5
Die Sirene des Polizeiwagens heulte gegen drei Uhr morgens. Ich konnte sie schon von weither hören und wollte sofort aufstehen, um zur Stelle zu sein, sobald der Stein ins Rollen kam. Doch dann mußte ich an meine eigene Situation im Rahmen dieser Affäre denken und legte mich wieder ins Bett.
Aber es war gar nicht Alta Ashbury, die von der Polizei aufs Korn genommen wurde. Die Beamten trommelten an die Haustür, bis Ashbury aufstand und öffnete. Und dann schienen sie nur mit Robert Tindle reden zu wollen.
Ich zog Hosen und Jackett über den Schlafanzug und schlich zum Treppenende, unmittelbar nachdem Tindle die unten gelegene Bibliothek betreten hatte. Die Polizisten dämpften angesichts der ungewöhnlichen Besuchsstunde weder ihre Stimmen, noch ließen sie die Katze aus dem Sack. Sie wollten nur wissen, ob Tindle einen gewissen Jed Ringold kannte.
»Nun — ja, wir haben einen Reisenden dieses Namens«, sagte Robert Tindle.
»Wo wohnt der Mann? Wissen Sie das?«
»Nein, ich weiß es nicht. Steht aber in den Personalpapieren in unserem Büro. Weshalb fragen Sie? Was hat er ausgefressen?«
»Ausgefressen hat er nichts«, sagte der Polizist. »Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
»Gesehen habe ich ihn schon drei oder vier Tage nicht.«
»Welche Tätigkeit übt er aus?«
»Er ist Aktienverkäufer. Das heißt, er fühlt nur vor. Macht potentielle
Kunden ausfindig und gibt telefonisch Hinweise durch. Die Abschlüsse tätigen dann unsere Spezialisten.«
»Um was für Aktien handelt es sich?«
»Bohrungen. Nach Mineralien und so weiter.«
»Wie heißt die Firma?«
»Gesellschaft für Schadensregelung zwangsverkaufter Landwirtschaften.«
»Und was ist deren Zweck?«
»Fachliche Informationen jeder Art zu liefern«, antwortete Tindle, und es klang wie auswendig gelernt. »Ich muß Sie bitten, sich mit unserer juristischen Abteilung in Verbindung zu setzen, die Layton Crumweather leitet. Die Büros befinden sich im Fidelity Building.«
»Und warum können Sie uns die Frage nicht beantworten?«
»Weil es dabei um gewisse juristische Dinge geht und ich in meiner Eigenschaft als leitender Mitarbeiter die Firma in irgendeinem schwebenden Zivilprozeß festlegen könnte.« Seine Stimme wurde freundlicher, als er hinzufügte: »Wenn Sie mir genau sagen, worauf Sie hinauswollen, kann ich Ihnen vielleicht mehr Auskünfte geben, doch der Anwalt unserer Firma hat mich ausdrücklich gewarnt, ohne sein Wissen über geschäftliche Details- etwas zu sagen, weil meine Äußerungen als bindend für das Unternehmen betrachtet würden, und es könnte dabei die eine oder andere der vielen Rechtsfragen berührt werden, die...«
»Schluß damit!« sagte der Polizist. »Ringold wurde ermordet. Wissen Sie davon etwas?«
»Ermordet?«
»Sie haben richtig gehört.«
»Gütiger Himmel — wer hat das denn getan?«
»Wissen wir nicht.«
»Und wann ist es passiert?«
»Fast genau um elf Uhr, also vor vier Stunden.«
Tindle sagte: »Das ist ja für mich ein furchtbarer Schlag. Ich kannte den Mann zwar persönlich wenig, aber er war immerhin Teilhaber unserer Firma. Parker Stold sprach gerade gestern abend mit mir über ihn — es muß ungefähr zu der Zeit gewesen sein, als er getötet wurde.«
»Wer ist Parker Stold?«
»Einer von meinen Partnern.«
»Wo führten Sie denn das Gespräch?«
»In unserem Büro. Ich unterhielt mich mit Stold, und wir kamen auch auf unsere Verkaufsplanung zu sprechen.«
»Wissen Sie, ob der Mann Feinde hatte?«
»Ich weiß über ihn eigentlich so gut wie gar nichts«, antwortete Tindle. »Meine Tätigkeit beschränkt sich hauptsächlich auf unsere Geschäftspolitik Für Personalfragen ist Mr. Bernard Carter zuständig.«
Die Polizisten verplemperten noch Zeit mit allerlei unnützen Fragen. Ich sah, wie Alta auf Zehenspitzen aus ihrem Zimmer schleichen wollte, schob sie wieder hinein und sagte: »Schon gut, gehen Sie ruhig schlafen. Die Polizei wollte nur Mr. Tindle sprechen.«
»Aus welchem Grunde denn?«
»Anscheinend ist Ringold für ihn tätig gewesen.«
Ich bemühte mich, ein harmloses Gesicht zu machen.
»Kamen die etwa ausgerechnet zu dieser Nachtzeit her, um ihn danach zu fragen?«
Jetzt hielt ich es für richtig, ihr die Wahrheit beizubringen, und sagte: »Ringold wurde getötet.«
Alta starrte mich wie leblos an. Da sie kein Make-up trug, sah ich ihre Lippen blaß werden.
»Sie!«, raunte sie dann. »Du lieber Gott, Donald, doch nicht etwa Sie! Sie haben es doch gewiß nicht...«
Ich schüttelte den Kopf.
Sie kam wie eine Schlafwandlerin auf mich zu, ihre Finger, die meinen Handrücken berührten, waren kalt. »Glauben Sie denn, daß Mr. Ringold mir viel bedeutet hat?«
»Darüber habe ich nicht nachgedacht.«
»Aber weshalb hatten Sie — warum haben Sie —?«
»Hören Sie mal, Sie Dummchen, ich habe Ihren Namen herausgehalten. Begreifen Sie das denn nicht? Wie hätten Sie dagestanden, wenn mau Ihren Scheck bei ihm gefunden hätte?«
Ich sah ihr an, daß sie sich das näher überlegte.
»Gehen Sie wieder zu Bett«, sagte ich. »Halt, nein, eine Minute noch. Gehen Sie erst nach unten. Fragen Sie, was passiert ist und was der ganze Spektakel bedeuten soll. Die Polizisten werden's Ihnen sagen, denn sie kommen sich jetzt wichtig vor. Werden kaum achtgeben, was für ein Gesicht Sie machen oder was Sie sagen. Morgen aber wird die Polizei schärfer sondieren. Weiß im Hause jemand, daß Sie den Mann gekannt haben?«
»Nein«, sagte sie.
»Falls Sie danach gefragt werden, umgehen Sie die Antwort, verstanden? Nicht lügen — jetzt noch nicht.«
Sie nickte.
Ich schob sie zur Treppe. »Also gehen Sie hinunter und lassen Sie niemanden merken, daß Sie mich gesehen und gesprochen haben. Ich lege mich wieder hin.«
Der Butler weckte mich durch ein Klopfzeichen an der Tür. Es war auch Zeit für die Sportstunde mit Henry Ashbury.
Er zog im Turnzimmer seinen dicken wollenen Bademantel gar nicht erst aus. »Den Radau in der Nacht gehört?« fragte er mich.
»Was für einen Radau?«
»Einer von Roberts Mitarbeitern ist getötet worden.«
»Getötet?«
»Ja.«
»Autounfall oder was?«
»Oder was«, sagte er trocken, und ergänzte nach kurzem Schweigen: »Drei Revolverkugeln, aus einem Achtunddreißiger.«
Ich sah ihn fest an bei meiner Frage: »Wo war Robert Tindle zur Zeit der Tat?«
Er hielt den Blick aus, stellte aber, anstatt zu antworten, die Gegenfrage: »Wo waren Sie?«
»Habe gearbeitet.«
»Was gearbeitet?«
»An meinem Auftrag.«
Ashbury holte aus der Tasche seines Bademantels eine Zigarre, biß die Spitze ab, nahm Feuer und begann zu qualmen. »Schon weitergekommen?« fragte er.
»Weiß nicht recht. «
»Aber Sie glauben's?«
»Ich glaube, Fortschritte zu machen.«
»Schon herausgefunden, wer hier der Erpresser war?«
»Bin mir nicht sicher, ob Ihre Tochter überhaupt erpreßt wurde.«
»Na, ohne triftige Gründe wirft sie nicht Schecks wie Konfetti herum.«
»Nein.«
»Und das sollen Sie unterbinden.«
»Vielleicht kann ich's.«
»Haben Sie den Eindruck, daß sie womöglich noch weiterzahlt?«
»Läßt sich schwer sagen.«
»Mit Ihren Fortschritten geht's langsam«, sagte er. »Vergessen Sie nicht, daß ich für Ihr Honorar Ergebnisse sehen möchte.«
Ich wartete, bis mein Schweigen wie ein Ausrufezeichen gewirkt hatte, dann sagte ich: »Das Geschäftliche regelt ausschließlich Bertha Cool.«
Nun lachte er. »Eins muß ich ja anerkennen, Donald: So klein Sie sind — ich bin noch keinem Großen begegnet, der mehr Courage hatte als Sie. Wollen jetzt nach oben gehen und uns umziehen.«
Mrs. Ashbury hatte wieder Zustände. Fortwährend eilten die Hausmädchen in ihr Zimmer. Den Arzt hatte man schon angerufen. Ashbury sagte mir, sie habe eine schlimme Nacht hinter sich. Robert Tindle sah aschfahl aus. Ashbury sprach wenig.
Nach dem Frühstück fuhr er zum Büro, als wäre gar nichts geschehen. Er nahm Tindle in seinem Wagen mit. Ich wartete, bis sie abgefahren waren, bestellte mir dann ein Taxi und ließ mich zum Fidelity Building fahren.
Mr. C. Layton Crumweather hatte ein Anwaltsbüro im 29. Stock. Einer Sekretärin, die Näheres über meine Person und mein Anliegen wissen wollte, sagte ich, meine Absicht sei, bei Mr. Crumweather eine Zahlung zu leisten. Das öffnete mir die Tür.
Crumweather war ein hagerer Mann mit knochigem Gesicht und schmaler, krummer Nase, auf der ihm ständig die Brille vorrutschte. Da seine Wangen so hohl waren, wirkte der Mund unnatürlich groß.
»Wie war Ihr Name?«
»Lam.«
»Sie wollen bei mir eine Zahlung leisten?«
»Ja.«
»Wo ist das Geld?«
»Das habe ich noch nicht.«
Zwei tiefe Falten wurden in der Mitte seiner Stirn sichtbar und betonten die Länge der Nase noch mehr. »Wer gibt's Ihnen denn?«
»Gewisse Dummköpfe«, antwortete ich.
Die Sekretärin hatte die Tür einen Spalt offengelassen. Crumweather, der mich mit seinen schwarzen, für die Größe seines Gesichts sehr kleinen Augen gemustert hatte, stand auf, machte die Tür behutsam zu und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. »Klären Sie mich auf«, sagte er.
»Ich bin Propagandist«, sagte ich.
»Sehen aber nicht danach aus.«
»Gerade deshalb bin ich ein so guter.«
Er lachte glucksend, und ich sah, daß seine Zähne lang und gelb waren. Meine schlagfertigen Antworten schienen ihm zu gefallen. »Weiter«, sagte er.
»Hätte eine Erdölsache vorzuschlagen«, warf ich kurz ein.
»Welcher Art?«
»Ein schönes Stück ölführendes Land.«
Er nickte.
»Ich habe aber den Besitztitel nicht — noch nicht.«
»Und wie gedenken Sie den zu bekommen?«
»Mit dem Geld, das für Aktien eingezahlt wird.«
Er musterte mich wieder schärfer und sagte: »Ist Ihnen nicht bekannt, daß Sie in diesem Staat keine Aktie ohne Erlaubnis vom Bevollmächtigten für Aktiengesellschaften verkaufen dürfen?«
»Glauben Sie vielleicht, ich mache mir umsonst die Mühe, Sie hier aufzusuchen?«
Er lachte wieder und schaukelte auf seinem quietschenden Drehsessel vor und zurück. »Sie sind eine Type, Lam, wirklich«, sagte er.
»Schlage vor, Sie betrachten mich als den Joker im Spiel.«
»Machen Sie gern Witze?«
»Nein, im allgemeinen bin ich scheu.«
Er beugte sich vor, stemmte die Ellbogen auf den Tisch und verschränkte seine langen, dünnen Finger so fest, daß die Knöchel knackten. Das tat er ganz mechanisch. »Präzisieren Sie bitte, was Sie wünschen.«
»Ich wünsche die genannte Vorschrift zu übertreten und Aktien zu verkaufen, ohne mich um diesen Bevollmächtigten zu scheren.«
»Das ist unmöglich, denn das Gesetz weist keine Lücke auf.«
»Sie sind doch«, erwiderte ich, »der Syndikus, also Jurist, der Gesellschaft für Schadensregelung zwangsverkaufter Landwirtschaften.«
Er sah mich an, als studiere er einen Bazillus unter dem Mikroskop. »Na und?«
»Kommentar überflüssig.«
Er hakte seine Finger auseinander und trommelte mit ihnen an die Schreibtischkante. »Wie gedenken Sie die Sache zu starten?«
»Ich beabsichtige, ein paar geschickte Reisende auf das Publikum loszulassen, die Interesse für die vermutliche Erdölausbeute auf dem erwähnten Land erwecken sollen.«
»Das Land gehört Ihnen aber nicht?«
»Nein.«
»Selbst wenn Sie die gesetzliche Bestimmung — es handelt sich um den Blue Sky Act, wie Sie ja wohl wissen — umgehen könnten und Gelegenheit zum Verkauf der Sicherheiten fänden, wäre es mir nicht möglich, Sie vor der Gefängnisstrafe zu schützen, die Sie wegen Bereicherung unter falschen Vorspiegelungen bekämen.«
»In dieser Richtung schütze ich mich selbst.«
»Wie denn?«
»Das ist mein Geheimnis. Von Ihnen wünsche ich mir nur, daß Sie das Gesetz umschiffen, damit ich den Leuten etwas anzubieten habe, wenn ich kassieren komme. Mehr brauchen Sie nicht zu tun.«
»Aber das Land gehört Ihnen doch nicht.«
»Ich werde mir die Bohrrechte für Erdöl verschaffen. Eine Option.«
Er lachte wieder halblaut und sagte: »Tja, im allgemeinen befasse ich mich nicht mit solchen Sachen.«
»Das weiß ich.«
»Wann wollen Sie denn mit Ihrer Kampagne anfangen?«
»In spätestens vier Wochen.«
Er ließ die Maske fallen, seine Augen waren jetzt hart und habgierig, als er sagte: »Mein Honorar beträgt zehn Prozent vom Erlös.«
Eine Weile markierte ich angestrengtes Nachdenken. »Siebeneinhalb«, sagte ich dann.
»Daß ich nicht lache! Nein, zehn muß ich haben.«
»Also gut.«
»Wie heißen Sie mit Vornamen?«
»Donald.«
Er drückte auf einen Summerknopf an der Seite seines Schreibtisches. Einen Moment später erschien die Sekretärin mit Stenogrammblock.
»Nehmen Sie einen Brief auf, Miss Sykes, an Mr. Donald Lam«, sagte Layton Crumweather. »>Sehr geehrter Mr. Lam! Bezug nehmend auf Ihren hier geäußerten Wunsch, eine Aktiengesellschaft, deren ursprüngliche, vom Staat Kalifornien erteilte Konzession verwirkt ist, zu reorganisieren, muß ich betonen, daß es erforderlich ist, mir genauere Einzelheiten hinsichtlich des Namens der Gesellschaft und des Zwecks, zu welchem die Neugründung erfolgen soll, zugänglich zu machen. Mein Honorar für die entsprechende Beratung wird sich auf fünfzig Dollar belaufen, zuzüglich etwa entstehender Unkosten.< Das wär's, Miss Sykes.«
Sie stand wortlos auf und verließ das Privatbüro.
Als die Tür wieder geschlossen war, sagte Crumweather: »Ich nehme an, Sie wissen, wie es gemacht wird.«
»Vielleicht genauso, wie Sie's für Ihre Gesellschaft mit dem langen Namen gemacht haben?«
»Über meine anderen Klienten wollen wir hier nicht sprechen.«
»Na schön. Über was möchten Sie denn jetzt gern sprechen?«
Crumweather legte los: »Alle Risiken müssen Sie selbst tragen. Ich werde jedes Gespräch mit Ihnen brieflich bestätigen und Ihnen Briefe vorlegen, die Sie gegenzeichnen müssen. Ich verfüge über ein Verzeichnis ehemaliger Aktiengesellschaften, die ihre vom Staat Kalifornien erteilte Konzession verwirkt haben, weil sie die Gewerbesteuer nicht bezahlten. Diese alten Gesellschaften habe ich sorgfältig überprüft. Das gegebene für sie wäre natürlich eine, die noch keine Geschäfte getätigt hatte, gegen die daher auch keinerlei bevorrechtigte Forderungen bestehen, deren gesamtes Aktienkapital aber seinerzeit aufgelegt worden ist.«
»Was hat das mit meinem Plan zu tun?« fragte ich.
»Ist Ihnen das denn nicht klar?« sagte Crumweather. »Unter dem Blue Sky Act ist es öffentlich-rechtlichen Körperschaften verboten, ihr Kapital ohne die Genehmigung vom staatlich dazu Bevollmächtigten in Aktien auszugeben. Nachdem aber die Aktien ausgegeben sind, werden sie zu Privateigentum wie beliebige andere Sachen oder Werte.«
»Na und?« fragte ich.
»Und der Staat besteuert doch öffentlich-rechtliche Körperschaften. Bezahlt eine dieser Gesellschaften ihre Steuern nicht, so fällt ihre Lizenz an den Staat zurück, und die Firma kann keine Geschäfte mehr tätigen. Sie kann aber nach Zahlung der rückständigen Steuern und gewisser Geldstrafen wieder in Funktion gesetzt werden.«
»Nette Gaunerei«, sagte ich.
Er griente. »Diese Gesellschaften sind, verstehen Sie, nach Verlust ihrer Lizenz nur noch leere Hüllen, sozusagen. Wir bezahlen in einem solchen Fall die Lizenz und die rückständigen Steuern und reorganisieren die Firma. Ferner kaufen wir die noch in Privatbesitz befindlichen alten Aktien auf, für die wir niemals mehr als einen halben Cent oder höchstens einen Cent pro Aktie zu zahlen haben. Natürlich gibt es auch nur wenige Gesellschaften, die unserem Zweck vollkommen entsprechen. Ich habe sondiert, habe alle diesbezüglichen Ermittlungen schon durchgeführt und kenne diese Objekte genau. Außer mir kennt sie keiner.«
»Weshalb sagen Sie dann in Ihrem Brief, ich müßte Ihnen den Namen der Gesellschaft nennen?«
»Um meine Weste sauberzuhalten«, antwortete er. »Sie werden mir den Namen der Gesellschaft brieflich mitteilen, und ich handle dann einfach als Ihr Anwalt, nach Ihren Instruktionen. Verstehen Sie mich recht, Mr. Lam — ich werde korrekt bleiben — jederzeit.«
»Und wann nennen Sie mir den Namen der in Frage kommenden Gesellschaft?«
»Sobald Sie mir eintausend Dollar gezahlt haben.«
»In Ihrem Brief steht fünfzig.«
Er lächelte mich durch seine Brille strahlend an. »Ja, stimmt. Klingt doch auch viel besser. Eine Quittung bekommen Sie über fünfzig Dollar, junger Mann. Ihre Zahlung jedoch beträgt eintausend.«
»Und nachher?«
»Nachher«, sagte er, »werden Sie mir zehn Prozent vom Erlös zahlen.«
»Wie werden Sie sich in dieser Beziehung sichern?«
»Keine Angst.« Er kicherte. »Für meine Sicherung ist gesorgt.«
Die Sekretärin brachte den Brief. Crumweather schob mit der Spitze seines Zeigefingers die Brille wieder höher auf die Nase. Seine schwarzen Augen blinkten, als er den Brieftext sorgfältig las. Er ergriff seinen Füllhalter, unterschrieb und gab den Brief der Sekretärin zurück. »Überreichen Sie ihn Mr. Lam«, sagte er. »Haben Sie die Gebühr zur Hand, Mr. Lam?«
»Im Moment nicht — jedenfalls nicht den erwähnten Betrag«, entgegnete ich.
»Wann werden Sie ihn haben?«
»In ein bis zwei Tagen wahrscheinlich.«
»Können jederzeit kommen. Werde mich über Ihren Besuch freuen.«
Er erhob sich und reichte mir seine lange, kalte Hand. »Ich hatte angenommen, Sie wüßten mit den üblichen Verfahren in solchen Fällen besser Bescheid«, sagte er. »Es machte so den Eindruck, als unser Gespräch begann.«
»Ich weiß Bescheid«, erwiderte ich, »aber es ist mir zuwider, einen Rechtsanwalt in Rechtsfragen zu belehren. Ich ziehe es vor, mich über Einzelheiten belehren zu lassen.«
Er nickte grienend. »Sind ein recht kluger junger Mann, Mr. Lam. — Nun, Miss Sykes, wenn Sie mir jetzt mal die Akte in Sachen Helman kontra Helman bringen wollen, werde ich eine Antwort und die Gegenklage diktieren. Wenn Mr. Lam wieder herkommt, um seine Gebühr zu entrichten, möchte ich mit ihm persönlich sprechen und ihm eine Quittung geben. — Guten Morgen, Mr. Lam.«
»Wiedersehen«, sagte ich und ging hinaus. Die Sekretärin wartete, bis ich durch die Tür war, ehe sie die Akte Helman gegen Helman holte.
Im Taxi auf der Fahrt zum Hause Ashbury las ich die Morgenzeitung. Man hatte Ringold als ehemaligen Zuchthäusler und Glücksspieler identifiziert, der bei einer »einflußreichen Firma« beschäftigt gewesen war. Die Geschäftsführung der Firma hatte ihr Erstaunen über die Vergangenheit des Mannes zum Ausdruck gebracht und betont, daß das Personal stets mit größter Sorgfalt ausgesucht werde, was auch im Fall Ringold zutreffe. Ringolds Zeugnisse seien vermutlich gefälscht gewesen. Man werde die Angelegenheit nochmals nachprüfen. Eine bedeutende Position habe er in der Firma nicht innegehabt.
Die Polizei stand hinsichtlich des Motivs für den Mord sowie der Ausführung der Tat vor einem Rätsel. Sie hatte festgestellt, daß eine Viertelstunde vor dem Mord ein sympathisch wirkender Mann um ein Zimmer gebeten hatte, in dem er angeblich einige Stunden ungestört schlafen wollte. Walter Markham, der Nachtportier des Hotels, blieb fest bei seiner Aussage, daß dieser Gast sich keineswegs um das Zimmer 421 besonders bemüht habe, sondern nur gern eins mit einer ungeraden Zahl haben wollte. Er hatte ihm 421 gegeben, der Mann war hinaufgefahren, hatte ein Schild »Nicht stören« vor die Tür gehängt und offenbar sofort begonnen, die Zierleiste an der Füllung der Verbindungstür zum Zimmer 419 — als dem von Ringold bewohnten — zu lösen. Er hatte den an dieser Tür befindlichen Riegel zurückgezogen und, mit Hilfe eines Werkzeugs, auch den auf der anderen Seite der Tür. Diese Verbindungstür öffnete sich in einen Alkoven, der durch eine Wand des Zimmers 419 und der Tür des dazu gehörenden Baderaumes gebildet wurde. Man nahm an, daß Ringold, als er hinter der Tür Geräusche hörte, mißtrauisch geworden war und nachgesehen hatte, was dort vorging. Er wurde mit drei Schüssen niedergestreckt und war sofort tot. Der Mörder hatte gar nicht erst versucht, durch das Zimmer, in dem er selbst logierte, zu entkommen; sein Opfer hatte er nicht beraubt. Die Tat konnte sich nur so abgespielt haben, daß er seinen Revolver eingesteckt, über den Toten hinweg in den Korridor geeilt und vermutlich vor der Tür zu »seinem« Zimmer stehengeblieben war, um notfalls den verängstigten Gast zu spielen, der durch den Krach von Schüssen geweckt worden war. Niemand hatte ihn das Hotel verlassen sehen.
Daß es sich um vorsätzlichen Mord handeln mußte, schien schon daraus hervorzugehen, daß der Täter, sobald er sich im Zimmer eingeschlossen hatte, ein Loch durch die Türfüllung bohrte und daher vor dem Öffnen der Zwischentür sein Opfer erkannt haben mußte.
Esther Clarde am Zigarrenstand in der Hotelhalle hatte sich erinnert, daß ein gut aussehender junger Mann einer Frau, die nicht gern gesehen werden wollte, ins Hotel gefolgt war. Sie beschrieb ihn als etwa siebenundzwanzigjährig, mit scharf geschnittenen, feinen Gesichtszügen, angenehmer Stimme und ansprechenden Manieren. Leicht gebaut, mittelgroß.
Der Portier wiederum behauptete, dieser Unbekannte habe einen unsteten Blick und ein verlebtes Gesicht gehabt und sei so nervös gewesen, daß er ihn für einen Rauschgiftsüchtigen hielt.
Als ich vor Ashburys Haus mein Taxi bezahlt hatte und hineinging, richtete mir der Butler aus, daß mich Mrs. Ashbury zu sprechen wünsche. Sie lag auf einer Chaiselongue ruhend im Bibliothekszimmer und begrüßte mich mit flehendem Blick. »Mr. Lam, gehen Sie bitte nicht wieder fort, ich bitte Sie, hierzubleiben. Beschützen Sie Robert.«
»Wovor?« fragte ich.
»Ich weiß nicht recht. Mir kommt irgend etwas unheimlich vor. Ich glaube, Robert ist in Gefahr. Als Mutter habe ich das im Gefühl. Sie sind doch ein fabelhafter Ringkämpfer mit stahlharten Muskeln und sollen ja die besten japanischen Jiu-Jitsu-Kämpfer wie Puppen herumgeschleudert haben. Bitte, bewachen Sie doch Robert.«
»Sie können auf mich zählen«, sagte ich und ging Alta suchen.
Ich fand sie auf der Sonnenveranda, wo sie auf der Couch saß. Sie rückte zur Seite, damit ich neben ihr Platz nehmen konnte. Ich begann: »Nun? Erzählen Sie bitte.«
Sie kniff den Mund zu und schüttelte den Kopf.
»Womit konnte Ringold auf Sie Drude ausüben?« fragte ich sie.
»Mit gar nichts.«
»Vermutlich waren also die drei Schecks über je zehntausend Dollar nur Spenden für wohltätige Zwecke?«
Ich sah sie erschrocken aufzucken. »Die drei Schecks?«
Ich nickte.
»Woher wissen Sie das?«
»Ich bin ja Detektiv. Dergleichen herauszufinden, gehört zu meinem Beruf.«
»Na schön«, sagte sie, plötzlich gereizt, »dann ermitteln Sie auch, warum ich die Beträge gezahlt habe.«
»Werde ich«, versprach ich ihr und machte Anstalten, aufzustehen.
Sie zog mich am Ärmel zurück. »Bitte nicht.«
»Was nicht?«
»Mich verlassen.«
»Dann sprechen Sie bitte mit mir von Tatsachen.«
Alta zog die Füße hoch und umfaßte ihre Knie. »Donald«, sagte sie, »bitte, sagen Sie mir, was Sie unternommen und wie Sie festgestellt haben, daß — nun, Sie wissen doch.«
Ich schüttelte den Kopf. »Besser, Sie erfahren über mich gar nichts.«
»Weshalb?«
»Das wäre nicht ratsam.«
»Und warum wollen Sie über mich etwas erfahren?«
»Damit ich Ihnen helfen kann.«
»Sie haben doch schon genug getan.«
»Ich habe noch nicht einmal angefangen.«
»Donald, mehr können Sie gar nicht tun.«
»Was für Druckmittel hatte Ringold gegen Sie?«
»Keine, wie ich Ihnen schon sagte.«
Ich ließ sie nicht aus den Augen. Sie machte fahrige Bewegungen. Nach einer Weile sagte ich: »Eigentlich habe ich von Ihnen nie den Eindruck gehabt, daß Sie auch lügen. Mir kam es sogar vor, als haßten Sie Lügner.«
»Tue ich auch«, sagte sie.
Ich blieb still.
»Es geht Sie ja nichts an«, sagte sie nach einer Weile.
»Eines Tages«, sagte ich, »werden die Polizisten mir Fragen stellen. Wenn ich dann weiß, was ich nicht sagen soll, verrate ich auch nichts, doch wenn ich das nicht weiß, könnte ich gerade das Falsche sagen. Und dann geht die Polizei auf Sie los.«
Nach einigen Sekunden des Schweigens sagte sie: »Ich bin in eine scheußliche Klemme geraten.«
»Erzählen Sie.«
»Es ist aber nicht das, was Sie wahrscheinlich denken.«
»Ich habe mir noch nichts gedacht.«
»Vorigen Sommer habe ich eine Vergnügungsreise in die Südsee gemacht. Auf dem Schiff war ein Mann, der mir sehr gut gefiel und — na. Sie wissen ja, wie es so geht«
Ich sagte: »Viele junge Frauen haben schon Südseereisen gemacht und dabei viele Männer kennengelernt, die sie sehr gern mochten, und haben dennoch, als sie wieder zu Hause waren, nicht dreißigtausend Dollar ausgegeben.«
»Dieser Mann war verheiratet.«
»Was sagte denn seine Frau?«
»Die habe ich nicht kennengelernt. Er schrieb mir dann. Seine Briefe waren so — es waren eben Liebesbriefe...«
»Ich weiß nicht, wieviel Zeit man uns noch läßt«, sagte ich. »Je mehr wir jetzt vergeuden, um so weniger bleibt übrig.«
»Bei mir war es aber nicht Liebe. Es war nur ein Flirt auf See.«
»War es ihre erste große Reise?«
»Aber nein! Ich habe schon mehrmals solche Seereisen gemacht. Deshalb fahren junge Mädchen ja auf Vergnügungsdampfern. Zuweilen begegnet einer der Mann, den sie wirklich liebt — das heißt, so denke ich's mir. Manche haben den Richtigen gefunden, haben geheiratet und sind glücklich geworden.«
»Aber Sie nicht?«
»Nein.«
»Doch getändelt und geflirtet haben Sie?«
»Nun ja, man versucht, sich die Zeit auf See so schön wie möglich zu gestalten. Schon nach den ersten zwei, drei Tagen kann man erkennen, ob einer an Bord ist, den man ernstlich liebgewinnen könnte. Gewöhnlich lernt man dann auch einen kennen, mit dem man gern flirtet, aber im Grunde ist man gar nicht von ihm entzückt, sondern mehr von der romantischen Stimmung.«
»Dieser war also verheiratet?« konterte ich nüchtern.
»Ja.«
»Und hat sich von seiner Frau getrennt?«
»Nein. Er hat mir später gesagt, er hätte nur mal Urlaub von der Ehe genommen, wie seine Frau gleichzeitig auch.«
»Wohin fahr denn die inzwischen?«
»Darüber bin ich mir nicht ganz im Klaren. Sie arbeitete für eine große Erdölgesellschaft, die auch in China Interessen hatte. Sie mußte hinfahren, um die Bücher abzuschließen, als die Zweigfirma in Schanghai aufgegeben wurde.«
»Warum sagen Sie das so skeptisch?«
»Der Boß der Gesellschaft fuhr auch mit. Auf demselben Schiff. Sie war in ihn verschossen.«
»Und?«
»Wenn ich offen sein soll, Donald«, sagte sie, »an dem bewußten Mann gefiel mir verschiedenes nicht; anderes wiederum gefiel mir an ihm sehr. Er konnte sich über einfache Dinge freuen. Wir hatten wirklich viel Spaß.«.
»Sie wußten, als Sie zurückkamen, noch nicht, daß er verheiratet war?«
»Ganz recht.«
»Und er hatte Ihnen gesagt, er sei Junggeselle?«
»Ja, das betonte er ein paarmal.«
»Und dann?«
»Dann schrieb er mir Briefe.«
»Antworteten Sie darauf?«
»Nein. Inzwischen hatte ich erfahren, daß er doch verheiratet war.«
»Wie heißt er denn?«
»Darauf komme ich noch.«
»Weshalb sagen Sie's mir nicht gleich?«
»Nein. Erst müssen Sie sich noch das übrige anhören.«
»War dieser Mann etwa — Ringold?«
»Um Himmels willen — nein!«
»Also, wie ging's weiter?«
»Ich wollte seine Briefe nicht beantworten, weil ich wußte, daß er verheiratet war, nahm sie aber doch gern an. Es waren, wie gesagt, Liebesbriefe, voll von Erinnerungen an unsere gemeinsame Schiffsreise, und die war wirklich herrlich gewesen.«
»Klingt so, als wäre es ein Stoff, für den gewisse Zeitschriften gern ein gutes Honorar zahlen, und doch sehe ich nicht ein, weshalb Sie dreißigtausend Dollar für Briefe zahlen sollten, die Sie nicht beantwortet haben.«
»Sie werden es verstehen, wenn ich's Ihnen erkläre.«
»Na, dann packen Sie aus.«
»Der Name des Mannes«, sagte sie, »war..,« Sie hielt inne.
»Sein Name ist mir gar nicht mehr so wichtig«, sagte ich.
Sie holte tief Atem, dann platzte der Name förmlich heraus: »Hampton G. Lasster.«
»Ein komischer Name zum Erwecken romantischer Gefühle«, sagte ich. »Sie scheinen zu glauben, das sei von Bedeutung. Was ist der Mann denn? Ein...« Und urplötzlich flammte etwas wie in Leuchtschriften vor meinem inneren Auge auf. Ich starrte sie an, ohne meinen Satz zu Ende zu sprechen. »Ach du Schreck«, sagte ich, »das ist der Mann, der seine Frau ermordet hat.«
Sie nickte.
»Hat da nicht ein Prozeß stattgefunden?«
»Noch nicht. Nur eine Voruntersuchung. Er wurde bedingt freigelassen.«
Ich packte sie bei den Schultern und drehte sie jäh um, so daß ich ihr in die Augen sehen konnte. »Sie haben zu diesem Mann doch nicht etwa...«
»Nein!« unterbrach mich Alta.
»Hat er Sie nach Ihrer Rückkehr wiedergesehen?«
»Nein.«
»Und Sie haben ihm nie geschrieben?«
»Nein.«
»Was geschah mit seinen Briefen?«
»Die wollte ich zurückkaufen.«
»Wie ist Ringold an sie gekommen?«
»Ein paar smarte Detektive vom Ressort des Staatsanwalts sagten sich, daß zum Erfolg eines Prozesses gegen Lasster ein starkes Motiv beschafft werden müsse, um die Geschworenen sofort gegen ihn einzunehmen. Sie verfolgten seinen Lebensweg soweit zurück wie möglich. Über einen Zeitraum von acht Sommerwochen, als seine Frau verreist war, konnte er keine Aufklärung geben; auch die Detektive bekamen es nicht heraus.
Als sie dann auf seinem Grandstück einen Holzschuppen durchsuchten, stießen sie auf einen alten Koffer mit dem Etikett von einem Schiff. Dieser Hinweis brachte sie auf seine Südseereise, indem sie sich die Passagierlisten von damals verschafften und Passagiere ausfragten, die jene Reise mitgemacht hatten. So führte die Spur ganz leicht zu mir, und sie stellten einwandfrei fest, daß Lasster sich für mich interessiert hatte.«
»Und doch«, sagte ich, »wenn Sie beide einigermaßen diskret gewesen sind, hätte der Staatsanwalt damit kein für den Prozeß wesentliches Material — jedenfalls nicht, wenn Lasster seinen Mund hält.«
»Aber verstehen Sie es denn nicht? Die Leute hatten doch genau die richtige Fährte gefunden! Sie warteten nur noch auf die passende Gelegenheit, um heimlich hier einzubrechen. Gingen, als ich nicht da war, in mein Zimmer und — na ja, da fanden sie eben die Briefe. Und was das bedeutet, sehen Sie wohl ein? Ich schwöre, daß ich an Lasster weder jemals geschrieben noch ihn wiedergesehen habe, seitdem ich wußte, daß er verheiratet war. Aber glauben würde mir das keiner.«
»Wie kommt es denn, daß Sie die Briefe in drei Raten zurückkauften?«
»Es waren drei Detektive«, sagte sie. »Als sie das Beweismaterial in Händen hatten, haben die darüber nachgedacht. Ihre Bezüge waren bescheiden. Wenn sie dem Staatsanwalt die Briefe einfach auslieferten, hätte ihnen das nicht einmal eine Gehaltserhöhung eingebracht. Andererseits galt ich ja als reiche Frau. Selbstverständlich traten sie bei dieser Aktion nicht selbst in Erscheinung. Sie bewogen Ringold, sich als Zwischenträger einzuschalten. Ich weiß nicht, wieviel der daran verdient hat, aber es wurde schließlich so vereinbart, daß ich die Briefe in drei Raten zurückkaufen mußte.«
Ich schob meine Hände in die Tasche, streckte die Beine lang aus und betrachtete meine Schuhspitzen, während ich mir die Situation klarzumachen suchte, nicht so, wie Miss Ashbury sie sah, sondern um Ansatzpunkte zu finden, von denen sie nichts wußte.
Nun, da sie einmal zu reden begonnen hatte, wollte sie nicht mehr aufhören: »Sicher verstehen Sie, was die Briefe für eine Frau wie mich bedeutet hätten. Der Staatsanwalt ist ganz wild darauf, in dem Prozeß zu einem Schuldspruch zu kommen. Zunächst wissen sie nicht einmal, ob der Tod seiner Frau nicht auf einen Unfall zurückzuführen ist, auf einen Sturz, der den Schädelbruch verursachte, oder ob Lasster sie niedergeschlagen hat. Im übrigen — selbst wenn der Staatsanwalt nachweisen kann, daß ihr Mann sie niederschlug — könnte der Verteidiger ihre Reise nach Schanghai als Verrücktheit auslegen und vielleicht eine Theorie von Geistesstörung entwickeln oder was Anwälte sonst konstruieren, wenn sie den Geschworenen ein bestimmtes Vorurteil einzuimpfen beabsichtigen, nämlich, daß die Frau den Totschlag geradezu herausgefordert hat.
Na, und derartige Taktiken könnte der Staatsanwalt von Anfang an verhindern, wenn er in der Lage wäre, ein beweiskräftiges Material über mich vorzulegen und den Eindruck zu erwecken, daß Lasster in mich verliebt gewesen sei und sich von seiner Frau befreien wollte, um mich zu heiraten. Hinzu kommt, daß ich reich und — na ja, auch nicht direkt häßlich bin. Er hätte mich den Geschworenen so präsentieren können, daß ich in peinlichster Weise öffentlich bloßgestellt worden wäre, und konnte, hätte er die Briefe zur Hand gehabt, Lasster, sobald der den Zeugenstand betrat und zu leugnen versuchte, gleichsam in Stücke reißen. Oder er hätte, sofern Lasster nicht leugnete, die schlimmsten Schlüsse daraus ziehen können.«
Ich war am Grübeln und sagte nichts dazu.
»Als die Detektive die Briefe hatten«, fuhr Alta Ashbury fort, »dachten sie zuerst, Lassters Anwalt würde sie ihnen vielleicht abkaufen, doch Lasster besaß wenig Geld. Ich glaube, gerade dieser Anwalt hat ihnen den Vorschlag gemacht, das Geld durch Ringold von mir beschaffen zu lassen.«
»Wer ist der Anwalt?« fragte ich.
»Layton Crumweather«, antwortete sie. »Er ist übrigens auch der Syndikus von Roberts Firma, deshalb hatte ich furchtbare Angst, daß er zu Robert etwas sagen könnte, doch bei Anwälten von seiner Sorte kann man sich wohl ziemlich darauf verlassen, daß sie den Mund zu halten wissen.«
»Sind Sie auch sicher, daß Crumweather über diese Briefe im Bilde ist?« fragte ich.
»Ringold behauptete das, und Lasster wird's ihm natürlich gesagt haben. Ich denke mir, wenn ein Mann unter Mordverdacht verhaftet wird, erzählt er seinem Anwalt alles, einerlei, wer davon betroffen wird.«
»Ja, das denke ich auch«, sagte ich.
»Crumweather will natürlich vermeiden, daß diese Briefe dem Staatsanwalt in die Finger geraten, denn er möchte in der Mordanklage einen Freispruch erzielen. Diese Briefe, und nur sie, hätten zur Verurteilung seines Klienten geführt. Nach allem, was ich so hörte, hält Crumweather sich für sehr klug.«
Ich stand auf und ging im Raum hin und her. Plötzlich wandte ich mich ihr zu und sagte: »Sie haben gestern abend das Kuvert, als Ringold es Ihnen gab, gar nicht geöffnet.«
Jetzt starrte sie mich mit Augen an, die immer größer und runder wurden. »Dann waren also Sie in dem Zimmer, Donald?«
»Lassen wir das jetzt. Weshalb haben Sie sich vom Inhalt des Kuverts nicht gleich überzeugt?«
»Weil ich selbst gesehen hatte, wie Ringold die Briefe hineintat und es zuklebte. So hatte er's auch mit den früheren gemacht — hat sie mir gezeigt und dann...«
»Haben Sie das Kuvert denn wenigstens zu Hause gleich aufgemacht?«
»Nein, auch nicht. Es geschah ja so viel Schreckliches, und da...«
»Haben Sie es verbrannt?«
»Noch nicht. Ich war schon im Begriff, das zu tun, und da kamen Sie...«
»Woher wollen Sie wissen, ob nicht die ganze Sache eine Falle ist, die der Staatsanwalt Ihnen stellt?« fragte ich.
Erschrocken sah sie mich an. »Wie könnte das möglich sein?«
»Er möchte diese Briefe benutzen, um damit den Mord zu motivieren. Soweit klar, ja? Es hätte aber keinen entscheidenden Wert für ihn, Briefe vorzulegen, die Lasster an Sie schrieb, wenn er nicht auch beweisen könnte, daß Sie dieselben beantworteten. Könnte er jedoch nachweisen, daß Sie dreißigtausend Dollar bezahlt haben, um die fraglichen Briefe wiederzubekommen — na, einen stärkeren Trumpf brauchte er sich wohl nicht zu wünschen!«
»Aber, Donald, begreifen Sie denn nicht? Er wird die Briefe ja nicht haben. Er...«
»Wo haben Sie das Kuvert hingelegt?«
»An einen sicheren Ort.«
»Holen Sie es.«
»Es ist wirklich sicher verwahrt, Donald. Wäre jetzt zu gefährlich, es...«
»Holen Sie's her.«
Einen Moment sah sie mich zweifelnd an, dann sagte sie: »Vielleicht wissen Sie's ja am besten«, und ging nach oben. Nach fünf Minuten war sie mit einem verschlossenen Umschlag wieder bei mir. »Ich weiß bestimmt, daß dies die Briefe sind. Ich sah doch, wie Ringold sie hineintat. Dann klebte er das Kuvert zu. Genauso, wie er mir auch die anderen ausgehändigt hätte — er zeigte sie vor, steckte sie in den Umschlag, verschloß ihn — und — «
Ich ließ sie nicht weiterreden, nahm ihr das Kuvert aus der Hand und riß es auf. Es enthielt ein halbes Dutzend kleinere Umschläge. Ich öffnete diese der Reihe nach und schüttelte den Inhalt auf den Tisch. Alle Kuverts waren mit säuberlich gefalteten, unbeschriebenen Briefbogen des Hotels gefüllt, in dem man Ringold ermordet hatte.
Ich blickte Alta Ashbury ins Gesicht. Entsetzter hätte sie kaum sein können, wenn sie von den Wärtern im Zuchthaus von San Quentin auf den Stuhl in der Gaskammer geschnallt worden wäre.