnerte er sich auch der *schen Brücke und der Kleinen Newa, und er fühlte wieder eine Kälte, wie vorhin, als er über dem Wasser stand. »Nie im Leben habe ich Wasser gemocht, selbst auf Landschaftsbildern nicht«, dachte er sich wieder und lächelte plötzlich über einen sonderbaren Gedanken: »Jetzt müßten mir doch eigentlich jede Ästhetik und jeder Komfort gleichgültig sein, aber gerade jetzt bin ich wählerisch geworden, wie ein Tier, das sich einen passenden Ort aussucht ... im gleichen Falle. Ich hätte eben vorhin in den Petrowskij-Park einbiegen sollen! Kam mir aber wohl zu dunkel und kalt vor, he-he! Beinahe suche ich angenehme Gefühle! ... Übrigens: warum soll ich nicht die Kerze auslöschen? (Er blies sie aus.) Die Nachbarn haben sich wohl schon schlafen gelegt«, dachte er, als er in der Ritze kein Licht mehr sah. »Nun, Marfa Petrowna, jetzt hätten Sie erscheinen sollen: es ist dunkel, der Ort ist geeignet, und der Augenblick originell. Aber gerade jetzt werden Sie nicht kommen ...«
Es kam ihm plötzlich aus irgendeinem Grunde in den Sinn, daß er vorhin, eine Stunde vor seinem Anschlag auf Dunjetschka, Raskolnikow empfohlen hatte, sie der Obhut Rasumichins anzuvertrauen. »In der Tat, ich habe es damals wirklich mehr gesagt, um mich selbst zu reizen, was Raskolnikow auch erraten hat. Dieser Raskolnikow ist aber ein geriebener Junge! Große Lasten hat er schon getragen. Kann mit der Zeit ein großer Spitzbube werden, wenn ihm der ganze Unsinn aus dem Kopfe herausfliegt, jetzt will er aber zu sehrleben. In diesem Punkte sind alle diese Leute gemein. Na, hol ihn der Teufel, was geht es mich an.«
Er konnte immer keinen Schlaf finden. Allmählich erstand vor ihm das Bild Dunjetschkas, wie er sie vorhin gesehen hatte, und plötzlich lief ein Zittern durch seinen Körper. »Nein, das muß man jetzt schon aufgeben,« dachte er, zu sich kommend, »man muß an etwas anderes denken. Sonderbar und lächerlich: gegen niemand habe ich jemals starken Haß gehabt, habe auch niemals besondere Rachlust gespürt, das ist aber ein schlimmes Zeichen, ein schlimmes Zeichen! Habe auch niemals gerne gestritten, bin auch nie hitzig geworden – auch ein schlimmes Zeichen! Und was habe ich ihr vorhin nicht alles versprochen, – pfui Teufel! Vielleicht hätte sie mich aber auch irgendwie ummodeln können ...« Er schwieg wieder und preßte die Lippen zusammen: wieder erschien vor ihm Dunjetschkas Bild, genau wie sie aussah, als sie nach dem ersten Schuß erschrocken war, den Revolver sinken ließ und ihn leichenblaß ansah, so daß er sie zweimal hätte packen können, während sie nicht einmal die Hand zur Gegenwehr erhoben hätte, wenn er sie nicht selbst daran erinnerte. Er erinnerte sich, wie er in diesem Augenblick etwas wie Mitleid mit ihr spürte, wie sich sein Herz zusammenkrampfte ... »Ach, zum Teufel! Wieder diese Gedanken; das muß ich alles aufgeben, aufgeben, aufgeben! ...«
Er schlief schon ein, das fieberhafte Zittern war im Abnehmen; plötzlich lief etwas unter der Bettdecke über seinen Arm und sein Bein. Er fuhr zusammen: »Pfui Teufel, das scheint ja eine Maus zu sein!« dachte er. »Ich habe das Kalbfleisch auf dem Tische stehen lassen ...« Er hatte furchtbar wenig Lust, die Decke abzuwerfen, aufzustehen und zu frieren, aber plötzlich fuhr ihm wieder etwas höchst unangenehm über das Bein; er riß die Decke von sich und steckte die Kerze an. Vor fieberhafter Kälte zitternd, bückte er sich und untersuchte das Bett, konnte aber nichts sehen; nun schüttelte er die Decke, und plötzlich sprang auf das Laken eine Maus. Er versuchte sie zu fangen; aber die Maus sprang nicht vom Bett herunter, sondern rannte im Zickzack in allen Richtungen, glitt ihm durch die Finger, lief ihm über die Hand und huschte plötzlich unter das Kissen; er warf das Kissen zu Boden, spürte aber im gleichen Augenblick, wie ihm etwas in den Busen sprang und unter seinem Hemde über den Rücken huschte. Ihn befiel ein nervöses Zittern und – er erwachte. Im Zimmer war es dunkel, er lag wie vorhin im Bette, in die Decke gehüllt, hinter dem Fenster heulte der Wind. »Wie ekelhaft!« dachte er ärgerlich.
Er stand auf und setzte sich auf den Bettrand, mit dem Rücken gegen das Fenster. »Lieber nicht mehr einschlafen!« sagte er sich. Vom Fenster kam übrigens Kälte und Feuchtigkeit herein; ohne aufzustehen, zog er die Decke über sich und hüllte sich in sie. Die Kerze steckte er nicht an. Er dachte an nichts und wollte an nichts denken; doch Visionen zogen eine nach der anderen an ihm vorbei, Bruchstücke von Gedanken ohne Anfang, ohne Ende und ohne Zusammenhang wirbelten ihm durch den Sinn. Er verfiel gleichsam in einen Halbschlummer. War es die Kälte, die Dunkelheit, die Feuchtigkeit oder der Wind, der draußen heulte und die Bäume bewegte, was in ihm eine hartnäckige phantastische Neigung weckte, – aber er sah plötzlich lauter Blumen vor sich. Ein herrliches blühendes Landschaftsbild tauchte vor ihm auf: ein heiterer, warmer, fast heißer Frühlingstag, ein Pfingsttag; ein reiches, prächtiges Landhaus in englischem Stil, ganz von duftenden Blumenbeeten umgeben; der Eingang umwunden von Schlingpflanzen, verdeckt von Rosenstöcken; eine helle, kühle Treppe, mit einem prächtigen Teppich bedeckt, flankiert von seltenen Blumen in chinesischen Vasen. Besonders fielen ihm wassergefüllte Glasvasen auf den Fensterbänken auf, gefüllt mit Sträußen von weißen, zarten, stark duftenden Narzissen, die sich auf ihren grellgrünen, dicken und langen Stengeln bogen. Er wollte sich von ihnen gar nicht trennen, aber er ging die Treppe hinauf in einen großen, hohen Saal, und auch hier waren überall an den Fenstern, vor der offenen Tür zur Terrasse und auf der Terrasse selbst Blumen, nichts als Blumen. Der Boden war mit frischgemähtem, duftendem Gras bestreut, die Fenster standen offen, eine frische, leichte, kühle Luft drang ins Zimmer, Vögel zwitscherten vor den Fenstern, und mitten im Saale stand auf einigen zusammengerückten, mit weißem Atlas bedeckten Tischen ein Sarg. Dieser Sarg war mit weißem Gros-de-Naples ausgeschlagen und mit weißen Rüschen benäht. Blumengirlanden umrankten ihn auf allen Seiten. Ganz in Blumen lag darin ein kleines Mädchen in weißem Tüllkleid, die wie aus Marmor gemeißelten, zusammengefalteten Hände an die Brust gedrückt. Aber ihre aufgelösten hellblonden Haare waren naß; ein Rosenkranz schmückte ihr Haupt. Das strenge und schon erstarrte Gesichtsprofil war auch wie aus Marmor gemeißelt, doch das Lächeln auf den blassen Lippen war von einem gar nicht kindlichen, grenzenlosen Weh und einer großen Klage erfüllt. Swidrigailow kannte dieses Mädchen; am Sarge gab es weder ein Heiligenbild noch brennende Kerzen, es waren keine Gebete zu hören. Das kleine Mädchen war eine Selbstmörderin, die man aus dem Wasser gezogen hatte. Sie war nur vierzehn Jahre alt, aber ihr Herz war schon gebrochen, sie hatte sich getötet, durch eine schändliche Tat verletzt, die ihr junges, kindliches Bewußtsein mit Entsetzen und Erstaunen erfüllt, die ihre engelreine Seele mit unverdienter Schande besudelt und ihr einen letzten Schrei der Verzweiflung entrissen hatte, der nicht erhört, sondern frech erstickt wurde in finstrer Nacht, in Kälte, bei feuchtem Tauwetter, als der Wind heulte ...
Swidrigailow kam zu sich, stand auf und trat ans Fenster. Er fand tastend den Riegel und öffnete das Fenster. Der Wind drang rasend in seine enge Kammer und schlug mit frostigem Reif gegen sein Gesicht und seine nur mit dem Hemd bedeckte Brust. Unter dem Fenster befand sich wohl tatsächlich etwas wie ein Garten, vielleicht sogar ein Vergnügungsgarten; wahrscheinlich sang bei Tage auch hier ein Sängerchor und wurde auf den Tischen Tee serviert. Jetzt aber flogen von den Bäumen und Sträuchern Regentropfen ins Fenster, es war dunkel wie in einem Keller, so daß man kaum einige dunkle Flecken, die Gegenstände darstellten, unterscheiden konnte. Swidrigailow beugte sich hinaus und blickte an die fünf Minuten, sich mit den Ellenbogen auf das Fensterbrett stützend, unverwandt in dieses Dunkel. Durch die finstere Nacht tönte plötzlich ein Kanonenschuß, ihm folgte ein zweiter.
»Aha, das Signal! Das Wasser steigt!« dachte er. »Gegen Morgen wird es in den niedriggelegenen Stadtteilen in die Straßen fluten, die Keller überschwemmen, die Kellerratten werden emporschwimmen, und die Menschen werden in Wind und Regen, durchnäßt und fluchend ihren Plunder in die oberen Stockwerke schleppen ... Wie spät mag es jetzt wohl sein?« Kaum hatte er sich das gefragt, als irgendwo ganz in der Nähe, tickend und sich mit aller Kraft beeilend, eine Wanduhr drei schlug. »Ach, in einer Stunde fängt es schon zu tagen an! Was soll ich noch länger warten? Ich gehe gleich von hier weg direkt in den Petrowskij-Park; dort suche ich mir einen großen Strauch aus, ganz vom Regen übergossen, so daß, wenn man ihn nur mit der Schulter berührt, Millionen von Tropfen den Kopf überschütten ...« Er ging vom Fenster weg, machte es zu, steckte die Kerze an, zog Weste und Mantel an, setzte sich den Hut auf und ging mit der Kerze in der Hand in den Korridor, um den abgerissenen Kerl, der irgendwo in einer Kammer zwischen allerlei Gerümpel und Kerzenstümpfen schlafen mochte, aufzusuchen, mit ihm abzurechnen und das Gasthaus zu verlassen. »Es ist der beste Augenblick, einen besseren hätte ich gar nicht finden können!«
Er ging lange auf dem langen schmalen Korridor auf und ab, ohne jemand zu finden, und wollte schon laut rufen, als er plötzlich in einer dunklen Ecke zwischen einem alten Schrank und einer Tür einen sonderbaren Gegenstand entdeckte; es schien etwas Lebendiges zu sein. Er beugte sich mit der Kerze darüber und sah ein Kind, ein höchstens fünfjähriges kleines Mädchen, in einem wie ein Bodenlappen durchnäßten Kleidchen, ein zitterndes und weinendes Kind. Es schien vor Swidrigailow gar keine Angst zu haben, sah ihn mit stumpfem Staunen mit seinen großen schwarzen Augen an und schluchzte ab und zu, wie Kinder, die lange geweint haben, aber schon stillgeworden sind und sich sogar getröstet haben, doch noch immer ab und zu aufzuschluchzen pflegen. Das Gesichtchen war blaß und mager; sie war vor Kälte fast erstarrt, – aber »wie ist sie nur hergeraten? Sie hat sich also hier versteckt und die ganze Nacht nicht geschlafen«. Er begann sie auszufragen. Das Mädchen wurde plötzlich lebhaft und stammelte etwas sehr schnell in ihrer kindlichen Sprache. Die Rede war von einem »Mamachen« und daß »Mamachen hauen wird« und von irgendeiner Tasse, die das Kind zerschlagen hatte. Das Mädchen redete ununterbrochen; aus allen diesen Reden konnte man einiges verstehen: daß es ein verhaßtes Kind sei, das von seiner Mutter, einer ewig betrunkenen Köchin, wahrscheinlich im Gasthause selbst, durch fortwährende Schläge ganz eingeschüchtert worden; daß das Kind eine Tasse dieses Mamachens zerschlagen habe und so erschrocken wäre, daß sie schon am Abend weggelaufen sei; wahrscheinlich hatte sie sich lange auf dem Hof im Regen verborgengehalten, sich dann ins Haus eingeschlichen, sich hinter den Schrank versteckt und hier in der Ecke die ganze Nacht weinend und zitternd vor Nässe, Dunkelheit und Angst, daß man sie schlagen würde, gesessen. Er nahm sie auf die Arme, ging in sein Zimmer, setzte sie aufs Bett und begann sie auszukleiden. Ihre durchlöcherten Schuhe, unter denen sie keine Strümpfe hatte, waren so durchnäßt, als hätten sie die ganze Nacht in einer Pfütze gelegen. Nachdem er sie entkleidet hatte, legte er sie ins Bett und hüllte sie bis zum Kopf in die Decke. Sie schlief sofort ein. Nachdem er mit alledem fertig war, versank er wieder in düsteres Brüten.
»Was mußte ich mich mit ihr einlassen!« sagte er sich plötzlich mit einem schweren und gehässigen Gefühl. »Was für Unsinn!« Argerlich nahm er die Kerze, um hinauszugehen, um jeden Preis den abgerissenen Kerl zu finden und so schnell als möglich von hier wegzukommen. »Ach, das Mädel!« dachte er fluchend, als er schon die Tür öffnete, kam aber noch einmal zurück, um nach dem Kinde zu sehen, ob es schon schlafe und wie es schlafe. Er lüftete vorsichtig die Decke. Das Mädchen schlief fest und selig. Sie war unter der Decke warm geworden, und ihre blassen Wangen hatten sich gerötet. Aber seltsam: Dieses Rot war greller und leuchtender als sonst das Rot auf kindlichen Wangen. »Das ist fieberhafte Röte«, sagte sich Swidrigailow; »es ist, wie wenn man ihr ein ganzes Glas Wein zu trinken gegeben hätte. Die roten Lippen brennen und glühen, aber was ist das?« Ihm schien es plötzlich, als ob ihre langen schwarzen Wimpern zuckten und blinzelten, als ob sie sich höben und unter ihnen ein schelmisches, scharfes, gar nicht kindlich blinzelndes Auge hervorblickte, als ob das Mädchen gar nicht schliefe und sich nur verstellte. Ja, so ist es: Ihre Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, die Mundwinkel zucken, als ob sie ein Lachen zurückhalten wollten. Nun hält sie sich nicht mehr zurück: Es ist ein Lachen, ein ausgesprochenes Lachen; etwas Freches und Herausforderndes leuchtet in diesem gar nicht kindlichen Gesicht; das ist das Laster, das ist das Gesicht einer Kokette, das freche Gesicht einer feilen französischen Dirne. Schon öffnen sich ganz unverhohlen beide Augen: Sie mustern ihn mit einem glühenden, schamlosen Blick, sie locken ihn, sie lachen ... Etwas unendlich Häßliches und Beleidigendes lag in diesem Lachen, in diesen Augen, in diesem ganzen gemeinen Kindergesicht. »Wie! Eine Fünfjährige!« flüsterte Swidrigailow mit tiefem Entsetzen. »Ja ... was ist denn das?« Nun wendet sie sich ihm mit ihrem glühenden Gesichtchen ganz zu, streckt die Arme aus ... »Ah, Verfluchte!« schrie Swidrigailow entsetzt, mit der Hand zum Schlage ausholend. Aber im selben Augenblick erwachte er.
Er liegt im gleichen Bette, wie früher in die Decke gehüllt, die Kerze ist nicht angezündet, und durch das Fenster leuchtet weiß der Morgen herein.
»Ein Alpdrücken die ganze Nacht!« Er stand zornig auf und fühlte sich ganz zerschlagen; alle Knochen schmerzten ihm. Draußen war ein dichter Nebel, und man konnte nichts unterscheiden. Bald fünf Uhr: Er hatte sich verschlafen! Er stand auf und zog Weste und Mantel an, die noch feucht waren. Er fühlte in der Tasche den Revolver, nahm ihn heraus und brachte das Zündhütchen in Ordnung; dann setzte er sich, nahm aus der Tasche sein Notizbuch und schrieb auf das Titelblatt, an auffallender Stelle mit großer Schrift einige Zeilen. Er las sie durch, stützte sich auf den Tisch und dachte eine Weile nach. Der Revolver und das Notizbuch lagen gleich neben seinem Ellenbogen. Die erwachten Fliegen klebten auf der Portion Kalbfleisch herum, die er nicht angerührt hatte und die immer noch hier auf dem Tische stand. Er sah sie lange an und versuchte endlich mit der freien rechten Hand nach einer Fliege zu haschen. Lange bemühte er sich, konnte sie aber unmöglich fangen. Endlich er tappte er sich bei dieser interessanten Beschäftigung, fuhr zusammen, stand auf und ging entschlossen aus dem Zimmer. Nach einer Minute war er schon auf der Straße.
Ein milchweißer dichter Nebel lag über der Stadt. Swidrigailow ging auf dem schlüpfrigen, schmutzigen Holzpflaster in der Richtung zu der Kleinen Newa. Er malte sich das während der Nacht hochgestiegene Wasser der Kleinen Newa aus, die Petrowskij-Insel, nasse Wege, nasses Gras, nasse Bäume und Sträucher und endlich jenen bewußten Strauch ... Um an etwas anderes zu denken, begann er voll Ärger die Häuser zu mustern. Weder einen Menschen noch eine Droschke traf er auf dem Prospekt. Traurig und schmutzig sahen die grellgelben hölzernen Häuschen mit den geschlossenen Läden aus. Kälte und Nässe drangen ihm durch Mark und Bein, und ihn begann zu frösteln. Hier und da stieß er auf Schilder von Kauf-und Gemüseläden und las jedes aufmerksam. Schon war das Holzpflaster zu Ende. Er erreichte ein großes steinernes Gebäude. Ein schmutziger durchfrorener kleiner Hund mit eingezogenem Schwanz lief ihm über den Weg. Ein vollkommen betrunkener Mensch in einem Uniformmantel lag mit dem Gesicht nach unten quer über das Trottoir. Er sah ihn an und ging weiter. Ein hoher Feuerwehrturm tauchte links von ihm auf.
»Bah!« sagte er sich. »Das ist die beste Stelle, was brauche ich den Petrowskij-Park? Hier ist wenigstens ein offizieller Zeuge dabei ...«
Bei diesem neuen Gedanken mußte er beinahe lächeln. Er bog in die ***sche Straße ein; hier ragte ein großes Haus mit einem Turm. Vor dem verschlossenen mächtigen Tore des Hauses stand, mit der Schulter daran gelehnt, ein kleines Männchen in einem grauen Soldatenmantel, mit einem messingenen Achilleshelm auf dem Kopfe. Mit verschlafenen Augen schielte er kühl den herantretenden Swidrigailow an. Sein Gesicht drückte jenen ewigen, verdrießlichen Gram aus, der sich so unangenehm ohne Ausnahme allen Gesichtern des jüdischen Volkes aufgeprägt hat. Beide, Swidrigailow und der Achilles, betrachteten einander schweigend eine ganze Weile. Dem Achilles erschien es endlich nicht in der Ordnung, daß ein Mensch, der gar nicht betrunken ist, drei Schritte vor ihm steht, ihn anstarrt und nichts sagt.
»Was su-uchen Sie denn hier?« fragte er mit unverkennbar jüdischem Akzent, ohne sich zu rühren und ohne seine Stellung zu verändern.
»Gar nichts, Bruder, guten Tag!« antwortete Swidrigailow.
»Hier ist nicht der Ort.«
»Ich fahre in ein fremdes Land, Bruder.«
»In ein fremdes Land?«
»Nach Amerika.«
»Nach Amerika?«
Swidrigailow holte den Revolver hervor und spannte den Hahn. Der Achilles zog die Brauen hoch.
»Was sind das für Scherze, hier ist nicht der Ort!«
»Warum sollte hier nicht der Ort sein?«
»Weil hier nicht der Ort ist.«
»Na, Bruder, das ist mir einerlei. Der Ort ist gut; wenn man dich fragt, so sagst du eben, ich sei nach Amerika gefahren.«
Er setzte den Revolver an seine rechte Schläfe.
»Hier geht das nicht, hier ist nicht der Ort!« rief Achilles zusammenfahrend, während seine Pupillen sich immer mehr erweiterten.
Swidrigailow drückte ab.
VII
Am gleichen Tage, gegen Abend, um die siebente Stunde näherte sich Raskolnikow der Wohnung seiner Mutter und Schwester – der gleichen Wohnung im Hause Bakalejews, wo sie Rasumichin untergebracht hatte. Der Eingang zur Treppe war von der Straße aus. Vor dem Hause verlangsamte Raskolnikow seine Schritte, als schwankte er noch, ob er hinaufgehen solle oder nicht. Er würde aber um nichts in der Welt umkehren: sein Entschluß stand fest.
– Außerdem ist es ganz gleich, denn sie wissen noch nichts – dachte er – und sie sind schon gewohnt, mich für einen Sonderling zu halten.
Seine Kleidung war schrecklich: alles war beschmutzt, vom Regen während der Nacht durchnäßt, zerrissen und abgetragen. Sein Gesicht war entstellt durch die Müdigkeit, das schlechte Wetter, die körperliche Erschöpfung und den beinahe vierundzwanzigstündigen Kampf mit sich selbst. Die ganze Nacht hatte er ganz allein verbracht, Gott weiß wo. Aber er hatte sich wenigstens entschlossen.
Er klopfte an die Tür, und die Mutter öffnete ihm. Dunjetschka war nicht zu Hause. Auch das Dienstmädchen war nicht da. Pulcheria Alexandrowna war zuerst stumm vor freudigem Erstaunen; dann ergriff sie seine Hand und zog ihn ins Zimmer.
»Nun, da bist du ja!« begann sie, vor Freude stockend. »Sei mir nicht böse, Rodja, daß ich dich so dumm begrüße – mit Tränen; aber ich lache ja und weine nicht. Du glaubst, ich weine? Nein, es ist Freude, ich habe nur diese dumme Gewohnheit, daß mir die Tränen fließen. Das habe ich seit dem Tode deines Vaters, bei jeder Gelegenheit weine ich. Setz dich doch, Liebster, du bist sicher müde, ich sehe es. Ach, wie du dich beschmutzt hast!«
»Ich war gestern im Regen ...« begann Raskolnikow.
»Aber nein, nein!« fuhr Pulcheria Alexandrowna auf, ihn unterbrechend. »Du glaubst wohl, ich werde gleich anfangen, dich auszufragen, nach meiner früheren Altweibergewohnheit; du kannst ruhig sein. Ich verstehe ja, ich verstehe alles; jetzt habe ich die hiesigen Sitten gelernt und sehe wirklich ein, daß man hier klüger ist. Ich habe mir ein für allemal gesagt: Wie komme ich dazu, deine Entschlüsse zu verstehen und von dir Rechenschaft zu fordern? Du hast vielleicht Gott weiß was für Dinge und Pläne im Kopfe, oder es keimen in dir Gedanken; wie soll ich dir dabei in die Hand fallen und dich fragen: Woran denkst du jetzt? Ich ... Ach, Gott! Was laufe ich herum wie eine Verrückte? ... Ich lese eben deinen Artikel in der Zeitschrift zum drittenmal, Rodja, Dmitrij Prokofjitsch hat ihn mir gebracht. Wie ich ihn sah, schrie ich förmlich auf: Eine dumme Gans bin ich, sagte ich mir, jetzt sehe ich, womit er sich beschäftigt, das ist ja die Lösung der Dinge! Die Gelehrten sind immer so. Vielleicht hat er gerade neue Gedanken im Kopfe; er überlegt sie sich, und ich quäle und störe ihn. Ich lese den Artikel, mein Freund, und verstehe vieles natürlich nicht; so muß es übrigens auch sein: Wie käme ich dazu.«
»Zeigen Sie ihn mir, Mama.«
Raskolnikow nahm das Blatt und warf einen flüchtigen Blick auf seinen Artikel. Wie sehr es auch seiner Lage und seinem Zustande widersprach, empfand er doch das eigenartig schmerzvoll-süße Gefühl, das jeder Autor empfindet, wenn er sich zum erstenmal gedruckt sieht; auch seine dreiundzwanzig Jahre sprachen dabei mit. Das dauerte nur einen Augenblick. Nachdem er einige Zeilen gelesen hatte, runzelte er die Stirn, und sein Herz krampfte sich vor furchtbarem Gram zusammen. Alle seine seelischen Kämpfe der letzten Monate kamen ihm auf einmal zum Bewußtsein. Angeekelt und geärgert warf er den Artikel auf den Tisch.
»Aber, Rodja, ich mag auch dumm sein, aber ich kann doch darüber urteilen, daß du sehr bald einer der ersten, wenn nicht der Erste in unserer Gelehrtenwelt sein wirst. Und sie wagten es, zu glauben, daß du verrückt geworden seist. Ha-ha-ha! Weißt du, sie haben es wirklich geglaubt. Und auch Dunjetschka, Dunjetschka hat es beinahe geglaubt – was sagst du dazu?! Dein seliger Vater hat zweimal Beiträge an Zeitschriften geschickt: Zuerst Verse (ich habe noch das Heftchen, ich will es dir einmal zeigen) und dann eine ganze Erzählung (ich hatte ihn gebeten, sie abschreiben zu dürfen); so inbrünstig beteten wir beide, daß man es nehme, sie nahmen es aber nicht an! Vor sechs, sieben Tagen war ich totunglücklich, Rodja, als ich sah, wie du dich kleidest, was du ißt und wie du herumgehst. Aber jetzt sehe ich, daß ich damals dumm war, denn wenn du willst, kannst du dir mit deinem Verstand und deinem Talent alles verschaffen. Also willst du es bloß vorläufig nicht und bist mit viel wichtigeren Dingen beschäftigt ...«
»Ist Dunja nicht zu Hause, Mama?«
»Nein, Rodja. Sie ist sehr oft nicht zu Hause und läßt mich allein. Dmitrij Prokofjitsch – wie dankbar bin ich ihm dafür! – kommt öfters zu mir und spricht immer von dir. Er liebt und schätzt dich sehr, mein Freund. Von deiner Schwester will ich nicht sagen, daß sie unehrerbietig gegen mich wäre. Ich beklage mich ja nicht. Sie hat ihren Charakter, und ich habe den meinigen; sie hat jetzt allerlei Geheimnisse; ich aber habe gar keine Geheimnisse vor euch. Ich bin natürlich fest überzeugt, daß Dunja viel zu klug ist, auch liebt sie dich und mich; aber ich weiß wirklich nicht, wohin das alles führen soll. Du hast mich jetzt ganz glücklich gemacht, weil du hergekommen bist; sie hat dich aber versäumt; wenn sie kommt, werde ich ihr sagen: Als du weg warst, war dein Bruder hier; wo hast du die Zeit zu verbringen geruht? Du sollst mich aber nicht verwöhnen, Rodja: Wenn du kannst, komm zu mir; kannst du aber nicht, so ist eben nichts zu machen, ich werde warten. Ich werde doch immerhin wissen, daß du mich liebst, und das genügt mir. Nun, ich werde deine Werke lesen, werde von allen über dich hören, und ab und zu wirst du auch selbst kommen – was kann ich mir noch Besseres wünschen? Du bist doch eben gekommen, um der Mutter Freude zu machen, ich sehe es ja ...«
Pulcheria Alexandrowna fing plötzlich zu weinen an.
»Schon wieder fange ich an! Achte nicht auf mich dumme Gans. Ach, Gott, was sitze ich da!« schrie sie auf, von ihrem Platze aufspringend. »Ich habe ja Kaffee und biete dir gar nichts an! So egoistisch ist solch ein altes Weib. Sofort, sofort!«
»Mamachen, lassen Sie es, ich gehe gleich fort. Ich bin nicht deswegen hergekommen. Bitte, hören Sie mich an.«
Pulcheria Alexandrowna ging ängstlich auf ihn zu.
»Mamachen, was auch passiert, was Sie über mich auch hören, was man Ihnen auch sagt – werden Sie mich auch dann noch so lieben wie jetzt?« fragte er plötzlich aus vollem Herzen, als überlegte er sich seine Worte nicht, als wäge er sie nicht.
»Rodja, Rodja, was fällt dir ein? Wie kannst du nur so etwas fragen! Wer wird denn mir etwas über dich sagen? Ich werde ja niemand glauben, wer zu mir auch kommt, ich jage ihn einfach hinaus.«
»Ich bin gekommen, Ihnen zu versichern, daß ich Sie immer geliebt habe, und bin jetzt froh, daß wir allein sind, bin sogar froh, daß Dunjetschka nicht da ist«, fuhr er in derselben Erregung fort. »Ich bin gekommen, Ihnen offen zu sagen, daß, wenn Sie auch unglücklich sein werden, Sie doch wissen sollen, daß Ihr Sohn Sie jetzt mehr als sich selbst liebt und daß alles, was Sie über mich gedacht haben, daß ich grausam sei und Sie nicht liebe, nicht richtig ist. Sie zu lieben werde ich niemals aufhören! ... Nun, es ist genug: Ich glaubte, daß ich es sagen und damit beginnen müßte ...«
Pulcheria Alexandrowna umarmte ihn stumm, drückte ihn an die Brust und weinte leise.
»Was mit dir ist, Rodja, weiß ich nicht«, sagte sie endlich. »Ich dachte die ganze Zeit, daß wir dich einfach langweilen, aber jetzt ersehe ich aus allem, daß dir ein großes Leid bevorsteht und daß du dich darüber grämst. Ich habe es schon lange vorausgesehen, Rodja. Verzeih mir, daß ich davon spreche; ich denke immer daran und schlafe nachts nicht. Diese ganze Nacht hat auch deine Schwester phantasiert und immer von dir gesprochen. Ich habe etwas gehört, aber nichts verstanden. Den ganzen Morgen ging ich wie vor einer Hinrichtung herum, erwartete immer etwas, und nun ist es gekommen. Rodja, Rodja, wo willst du denn hin? Verreist du vielleicht irgendwohin?«
»Ich verreise.«
»Das hab' ich mir auch gedacht! Ich kann ja auch mit dir mitfahren, wenn du es brauchst. Auch Dunja; sie liebt dich, sie liebt dich sehr; auch Ssofja Ssemjonowna kann vielleicht mitkommen, wenn es nötig ist; siehst du, ich will sie gern als Tochter aufnehmen. Dmitrij Prokofjitsch wird uns helfen, uns auf den Weg zu machen ... Aber ... wohin ... reisest du?«
»Leben Sie wohl, Mamachen.«
»Wie! Heute schon!« rief sie aus, als verliere sie ihn für alle Ewigkeit.
»Ich kann nicht ... es ist Zeit für mich, ich muß dringend ...«
»Und ich darf nicht mit?«
»Nein, knien Sie nieder und beten Sie für mich zu Gott Ihr Gebet wird vielleicht erhört werden.«
»Laß dich bekreuzigen, dich segnen! Ja, so, so! O Gott, was tun wir!«
Ja, er war froh, er war sehr froh, daß niemand dabei war, daß er mit der Mutter allein war. Sein Herz war seit dieser ganzen schrecklichen Zeit gleichsam auf einmal weich geworden. Er sank vor ihr nieder, er küßte ihre Füße, und beide weinten, einander umarmend. Sie hatte schon lange begriffen, daß mit ihrem Sohn etwas Furchtbares vorging, und nun war dieser für ihn so schreckliche Augenblick gekommen.
»Rodja, mein Lieber, mein Erstgeborener,« sagte sie schluchzend, »du bist jetzt ebenso, wie du als kleines Kind warst; du bist damals ebenso zu mir gekommen, hast mich ebenso umarmt und geküßt; als wir noch mit deinem Vater in Armut lebten, tröstetest du uns schon damit, daß du mit uns warst; und als ich deinen Vater beerdigt hatte, wie oft haben wir uns umarmt, so wie jetzt, und auf seinem Grabe geweint. Daß ich schon so lange weine, kommt daher, weil das Mutterherz das Unheil ahnt. Als ich dich damals zum erstenmal sah, am Abend, erinnerst du dich noch, als wir erst eben angekommen waren, hatte ich alles aus deinem Blick allein erraten, und mein Herz krampfte sich damals zusammen; und heute, als ich dir öffnete und dich ansah, sagte ich mir gleich, daß die Schicksalsstunde gekommen sei. Rodja, Rodja, du reist doch nicht sofort?«
»Nein.«
»Kommst du noch einmal her?«
»Ja ... ich komme noch.«
»Rodja, sei mir nicht böse, ich wage dich nicht auszufragen. Ich weiß, daß ich es nicht darf, aber sag mir bloß zwei Worte: Ist es weit, wohin du reist?«
»Sehr weit.«
»Was ist dort, eine Anstellung für dich, oder erwartet dich eine Karriere?«
»Was Gott mir gibt ... beten Sie nur für mich ...«
Raskolnikow ging zur Tür, aber sie hielt ihn fest und blickte ihm verzweifelnd in die Augen. Ihr Gesicht war vor Entsetzen verzerrt.
»Genug, Mamachen«, sagte Raskolnikow, der schon tief bereute, daß es ihm eingefallen war, herzukommen.
»Doch nicht für immer? Noch nicht für immer? Du wirst doch noch kommen, wirst morgen kommen?«
»Ja, ich werde kommen, leben Sie wohl.«
Endlich riß er sich los – – –
Der Abend war frisch, warm und heiter; das Wetter hatte sich schon am Morgen gebessert. Raskolnikow ging nach Hause, er hatte große Eile. Er wollte allem noch vor Sonnenuntergang ein Ende machen. Bis dahin wollte er niemand sehen. Als er die Treppe hinaufstieg, bemerkte er, daß Nastasja sich vom Samowar abwandte, ihn unverwandt ansah und mit den Augen verfolgte. – Ist etwa jemand bei mir? – dachte er. Mit Widerwillen dachte er an Porfirij. Als er aber sein Zimmer erreichte und die Tür öffnete, erblickte er Dunjetschka. Sie saß mutterseelenallein in tiefem Nachdenken da und schien schon lange auf ihn zu warten. Er blieb auf der Schwelle stehen. Sie erhob sich erschrocken vom Sofa und richtete sich vor ihm auf. Ihr unverwandt auf ihn gerichteter Blick drückte Entsetzen und unstillbaren Gram aus. An diesem Blick allein erriet er sofort, daß sie alles wußte.
»Nun, soll ich zu dir eintreten oder fortgehen?« fragte er mißtrauisch.
»Ich saß den ganzen Tag bei Ssofja Ssemjonowna; wir haben dich beide erwartet. Wir glaubten, du würdest unbedingt dorthin kommen.«
Raskolnikow trat ins Zimmer und setzte sich erschöpft auf einen Stuhl.
»Ich bin so schwach, Dunja; ich bin so müde; aber ich möchte mich wenigstens in diesem Augenblick ganz in der Hand haben.«
Er warf ihr einen mißtrauischen Blick zu.
»Wo warst du denn die ganze Nacht?«
»Ich weiß es nicht mehr genau. Siehst du, Schwester, ich wollte mich endgültig entschließen und ging lange an der Newa auf und ab. Ich wollte dort ein Ende machen, aber ich brachte es nicht über mich ...« flüsterte er und sah Dunja wieder mißtrauisch an.
»Gott sei Dank! Und wir haben gerade das befürchtet, ich und Ssofja Ssemjonowna! Also glaubst du noch an das Leben! ... Gott sei Dank, Gott sei Dank.«
Raskolnikow lächelte bitter.
»Ich glaube nicht, aber eben habe ich mit der Mutter geweint, wir hielten uns dabei umarmt; ich glaube nicht, aber ich bat sie, für mich zu beten. Gott weiß, wie das gemacht wird, Dunjetschka, ich verstehe nichts davon.«
»Du warst bei der Mutter? Du hast es ihr gesagt?« rief Dunja entsetzt aus. »Hast du dich wirklich entschlossen, es ihr zu sagen?«
»Nein, ich habe nichts gesagt ... nicht mit Worten; aber sie hat vieles begriffen. Sie hat in der Nacht gehört, wie du phantasiert hast. Ich bin überzeugt, daß sie es zur Hälfte schon begreift. Vielleicht ist es nicht gut, daß ich bei ihr war. Ich weiß auch nicht, warum ich zu ihr gegangen bin. Ich bin ein gemeiner Mensch, Dunja.«
»Ein gemeiner Mensch, bist aber bereit, das Leid auf dich zu nehmen! Du gehst doch hin?«
»Ich gehe. Sofort. Ja, um dieser Schande zu entrinnen, wollte ich mich ertränken, Dunja; aber als ich schon über dem Wasser stand, dachte ich mir: wenn ich mich bisher für stark gehalten habe, so werde ich auch die Schande nicht fürchten. Das ist der Stolz, Dunja.«
»Der Stolz, Rodja.«
Es leuchtete wie ein Feuer in seinen erloschenen Augen auf; es schien ihm Freude zu machen, daß er noch stolz sei.
»Glaubst du nicht, Schwester, daß ich vor dem Wasser einfach Angst bekam?« fragte er, ihr mit einem häßlichen Lächeln ins Gesicht blickend.
»O Rodja, hör auf!« rief Dunja aus.
An die zwei Minuten schwiegen sie beide. Er saß mit gesenktem Kopfe da und blickte zu Boden; Dunjetschka saß am anderen Ende des Tisches und sah ihn voller Qual an. Plötzlich stand er auf.
»Es ist spät, es ist Zeit! Ich gehe gleich hin, mich anzuzeigen. Aber ich weiß nicht, warum ich gehe, mich anzuzeigen.«
Große Tränen liefen ihr die Wangen herab.
»Du weinst, Schwester, kannst du mir aber die Hand reichen?«
»Und du zweifeltest daran?«
Sie umarmte ihn.
»Indem du hingehst, um das Leid auf dich zu nehmen, büßest du denn dein Verbrechen nicht schon zur Hälfte ab?!« schrie sie, ihn fest umarmend und küssend.
»Verbrechen? Was ist das für ein Verbrechen?!« rief er in einem Anfall plötzlicher Wut. »Daß ich eine abscheuliche, schädliche Laus, eine alte Wucherin, die niemand braucht, für deren Ermordung einem vierzig Sünden vergeben werden, die den Armen alle Säfte aussog, ermordet habe – das soll ein Verbrechen sein?! Ich denke gar nicht daran und will es auch gar nicht büßen. Was deutet man mir von allen Seiten auf das Wort, Verbrechen'? Jetzt erst sehe ich den ganzen Unsinn meiner Kleinmütigkeit, jetzt, wo ich mich schon entschlossen habe, diese ganz unnötige Schande auf mich zu nehmen! Ich entschließe mich dazu bloß aus Gemeinheit und Talentlosigkeit, vielleicht auch noch aus Berechnung, wie dieser ... Porfirij ... mir vorgeschlagen hat! ...«
»Bruder, Bruder, was sagst du! Du hast aber doch Blut vergossen!« rief Dunja voll Verzweiflung aus.
»Das alle vergießen,« fiel er ihr fast rasend ins Wort, »das in der Welt wie ein Wasserfall fließt und immer geflossen ist, das man wie Champagner vergießt und für das man auf dem Kapitol gekrönt und dann als Wohltäter der Menschheit gepriesen wird. Betrachte die Sache doch näher! Ich selbst wollte den Menschen Gutes tun und hätte Hunderte und Tausende guter Werke getan statt dieser einzigen Dummheit, sogar keiner Dummheit, sondern bloß einer Ungeschicklichkeit, denn dieser ganze Gedanke war gar nicht so dumm, wie er jetzt erscheint, nach dem Mißerfolg ... (nach dem Mißerfolg erscheint alles dumm!). Durch diese Dummheit wollte ich mir bloß eine unabhängige Stellung verschaffen, den ersten Schritt tun, die Mittel auftreiben, und dann würde alles durch einen im Verhältnis unermeßlichen Nutzen aufgewogen werden ... Aber ich habe auch den ersten Schritt nicht ausgehalten, denn ich bin ein Schuft! Das ist eben die ganze Sache! Und doch werde ich es niemals mit euren Augen ansehen: Wäre es mir gelungen, so würde man mich gekrönt haben, so aber muß ich in die Falle!«
»Aber das ist doch gar nicht das, gar nicht das! Bruder, was sagst du nur!«
»Ah! Es ist nicht die richtige Form, sie ist nicht ästhetisch genug! Aber ich kann doch unmöglich begreifen, warum es respektabler sein soll, die Menschen durch Bomben umzubringen! Die Furcht vor den Gesetzen der Ästhetik ist das erste Zeichen der Schwäche! ... Noch niemals, niemals habe ich es klarer als jetzt begriffen, und weniger als jemals begreife ich jetzt mein Verbrechen! Niemals, niemals war ich stärker und überzeugter als jetzt!«
In sein blasses, ausgemergeltes Gesicht war sogar Blut gestiegen. Als er aber die letzten Worte sprach, begegnete er zufällig mit seinem Blick den Augen Dunjas und sah darin so viel, so viel Qual um seinetwillen, daß er unwillkürlich zur Besinnung kam. Er fühlte, daß er diese beiden armen Frauen immerhin unglücklich gemacht hatte. Immerhin war er die Ursache.
»Dunja, Liebste! Wenn ich Schuld habe, so vergib mir (obwohl man mir gar nicht vergeben kann, wenn ich Schuld habe)! Lebe wohl! Wir wollen nicht streiten! Es ist Zeit, es ist höchste Zeit. Folge mir nicht, ich flehe dich an, ich muß noch irgendwo hingehen ... Geh jetzt gleich zur Mutter und setze dich neben sie. Ich flehe dich an! Das ist meine letzte große Bitte an dich. Verlaß sie nicht in dieser ganzen Zeit; ich habe sie in einer Unruhe zurückgelassen, die sie kaum überstehen wird: Sie wird entweder sterben oder den Verstand verlieren. Bleib bei ihr! Rasumichin wird mit euch sein; ich habe mit ihm schon gesprochen ... Weine nicht um mich: Ich werde mich bemühen, mutig und ehrlich zu sein, mein ganzes Leben, obgleich ich ein Mörder bin. Vielleicht wirst du einmal meinen Namen hören. Ich werde euch keine Schande antun, du wirst es sehen; ich werde noch beweisen ... jetzt vorläufig auf Wiedersehen«, schloß er eilig, als er in den Augen Dunjas bei seinen letzten Worten und Versprechungen wieder einen sonderbaren Ausdruck bemerkt hatte. »Was weinst du so? Weine nicht, weine nicht, wir trennen uns doch nicht für immer! ... Ach ja! Wart, ich hab es vergessen! ...«
Er trat an den Tisch, nahm ein dickes, verstaubtes Buch, schlug es auf und nahm ein zwischen den Seiten verwahrtes kleines Aquarellbild auf Elfenbein heraus. Es war das Bild der Tochter seiner Wirtin, seiner früheren Braut, die am Fieber gestorben war, desselben merkwürdigen jungen Mädchens, das ins Kloster gehen wollte. Eine Minute lang blickte er dieses ausdrucksvolle und krankhafte Gesichtchen an, küßte das Bild und gab es Dunjetschka.
»Mit ihr habe ich viel davongesprochen, mit ihr allein«, sagte er nachdenklich. »Ihrem Herzen habe ich vieles davon mitgeteilt, was später in einer so häßlichen Weise in Erfüllung gegangen ist. Sei ruhig,« wandte er sich an Dunja, »sie war mit mir nicht einverstanden, ebenso wie du, und ich bin froh, daß sie nicht mehr ist. Die Hauptsache, die Hauptsache ist, daß jetzt alles ganz neu beginnt, daß alles entzweibricht«, rief er plötzlich aus, wieder in seinen Gram verfallend, »alles, alles; bin ich aber dazu vorbereitet? Will ich es selbst? ... Man sagt, es sei zu meiner Prüfung notwendig! Doch wozu, wozu alle diese unsinnigen Prüfungen? Was brauche ich sie? Werde ich es denn dann, erdrückt von Qualen und Idiotie, in greisenhafter Ohnmacht nach zwanzigjähriger Zwangsarbeit besser empfinden, als ich es jetzt empfinde, und wozu soll ich dann noch leben? Oh, ich wußte es, daß ich ein Schuft bin, als ich heute in der Morgendämmerung an der Newa stand!« – – –
Beide verließen schließlich das Haus. Es war Dunja schwer, aber sie liebte ihn so! Sie trennte sich von ihm; als sie aber etwa fünfzig Schritte gegangen war, wandte sie sich um, um ihn noch einmal anzuschauen. Sie konnte ihn noch sehen. Aber an der Ecke wandte er sich auch um, und ihre Blicke trafen sich zum letztenmal; als er merkte, daß sie ihn ansah, winkte er ungeduldig und sogar ärgerlich mit der Hand, daß sie weitergehe, und bog jäh um die Ecke.
– Ich bin böse, ich sehe es – dachte er, als er sich nach einer Minute seiner ärgerlichen Geste gegen Dunja schämte. – Aber warum lieben sie mich so, wenn ich es nicht verdiene! O wär ich doch allein und niemand liebte mich, und hätte ich auch selbst nie jemand geliebt! Dann wäre dies alles nicht geschehen! Ich möchte aber gern wissen, ob meine Seele in diesen kommenden fünfzehn oder zwanzig Jahren sich so demütigen wird, daß ich vor den Menschen voller Andacht jammern und mich bei jedem Wort Mörder nennen werde? Ja, so wird es sein! Darum verschicken sie mich auch nach Sibirien, das ist es, was sie brauchen ... Da laufen sie in den Straßen herum, und jeder von ihnen ist ein Schuft und ein Mörder, schon seiner Natur nach; und noch schlimmer als das – ein Idiot! Wenn man mir aber die Zwangsarbeit erläßt, so werden sie vor edler Empörung rasen! Oh, wie ich sie alle hasse! –
Er vertiefte sich in den Gedanken: – Durch welchen Prozeß kann es so kommen, daß ich mich zuletzt ganz ohne zu klügeln vor allen demütige, mich mit voller Überzeugung demütige? Warum auch nicht? Es muß natürlich so kommen. Werden mir denn die zwanzig Jahre ununterbrochenen Druckes nicht endgültig den Garaus machen? Steter Tropfen höhlt den Stein. Und wozu, wozu dann noch leben, wozu gehe ich jetzt hin, wo ich selbst weiß, daß alles sich genau so wie nach Noten abspielen wird und nicht anders! –
Diese Frage legte er sich seit gestern abend vielleicht schon zum hundertstenmal vor, aber er ging dennoch hin.
VIII
Als er zu Ssonja kam, begann es zu dämmern. Ssonja hatte den ganzen Tag in furchtbarer Aufregung auf ihn gewartet. Auch Dunja hatte mit ihr gewartet. Dunja war schon am Morgen zu ihr gekommen, eingedenk der gestrigen Worte Swidrigailows, daß Ssonja schon »alles wisse«. Wir wollen die Einzelheiten der Unterhaltung zwischen den beiden jungen Mädchen, ihre Tränen und, wie weit sie sich näher kamen, übergehen. Dunja hatte bei dieser Zusammenkunft wenigstens den Trost gefunden, daß ihr Bruder nicht allein sein werde: Er war doch mit seiner Beichte zuerst zu Ssonja gegangen; in ihr hatte er den Menschen gesucht, als er einen Menschen brauchte; sie wird ihm auch überallhin folgen, wohin ihn das Schicksal auch bringt. Sie fragte gar nicht, aber sie wußte, daß es so kommen werde. Sie sah Ssonja mit Ehrfurcht an und machte sie damit sogar verlegen. Ssonja war nahe daran, zu weinen: Sie hielt sich ihrerseits für unwürdig, Dunja auch nur anzublicken. Das herrliche Bild Dunjas, als sie sich von ihr so aufmerksam und ehrerbietig nach ihrer ersten Begegnung bei Raskolnikow verabschiedet hatte, blieb seitdem für immer in ihrer Seele als einer der schönsten und erhabensten Eindrücke ihres Lebens.
Dunjetschka hatte es schließlich doch nicht ausgehalten und war von Ssonja gegangen, um den Bruder in seiner Wohnung zu erwarten; sie glaubte immer, daß er zuerst dorthin kommen würde. Als Ssonja allein geblieben war, begann sie sich mit dem Gedanken zu quälen, daß Rodja vielleicht wirklich Selbstmord begehen würde. Dasselbe fürchtete auch Dunja. Aber sie hatten einander den ganzen Tag mit vielen Gründen zu überzeugen gesucht, daß es nicht möglich sei, und waren ruhiger, solange sie zusammenblieben. Nachdem sie sich aber getrennt hatten, dachte die eine wie die andere wieder nur noch daran. Ssonja erinnerte sich, daß Swidrigailow ihr gestern gesagt hatte, daß Raskolnikow nur zwei Wege vor sich habe: entweder Sibirien oder ... Außerdem kannte sie seinen Ehrgeiz, seinen Hochmut, seine Eigenliebe und seinen Unglauben.
– Können denn der Kleinmut und die Furcht vor dem Tode allein ihn zwingen, zu leben? – dachte sie schließlich in Verzweiflung.
Die Sonne ging indessen unter. Ssonja stand traurig am Fenster und blickte unverwandt hinaus – aber sie konnte bloß die ungetünchte Grundmauer des Nachbarhauses sehen. Endlich, als sie vom Tode des Unglücklichen völlig überzeugt war, – trat er in ihr Zimmer.
Ein freudiger Schrei entrang sich ihrer Brust. Als sie aber sein Gesicht aufmerksam ansah, erbleichte sie plötzlich.
»Na, ja!« sagte Raskolnikow mit spöttischem Lächeln. »Ich komme, um mir dein Kreuz zu holen, Ssonja; du hast mich doch selbst auf den Kreuzweg geschickt. Wie ist es nun: wo es zu handeln gilt, bist du bange geworden?«
Ssonja sah ihn erstaunt an. So sonderbar erschien ihr dieser Ton; ein kaltes Frösteln lief über ihren Körper, aber schon nach einer Minute hatte sie erraten, daß dieser Ton und diese Worte gekünstelt waren. Als er mit ihr sprach, sah er auch in eine Ecke, als vermeide er, ihr ins Gesicht zu blicken.
»Siehst du, Ssonja, ich habe eingesehen, daß es so vielleicht besser sein wird. Es gibt einen Umstand ... Na ja, es ist lang zu erzählen und hat auch keinen Sinn. Weißt du, was mich bloß ärgert? Es ärgert mich, daß alle diese dummen tierischen Fratzen mich gleich umringen und anglotzen, mir ihre dummen Fragen vorlegen werden, die man beantworten muß, daß sie mit Fingern auf mich zeigen werden ... Pfui! Weißt du, ich will nicht zu Porfirij gehen; ich habe ihn satt. Ich gehe lieber zu meinem Freund Pulver, der wird sich wundern, bei dem werde ich einen gewissen Effekt machen. Ich muß aber kaltblütiger sein; viel zu viel Galle hat sich in mir in der letzten Zeit angesammelt. Glaubst du mir, ich habe soeben meiner Schwester fast mit der Faust gedroht, bloß weil sie sich umwandte, um mich zum letzten Male zu sehen. So ein Zustand ist eine Schweinerei! Ach, wie weit ist es mit mir gekommen! Nun, wo ist denn das Kreuz?«
Er war wie ausgewechselt. Er konnte nicht einen Augenblick ruhig stehen, konnte seine Aufmerksamkeit auf keinen Gegenstand konzentrieren; seine Gedanken sprangen übereinander, er redete irre; seine Hände zitterten leicht.
Ssonja nahm schweigend aus der Schublade zwei Kreuze, eines aus Zypressenholz und eines aus Messing, bekreuzigte sich, bekreuzigte auch ihn und hängte ihm das Kreuz aus Zypressenholz um den Hals.
»Das ist also ein Symbol dessen, daß ich ein Kreuz auf mich nehme, he-he! Als ob ich bisher wenig gelitten hätte! Ein Kreuz aus Zypressenholz, also wie es das einfache Volk trägt; das aus Messing, das Kreuz Lisawetas nimmst du dir; zeig es mir! So hat sie es ... in jenem Augenblick umgehabt? Ich kenne zwei ähnliche Kreuze, ein silbernes und ein kleines Heiligenbild. Ich habe sie damals der Alten auf die Brust geworfen. Diese Kreuze sollte ich mir jetzt umhängen, wirklich ... Übrigens schwatze ich immer Unsinn; so vergesse ich die Hauptsache, ich bin so zerstreut! ... Siehst du, Ssonja, ich bin eigentlich gekommen, um es dir vorher zu sagen, damit du es weißt ... Nun, das ist alles ... Ich bin ja nur deswegen hergekommen. (Hm! Ich hatte übrigens geglaubt, daß ich mehr sagen würde.) Du wolltest doch selbst, daß ich hingehe; nun werde ich im Gefängnis sitzen, und dein Wunsch wird in Erfüllung gehen; was weinst du denn? Auch du weinst? Hör auf, genug; ach, wie schwer ist mir das alles!«
Aber in ihm regte sich Mitgefühl; sein Herz krampfte sich bei ihrem Anblick zusammen. – Was hat sie bloß? dachte er. – Was bin ich ihr? Warum weint sie, warum verabschiedet sie sich von mir wie meine Mutter oder wie Dunja? Sie wird meine Wärterin sein! –
»Bekreuzige dich, bete wenigstens einmal!« bat Ssonja mit zitternder, scheuer Stimme.
»Oh, gerne, soviel du willst! Und mit reinem Herzen, Ssonja, mit reinem Herzen ...«
Er wollte ihr übrigens etwas ganz anderes sagen.
Er bekreuzigte sich einige Male, Ssonja nahm ihr Tuch und warf es sich über den Kopf. Es war ein grünes Drap-de-dames-Tuch, wahrscheinlich dasselbe, von dem Marmeladow gesprochen hatte, das »Familientuch«. Raskolnikow kam sogar dieser Gedanke, aber er fragte nicht. Er begann tatsächlich selbst zu fühlen, daß er furchtbar zerstreut und voll häßlicher Unruhe war. Er erschrak darüber. Er war plötzlich bestürzt, daß Ssonja mit ihm gehen wolle.
»Was fällt dir ein? Wo willst du hin? Bleibe, bleibe! Ich gehe allein!« rief er in kleinmütigem Zorn und ging beinahe erbost zur Tür. »Wozu dieses ganze Gefolge!« murmelte er hinaustretend.
Ssonja blieb allein mitten im Zimmer. Er hatte von ihr nicht einmal Abschied genommen, er hatte sie schon vergessen; ein stechender Zweifel empörte sich plötzlich in seiner Seele:
– Ist es auch so richtig, ist es richtig? – dachte er wieder, als er die Treppe hinunterging. – Kann ich denn nicht mehr stehen bleiben und alles wieder gutmachen ... und nicht hingehen? –
Er ging aber doch hin. Plötzlich fühlte er endgültig, daß es keinen Sinn habe, Fragen an sich zu stellen. Als er schon auf der Straße war, erinnerte er sich, daß er sich von Ssonja nicht verabschiedet hatte, daß sie mitten im Zimmer in ihrem grünen Tuche geblieben war und es nicht wagte, nachdem er sie angeschrien hatte, sich zu rühren. Im gleichen Augenblick durchzuckte ihn ein Gedanke, der gleichsam nur darauf gewartet hatte, um ihn völlig zu verwirren.
– Nun, warum, warum bin ich jetzt bei ihr gewesen? Ich sagte ihr: in einer wichtigen Angelegenheit; was war das für eine wichtige Angelegenheit? Ich hatte ihr doch nichts zu sagen! Um ihr zu sagen, daß ich hingehe? Was ist denn dabei? War es denn notwendig? Liebe ich sie etwa? Doch nein, nein! Ich habe sie doch soeben wie einen Hund von mir gestoßen. Brauchte ich vielleicht ihr Kreuz? Oh, wie tief bin ich gesunken! Ihre Tränen brauchte ich, ich mußte ihren Schreck sehen, ich mußte sehen, wie ihr Herz schmerzt und sich quält! Ich mußte mich an irgendetwas festklammern, verweilen, einen Menschen sehen! Und ich wagte noch, so auf mich zu hoffen, so von mir zu denken, ich elender Bettler, ich Schuft, Schuft! –
Er ging am Kanal entlang und hatte nicht mehr weit zu gehen. Aber bei der Brücke blieb er stehen, schlug plötzlich den Weg über die Brücke ein und ging nach dem Heumarkt.
Mit gierigen Blicken sah er nach rechts und nach links, betrachtete gespannt jeden Gegenstand und konnte auf keinen seine Aufmerksamkeit konzentrieren; alles entglitt ihm. – Nach einer Woche, nach einem Monat wird man mich über diese Brücke irgendwohin in so einem Gefängniswagen fahren; mit welchen Augen werde ich dann diesen Kanal ansehen? – Wenn ich mir das merken könnte! – ging es ihm durch den Kopf. – Dieses Schild dort, wie werde ich dann diese Buchstaben lesen? Da steht geschrieben »Genossenschaft«; wenn ich mir nur dieses »a«, diesen Buchstaben »a« merken könnte und dann nach einem Monat ihn wiedersehen; wie werde ich ihn dann ansehen? Was werde ich dann fühlen und den ken? ... Mein Gott, wie gemein ist doch wohl das alles, alle meine jetzigen ... Sorgen! Natürlich, es muß auch interessant sein ... in seiner Art ... (Ha-ha-ha! Woran ich jetzt denke!) Ich werde zu einem Kind und prahle vor mir selbst; warum werfe ich es mir vor? Gott, wie sie stoßen! Dieser Dicke da (wahrscheinlich ein Deutscher), der mich gestoßen hat, weiß er auch, wen er gestoßen hat? Eine Frau mit einem Kinde bettelt; es ist doch interessant, daß sie mich für glücklicher hält als sich selbst. Soll ich ihr nicht spaßhalber ein Almosen geben? Ah, ich hab ja noch ein Fünfkopekenstück in der Tasche! Woher? ... »Hier, hier ... nimm es, Mütterchen! ...«
»Gott schütze dich!« antwortete die Bettlerin mit weinerlicher Stimme.
Er trat auf den Heumarkt. Es war ihm unangenehm, sehr unangenehm, mit Menschen zusammenzustoßen, er ging aber gerade dorthin, wo die meisten Menschen waren. Er hätte alles in der Welt hergegeben, um allein zu bleiben; aber er fühlte selbst, daß er keinen Augenblick allein bleiben würde. In der Menge stand ein Betrunkener; er wollte tanzen, fiel aber immer um. Die Leute umringten ihn. Raskolnikow drängte sich durch die Menge, sah den Betrunkenen eine Weile an und lachte plötzlich kurz auf. Im nächsten Augenblick hatte er ihn schon vergessen und sah ihn nicht mehr, obwohl er ihn anstarrte. Er ging schließlich weg und wußte nicht einmal, wo er sich befand; als er aber die Mitte des Platzes erreichte, geschah mit ihm plötzlich eine Veränderung, seine Empfindung ergriff ihn auf einmal ganz mit Leib und Seele.
Er erinnerte sich plötzlich der Worte Ssonjas: »Geh gleich hin, sofort, stell dich auf einem Kreuzweg hin, küsse zuerst die Erde, die du geschändet hast, und dann verbeuge dich vor der ganzen Welt, nach allen vier Seiten, und sage allen laut: ›Ich habe getötet!‹« Er erzitterte am ganzen Körper, als er sich dessen erinnerte. So sehr hatten ihn der ausweglose Gram und die Unruhe der ganzen letzten Zeit und besonders der letzten Stunden niedergedrückt, daß er sich der Möglichkeit dieser neuen, vollkommenen und ungeteilten Empfindung sofort hingab. Wie ein Krampf überkam es ihn plötzlich: es entzündete sich in seiner Seele als Funke und ergriff ihn dann plötzlich ganz wie eine Flamme. Alles schmolz in ihm auf einmal, Tränen stürzten ihm aus den Augen. Wo er stand, sank er zu Boden ...
Er kniete mitten auf dem Platze nieder, verneigte sich bis zur Erde und küßte diese schmutzige Erde mit Genuß und voll Seligkeit. Er stand auf und verneigte sich noch einmal.
»Wie der sich vollgesoffen hat!« bemerkte ein Bursche in seiner Nähe.
Viele lachten.
»Er geht nach Jerusalem, Brüder, nimmt Abschied von seinen Kindern und seiner Heimat, verneigt sich vor der ganzen Welt und küßt die Residenzstadt Sankt Petersburg und ihren Grund!« fügte ein betrunkener Kleinbürger hinzu.
»Das Bürschlein ist noch jung!« bemerkte ein dritter.
»Vom Adel!« sagte jemand mit gesetzter Stimme.
»Heutzutage kennt man sich nicht mehr aus, wer vom Adel ist und wer nicht.«
Alle diese Rufe und Gespräche hielten Raskolnikow zurück, und die Worte: »Ich habe getötet«, die ihm von den Lippen kommen wollten, erstarben in ihm. Er ließ jedoch alle diese Rufe ruhig über sich ergehen und ging, ohne sich umzusehen, direkt in die Gasse, die zum Polizeibureau führte. Unterwegs tauchte vor ihm eine Erscheinung auf, aber er wunderte sich nicht über sie; er hatte schon geahnt, daß es so kommen müsse. Als er sich auf dem Heumarkt zum zweiten Male, nach links gewandt, verbeugte, sah er etwa fünfzig Schritte entfernt Ssonja. Sie verbarg sich vor ihm hinter einer der Bretterbuden, die auf dem Platze standen; also hatte sie ihn auf dem ganzen Leidensweg begleitet! Raskolnikow fühlte und begriff in diesem Augenblick ein für allemal, daß Ssonja ewig bei ihm bleiben und ihm auch bis ans Ende der Welt folgen würde, was für ein Schicksal ihn auch erwartete. Und sein ganzes Herz wandte sich ... aber er hatte schon den verhängnisvollen Ort erreicht ...
Er betrat ziemlich sicher den Hof. Er mußte in den zweiten Stock. – Es wird noch eine Weile dauern, bis ich hinaufkomme – dachte er. Überhaupt schien es ihm, als sei der entscheidende Augenblick noch fern, als habe er noch viel Zeit und könne sich noch vieles überlegen.
Wieder der gleiche Kehricht, die gleichen Abfälle auf der Wendeltreppe, die Türen aller Wohnungen standen wieder weit offen, wieder dieselben Küchen, aus denen Dunst und Gestank kam. Raskolnikow war seit damals nicht mehr hier gewesen. Seine Beine erstarrten und knickten ein, bewegten sich aber doch. Er blieb einen Augenblick stehen, um Atem zu schöpfen, um sich zu erholen und als Menscheinzutreten. – Aber wozu? Warum? – dachte er plötzlich, als er seine Bewegung bemerkte. – Wenn ich schon diesen Kelch trinken muß, so ist doch alles gleich! Je schlimmer, um so besser. – Er stellte sich plötzlich die Gestalt des Ilja Petrowitsch »Pulver« vor. – Muß ich denn wirklich zu ihm? Kann ich nicht zu einem anderen? Kann ich nicht zu Nikodim Fomitsch? Sofort umkehren und zum Revieraufseher selbst in die Wohnung gehen? Dann wird sich alles ganz familiär abspielen ... Nein, nein! Zu Pulver, zu Pulver ... Wenn ich schon trinken soll, dann alles auf einmal ... –
Fröstelnd und kaum seiner Sinne mächtig, öffnete er die Tür zum Polizeibureau. Diesmal waren sehr wenig Menschen da: er sah einen Hausknecht und noch einen einfachen Mann. Der Bureaudiener schaute nicht einmal hinter seinem Verschlag heraus. Raskolnikow ging ins nächste Zimmer. – Vielleicht geht es auch, daß ich gar nichts sage, – ging es ihm durch den Kopf. Irgendein Mensch, wahrscheinlich ein Schreiber, in Zivilkleidung, schickte sich gerade an, etwas auf seinem Pulte zu schreiben. In einer Ecke machte sich noch ein Schreiber an die Arbeit. Samjotow war nicht da. Auch Nikodim Fomitsch war natürlich noch nicht da.
»Ist niemand da?« wandte sich Raskolnikow an den Mann am Pulte.
»Wen wünschen Sie?«
»Ah! Man hört nichts, man sieht nichts, riecht aber den Russen ... wie heißt es noch in dem Märchen ... hab es vergessen! M-meine Hochachtung!« rief plötzlich eine bekannte Stimme.
Raskolnikow erzitterte. Vor ihm stand Pulver; er war plötzlich aus dem dritten Zimmer gekommen. – Das ist das Schicksal selbst – dachte Raskolnikow. – Warum ist er hier? –
»Zu uns? In welcher Angelegenheit?« rief Ilja Petrowitsch. (Er war anscheinend in ausgezeichneter, sogar etwas erregter Stimmung.) – »Wenn in einer geschäftlichen, so sind Sie zu früh gekommen. Ich selbst bin nur ganz zufällig hier ... Übrigens stehe ich zu Ihren Diensten. Ich muß Ihnen gestehen ... wie? Wie? Entschuldigen Sie ...«
»Raskolnikow.«
»Ach was, Raskolnikow! Konnten Sie denn wirklich annehmen, daß ich es vergessen hätte! Halten Sie mich, bitte, nicht für so einen ... Rodion Ro ... Ro ... Rodionytsch, ich glaube, so?«
»Rodion Romanytsch.«
»Ja, ja, ja! Rodion Romanytsch, Rodion Romanytsch! Darauf wollte ich eben kommen. Habe mich sogar einigemal erkundigt. Ich muß Ihnen gestehen, ich habe seit damals aufrichtig bedauert, daß wir Sie damals so ... man hat es mir später erklärt; ich erfuhr, daß Sie ein junger Literat sind und sogar Gelehrter ... und sozusagen die ersten Schritte ... O Gott! Wer von den Literaten und Gelehrten hat seine Karriere nicht mit originellen Schritten begonnen! Ich und meine Frau – wir beide schätzen die Literatur, meine Frau sogar leidenschaftlich! Die Literatur und die Kunst! Wenn man bloß eine edle Gesinnung hat, alles andere kann man aber durch Talent, Wissen, Verstand und Genie erwerben! So ein Hut – nun, was bedeutet zum Beispiel ein Hut? Ein Hut ist eine Art Pfannkuchen, ich kann ihn mir beim Bäcker kaufen; aber was unterdem Hut ist und vom Hut verdeckt wird, daskann ich mir nichtkaufen! ... Ich gestehe, ich wollte Sie sogar besuchen, um mich mit Ihnen auszusprechen, glaube aber, daß Sie ... Aber ich vergesse ganz, Sie zu fragen, ob Sie nicht wirklich etwas wünschen. Man sagt, Sie hätten Besuch von Ihren Verwandten?«
»Ja, meine Mutter und meine Schwester ...«
»Ich hatte sogar die Ehre und das Glück, Ihre Schwester zu treffen, – eine gebildete und reizende Dame. Ich muß gestehen, ich bedauerte sehr, daß wir damals in Hitze gekommen waren. Ein unangenehmer Fall! Daß ich Sie aber damals infolge Ihrer Ohnmacht so sonderbar angeblickt habe, das hat sich später auf die glänzendste Weise aufgeklärt! Aberglaube und Fanatismus! Ich begreife vollkommen Ihre Entrüstung. Vielleicht wollen Sie infolge der Ankunft Ihrer Angehörigen die Wohnung wechseln?«
»N-nein, ich bin nur so ... Ich bin gekommen, zu fragen ... ich glaubte, daß ich Samjotow hier treffen würde.«
»Ach ja, Sie sind mit ihm befreundet, ich habe es gehört. Nun, Samjotow ist nicht mehr bei uns, – Sie kommen zu spät. Jawohl, wir haben Alexander Grigorjewitsch verloren! Seit gestern ist er nicht mehr vorhanden; ist in ein anderes Ressort versetzt worden ... und hat sich vor der Versetzung mit allen verzankt ... er war sogar recht unhöflich ... Ein leichtsinniger Junge, sonst nichts; er versprach zwar, etwas zu werden; aber was soll man mit ihnen, mit unserer glänzenden Jugend anfangen! Irgendein Examen will er ablegen, aber bei uns ist es immer so: man redet und prahlt, und das ist das ganze Examen. Das ist doch ganz was anderes als zum Beispiel Sie oder der Herr Rasumichin, Ihr Freund! Ihre Karriere ist der wissenschaftliche Beruf, Mißerfolge können Sie davon nicht mehr abbringen! Alle Reize des Lebens sind für Sie, sozusagen, nihil est, – ein Asket, ein Mönch, ein Einsiedler! ... Ein Buch in der Hand, eine Feder hinter dem Ohr, wissenschaftliche Untersuchungen – darin schwebt Ihr Geist! Auch ich selbst zum Teil ... Haben Sie die Aufzeichnungen von Livingstone gelesen?«
»Nein.«
»Ich habe sie aber gelesen. Heute gibt es übrigens sehr viel Nihilisten; nun, das ist auch begreiflich; die Zeiten sind danach, wie meinen Sie? Übrigens sind wir beide ... Sie sind natürlich kein Nihilist! Sagen Sie es aufrichtig, ganz aufrichtig?!«
»N-ein ...«
»Nein, wissen Sie, mit mir müssen Sie aufrichtig sein, genieren Sie sich nicht, tun Sie so, als wären Sie mit sich allein! Der Dienst ist eine Sache für sich, und die ... Sie glauben wohl, ich wollte sagen, die Freundschaft ist eine Sache für sich? Nein, Sie haben es nicht erraten! Nicht die Freundschaft, sondern das Gefühl des Bürgers und Menschen, das Gefühl der Humanität und der Liebe zum Allmächtigen. Ich kann eine offizielle Person sein und ein Amt bekleiden, aber ich bin verpflichtet, immer den Bürger und Menschen in mir zu fühlen und mir Rechenschaft zu geben ... Sie brachten eben die Rede auf Samjotow, Samjotow ist imstande, in einem unanständigen Lokal bei einem Glase Champagner oder einheimischem Schaumwein einen Skandal auf französische Manier zu verüben – das ist Ihr Samjotow! Aber ich bin vielleicht vor Ergebenheit und hohen Gefühlen sozusagen zu Asche verbrannt und habe überdies Einfluß, einen Rang, bekleide ein Amt! Bin verheiratet und habe Kinder. Erfülle die Pflicht des Bürgers und Menschen. Aber was ist er? Gestatten Sie mir die Frage. Ich wende mich an Sie als an einen durch die Bildung geadelten Menschen. Auch gibt es jetzt auf einmal eine solche Menge von Hebammen.«
Raskolnikow zog fragend die Brauen hoch. Die Worte Ilja Petrowitschs, der wohl eben von Tische kam, schlugen wie inhaltlose Töne an sein Ohr. Einen Teil von ihnen hatte er dennoch verstanden; er sah ihn fragend an und wußte nicht, womit das alles enden sollte.
»Ich meine diese kurzgeschorenen Mädels«, fuhr der redselige Ilja Petrowitsch fort. »Ich nenne sie Hebammen und finde, daß diese Bezeichnung treffend ist. He-he! Sie dringen in die medizinische Akademie ein, lernen Anatomie; nun, sagen Sie mir, wenn ich krank werde, werde ich so ein Mädel holen lassen, damit sie mich behandelt? He-he!«
Ilja Petrowitsch lachte, durchaus zufrieden mit seinen Witzen.
»Es ist allerdings ein maßloser Durst nach Bildung; aber bilde dich und laß es sein. Warum soll man übertreiben? Warum soll man anständige Menschen beleidigen, wie es dieser Schuft Samjotow tut? Warum hat er mich beleidigt, frage ich Sie? Und dann diese Menge von Selbstmorden – das können Sie sich gar nicht vorstellen. – Alles verpraßt sein letztes Geld und begeht dann Selbstmord. Kleine Mädels, Jungen, Greise ... Erst heute früh kam die Mitteilung über einen vor kurzem zugereisten Herrn. Nil Pawlytsch! Nil Pawlytsch! Wie hieß noch dieser Gentleman, über den wir eben die Mitteilung erhielten, der sich auf der Petersburger Seite erschossen hat?«
»Swidrigailow«, antwortete jemand heiser und gleichgültig aus dem anderen Zimmer.
Raskolnikow fuhr zusammen.
»Swidrigailow?! Swidrigailow hat sich erschossen?!« rief er aus.
»Wie! Sie kannten Swidrigailow?«
»Ja ... ich kannte ihn ... Er war vor kurzem hergekommen ...«
»Ja, gewiß, er ist vor kurzem zugereist, hatte seine Frau verloren, ein Mann von liederlichem Lebenswandel, und hat sich plötzlich erschossen, und so skandalös, daß man es sich gar nicht vorstellen kann ... hat in seinem Notizbuche einige Worte hinterlassen, daß er bei vollem Verstande sterbe und bitte, niemand für seinen Tod verantwortlich zu machen. Dieser soll Geld gehabt haben. Wie kommen Sie dazu, ihn zu kennen?«
»Ich ... war mit ihm bekannt ... meine Schwester lebte in seinem Hause als Gouvernante ...«
»So, so, so ... Dann können Sie uns wohl einiges mitteilen. Und Sie haben es gar nicht geahnt?«
»Ich habe ihn gestern gesehen ... er ... trank Wein ... ich wußte nichts.«
Raskolnikow hatte ein Gefühl, als ob etwas auf ihn niedergefallen wäre und ihn erdrückt hätte.
»Sie sind wieder blaß geworden. Es ist hier bei uns eine so stickige Luft ...«
»Ja, ich muß gehen«, murmelte Raskolnikow. »Entschuldigen Sie, daß ich gestört habe ...«
»Oh, bitte sehr, soviel es Ihnen beliebt! Es war mir ein Vergnügen, und ich freue mich, es Ihnen zu sagen.«
Ilja Petrowitsch reichte ihm sogar die Hand.
»Ich wollte nur ... zu Samjotow ...«
»Ich verstehe, ich verstehe, und haben dabei mir das Vergnügen gemacht.«
»Ich ... ich freue mich ... auf Wiedersehen ...« stammelte Raskolnikow mit einem Lächeln.
Er ging hinaus; er schwankte. Der Kopf schwindelte ihm. Er fühlte nicht, ob er noch auf den Beinen stehe. Er begann die Treppe hinabzugehen, indem er sich mit der rechten Hand gegen die Wand stützte. Es schien ihm, als hätte ihn irgendein Hausknecht, der mit einem Buche in der Hand ins Bureau hinaufging, gestoßen; als bellte irgendwo im unteren Stock aus Leibeskräften ein Hündchen, und als hätte eine Frau mit einem Stock nach ihm geworfen und es angeschrien. Er ging hinunter und trat in den Hof. Hier auf dem Hofe, in der Nähe des Ausganges stand Ssonja, bleich und starr und sah ihn wie wahnsinnig an. Er blieb vor ihr stehen. Ihr Gesicht zeigte einen leidenden und gequälten Ausdruck, etwas wie Verzweiflung. Sie schlug die Hände zusammen. Ein häßliches, verlorenes Lächeln erschien auf seinen Lippen. Er stand eine Weile da, lächelte und ging wieder ins Polizeibureau hinauf.
Ilja Petrowitsch hatte sich hingesetzt und wühlte in irgendwelchen Papieren. Vor ihm stand derselbe Mann, der vorhin auf der Treppe Raskolnikow gestoßen hatte.
»Ah! Sie sind wieder da! Haben Sie etwas vergessen? ... Aber was ist mit Ihnen?«
Raskolnikow kam mit blassen Lippen und starrem Blick näher, trat langsam an ihn, dicht an den Tisch heran, stützte sich mit der Hand auf die Tischplatte, wollte etwas sagen, konnte aber nicht; man hörte nur irgendwelche unzusammenhängenden Töne.
»Ihnen ist schlecht! Einen Stuhl! Hier, setzen Sie sich auf den Stuhl, setzen Sie sich! Wasser!«
Raskolnikow ließ sich auf den Stuhl nieder, wandte aber die Augen nicht vom Gesicht des höchst unangenehm überraschten Ilja Petrowitsch. Beide sahen eine Minute lang einander an und warteten. Jemand brachte Wasser.
»Ich habe ...« begann Raskolnikow.
»Trinken Sie Wasser.«
Raskolnikow stieß mit der Hand das Glas zurück und sagte leise, stockend, doch vernehmlich:
» Ich habe damals die alte Beamtenwitwe und ihre Schwester Lisaweta mit dem Beil erschlagen und beraubt!«
Ilja Petrowitsch machte den Mund auf. Von allen Seiten kam man zusammengelaufen.
Raskolnikow wiederholte seine Aussage.