Kab-Bag
Es schneite bereits seit einigen Tagen, und allmählich blieben die ersten Flocken auf dem vom Frost gehärteten Boden liegen. So weit das Auge reichte, war die gleiche
graugrüne Landschaft zu sehen, die gleichen weiß getupften Hügel, deren Silhouette einzig hier und da von dürrem, verkrüppeltem Gehölz aufgelockert wurde, die gleiche winterliche Trostiosigkeit. Im Osten stiegen allerdings senkrechte blauschwarze Rauchfahnen in den grauen Himmel auf, die direkt aus der Erde zu entweichen schienen und eine bleierne Schicht über der Stadt bildeten. Wie ein Brunnenschacht auf freiem Feld ausgehoben, war die unterirdische Stadt der Gnomen unter gewöhnlichen Umständen schwer auszumachen, doch man hätte blind sein müssen, um in der verschneiten Landschaft eine solche Unzahl von Lagerfeuern zu übersehen. Die Dämonenarmee hatte ihre Winterlager in und um Kab-Bag herum aufgeschlagen und gab sich keinerlei Mühe, sich zu verstecken. Nicht einmal die, sich zu verteidigen, denn sie hatte lediglich eine düstere Schutzwand aus Brombeerranken und Gestrüpp am Rande ihres riesigen Feldlagers errichtet.
Wer hätte schon die Verrücktheit besessen, diese riesige Meute anzugreifen? Die Wölfe, die von ihrem Herrn vom Armeedienst freigestellt worden waren, streiften in Rudeln im Umkreis von Meilen herum, und die Menschen, die das Glück hatten, noch am Leben zu sein, hatten Höfe und Dörfer verlassen, um in den Schutz von Loth zu gelangen wobei sie häufig ihr Vieh den Krallen und Reißzähnen der Bestien preisgegeben hatten.
Von den Trollen hatten ebenfalls die meisten der Armee den Rücken gekehrt, um sich wieder in die Marken zurückzubegeben, doch die restlichen Kontingente des Dämonenheers, Kobolde, Orks, Ghouls und Oger, waren ebenso wie eine unaufhörlich wachsende Schar von Söldnern aller Art Straßenräuber, abtrünnige Graue Elfen und Zwerge vom Schwarzen Berg zu Tausenden dort geblieben und drängten sich rund um Kab-Bag. Gigantische Feuer waren entzündet worden, die ganze Schichten von Glut verschlangen, über der Rinder, Esel oder Lämmer gebraten wurden all das, was das einstmals reiche Land an essbarem Fleisch zu bieten hatte.
Die gefrorene Erde hatte sich unter diesem riesigen Flammenherd rasch erwärmt, und das Lager war nur noch ein einziges, Ekel erregendes Schlammfeld, übersät von Unrat und stinkenden Gerippen, über denen finster die Raben schwebten. Sich selbst überlassen, hatten sich die Monster beim Aufschlagen ihrer Winterquartiere um keinerlei Plan geschert, jeder platzierte sein Zelt oder grub sein Schlupfloch, wo es ihm gerade in den Sinn kam, und es kam fortwährend zu irgendwelchen Schlägereien um einen Brocken Fleisch oder einige Ellen trockenen Bodens selbst noch zu nachtschlafender Stunde. Und doch, je näher man dem gähnenden Loch kam, das da in die Erde gebohrt war, desto mehr wich dieses abstoßende, wüste Durcheinander einer scheinbaren Ordnung.
Die Zwerge von Prinz Rogor hatten eine natürliche Grotte an der Flanke eines Hügels mit Beschlag belegt und bereits damit angefangen, sie weiter auszuhöhlen. Die menschlichen und eifischen Söldner, die sich etwas abseits zusammengefunden hatten, standen auf Posten um ihr Zeltdorf herum und bewachten rund um die Uhr ihr Gold und ihre Verpflegung. Die Goblins schließlich hatten sich in der unmittelbaren Umgebung der unterirdischen Stadt niedergelassen, um ihren schauerlichen Herrn zu beschützen, und hatten eine hohe Schutzwand aus Palisaden errichtet, um sich vor dem Bodensatz der Armee zu verschanzen. Eine Garde aus mageren, schmutzigen Kriegern, die mit langen, geschwärzten Krummsäbeln bewaffnet waren und bis zu den Füßen reichende Kettenhemden trugen, bildeten an den Haupttoren ein langes Spalier aus gehärtetem Eisen, wenn zu festen Zeiten Sklaven aus den Tiefen der Stadt heraufkamen und ganze Wagenladungen von Speisen, Wein und Pelzen brachten, auf die sich die armen Schlucker stürzten, die in der Nähe untergebracht waren. Jeden Tag nutzten bedauernswerte Karawanen von Flüchtlingen die Gelegenheit und versuchten, aus der umzingelten Stadt zu fliehen: Gnomen, Zwerge, Menschen oder Elfen, Händler oder Dirnen, Goldschmiede, die schier unter der Last ihrer Reichtümer, welche sie zu retten versuchten, zusammenbrachen, Bettler und Krüppel. Einige schafften es, lebendig hinauszugelangen, wobei sie alles bis aufs letzte Hemd zurückließen. Doch der Großteil endete im Schlamm der Feldlager, geschändet, gefoltert, bei lebendigem Leibe verschlungen, den Fangzähnen der Kobolde und ihrer wilden Hunde ausgeliefert.
Nichts, was sich in der unmittelbaren Umgebung von KabBag oder in gleich welcher seiner Höhlen abspielte, blieb seinen Bewohnern lange verborgen, und doch fanden sich Tag für Tag weitere, die dieser Hölle, in die sich die Stadt verwandelt hatte, zu entrinnen trachteten, bisweilen unter dem Einsatz von Gewalt, mit Messerund Lanzenstichen, bisweilen, indem sie aus vollen Händen mit Gold um sich warfen (was die Hunde nicht im Geringsten beeindruckte), und bisweilen sogar, indem sie Sklaven opferten, die sie den rasenden Monstern nackt vorwarfen, bevor sie einen Fluchtversuch wagten. Selbst wenn die Überlebenschancen noch so gering waren, schien doch alles besser, als in der unterirdischen Stadt auf den sicheren Tod zu warten.
Die Gnomen waren ein Volk von Händlern, opportunistisch und ohne das geringste moralische Empfinden, was ihnen zu einem gewissen Wohlstand verholfen hatte; doch sie waren keine Krieger. Die Wachen des Sheriffs Tarot, die gepanzert waren wie Schildkröten und unter ihren kunterbunt zusammengewürfelten Rüstungsteilen und den viel zu schweren Waffen fast zusammenbrachen, hätten nicht im Traum daran gedacht, den gigantischen Horden Dessen-der-keinen-Namen-habendarf auch nur den geringsten Widerstand entgegenzusetzen, weder als diese sich über die Ebene verteilt hatten, noch als sie ihre Altstadt besetzt, ihre Läden geplündert, den Inhalt ihrer Schatztruhen an sich gerissen und ihre Wohnungen und Häuser beschlagnahmt hatten. Bereits in gewöhnlichen Zeiten hatte die Gnomenwehr ihre liebe Not, einfache Schlägereien zwischen Betrunkenen zu schlichten. Es war also kein Gedanke daran, zum Kriege gerüsteten Goblins und ihren Heerscharen von Dämonen Paroli zu bieten ... Kaum waren die ersten Wachtposten überwältigt worden, hatten sich die Gnomen in den hintersten Winkel ihrer Schlupflöcher zurückgezogen und in Tausende Verstecke alles beiseite geschafft, was noch zu retten war; dann hatten sie sich darauf vorbereitet, den eindringenden Feind zu empfangen, entschlossen zu zahlen, was fürs Überleben erforderlich war.
So war es schon immer gewesen. Klein, dickbäuchig und wenig stabil mit ihren zu kurzen Beinen, verfügten die Gnomen über keinerlei militärische Schlagkraft, beherrschten keine einzige Kunst, besaßen keinerlei Talent und alles, womit sie aufwarten konnten, war der Umstand, dass sie nicht einmal für das schwächste Königreich eine Bedrohung darstellten. Streitlustige, aufgeplusterte Winzlinge, die meisten von ihnen dumm und verlogen, hatten sie sich zu Clans zusammengeschlossen, die sie Allianzen nannten, und da sie vom Bauhandwerk nichts verstanden, hatten sie mit der Verbissenheit von wilden Tieren begonnen, den Boden aufzugraben, wobei sie sich, wenn es nötig gewesen wäre, bis zur Mitte der Erde vorgearbeitet hätten. Im ganzen Königreich, von Bag-Mor im Westen bis nach HaBag, Kab-Bag und den Höhlenbauten an der Nordküste, waren die gnomischen Allianzen zu Handelszentren geworden, die den gesamten illegalen Warenverkehr protegierten und die Kleinkrämer aus aller Welt anzogen; darüber hinaus hatten sie bald schon Dieben, Mördern und Hehlern aller Rassen Zuflucht geboten, die dort gänzlich unbehelligt lebten. Die Gnomenwehr paradierte in den kleinen Sträßchen und erhob Steuern auf alles, was auch nur ansatzweise einem Warentisch ähnelte, doch die wahre Macht war sicherlich nicht im Palast ihres Sheriffs angesiedelt. In Kab-Bag führte genau wie andernorts kein anderer als die Gilde, die mächtige Bruderschaft der Diebe und Mörder, das Regiment. Diejenigen, welche die ungeschriebenen Gesetze der Stadt durchschaut hatten, konnten dort florierende Geschäfte betreiben, ein neues Leben beginnen, untertauchen oder ein Vermögen in erdrückend prunkvollen Spielhöllen durchbringen natürlich unter der Bedingung, ihren Anteil an die Gilde zu bezahlen, die im Gegenzug eine hinlänglich abschreckende Garde aus Söldnern Stellung beziehen ließ. Und die Gnomen, die rastlos wie die Ameisen in ihren unergründlichen Schächten umherwieselten, entfalteten darüber eine unaufhörliche hektische Betriebsamkeit, kauften alles, verkauften noch mehr, Spezereien, Sklaven, Waffen und Pferde, und horteten unnütze Reichtümer in ihren Käffern, die sie niemals verließen.
Kab-Bag war nicht ihre einzige Stadt, doch es war ohne jeden Zweifel die größte das heißt die tiefste -, die nahezu eine Meile unter die Erdoberfläche hinabreichte in einem Labyrinth aus Gängen und Tunneln, die rund um einen gigantischen Schacht in der Mitte in die Erde getrieben waren, welcher seinerseits von Brücken und Terrassen durchsetzt war, auf denen sich die prunkvollsten Paläste erhoben. Die Hauptstraße, die verstopft war von schmalen Stegen, Verkaufsständen und Tavernen, zwischen denen sich mit Waren beladene Karawanen hindurchschlängelten, schraubte sich wie eine Spirale in die Unterstadt hinab, bis an jenen Ort, an den nur selten Sonne und frische Luft vordrangen, zu einem Viertel, das so düster war, dass seine Bewohner es Scäth nannten Schattenreich -, was auch die Bezeichnung für das Reich der Toten war. Eben dort hatte die Gilde ihr Heiligtum errichtet, so tief im stickigen Dunkel eines undurchdringlichen Gassengewirrs versenkt, dass selbst die Dämonen nicht bis dort hinabgestiegen waren.
Keine Mauer, keine Palisadenwand markierte den Eingang zur Schattenstadt. Es gab nur einen Pfosten, einen einfachen Pfahl, in den die Rune von Beorn ein dreiarmiger Baum geritzt war und der hinter einer Wegbiegung in die Erde gerammt war. Doch das genügte, um jedermann zum Rückzug zu bewegen, es sei denn, er hätte einen guten Grund, dort hineinzugehen.
Nach dem Tode des Seneschalls und Herzogs Gorlois, des Mannes, der die Gilde der Diebe und Mörder organisiert hatte, um daraus ein Machtinstrument zu machen, war die alte Mahault de Scäth zu ihrem Oberhaupt bestimmt worden. Doch die Folgen des Krieges, der schon seit zwei Jahren im Land von Logres wütete, hatten der Macht der Gilde weit mehr geschadet, als es eine ganze Armee königlicher Bogenschützen vermocht hätte. Es gab nicht mehr so viel Gold, seit die Zwerge ihre Berge zum Einsturz gebracht hatten, und auch keine Transporte mehr quer über die Ebenen, wo man doch jeden Augenblick Gefahr lief, von Elfen, Zwergen oder Gorlois’ Männern überfallen zu werden; und es gab niemand mehr, den man hätte umbringen können, da so viele Leute schon von alleine starben.
Mit ihrem Hofstaat aus Eunuchen, Hofschranzen und Mördern in ihrem unterirdischen Palast verkrochen, umfangen von der stickigen Hitze der Glut und dem betäubenden Duft des Weihrauchs, den man dort unablässig verbrannte, um den muffigen Geruch der von der Unterstadt hereinsickernden Abwässer zu übertünchen, hatte Mahault Angst. Sie war so alt, so reich und so hässlich von geradezu unsäglicher Hässlichkeit, weiß und aufgeschwemmt, fettleibig und mit Pusteln übersät -, dass sie abgesehen von regelmäßigen Mahlzeiten nicht mehr viel vom Leben erwartete. Doch in der unheilvollen Stille, die sich so jäh auf die Stadt herabgesenkt hatte, war der Gestank des Todes bis zu ihr vorgedrungen. In Kab-Bag war es ruhig geworden, seit die Dämonen die Stadt umzingelt hatten, und das gewohnte Stimmengewirr war einer lähmenden Stille gewichen, die nur dann und wann von entsetzlichen Schreien durchbrochen wurde, wenn ein Gnom als Spielzeug für ihre Gräuel herhalten musste. Von ihrem Turm, dem einzigen steinernen Bauwerk des ganzen Viertels, der einen Blick über gänzlich baufällige Hütten bot, die rundum zusammengepfercht standen, blickte sie durch eine dreckverschmierte Dachluke und suchte mit den Augen den unerreichbaren, grauen Himmel hoch oben ab. Und da, in eben jenem Moment, vernahm sie das Signal.
Mahault konnte schon seit langem nicht mehr laufen. Sie war derart fettleibig ganz zu schweigen von dem Schmuck, den Pelzen und den schweren golddurchwirkten Brokatstoffen, von denen sie mehrere Schichten übereinander trug dass ihre Beine sie keinesfalls mehr zu tragen vermochten. Doch der Ruf war so dringlich, dass sie einige Schritte machte, bevor sie zusammenbrach. Vermutlich wäre sie gleich einer riesigen Schnecke weitergekrochen und hätte eine Spur von aus ihren Gewändern herausgerissenen Goldfäden hinterlassen, wenn ihre Diener sie nicht aufgehoben und auf ihren Stuhl gehievt hätten. Von dem Sturz war sie noch eine Weile benommen, immerhin so lange, dass ihre Höflinge um sie zusammenliefen und zutiefst erschütterte Gesichter machten, die durchaus nicht nur geheuchelt waren. Die Furcht hatte sich bis ins Schattenreich ausgebreitet, und dieser ganze erbärmliche Hofstaat aus Mördern und Dirnen klammerte sich verzweifelt an die Hoffnung, dass Mahault mächtig sei, ohne zu begreifen, dass die Gilde gegenüber dem Unnennbaren ein Nichts war. Endlich kam sie wieder zu sich, ein Bild des Jammers mit ihrer herabgerutschten bestickten Haube, die einen kahlen, von vereinzelten flachsblonden Haarsträhnen überzogenen Schä del enthüllte, und sie sah mit vollkommen ausdruckslosem Blick in die Runde.
»Der Meister ruft mich«, sagte sie schlicht.
Auf halber Höhe von Kab-Bag auf eine gigantische Plattform hingebaut, welche zu beiden Seiten des Schachtes von einem Bogenwerk aus Pfeilern getragen wurde, ähnelte der Palast des Sheriffs Tarot der Karikatur einer Burg, die überladen war mit unnützen Türmen, Zinnen und Hürden. Immerhin hatte man von dort einen guten Blick über die Stadt. Zudem war die Luft, die man an diesem Ort atmete, einigermaßen frisch. Binnen weniger Stunden hatte ein Trupp Goblins das Innere verwüstet und eine ausgehöhlte Ruine zurückgelassen, indem sie Vorhänge und Wandbespannungen heruntergerissen, Mauern herausgeschlagen sowie die Decken über eine Höhe von zwei Stockwerken hinweg zum Einsturz gebracht hatten, bis an der Stelle ein hinlänglich großer Saal entstanden war. Dort hatte der Schwarze Herr sein Quartier aufgeschlagen.
Irgendwo in der am Ende des Raumes zusammengepferchten Menschenmenge, hinter zwei reglosen Reihen von Elitesoldaten, stand Tarot zwischen den Trümmern seines Palasts und schluchzte still vor sich. Von seinen Samtund Seidenstoffen, seinen erlesenen Skulpturen und bestickten Wandbehängen war nur noch ein Haufen Schutt und Asche zurückgeblieben. Der Saal war kahl und düster wie eine Grotte, erhellt von in die Mauer gerammten Fackeln, die einen flackernden Schein auf die Steinplatten warfen. Er, der einst zumindest nach außen hin über die reichste gnomische Allianz im Lande von Logres geherrscht hatte, war nun dazu verdammt, eingepfercht wie all die anderen lästigen Bittsteller dort zu warten, dass der Meister ihm Audienz gewährte. Doch zumindest war er am Leben, was in diesen Zeiten zu einem unschätzbaren Luxus geworden war.
Tarot war zu klein, um auch nur hoffen zu dürfen, ihn hin ter den Reihen der Goblins zu erspähen, und doch fühlte er die Gegenwart Dessen-der-keinen-Namen-haben-darf. Während er mit Entsetzen Bilanz gezogen hatte, was von seinem Palast noch übrig war, hatte er mit Müh und Not einen von riesigen rot glühenden Kohlenbecken eingerahmten Thron erkennen können, der bewacht wurde von erschreckend großen Dämonen, die völlig unter ihren schwarzen Umhängen verschwanden ... Als er zur Stunde wieder daran dachte, hätte er kaum zu sagen vermocht, ob der Meister bereits da gewesen war, als er hereinkam, oder ob er gewartet hatte, bis sich die Türen zwei gigantische Flügel, die aus der Hauptausfallspforte seines Palastes herausgebrochen worden waren geschlossen hatten, um sie mit seiner Anwesenheit zu beehren.
Plötzlich begann einer der Gardisten, ein halb nackter Ork, wie von Sinnen auf eine bronzene Trommel einzuschlagen, bis schließlich der ganze Raum unter einem ohrenbetäubenden Lärm erbebte. Tarot hatte sich Schutz suchend an seine Nachbarn gedrückt, die Hände gegen die Schläfen gepresst, und er bemerkte erst im Nachhinein, dass das Grauen erregende Hämmern ausgesetzt hatte. Ein Offizier in einem langen roten Umhang bellte seine Befehle in der kehligen und abgehackten Sprache der Schwarzen Lande, dann wiederholte er sie in allgemein verständlichen Worten.
»Auf die Knie vor dem Herrn, Gebieter über die Marken und die Fernen Lande, König von Gorre und dem Ifern Yen, Herrscher im Namen von Lug, dem Leuchtenden, Lug mit der langen Hand, Lug Grianainech, Samildanach, Lug Lamfada, mächtig kraft der Lanze und des Feuers!«
Während seine Nachbarn gehorsam niederknieten, nutzte Tarot die Gelegenheit, um sich mit den Ellbogen einen Weg zu bahnen, und schaffte es, sich unauffällig in die erste Reihe vorzuschieben, wo er zwischen zwei Gardisten ein menschlich aussehendes Wesen erblickte, schwarz gekleidet und blass wie ein Elf. Sein langes pechschwarzes Haar reichte ihm bis zur Mitte des Oberkörpers hinab und war zu langen Zöpfen geflochten, die sich auf seinem dunklen Harnisch ringelten. Der Mensch (denn es schien sich wahrhaftig um einen Menschen zu handeln] grüßte den Herrn ehrerbietig, dann bewegte er sich langsam nach vorne und trug dabei eine funkelnde goldene Lanze vor sich her, deren Metall im Schmelzen begriffen schien. Und hinter ihm wurde eine unendliche Prozession von Kindern aller Rassen sichtbar, die ihm mit gesenkten Häuptern folgten.
»Ehre dem Prinzen Maheloas!«, brüllte der Würdenträger. »Ehre der Lanze!«
Der Gnom war geblendet und vermochte den Blick nicht von dieser rötlich glühenden Spitze zu lösen, ebenso wenig wie von dem reglosen Wesen, das mit ausgestrecktem Arm das hielt, was nur der vierte Talisman, die Lanze von Lug, sein konnte, die so lebhaft funkelte, dass sie an einen Sonnenstrahl gemahnte. Dies war ein sagenumwobener Gegenstand, gleichbedeutend mit dem Kessel der Elfen, dem Stein von Fal oder dem Schwert Excalibur, das den Zwergen geraubt worden war. Und kein Gnom, nicht einmal ein Prinz oder ein Sheriff, war im Stande, sich der bewegenden Wirkung eines solchen Wunders zu verschließen ...
Schauderhafte Schreie rissen ihn jäh aus seiner Faszination. Orks hatten sich unvermittelt auf die Kinder gestürzt und zerrten sie trotz ihrer herzzerreißenden Rufe über einen Kessel. Dort wurde den Unglücklichen mit einem Säbelstreich der Bauch aufgeschlitzt, und sie wurden an Armen und Beinen gehalten, bis sie ihr ganzes Blut verloren hatten. Tarot schloss die Augen und hielt sich die Ohren zu, starr vor Entsetzen. Einer seiner Nachbarn übergab sich auf ihn, ohne dass er es überhaupt bemerkte, er selbst war der Ohnmacht nahe, so unerbittlich zog sich die fürchterliche Zeremonie in die Länge. Halb bewusstlos, sich windend vor Ekel, sah er kaum, wie Prinz Maheloas die glühende Lanze in den von Blut und Eingeweiden überquellenden Kessel tauchte, gleichgültig gegen die ausgebluteten Leichen um sich herum. Ein schauerliches Zischen ertönte, als das heiße Metall bei der Berührung mit dieser widerwärtigen, breiigen Masse erkaltete; dann hob der Mann den heiligen Talisman der Dämonen in die Höhe und schwenkte die bluttriefende Waffe in hohem Bogen herum.
»Der Durst der Lanze ist gestillt!«, brüllte er. »Im Namen meines Herrn verkünde ich den winterlichen Waffenstillstand!«
Der Rest wurde in ihrer unverständlichen Sprache vorgetragen, während mit der Bronzetrommel erneut ein höllisches Spektakel veranstaltet wurde. Tarot war kaum noch im Stande, sich auf den Beinen zu halten. Sein erdverkrustetes und verschwollenes Kartoffelgesicht war feuerrot angelaufen, und sein gepolsterter Waffenrock schnürte ihm die Luft ab. Der Gestank der Eingeweide und des lauwarmen Blutes, der säuerliche Schweißgeruch der zu Tode verängstigten Wesen, die ihn von allen Seiten einkeilten, die Hitze der Fackeln und der riesigen Kohlenbecken, die vor dem Thron aufgestellt waren, all das verursachte ihm eine solche Übelkeit, dass seine gedrungenen Beine ihn nicht länger trugen und er einzig dank des dichten Gedrängels aufrecht stehen blieb, in dem sie alle eingezwängt waren.
Die Audienz begann jedoch, und sein Name wurde als erster aufgerufen.
Die Sinne vernebelt von dem Gräuel, dem er soeben beigewohnt hatte, hörte Tarot es gar nicht. Ein paar seiner Untergebenen mussten ihn nach vorne schieben, bis er gegen die Gobelinwachen stolperte und daraufhin endlich zur Besinnung kam. Als er schließlich begriff, dass er aufgerufen worden war, wäre er wiederum fast in Ohnmacht gefallen, doch die Gardisten traten zur Seite, packten ihn an seinem Überwurf und schleuderten ihn auf die Bodenplatten wie ein Bündel Schmutzwäsche. Der Gnom erhob sich umgehend wieder, von dieser Behandlung, wie sie allenfalls einem Bettler gebührte, zutiefst in seiner Ehre gekränkt. Seine Entrüstung verlieh ihm zumindest zeitweilig neuen Mut, und er wagte sich ein Stück vor.
Reglos wie eine Statue sah Der-der-keinen-Namen-habendarf zu, wie der Sheriff Schritt für Schritt auf ihn zukam, und ergötzte sich an seiner wachsenden Angst. Kein anderer Herrscher hätte geduldet, dass sich ein Bittsteller so langsam näherte und so viel Zeit vergeudete, um die wenigen Klafter, die sie voneinander trennten, zu überwinden, doch die Monster nährten sich in weit höherem Maße von der Furcht als von Wasser oder Brot, und der Terror war fester Bestandteil ihrer höfischen Etikette. Tarot spürte, wie seine Kräfte mit jedem Schritt schwanden, doch er strebte unvermindert auf den Unnennbaren zu, fasziniert und zitternd zugleich, während er sich im Geiste wieder und wieder die einzige Frage vorsagte, die er stellen wollte. Seine Augen traten beinahe aus ihren Höhlen, und sein Blick wanderte immer wieder von den riesenhaften Wachen zu der hochmütigen Gestalt des Prinzen Maheloas, streifte, ohne dass er es gewagt hätte, diesen anzuschauen, den Thron des Herrn, und blieb schließlich an dem blutbespritzten Kessel und dem scheußlichen Haufen aus den erbärmlichen Opfern ihrer aberwitzigen Riten haften.
»Du bist nahe genug«, erklärte mit einem Mal der Prinz in dem düsteren Harnisch, ohne auch nur den Kopf zu ihm umzuwenden. »Stell deine Frage.«
Mit schweißüberströmtem Gesicht, außer Atem und am Rande einer Ohnmacht hob Tarot den Blick zu dem Schwarzen Herrn. Man sah von ihm einzig den düsteren Umriss seines Samtgewandes, das im Schein der Glut rötlich schimmerte, er hatte eine riesige Kapuze über den Kopf gezogen, reglos, unbewegt wie ein stehendes Gewässer. Allein die langen, grauen Hände waren zu sehen, die an jedem oder fast jedem Finger mit prunkvollen Ringen aller Art geschmückt waren. Doch in diesen Händen pulste keinerlei Leben, nicht das geringste Beben ... Sie waren starr wie die eines Toten ...
»Herr, ich bin hier, da Ihr mich zu Euch gerufen habt«, stammelte er.
»Stell deine Frage!«, zeterte Maheloas.
»Mein Sohn ...«
Der Gnom konnte nicht umhin, ein weiteres Mal zu dem Kessel und den blutleeren Leichen hinüberzuschielen. Es war nun drei Jahre her, dass die Goblins den Palast gestürmt und seinen Erstgeborenen entführt hatten. Dann war ihm eine Nachricht zugekommen, die besagte, man würde ihn ihm gegen gewisse Gefälligkeiten zurückgeben. Er musste gegenwärtig in etwa das Alter der Kinder haben, denen man da gerade die Bäuche aufgeschlitzt hatte ... Er gab jegliche Haltung auf, fing unvermittelt an zu schluchzen und fiel auf die Knie.
»Mein Sohn ... Habt Ihr ihn ...«
»Das also war es?«, lachte der Prinz höhnisch. »Da sei unbesorgt, Sire Tarot. Dein Sohn ist noch immer am Leben.«
»Aber ... diese Kinder hier ...«
»Gab es irgendetwas, was dein Missfallen erregt hat, Gnom?«
»Herr, vergebt mir ... Doch Ihr habt nichts zu befürchten. Wir haben nicht die Waffen gegen Euch erhoben. Ich habe Euch sogar meinen eigenen Palast angeboten. Ihr wisst, dass wir nichts unternehmen werden, was Euch zum Schaden gereichen könnte ... Gebt mir meinen Sohn zurück, ich flehe Euch an.«
Prinz Maheloas ließ sich das erste Mal dazu herab, sich zu ihm umzuwenden. Sein bleiches Gesicht wurde von einem amüsierten Grinsen verzerrt.
»Du hast also nicht die Waffen gegen uns erhoben, was? Wie liebenswürdig von dir ... War das dein ganzes Gesuch, Gnom?«
Tarot schüttelte den Kopf. Neben den riesigen Kohlenbecken rann ihm inzwischen der Schweiß in Bächen herunter. Wie waren sie bloß in der Lage, solch eine Hitze auszuhalten?
»Tritt näher ...«
Der Gnom zuckte unwillkürlich zusammen. Die Stimme des Herrn war nur noch ein Murmeln gewesen, doch sie hatte sich ihm eingeprägt, durchdringend, als habe er ihm gerade etwas ins Ohr geflüstert. Er drehte sich zu Maheloas herum, doch der hatte sich erneut von ihm abgewandt und bot ihm nur ein verächtlich wirkendes Profil.
»Dein Sohn ist am Leben«, zischelte er. »Ich behalte ihn in meiner Obhut, bis du mir einen Dienst erwiesen hast, so wie wir es vereinbart haben ... Doch fürchte dich nicht, er fühlt sich wohl bei uns ... Sieh mich an.«
Sie waren nur noch einige Ellen voneinander entfernt. Die knochige Hand Dessen-der-keinen-Namen-haben-darf bedeutete ihm mit einem Wink weiterzugehen, und als Tarot nahe genug herangekommen war, beugte der Schwarze Herr sich vor, so dass er sein Gesicht im Schein der Glut sehen konnte.
Der Anblick traf den Gnom mit der unerwarteten Wucht eines Peitschenhiebes. Vor lauter Schreck geriet er ins Taumeln, stolperte rückwärts und brach schließlich auf den Steinplatten zusammen. Dieses Gesicht, das war ...
»Du hast mich erkannt«, murmelte die Stimme. »Dann weißt du ja, dass dein Sohn bei mir nichts zu befürchten hat.«