Der Regen und das Feuer
Das Gras auf den Wiesen war triefend nass und die Erde auf dem als Weg dienenden Damm aufgeweicht vom Regen. Seit ihrem Aufbruch aus Loth watete die Armee
durch schlüpfrigen Schlamm, in dem die Pferde bis zu den Zotten einsanken, so dass die Ritter allesamt hatten absteigen müssen, ihre Harnische und Helme an den Packsatteln der Zelter festschnallen und lediglich ihre Kettenhemden und Waffenröcke unter ihren Regenumhängen anbehalten hatten. Seither marschierten sie missmutig und nass bis auf die Knochen zwischen ihren Knappen. Am frühen Morgen hatten sie den Boden von Sorgalles betreten, waren allerdings keiner Menschenseele begegnet. Es war ein wildes und kaum gerodetes Land, das aus bewaldeten Hügeln und tief eingeschnittenen Tälern bestand, ein Land ohne Horizont, im Süden durch den Saum des großen Waldes begrenzt und gänzlich verschieden von der riesigen Ebene, die sich rund um Loth erstreckte. Ein Land voller Hinterhalte, wo man sich bei einer Schlacht weder weiträumig verteilen noch seinen Weg verlässlich erkunden konnte, was den Herzog von Carmelide mit Unruhe erfüllte.
Und doch war Léo de Grand ein Kind des Krieges, und wenn man den stattlichen Hünen so dahinreiten sah, eine würdevolle Erscheinung in seinem Waffenrock, auf den das Wappen des Hauses Carmelide aufgebracht war (ein aufgerichteter schwarzer Löwe mit herausgestreckter Zunge auf weißem Grund), mit seiner wehenden Mähne, dem buschigen, braunen Bart und dem zerfurchten Gesicht, so hätte sich keiner vorstellen können, was er empfand.
Bereits als junger Schildknappe hatte er zu einer Zeit, da Uther noch nicht einmal geboren war, den Zehnjährigen Krieg mitgemacht. Den Krieg und den anschließenden Sieg, als die freien Völker der Menschen, Zwerge und Elfen Den-der-keinen-Namen-haben-darf und seine Legionen des Grauens bis hinter die Marken zurückgetrieben hatten. Doch die Aussicht darauf, erneut gegen sie ins Feld zu ziehen, rief in den Tiefen seiner Seele albtraumhafte Visionen wach. Die Furcht hatte sich wie bei allen, die gegen die Dämonen gekämpft hatten, wie Gift in seinen Adern ausgebreitet. Es gab bestimmte Dinge, die die Menschen nicht verkraften konnten. Unsägliche Dinge, Horrorvisionen, Ekel erregende Gerüche und entsetzliches Geheul, die einen um den Verstand brachten oder einen für immer seelisch versteinern ließen. Mit der Zeit war man zwar wieder im Stande, ganze Nächte durchzuschlafen, ohne davon zu träumen, aber vergessen konnte man all das nicht. Léo de Grand hatte über zwanzig Jahre gebraucht, um die Erinnerung an jenes Grauen zu begraben, das gegenwärtig wie ein Fieberschub in ihm aufwallte.
Beim Tode seines Vaters waren auf Léo de Grand der Titel, das Herzogtum von Carmelide, die Burg von Carohaise sowie die Verantwortung für die gesamte Hausgemeinschaft übergegangen. Wenn der Zufall es gewollt und irgendjemand auf die Idee gekommen wäre, ihn danach zu fragen, so hätte er ohne Zweifel geschworen, dass er sich alleine um die Erzie hung seiner jüngeren Schwester Igraine gekümmert habe, denn das glaubte er tatsächlich. In Wirklichkeit war Igraine von Bruder Blaise, einem grauen Mönch, sowie den Dienerinnen auf der Burg erzogen worden, während Léo im Zuge endloser und nutzloser Ausritte über die großen Ebenen jagte und dabei sein Banner mit dem schwarzen Löwen der Carmelide im Wind schwenkte. Selbst seine Frau bekam ihn nur selten zu Gesicht.
Léo de Grand war gegen die Zwerge in die Schlacht gezogen, gegen die Grauen Elfen aus den Sümpfen und gegen die Truppen Gorlois’, ohne je diese tückische Furcht zu verspüren, die ihm an diesem Tag das Herz bedrückte. Doch es wäre undenkbar gewesen, auch nur einem Menschen von diesem dumpfen, lähmenden Entsetzen zu erzählen oder gar die Befehlsgewalt über das Heer abzulehnen. Uther hatte zu viel Blut verloren, um die Führung seiner Truppen zu übernehmen, und diese Ehre kam nun ihm als Konnetabel des Reiches von Rechts wegen zu.
Léo de Grand schüttelte sich, ließ die Zügel schnalzen und trieb sein Streitross zu leichtem Trab an. Uther hatte nicht einmal die Kraft gehabt, ihnen beim Aufbruch nachzublicken. Möglicherweise hatte sich seine Wunde entzündet. Oder vielleicht war die Klinge des Zwerges sogar mit Gift bestrichen gewesen, wer wusste schon zu sagen, was diesen unheimlichen Steinbeißern einfiel... Wie dem auch war, Uther hatte Fieber bekommen, und einige Leute hatten darin die Folge einer Verwünschung gesehen. Kaum in der Lage, sich auf den Beinen zu halten, hatte der König gerade noch die Energie gehabt, den Heerbann zusammenzurufen und den Herzog mit der Leitung des königlichen Heers zu betrauen, bevor er das Bewusstsein verloren hatte und in einen Dämmerzustand gefallen war. Seine Anweisungen waren nicht so klar gewesen, wie Léo de Grand es sich gewünscht hätte, doch der König war nicht mehr in der Lage gewesen, seine Befürchtungen zu präzisieren. Sie mussten sich in die Lande von Sorgalies begeben, der Herzogin Helled entgegenmarschieren und dann bis zu den Marken vorstoßen ... Es handelte sich um einen Erkundungseinsatz, aber Léo befand sich an der Spitze eines echten Heeres, in dem die wichtigsten Kräfte des Königreiches versammelt waren. Uther schenkte dem Bericht dieses Frehir ganz offensichtlich Glauben ...
In dieser unwegsamen Landschaft hatte sich die Truppe binnen Stunden auf dem engen und rutschigen Weg zu einer gefährlich langen Schlange auseinander gezogen. Carmelide hatte sehr wohl versucht, Gruppen von Bogenschützen und Fußsoldaten als Flankenschutz auf die Anhöhen zu beiden Seiten hinaufzuschicken, doch die Männer waren rasch derart erschöpft davon gewesen, sich einen Weg durch die Hügel zu bahnen, die steil waren wie Berge, überströmt von Regenwasser und zu weiten Teilen dicht von Tannen bewachsen, dass er es schließlich aufgegeben hatte.
Aber was sollte es schon, es konnte eigentlich nicht mehr weit sein. Vermutlich hätten sie noch vor der Mittagsstunde den Hügel mit der ersten vorgelagerten Befestigungsanlage des Herzogtums von Sorgalles erreicht und hätten endlich Nachricht von der Herzogin Helled wie auch von den Truppen, die diese in Richtung Marken gesandt hatte.
Léo de Grand schauderte. Sein wetterfester Umhang, seine Stiefel und selbst seine Bruch waren völlig durchweicht, bei jedem Schritt liefen ihm kalte Rinnsale den Rücken hinunter, und aus seinen Haaren und seinem Bart troff das Wasser. Die Feuchtigkeit drang überall ein, selbst in die Maschen seines Kettenhemdes und das dicke Lederfutter darunter. Und außerdem hatte er Hunger, denn er hatte seit drei Tagen nur rohen Schinken und Schwarzbrot zu Abend gegessen, ohne dass es ihm beschieden gewesen wäre, irgendetwas Warmes in den Bauch zu bekommen. Wie all seine Männer fühlte er sich erschöpft, krank und fiebrig und hatte unerträgliche Laune. Sie waren drei Tage lang marschiert, was nicht wirklich schlimm gewesen wäre, doch die Moral der Truppe war rapide gesunken, und der Regen trug auch nicht zu ihrer Aufmunterung bei. War es möglich, dass sie alle Angst hatten?
Plötzlich schwappte eine Woge von Schreien und Jubelrufen zu ihm herüber. Ein Kavallerist in einer ledernen Brünne, auf die das Wappen Erbins aufgemalt war, ein roter Drache auf blauem, ausgezacktem Grund, galoppierte auf ihn zu und fuchtelte wild mit den Armen. Carmelide lächelte, als er ihn erkannte. Es war der junge Geoffroy, einer von denen, die sich damals, vor langer Zeit, während des Turniers in Loth auf seine Seite gestellt hatten.
»Nun?«, brüllte der Herzog. »Was gibt’s?«
»Die erste Befestigungsanlage, Messire! Die erste Befestigungsanlage ist in Sicht!«
»Potzblitz, das ist die beste Nachricht des Tages!«
Der Konnetabel gab seinem Pferd die Sporen und ritt, eskortiert von dem Ritter, in leichtem Trab die lange Reihe der Fußsoldaten entlang. An einer Biegung erblickten sie das kleine Fort, das keine halbe Meile3 mehr entfernt war und auf einer hoch über dem Weg aufragenden, gerodeten Anhöhe lag. Es war nur ein Vorposten, errichtet aus Pfählen und Strohlehm, dessen einziger steinerner Schutzbau in einem dicken viereckigen Turm bestand, der als Bergfried fungierte; doch dort hätten sie wenigstens für die Nacht ein Dach über dem Kopf und könnten eine warme Mahlzeit zu sich nehmen. Binnen weniger Minuten verbreitete sich die Kunde bis zur Nachhut und verlieh den ermatteten Soldaten frische Kraft. Ihr Schritt wurde schneller, und in dem langen Zug wurde von der Spitze bis zum Ende Stimmengemurmel laut, ohne dass die Sergeants auf die Idee gekommen wären, die Gespräche zu unterbinden und Ruhe zu fordern.
Léo de Grand, der sich nach wie vor in Begleitung des jungen Geoffroy d’Erbin befand, war bis zu den Kundschaftern vorgaloppiert. Die beiden hätten diese, ohne sie zu sehen, überholt, wenn nicht einer von ihnen, ein zotteliges langes Elend, dessen Haar so starr vor Schmutz war, dass er aussah wie ein Igel, ihnen direkt vor die Füße gesprungen wäre, um sie aufzuhalten. Die restlichen hatten sich in den Graben unterhalb des Damms gekauert, den Blick unverwandt auf das kleine Fort gerichtet.
»Was ist los?«, stieß der Herzog hervor.
Der Igel legte den Finger auf die Lippen und deutete auf die Befestigungsanlage.
»Kein Rauch«, sagte er. »Keine Standarte. Nichts rührt sich ... «
Die Begeisterung Léo de Grands verpuffte wie ein Soufflé, das in sich zusammenfällt, und sein Herz fing zu rasen an. Die Soldaten hinter ihnen näherten sich in einem ungeordneten und unbekümmerten Haufen. Mit einem Wink wies er Erbin an, zu ihnen zu reiten, dann saß er vom Pferd ab und duckte sich zwischen die Kundschafter nieder. Sie stammten alle aus den Wäldern, wilde Gesellen, die schweigsam waren wie Elfen und stanken wie die Bären, in Fetzen gehüllt, die selbst ein Bettler nicht hätte tragen mögen. Zu ihrem Schutz führten sie nichts als hölzerne Schilde bei sich; sie waren jedoch mit allerlei Waffen behängt: Bogen, Hirschfängern und Äxten ... Bei ihrem Anblick wären wahrscheinlich sämtliche Jungfrauen im Palast in Ohnmacht gefallen. Aber auf diesem Terrain waren sie zu Hause. Und sie verstanden ihr Handwerk.
Ohne das kleine Fort aus den Augen zu lassen, lauschte Léo de Grand mit halbem Ohr, wie der junge Geoffroy d’Erbin den Zug mit wenigen energischen Befehlen zum Stehen brachte und dafür sorgte, dass nach und nach Ruhe einkehrte. In dem kleinen Fort regte sich in der Tat keinerlei Leben. Dies war vor allem ein Spähposten, und das Herannahen einer solchen Armee auf dem Damm konnte den Leuten dort nicht entgehen. Warum also machten sie sich nicht bemerkbar? Die Befesti gungsanlage schien intakt und wirkte nicht, als habe sie einen Angriff hinter sich. Vielleicht war sie verlassen ... Das laute Scheppern einer Truppe Reisiger, die bis zu ihm herankamen, riss ihn aus seinen Überlegungen.
»Was ist los, Euer Gnaden?«
Léo de Grand de Carmelide blickte flüchtig zur Seite; er erkannte unter Tausenden die krächzende Stimme des alten Meylir de Tribuit. Er war ebenfalls damals bei dem Turnier zugegen gewesen, doch im Gegensatz zu Geoffroy, der mit der ganzen Herablassung seiner fünfzehn Jahre wie ein junger Gockel wirkte, war Meylir ein erfahrener Mann, und es erfüllte ihn mit Beruhigung, ihn bei sich zu haben.
»Such dir zehn Ritter«, sagte er, während er mit dem Kinn zu dem Fort hinüberwies. »Und Bogenschützen, die euch decken sollen, man kann nie wissen ... «
Der Baron kniff angestrengt die Augen zusammen, forschend, ob er nicht irgendetwas in dem geheimnisvollen Fort erspähen könnte, dann erhob er sich unvermittelt und trabte eilig davon. Wenige Minuten später hallte der Weg vom donnernden Hufgetrappel der von ihm ausgehobenen Truppe wider.
In dieser verfluchten Landschaft aus Hügeln und Schluchten vermochte man nicht weit zu sehen, aber Carmelide nahm die Bewegungen der restlichen Truppe wahr, die den Weg verließ, um am Rand in Deckung zu gehen. Schon verteilten sich die Bogenschützen in einer Linie, und die Ritter legten hastig ihre Rüstungen an, Helme und eiserne Brustharnische, um sich sodann auf ihre Streitrösser zu schwingen. Dies wäre nicht das beste Schlachtfeld, doch zumindest wären sie bereit, falls je ... Einer der Wäldler zog ihn am Ärmel seines Kettenhemdes, und er begab sich ebenfalls von dem Weg oben herunter in den Schutz des Gestrüpps.
Es hatte aufgehört zu regnen, und jetzt zeigte sich sogar ein hauchfeiner Sonnenstrahl, der die nassen Blätter und Dornenranken zum Schimmern brachte. Unmittelbar vor sich, beinahe vor seiner Nase, entdeckte er herrlich saftige, dicke Brombee ren und begann, einige zu pflücken. Da der Kettenpanzer über seinen Beinen ihn drückte, sobald er in die Knie ging, setzte er sich bequemer hin, ein Häufchen dunkler Beeren in der Hand, und in dieser Stellung sah er zu, wie das Streitkorps von Meylir in leichtem Trab den Pfad zu dem kleinen Fort hinaufritt. Sie verschwanden für etliche Minuten aus dem Blickfeld, und obwohl alle in der Truppe sich still hielten, hörte man nichts, weder Schreie noch Tumult. Und dann tauchten sie wieder auf und schwenkten dreimal hintereinander eine leuchtend rote Fahne das vereinbarte Signal.
Erneut setzte sich die gesamte Armee in Bewegung. Die Wolken hatten sich nach und nach verzogen, und die Pfützen auf dem Weg glitzerten im strahlenden Sonnenschein. Dennoch krampfte sich den Menschen mit jedem Schritt das Herz ein wenig stärker zusammen. Als sie sich dem kleinen Fort näherten, wurden Spuren eines Kampfes sichtbar, immer deutlicher und immer zahlreicher. In der Erde steckende Pfeile, geschwärzte Balken; das Haupttor war eingerammt, seine Bohlen wie Reiser umgeknickt, und die Schanzpfähle der äußeren Palisadenwand klebrig vom Blut. Doch weder eine einzige Leiche noch ein Überlebender, nicht einmal ein Rabe am Himmel, der sich an den menschlichen Überresten hätte gütlich tun können ...
Carmelide galoppierte los und stürmte alsbald in die Festung hinein. Nicht ein Tier im Hof, weder Hunde noch Geflügel noch Vieh nichts. Die Stille hier war noch grauenerregender als draußen. Meylirs Mannen hielten die Waffen in der Hand und inspizierten alles bis auf den kleinsten Winkel, doch vergebens. Hier war niemand mehr. Keine einzige Waffe, kein Bund Heu, nicht die geringste Spur von etwas Essbarem. Das Fort war nur noch ein ausgehöhltes Gehäuse, innerlich völlig verwüstet, ohne jeden Hauch von Leben ...
»Dort ist nichts, Euer Gnaden«, erklärte Meylir de Tribuit, der ihn einholte. »Etwas Derartiges habe ich noch nie gesehen ...«
Léo de Grand nickte. Sein Blick schweifte nach Norden, und der alte Ritter erriet seine Gedanken.
»Sorgalles kann allerhöchstens vier bis fünf Meilen entfernt sein«, sagte er. »Zwei bis drei Stunden zu Pferd ... Das Doppelte für die Armee. Wir könnten vor Einbruch der Dunkelheit dort sein.«
Der Herzog nickte erneut. Sie mussten sich Klarheit verschaffen.
»Mach dich schon auf den Weg. Nimm die Kundschafter und die gesamte Kavallerie mit. Ich bleibe bei der Truppe, und wir werden noch vor der Vesper nachkommen.«
Meylir riss erstaunt die Augen auf und brummelte irgendeinen Protest in seinen Bart, aber Léo de Grand gebot ihm mit einer Handbewegung Einhalt, bevor er seine Einwände deutlich äußern konnte. Wie alle Ritter vermochte Meylir sich nicht auszumalen, dass eine Armee auf ihre Kavallerie verzichtet, und wahrscheinlich war er zwangsläufig der Ansicht, dass ihr Anführer hier ein unüberlegtes Risiko auf sich nahm. Doch das Herzogtum von Sorgalles war zu unwegsam für die Pferde, und sie mussten so schnell wie möglich vorankommen, das war in den Augen des Konnetabels ihr einziger verbleibender Trumpf.
»Los, mach dich auf den Weg«, forderte er ein weiteres Mal. »Und pass auf dich auf.«
Uther war bereits seit drei Tagen bewusstlos. Die Verwundung war jedoch ungefährlich ernst, aber auf keinen Fall lebensbedrohlich und rechtfertigte schwerlich den Zustand des Königs. Die Ärzte, die sich um sein Kopfende drängten, vermochten lediglich ihre Machtlosigkeit einzugestehen. Im Übrigen schien er nicht zu leiden, er atmete ruhig und lag reglos in seinem Bett, an dem die Königin und Bruder Biaise, ihr Beichtvater, Wache hielten, um mit ihren Gebeten den bösen Geist auszutreiben.
Es war bereits tiefste Nacht, und die zweite Kerze nach Matutin brannte, als der König sich zu regen begann. Igraine war eingeschlafen, und selbst Blaise war eingenickt, einer wie der andere erschöpft von den langen Stunden des Wachens. Uther begann zu stöhnen, sich unvermittelt umzudrehen, wie wild mit den Armen zu rudern, als wolle er einen unsichtbaren Feind in die Flucht schlagen, und als er aufschrie, fuhren die Königin und der Mönch aus ihrem Schlummer hoch. Er hatte seine Laken fast vollständig herausgerissen. Sein zitternder Leib war von oben bis unten mit Schweiß bedeckt. Seine Lider flatterten, und seine halboffenen Lippen schienen sich abzumühen, irgendwelche Worte zu formen. Schon hatte sich die Königin auf ihn gestürzt und versuchte, seine unkoordinierten Zuckungen zu bändigen.
»Bruder Blaise, so helft mir doch!«, kreischte sie.
»Wir brauchen Wasser«, stammelte der alte Mönch noch ganz benommen. »Wir müssen das Fieber senken ...«
Auf einmal bäumte Uther sich unter einem so jähen und heftigen Krampf auf, dass Igraine zu Boden geschleudert wurde. Im selben Moment brüllte er los, und der ganze Palast hallte von seinen irren Schreien wider.
»Feothan beom gebeddal«
»Was ruft er da?«
»Ich ... Ich weiß nicht.«
Doch Blaise war erbleicht, und Igraine wusste, dass er gelogen hatte.
»Ich möchte wissen, was er gerufen hat.«
»Das ist die heilige Sprache der Elfen ... Ich glaube, dass er gerade träumt. Nein ... Es ist mehr als das. Ich glaube, dass er erneut in ihr ist... Ich glaube, er ist ein weiteres Mal zum Pendragon geworden.«
Schatten unter Schatten, im Dunkel des Unterholzes quer durch Dornenranken und Geäst laufend wie ein Rudel Hirsche, strebten die Elfen dem Saum von Broceliande zu. Die meisten von ihnen trugen Bogen und jene langen, spitz zulaufenden Dolche, die das Volk der Bäume so liebt. Andere hatten sich mit Spießen gewappnet, und einige waren mit leeren Händen unterwegs, alle von demselben Gefühl der Dringlichkeit getrieben, demselben stummen, unbewusst empfundenen Appell, von dem sie mitten in der Nacht erwacht waren, schweißgebadet und mit pochendem Herzen.
Der Wald brannte lichterloh. Die Bäume krümmten sich unter den Flammen, ihr ganzes Geäst ächzte, und mit krachender Rinde stießen sie markerschütternde Hilferufe aus.
Lliane, die sich unter ihnen befand, rannte wie eine Wahnsinnige und erblickte bereits den schauerlichen rötlichen Schein, der auf gespenstische Weise die Nacht erhellte. Genau wie die anderen hatte sie die Klage der Bäume vernommen, genau wie sie war sie losgestürzt, um dem Wald zu Hilfe zu eilen, hatte, ohne es überhaupt zu merken, ihre Insel verlassen, ihre Gefährtinnen und ihre Tochter. Genau wie sie empfand sie die Bereitschaft, zu töten und gegebenenfalls auch selbst ihr Leben zu opfern, um das Land von Eliande zu verteidigen. Doch das Grauen dieser Schändung hatte noch etwas anderes als Hass oder Schrecken in ihr wachgerufen. Eine neuartige, unermessliche Kraft durchpulste sie, und sie bebte angesichts dieser Stärke. Die Elfen vermögen alle zu sehen bei Nacht, doch Llianes Blick durchdrang nicht nur die Finsternis: Sie sah noch weiter, bis unter die brennende Rinde selbst hinein und bis in die Adern der von den hoch züngelnden Lohen gekräuselten Blätter. Sie erahnte das Kochen des Saftes und das Glühen der dornigen Zweige. Sah die krallenbewehrte Hand und die lodernden Fackeln, die hässlich grinsenden Fratzen der Brandstifter und ihre pechschwarzen Waffen, die im Flammenschein glänzten. Sie sah das schmierige Gift, mit dem sie ihre Klingen bestrichen, ihre zerfransten Standarten, die Wölfe und die dunklen Rüstungen einer am Waldsaum verteilten Truppe, die lachend das Feuer betrachtete. Die Elfen rennen alle schnell, doch sie flog wie der Wind dahin, wobei sie die dornigen Sträucher zerteilte, ohne ihre Stiche zu spüren, mühelos, ja, ohne auch nur im Geringsten außer Atem zu geraten.
Einige Klafter vom Waldrand entfernt sprang sie mit einem Satz über die verrenkte Leiche eines Goblins, der sich mit den Beinen in einem Gewirr aus Dornenranken verfangen und sich beim Aufprall auf eine Eichenwurzel das Genick gebrochen hatte. Bisweilen wussten die Bäume sich selbst zu verteidigen...
Sie war die Erste, die am Saum von Broceliande aus dem Dickicht herausbrach: Sie durchkreuzte die Flammen und lief über die Glut, um dann aus dem Feuer herauszuschnellen wie eine aus der Unterwelt aufgetauchte Göttin und ihren langen Dolch zu schwenken. Ohne auch nur eine Sekunde innezuhalten, enthauptete sie mit einem kräftigen Schlag einen Goblin, worauf dessen schwarzes Blut herausspritzte. Ihre Kleider hatten Feuer gefangen, doch sie spürte nichts. Die düsteren Silhouetten der Monster, die von ihren Fackeln und dem rötlichen Schein der Feuersbrunst erleuchtet wurden, wirbelten heulend vor Wut um sie herum, und ihr Dolch fuhr wie ein silberner Blitz in ihre scheußlichen Reihen, um sie zu spalten, ohne dass es einem von ihnen gelungen wäre, sich ihr zu nähern.
Ein schwirrendes Summen war zu vernehmen, wie von einem plötzlichen Windstoß oder einem vorbeifliegenden Bienenschwarm, und Dutzende von Goblins brachen von Pfeilen durchbohrt zusammen. Die Elfen hinter ihr sprangen nun ebenfalls mit schrillen Schreien durchs Feuer. Sie waren kaum auf die Feinde geprallt, schon ließen sie zuhauf ihr Leben, niedergemäht von den Krummsäbeln der Goblins oder zerfetzt von den Reißzähnen ihrer Wölfe. Einige fanden in den Flammen den Tod, da sie das Feuer nicht schnell genug durchquert hatten. Doch der Ansturm war zu gewaltig, um gebrochen zu werden, und die Dämonen waren nicht zahlreich genug. Es genügten wenige Minuten, um sie zu zerstreuen.
Lliane blieb sprachlos stehen, außer Atem, während die Elfen sich um sie herum zu schaffen machten, ihr die brennenden Kleider vom Leib rissen und sie von diesem blutigen Schlachtfeld wegzogen, während sie bereits aus Moos gefertigte Pflaster auf ihre Verbrennungen pressten. Sie sah das Gesicht des alten Gwydion über sich gebeugt, dann das von Blodeuwez, und sie fühlte, wie deren weiße Hände lindernd über ihre glühende Haut glitten. Ihr Geist war jedoch an einem ändern Ort; sie nahm zum einen die überstürzte Flucht der Dämonen in die Nacht hinaus wahr, ihre animalische Furcht, aber zugleich auch die Präsenz von etwas anderem, eine anders geartete Furcht, von Menschen, auf der gegenüberliegenden Seite der Flammen.
So erhob sie sich, mit nicht viel mehr als ihren vom Rauch geschwärzten hohen Wildlederstiefeln bekleidet, den Körper glänzend vom Blut der Dämonen, und war in diesem Moment so schön und so begehrenswert, dass sämtliche Elfen, Männer wie Frauen, einschließlich des alten Gwydion, ja einschließlich Blodeuwez selbst, fühlten, wie ihr Puls bei ihrem Anblick zu fliegen begann. Die Geburt Rhiannons hatte ihrer Figur ungewohnte Formen verliehen, denn die Elfen waren gemeinhin so schmal wie Reiser. Ihre langen Beine waren fülliger geworden, ihre Hüften breiter, und das sanfte Spiel der Flammen brachte ihre Schenkel und ihre Brust aufs Herrlichste zum Leuchten. Dennoch hatte sie nichts von einer Menschenfrau an sich. Welche Frau hatte schon einen derart schlanken Hals, einen so raschen Gang und war so schamlos? Doch Lliane war seit geraumer Zeit auch nicht mehr so wie die anderen Elfen ...
Lliane, die die auf sich gehefteten Blicke gar nicht bemerkte, erspähte jenseits der prasselnden Flammen ein Indiz. Diejenigen, die ganz in ihrer Nähe standen, nahmen die Bewegung ihrer Ohren wahr und hoben ebenfalls ihr Haar hoch, um ihre spitz zulaufenden Ohrmuscheln besser ausrichten zu können. Man hörte Schreie und schwache Gesprächsfetzen hinter dem brennenden Waldrand, aber keiner von ihnen vermochte sie zu identifizieren.
Lliane jedoch hatte begriffen. Sie holte tief Luft und brüllte einen Befehl:
»Bettacan ar aeghurylc nith, hael hlystan!«
Verblüfft trat Gwydion auf sie zu.
»Was hast du da gerufen?«
Sie drehte sich abrupt um, was den alten Elfen unwillkürlich zum Zurückweichen veranlasste. Ihre Augen wirkten in jenem Moment wahrhaftig wie von sämtlichen Feuern der Hölle erleuchtet.
Dann drehte sie den Kopf zur Seite, und ihr Körper schien in sich zusammenzusacken.
»Verzeih«, sagte sie.
Sie schlang fröstelnd die Arme um den Körper und nahm mit einem dankbaren Lächeln den langen Überwurf, den Gwydion ihr über die Schultern breitete. Ihr ganzer Leib schmerzte, und ihre Beine vermochten sie kaum noch zu tragen. Sie spürte, wie ihre Kräfte sie verließen, wie Korn, das aus einem löchrigen Sack herausrieselt, und klammerte sich noch an die letzten Reste der phantastischen Stärke, die sie erfüllt hatte.
»Du hast von Menschen gesprochen«, beharrte Gwydion. »Du hast den Unseren geboten, die Menschen mit Respekt zu behandeln ... Weshalb? Was hast du gesehen?«
»Es sind ... Es sind Soldaten im Wald«, erwiderte sie. »Bewaffnete Männer ... Sie haben Angst, sind verletzt. Einige liegen im Sterben.«