Kapitel 15
Rafael schob sich zu schnell, um in der Bewegung wahrgenommen zu werden, zwischen Colby und Paul. Ein tiefes Knurren drang aus der Kehle des Jungen, als er blindlings mit dem Messer zustach. Rafael packte ihn am Handgelenk und entwand ihm mühelos das Messer. Pauls Gesichtsausdruck veränderte sich sofort. Er blinzelte hastig, bis seine Augen klar wurden, und stieß einen verzweifelten Laut aus, der Colby bis ins Herz traf.
»Colby!« Er klang wie ein Kind, das sich verlaufen hat, wie der kleine Junge, den sie ihr Leben lang so sehr geliebt und umsorgt hatte. »Was ist mit mir los? Was habe ich getan?« Er wehrte sich nicht gegen Rafaels Griff. Tränen traten ihm in die Augen und liefen über sein Gesicht, und er zitterte am ganzen Leib.
»Liebling!« Colby streckte ihre Arme nach ihm aus, um ihn tröstend an sich zu ziehen.
Paul wich zurück. »Nicht! Der Vampir hat irgendetwas mit mir angestellt, als er mich gebissen hat, oder? Deshalb wollte Nicolas meinen Tod. Er hat gewusst, dass ich dir etwas antun würde.« Er drehte sich zu Rafael um und sah ihm fest in die Augen. »Könnte ich Ginny etwas zuleide tun? Habe ich das Pferd dazu gebracht, Colby zu verletzen?«
Rafael forschte in den Erinnerungen des Jungen und sah, wie er den BH seiner Schwester in der Scheune fand, wo er liegen geblieben war. Das Wäschestück hatte in Paul den von außen eingesetzten Zwang ausgelöst, Colby zu töten. Rafael sah, wie der Junge eine Spritze aufzog und sie dem Pferd gab, bevor er es sattelte und seine Schwester weckte. Rafael zog sich aus dem Bewusstsein des Jungen zurück und seufzte. »Paul«, sagte er sanft, »all das ist typisch für Vampire. Das bist nicht du. Sie nehmen sich einen guten Menschen und versuchen, ihn zu Taten zu verleiten, die für ihn normalerweise undenkbar wären. Du kannst dich nicht daran erinnern, weil es deinem Wesen absolut widerspricht, deinen Schwestern etwas anzu-tun. Der Vampir konnte nicht etwas Böses aus dir machen. Er kann dich nur benutzen, wenn du anfällig bist.«
Paul wich von dem Wagen zurück. Er erinnerte sich nicht daran, von der Ladefläche gesprungen zu sein oder die Tür aufgerissen zu haben. Er wusste nicht einmal, woher das Messer kam. »Ich liebe meine Schwestern. Ich würde eher sterben, als ihnen wehzutun.«
Colby gab einen Wehlaut von sich, der Rafael bis ins Innere traf. Sie versuchte, aus dem Wagen zu steigen und zu Paul zu laufen, doch Rafael nahm ihre Hand und hielt sie fest, ohne den Blick von dem Jungen zu wenden. Lass es mich versuchen, guerida. Er schämt sich für das, was er getan hat, und hat Angst, dass er es irgendwann schaffen könnte. »Paul, wir wissen, dass du deine Familie liebst und dass du deinen Schwestern nie ein Leid zufügen würdest.«
»Aber das habe ich doch getan. Ich habe es getan.« Paul wandte sich um, als wollte er davonlaufen, doch Rafael war schneller und hielt ihn fest, indem er seine Arme um ihn legte.
»Hör mir zu.« Colby hörte den unterschwelligen Zwang, den Rafael in seine Stimme legte. »Nachdem wir jetzt wissen, wer der Vampir ist und was er mit dir angestellt hat, können wir ihn leichter aufhalten. Er kann dich nicht in seine Gewalt bekommen. Du gehörst zu uns. Du bist família, unsere Familie. Du wirst derjenige sein, der seinen Untergang herbeiführt, wenn er weiter versucht, dich zu benutzen.«
Paul brach in Tränen aus und vergrub sein Gesicht schluchzend an der Brust des Karpatianers. Rafael, den Pauls hemmungsloser Tränenausbruch genauso berührte wie Colby, ertappte sich dabei, einen Teenager in den Armen zu halten und zu trösten, und lächelte flüchtig.
»Ich habe gesehen, wie der Vampir dich angegriffen hat. Es war schrecklich. Und seine Zähne waren in meinem Fleisch.« Paul schüttelte es vor Ekel. »Ich habe Albträume davon.«
»Ich mache schon sehr lange Jagd auf Vampire. Ich weiß, dass du ihn für unbesiegbar hältst, doch ich habe im Lauf der Jahre mehr von ihnen getötet, als du dir vorstellen kannst. Das letzte Mal war ich achtlos, weil ich zu viele Gefühle verarbeiten musste, und nicht so wachsam, wie ein Jäger es sein sollte. Der Vampir hat dich mit dem Vorsatz gepackt, dich gegen uns einzusetzen, aber er musste feststellen, dass du wesentlich stärker warst, als er angenommen hatte. Du hättest Colby jederzeit nachmittags töten können, während sie schlief.« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit; Paul hätte es versuchen können, doch Nicolas hatte ihre Zimmertür tagsüber mit unsichtbaren Schutzbarrieren versehen, und die Brüder Chevez hatten Paul nicht aus den Augen gelassen. Aber trotz der Manipulation durch den Vampir hatte Paul keinen derartigen Versuch unternommen. »Dein Charakter hat sich als zu stark für ihn erwiesen. All die Tage und Nächte warst du ruhig und unauffällig, erst jetzt, kurz nachdem ich wieder aufgetaucht bin, hast du den Forderungen des Untoten nachgegeben.«
»Aber ich habe ihr wehgetan.«
»Du musstest ihm gehorchen. Sieh mich an. Paul.« Rafael schob ihn behutsam ein Stück von sich weg, bis der gequälte Blick des Jungen seinem begegnete. »Du weißt, dass ich viel stärker und schneller als du bin, aber du hast trotzdem angegriffen, obwohl ich hier war, um dich aufzuhalten. Der Vampir hat dich nicht bezwungen. Obwohl du noch ein Junge bist, hast du seine Pläne vereitelt.«
Pauls Stolz meldete sich, als er als Junge bezeichnet wurde. »Ich bin sechzehn«, sagte er fast trotzig, während er zurücktrat und sich die Augen trocken rieb.
»Ja, das bist du, und ich weiß sehr gut, dass du die Pflichten eines Erwachsenen auf deinen Schultern trägst. Du bist eindeutig reif genug, um zu begreifen, was auf dem Spiel steht und was wir tun müssen.«
Paul warf einen schnellen, nervösen Blick zu Colby und straffte dann die Schultern. »Wie kann man das aufhalten?«
»Wenn der Vampir nie wieder Zugriff auf dich haben soll, müssen wir ihn töten, Paul«, antwortete Rafael. »In der Zwischenzeit kann ich dir auf dieselbe Weise beistehen, wie Nicolas dir beistand.«
Bis jetzt war Nicolas keine große Hilfe, konnte sich Colby nicht versagen einzuwerfen.
Nicolas hat ihn daran gehindert, offen zu töten. Rafael war freundlich, jedoch unnachgiebig. Ohne sein Eingreifen wäre Paul übel dran.
Er ist übel dran. Ich bin übel dran. Meine Ranch ist übel dran. Seit ihr hier seid, geht bei mir alles den Bach runter. Ist euch der Vampir gefolgt, als ihr... Colby brach ab. Ihre Gedanken überschlugen sich. Die Vorfälle hatten begonnen, lange bevor die Brüder Chevez gekommen waren, um ihre Ansprüche auf Ginny und Paul geltend zu machen. Das konnte sie ihnen nicht anlasten.
»Ich tue alles, was nötig ist«, versprach Paul. »Was es auch ist.«
»Es könnte bedeuten, diesen Ort hier zu verlassen, Paul«, sagte Rafael.
Colby versteifte sich. »Wir gehen nicht von hier weg, Rafael.«
»Wir haben keine Wahl, Colby«, erwiderte er. »Solange der Vampir nicht vernichtet ist, schwebt ihr alle in Gefahr, allen voran Paul. Wir müssen den Jungen aus seiner Reichweite entfernen.«
Colby hatte plötzlich das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Sie wandte ihr Gesicht von Rafael ab und betrachtete die schroffen Gipfel ihrer geliebten Berge. »Du redest davon, Paul nach Brasilien zu schicken, zur Familie Chevez, nicht wahr?«
Ihrer Stimme war absolut nichts anzumerken, aber Rafael spürte den Adrenalinstoß und die Entschlossenheit in ihrem Körper. »In Südamerika wären wir zu fünft, um Paul zu beschützen. Über eine solche Entfernung hinweg könnte ihn der Vampir kaum dirigieren. Er hätte seine Onkel und Cousins und Cousinen, die tagsüber auf ihn aufpassen könnten, und wir alle könnten ihn nach Sonnenuntergang bewachen.«
»Steig ein, Paul«, befahl Colby.
Der Junge zögerte, doch sie warf ihm einen so strengen Blick zu, dass er auf die Ladefläche kletterte, immer noch sehr verunsichert, verwirrt und aufgewühlt.
Rafael ließ den Motor an. »Colby, du kannst nicht vor deinen Gefühlen für mich weglaufen. Vampire sind unvorstellbar grausam. Das ist eine sehr gefährliche Situation.«
»Mir ist durchaus bewusst, dass wir alle in Gefahr schweben«, gab sie steif zurück. Seine schwarzen Augen streiften sie nur ganz kurz, doch es reichte aus, dass ihr ein Schauer über den Rücken lief. Sie hatte Angst vor ihm und vor der Macht, die er über sie hatte. Colby schloss das Heckfenster, um ein wenig Privatsphäre zu schaffen. »Ich weiß nicht, was ich für dich empfinde. Wir haben Sex. Fantastischen Sex, aber trotzdem kenne ich dich eigentlich nicht. Du hast mich bewusst verführt, Rafael. Leugnen hat keinen Sinn. Genauso war es. Ich war einsam und eine leichte Beute.«
»Ich habe nicht die Absicht, das zu leugnen. Warum sollte ich? Aber du hättest nicht so auf mich reagiert, wie du es getan hast, wenn wir nicht füreinander bestimmt wären.«
»Rafael, jede Frau würde sich von dir verführen lassen. Du bist sehr sexy und ein toller Liebhaber. Das hat nichts mit Bestimmung zu tun.«
»Ich würde mich nicht von jeder Frau verführen lassen«, entgegnete er ruhig. »Du gehörst zu mir. Alles andere wird später kommen müssen.«
»Alles andere? Später? Du meinst wohl, wenn ich alles tue, was du sagst?«
»Nein, das musst du jetzt schon.«
Sie spähte verstohlen zu ihm, um zu sehen, ob er einen Scherz machte. Da sie keine Spur von Erheiterung bei ihm entdecken konnte, meinte er es offenbar ernst! »Jetzt hör mal gut zu, Rafael. Lassen wir Vampire und Karpatianer mal beiseite, ja? Ich glaube an Übereinstimmung. Ich spreche offen aus, was ich denke, treffe meine Entscheidungen selbst und gehe meinen eigenen Weg. Ich denke auch gern über alles gründlich nach. Du willst mir meine Entscheidungen abnehmen. Wie kommst du darauf, wir könnten auch nur annähernd übereinstimmen ?«
Wieder glitten seine schwarzen Augen über sie, feurig und besitzergreifend. Er konnte ihr mit einem einzigen glühenden Blick den Atem rauben. Colby musste den Kopf wenden und aus dem Fenster schauen. Ihre Finger schlangen sich nervös ineinander. Er konnte direkt durch sie hindurchschauen und sie in Besitz nehmen. Sobald er sie küsste, schien sie jeden eigenen Willen zu verlieren. Colby presste ihre Finger an ihre pochenden Schläfen.
Vorsichtig rührte sie an sein Bewusstsein und stieß auf Emotionen, die wild und aufgewühlt waren und sie völlig unvorbereitet trafen. Rafael hatte tatsächlich vor, sie um jeden Preis zu bekommen. Er war genauso skrupellos, wie sie vermutet hatte, vielleicht noch skrupelloser. Trotz ihrer Befürchtungen und Zweifel würde er seinen Kopf durchsetzen und alles tun, was er für nötig hielt, um sie zu beschützen. Colby zog sich aus seinem Inneren zurück; sie war verängstigter denn je. Rafael ließ ein Nein nicht gelten, und er war überzeugt, ein Recht auf sie zu haben.
Wie sollte sie ohne ihn überleben? Er lebte und dachte ganz anders als sie. Er war eine Mischung aus animalischen Instinkten, extremem Macho und gefährlichem karpatianischem Jäger. Sie war der Inbegriff einer unabhängigen Frau, aber mittlerweile konnte sie ohne ihn nicht mehr ihrem Urteilsvermögen vertrauen. Sie wünschte sich mehr als alles andere, bei ihm zu sein, doch sie war im Begriff, sich selbst zu verlieren. Sie brauchte es, bei ihm zu sein, aber sie wusste, dass er sie beherrschen würde. Und sie war nicht der Typ Frau, der sich beherrschen ließ. Müde schloss sie die Augen und versuchte, jeden Gedanken auszuschalten, damit Rafael ihr nichts von ihrer Verwirrung anmerkte.
Rafael fielen hundert Argumente und Rechtfertigungen ein, doch nichts davon würde ins Gewicht fallen. Colby fürchtete, was er war und die Macht, die er über sie hatte. Und nachdem sie hatte erleben müssen, wie er beinahe die Beherrschung verloren hätte, hatte sie guten Grund, ihn zu fürchten. Sie glaubte nicht einmal an seine guten Absichten bezüglich ihrer Geschwister, und auch das konnte er ihr nicht zum Vorwurf machen. Er und sein Bruder waren nur hergekommen, um Armando Chevez' Kinder nach Brasilien zu bringen, und diese Absicht war nach wie vor vorhanden. Colby hatte es klar und deutlich in ihm gelesen. Sie versuchte, nicht daran zu denken, weil sie ihre Absichten vor ihm verheimlichen wollte, doch sie hatte vor, den Sheriff anzurufen, sobald sie zu Hause waren, und alles mit ihm zu besprechen. Sie vertraute Ben wie keinem Zweiten.
Rafael spürte, wie etwas Dunkles und Bedrohliches in ihm wach wurde. Das Tier schrie auf, und seine Eckzähne wurden scharf und spitz. Er starrte unverwandt auf die Straße, öffnete mit einer Handbewegung das Tor und ließ es metallisch klirrend wieder zufallen.
Schweigend fuhren sie bis zum Wohnhaus der Ranch. Colby stieg aus und lief zum Eingang. Ihr Bein fühlte sich völlig normal an, und das ärgerte sie beinahe. Sie konnte nicht ignorieren, dass Rafael sie geheilt hatte und beinahe gestorben wäre, um sie und Paul vor dem Vampir zu retten. Und dann war er zu ihr gekommen, um bei der Suche nach Ginny zu helfen, obwohl er furchtbare Schmerzen litt und dem Tode nahe war. War es möglich, dass er ihr Wahrnehmungsvermögen manipulierte, sodass sie glaubte, all diese Dinge wären tatsächlich passiert, obwohl es nicht stimmte? War vielleicht alles eine Täuschung? Während sie allein im Wohnzimmer stand, fuhr sie mit ihren Fingern über das pochende Mal an ihrem Hals. Rafael und Nicolas waren beide Meister der Manipulation. Sie hatte gesehen, wie sie andere unter Druck setzen oder in ihren Bann schlagen konnten. Ihre Augen, ihre Stimmen, alles an ihnen schrie nach Macht.
Ihr Nacken prickelte. Ihre Brüste begannen zu schmerzen, und Hitze sammelte sich an geheimen Orten. Sie wusste, dass Rafael im Zimmer war, und schloss kurz die Augen, bevor sie sich umdrehte. Er lehnte mit einer Hüfte lässig an der Wand und betrachtete sie aus seinen schwarzen Augen.
»Wo ist Paul?« War das ihre Stimme? Ihr Mund war so trocken, dass sie kaum ein Wort über die Lippen brachte. Sie konnte Rafael nicht anschauen, ohne ihn zu begehren. Es musste ein geheimer Zwang sein. Sie hatte nie zu der Sorte Frau gehört, die wegen eines Mannes den Kopf verlor. Colby ließ ihre Hand auf dem Mal liegen, das nie zu verblassen schien.
»Die Brüder Chevez bringen ihn gerade zu den Everetts. Er kann mit Ginny dortbleiben und ein bisschen zur Ruhe kommen. Sean ist ein sehr ruhiger, ausgeglichener Mann und wird ihm guttun, und seine Onkel werden auf ihn aufpassen. Das verschafft Paul eine kurze Atempause. Übrigens, der Tierarzt hat eine Nachricht für dich hinterlassen. Er hat das Pferd zur Untersuchung in seine Klinik mitgenommen. Ich habe mich vergewissert, dass alle Arbeiten erledigt sind.« Er hielt ihr den Zettel des Tierarztes hin.
Colby war misstrauisch und blieb, wo sie war. Es lag an der Art, wie er sie anschaute. Er war so attraktiv, so muskulös und männlich und trotzdem sehr sinnlich, und sein Blick war heiß, hungrig und besitzergreifend, wenn er auf ihr ruhte. Er gab ihr das Gefühl, nur sie zu sehen. Und sie schien allein für ihn zu existieren. Und ganz gleich, was ihr Verstand sagte, ihr Körper reagierte auf diese düstere, intensive Ausstrahlung.
»Ich habe trotzdem noch einiges zu erledigen. Ich muss ein paar Anrufe erledigen und die Rechnungen durchsehen«, sagte sie. Nicht einmal ihre Stimme klang nach ihr. Colby tastete hinter sich nach der Wand und hielt sich so gut wie möglich daran fest.
»Ich gehe nicht.«
»Wenn du es nur auf meinen Körper abgesehen hättest, Rafael, würde ich ihn dir geben. Aber du versuchst, alles von mir zu bekommen, und das will ich nicht.« Sie breitete ihre Hände vor sich aus und starrte auf die dünnen, weißen Narben, die von zu vielen Reparaturen an Zäunen und zu häufigem Hantieren mit Stacheldraht stammten.
»Ich gehe nicht.«
»Ich brauche Freiraum. Wenn du da bist, kann ich nicht mehr denken oder atmen. Ich muss versuchen, dahinterzukommen, in was wir da geraten sind. Tut mir leid, wenn es nicht das ist, was du hören willst, aber ich muss dich bitten, zu gehen.«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Warum klammerst du dich so hartnäckig an den Gedanken, ich würde dich jemals verlassen?«
Sie versuchte, gleichgültig die Schultern zu zucken, und schaffte es mit Müh und Not. Sie wollte nicht, dass er ging, aber bleiben konnte er auch nicht. Er verschlang sie mit Haut und Haaren und nahm ihr ihre Persönlichkeit, bis sie die Frau nicht mehr erkannte, die sie war, eine Frau, die alles für ihn tun, alles für ihn sein würde. »Vielleicht, weil du wie ein Mensch aussiehst und halbwegs vernünftig zu sein scheinst. Ich hätte angenommen, du würdest einfach gehen, wenn eine Frau dich darum bittet.«
»Ich kann dich nicht verlassen, und in Wirklichkeit willst du auch gar nicht, dass ich gehe. Ich kann deinen Geruch wittern, der nach mir ruft. Ich bin wie eine große Dschungelkatze oder ein Wolf. Ich nehme mir, was mir zusteht, und behalte es. Deine Angst spielt da kaum eine Rolle.«
»Kommt dieser Spruch bei den Frauen, mit denen du ausgehst, gut an?«
»Da ich nur mit dir ausgehe, wirst du diese Frage beantworten müssen.« Er richtete sich mit einer einzigen fließenden Bewegung seiner Muskeln unvermittelt auf.
»Nein, bei mir kommt er nicht gut an. Ich will, dass du gehst.« Denn wenn er blieb, wenn er noch länger da stand und sie auf diese Art anschaute, würde sie in Flammen aufgehen. Sie war sich ihrer körperlichen Reaktion auf ihn nur zu bewusst. Aber sie musste sich darüber im Klaren sein, ob sie ihm glaubte und ihm vertraute, bevor sie noch weiter gingen.
Er schüttelte den Kopf. »Du denkst daran, mich loszuwerden. Du hast keine Ahnung, welche Macht ich besitze und was ich alles tun würde, um dich zu behalten.«
»Und du hast keine Ahnung, dass es ein Gesetz gegen Belästigung gibt«, gab sie zurück. »Aber du hast recht, ich habe tatsächlich keine Ahnung von deiner Macht. Woher soll ich wissen, ob das alles wirklich passiert?«
»Du glaubst, alles wäre eine Täuschung?«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Du bist hergekommen, um Paul und Ginny zu holen. Auf einmal sind beide in Gefahr, und meine ganze Welt steht Kopf. Und – Überraschung, Überraschung! – als perfekte Lösung bietet sich an, die beiden nach Brasilien mitzunehmen. Ist doch sehr praktisch, oder? Ich werde das nicht einfach hinnehmen, ohne gründlich darüber nachzudenken. So bin ich nun mal. Damit musst du leben.« Ihre Augen funkelten ihn herausfordernd, fast kriegerisch an. Sie brauchte Ben, sie musste mit ihm sprechen.
»Ich schlage vor, du hörst auf, an diesen Mann zu denken.« Seine Stimme war leise und sehr sanft, fast ein Schnurren, aber trotzdem regte sich tief in ihrem Inneren Angst und breitete sich in ihrem ganzen Körper aus.
»Ben ist mein Freund. Wenn du dich aus meinem Kopf herausgehalten hättest, wüsstest du nicht, dass ich gerade an ihn denke!« Seine Augen fixierten sie, ohne auch nur ein einziges Mal zu blinzeln. Er hypnotisierte sie, wie eine Kobra ihre Beute hypnotisiert. Colby behauptete sich, weil sie keine andere Wahl hatte. Sie würde sich nicht von ihm vereinnahmen lassen.
»Und was, glaubst du, wird passieren, wenn ich weg bin? Du hast in den letzten Tagen ohne mich die Hölle durchgemacht und willst dir diese Tortur noch einmal antun? Hättest du es ohne die Hilfe meines Bruders geschafft?«
Sie zuckte merklich zusammen. »Na schön, Rafael. Nein, ich hätte es nicht geschafft, und das sagt mir etwas sehr Wichtiges. Es ist nicht normal, ein paar Tage nicht zu überstehen, ohne jemanden zu sehen. Oder ihn in seinem Kopf zu spüren. Da steckst du nämlich, in meinem Kopf, und ich kriege dich nicht raus. Das ist nicht richtig.«
»Woher willst du wissen, was richtig ist? Du bestehst darauf, unsere Beziehung rein körperlich zu belassen. Du siehst nicht in mein Bewusstsein, um herauszufinden, wer und was ich bin. Du willst es nicht wissen.«
Sein Ton war milde, doch sie wand sich innerlich angesichts der Art und Weise, wie er sie ansah. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie ganz allein im Haus waren und dass Rafael es so arrangiert hatte. »Du machst unsere Beziehung körperlich, Rafael -durch die Art, wie du mich ansiehst und mich berührst. Du bist ein sehr körperbetonter Mann und lässt ein Nein nicht als Antwort gelten, jedenfalls nicht, wenn du mich willst.«
»Jetzt verstehen wir einander«, sagte er.
»Nein, tun wir nicht!«, brach es aus ihr hervor. Sie lief rastlos hin und her und baute sich dann vor ihm auf. »Du tust so ruhig und gelassen, als wäre alles ganz normal, Rafael. Du hast versucht, mich zu töten. Okay, sagen wir einfach mal, wir lassen beiseite, dass du einem Mann das Herz aus der Brust gerissen und einen Feuerball vom Himmel geholt hast, und beschränken uns nur auf die Tatsache, dass du mich beinahe umgebracht hättest. Ich konnte es in deinen Augen sehen. Und Juan hättest du auch umbringen können.«
Rafael hielt ihrem Blick unbewegt stand. »Das ist wahr.« »Du hast mir gesagt, dass du deiner Gefährtin des Lebens nie etwas antun könntest. Wenn ich das wirklich bin – wie konnte das passieren? Entweder du strafst dich mit deinen eigenen Worten Lügen oder du hast irgendetwas gründlich missverstanden.« Er hatte sie zu Tode erschreckt. Wenn sie daran dachte, wurde ihr jetzt noch kalt vor Angst.
»Damit du verstehst, wie so etwas möglich ist, muss ich dir von mir und meinen Brüdern erzählen. Schon als wir jung waren, noch keine zweihundert Jahre alt, wussten wir, dass wir uns von anderen karpatianischen Männern unterscheiden. Wir hinterfragten jede Regel, stießen an jede Grenze. Wir waren sehr überzeugt von unserer Macht und unserer Stärke, und wenn uns der Prinz Befehle erteilte, befolgten wir sie zwar, aber nicht, ohne sie infrage zu stellen. Zacarias war unser anerkannter Anführer, noch vor unserem Prinzen.«
»Ihr wart also die schlimmen Jungs der Gemeinde.« »Mehr als das. Wir waren wütend über die Einschränkungen, die unserer Art auferlegt sind. Unsere engsten Freunde waren die Malinov-Brüder. Sie trieben es genauso schlimm wie wir, liebten den Kampf und die Herausforderung. Wir führten lange Diskussionen darüber, ob unsere Spezies nicht die Welt beherrschen sollte. Wir wussten, dass wir die Macht dazu hatten, und es kam uns falsch vor, dass unser Prinz unsere Kräfte geheim halten wollte. Je stärker wir wurden, während wir unser Können als Krieger verfeinerten und gegen Vampire kämpften, desto enger wuchsen wir zusammen und desto mehr stellten wir die Autorität unserer Führung infrage. Wir sprachen sogar darüber, die Familie Dubrinsky zu stürzen und die Herrschaft an uns zu reißen.«
Colby, die auf einmal weiche Knie hatte, sank in einen Sessel. Bis jetzt flößte ihr nichts von dem, was er gesagt hatte, Vertrauen zu ihm und einer Beziehung zu ihm ein. »Ihr hattet wirklich vor, euren Fürsten zu stürzen?«
»Es war eher eine Gedankenspielerei, die sich über einen langen Zeitraum hinzog, und keiner von uns dachte ernsthaft daran. In der Nacht, als unser Prinz uns aus unserer Heimat schickte und uns damit die Chance nahm, jemals eine Gefährtin des Lebens zu finden – das glaubten wir damals jedenfalls –, sprachen wir darüber, zu Vampiren zu werden. Wir überlegten, ob wir stark genug wären, um zu verhindern, uns gegenseitig zu bekämpfen, wie es Vampire nun mal machen. Wir redeten davon, uns zu trennen und Gleichgesinnte zu rekrutieren, dabei aber denselben Codenamen zu benutzen. Auf diese Weise hätte es so ausgesehen, als ob ein und dieselbe Person an mehreren Orten gleichzeitig wäre.«
Colby dachte an das grauenhafte Monster, das Paul vor sich gehalten hatte wie einen Schild, das seine Zähne tief in ihren Bruder geschlagen hatte, an die Mutanten, die um den Vampir herumgeschwirrt waren. Sie legte eine Hand auf ihren Magen. »Wann kommt der Teil, wo ich wieder etwas verstehe?«
»Ich versuche dir nur zu erklären, dass wir vom Wesen her dunkler, animalischer und raubtierhafter als viele Karpatianer waren. Nur der Tatsache, dass meine Brüder und ich immer zusammengeblieben sind, ist es zu verdanken, dass wir einen Pakt geschlossen und ihn auch eingehalten haben. Wir diskutierten alles gründlich durch, doch letzten Endes lief es auf eines hinaus: Ehre. Wir wollten nicht ohne Ehre leben. Die Malinov-Brüder sahen es genauso. Doch unsere Entscheidung machte es uns nicht leichter, uns den Regeln zu beugen. Meine Natur entspricht der eines Raubtiers. Du hast dein Leben noch nicht mit meinem verbunden. Du musst diese Bindung eingehen, damit unsere Seelen vollständig miteinander verschmelzen können. Ich brauche dich als Anker.«
Sie sprang auf. »Jetzt gibst du mir die Schuld! Deine Raubtiernatur kann jederzeit wieder zum Vorschein kommen, und nächstes Mal tötest du vielleicht mich oder Paul oder meine Schwester!«
Ein leises, ungeduldiges Zischen entfuhr ihm. »Ich habe dir Dinge erzählt, die ich noch niemandem anvertraut habe, und trotzdem begreifst du nicht, dass ich dir mit diesem Eingeständnis ein Geschenk gemacht habe. Dieses Wissen über den schlimmsten Teil von mir hättest du nie in meinem Inneren gefunden, so tief ist es vergraben. Ich hatte mich zu absoluter Aufrichtigkeit entschlossen. Nicolas hat recht, es gibt keine andere Möglichkeit, als dich zu zwingen.«
Sie befeuchtete mit der Zungenspitze ihre trockenen Lippen. Unter seiner täuschend gelassenen Fassade war er rasend vor Wut, ein wirbelnder Hexenkessel aus Hitze und Feuer. Er verbrannte sie allein mit seinem Blick. Seine Augen waren einen Moment sengend heiß, im nächsten eiskalt. Colby ließ langsam den Atem entweichen. »Was hast du vor?« Zu ihrem Entsetzen brachte sie nur ein Flüstern heraus.
»Zum Glück für dich kommt gerade dein guter Freund, der Sheriff, obwohl du ihn nicht gerufen hast. Du hast noch eine kurze Gnadenfrist.«
Colby fiel ein Stein vom Herzen. Kraftlos ließ sie sich wieder in den Sessel sinken. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass ihre Anspannung so groß war. Colby blinzelte einmal, und schon lehnte Rafael nicht mehr in der Tür, sondern kauerte zu ihren Füßen und starrte sie an. »Sei vorsichtig bei diesem Mann, Colby. Ich bin unglaublich gereizt, und ich brauche dich mehr, als du ahnst. Ich möchte nicht, dass ein Unschuldiger leiden muss, nur weil du mich zu weit treibst.«
Colby verschränkte nervös ihre Finger. So unglaublich es schien, ein Teil von ihr war enttäuscht, und sie war ehrlich genug, sich diese Tatsache einzugestehen. Sie ertrank förmlich vor Verlangen nach Rafael. Ihr Körper sehnte sich genauso nach ihm wie ihr Geist. Zu ihm auf Distanz zu gehen war schwierig und sehr zermürbend. »Tu Ben nichts«, wisperte sie.
Seine Finger schlossen sich mit einem festen Griff um ihr Kinn. »Dann tu du nichts, was mich in Rage bringen könnte. Denk daran, dass ich kein Mensch bin. Wenn du dir das erst einmal bewusst gemacht hast, wirst du leichter akzeptieren können, dass ich nicht nur menschliche Züge habe. Ich wurde zum Jäger geboren und erzogen. Dafür lebe ich. Jeder Instinkt, den ich habe, ist der eines Raubtiers.«
»Okay.« Sie wandte den Blick von ihm ab. »Du bist deiner Sache nicht unbedingt förderlich. Warum versuchst du bewusst, mir Angst zu machen? Ich fürchte mich sowieso schon.«
»Weil du Angst haben solltest. Du stehst nicht einem zivilisierten Mann gegenüber, der eure Gesetze versteht und befolgt. Unsere Gesetze, die auf unserer animalischen Seite beruhen, beherrschen uns. Wenn ich meinem Instinkt nicht gehorche, bringe ich viele andere in Gefahr. Dagegen fällt dein Widerstand kaum ins Gewicht, vor allem, weil ich ohnehin weiß, wie es ausgehen wird.«
»Das weißt du nicht«, unterbrach sie ihn und versuchte, sich aus seinem festen Griff zu befreien. Seine Kraft erstaunte sie immer wieder, aber trotzdem tat er ihr nie weh, nicht einmal, wenn er grob war. Seine Berührung ließ Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzen.
»Ich weiß es. Das Einzige, was daran etwas ändern könnte, wäre mein Tod.«
Bei seinen Worten stockte ihr der Atem, und ein dunkles Grauen bemächtigte sich ihrer. Hastig blinzelte sie ihre Tränen weg, wütend, dass allein der Gedanke an seinen Tod sie zum Weinen brachte.
Das Klopfen an der Küchentür war laut, aber kurz. Ben rief nach ihr. »Colby? Bist du da? Doc hat mir erzählt, dass du eine schlimme Wunde am Bein hast, und der Tierarzt sagt, dein Pferd hätte Drogen gespritzt bekommen.« Er kam ins Haus geschlendert.
Rafaels Miene verdüsterte sich angesichts des unbefangenen Auftretens des anderen Mannes. Widerwillig ließ er zu, dass Colby ihr Kinn aus seiner Hand zog, und stand auf, einer Raubkatze ähnlicher denn je.
»Ich bin im Wohnzimmer, Ben«, antwortete Colby, ohne den Blick von Rafael zu wenden. Sie konnte nicht wegschauen, auch wenn sie es versuchte. Seine Persönlichkeit war zu übermächtig; sie erfüllte den ganzen Raum, atmete alle Luft und nahm sämtlichen Platz ein.
»Wie schlimm ist es diesmal, Süße?«, erkundigte sich Ben, als er hereinkam. Er stutzte, als er Rafael mit verschränkten Armen am Schreibtisch lehnen sah, und die Spannung im Raum stieg sofort um einige Grad an.
Colby rieb sich das Gesicht. »Mir geht's gut, Ben. Lieb, dass du dir meinetwegen Sorgen gemacht hast. Paul und Ginny sind im Moment bei den Everetts, und ich ruhe mich bloß ein bisschen aus.« Warum sagte sie nichts? Sie könnte Rafael wegen Belästigung anzeigen. Colby presste ihre Finger an ihre hämmernden Schläfen und schüttelte den Kopf über ihre eigene Dummheit. Sie hatte nicht die Kraft, die erforderlich wäre, um Rafael aus ihrem Leben zu drängen. Für ihre Geschwister würde sie es vielleicht schaffen, aber nicht für sich selbst. Sie fing langsam an, sich zu verachten.
Querida. Seine Stimme war leise, eindringlich und sehr intim. Du fängst an, die Dinge zu verstehen und zu akzeptieren. Für andere nimmst du es mit so vielen Problemen furchtlos auf, aber für dich selbst kannst du nichts annehmen.
Wenn er wie jetzt telepathisch mit ihr kommunizierte und diese Stimme in ihrem Inneren erklingen ließ, wollte sie am liebsten alles andere vergessen, sich in ihm verlieren und all das sein, was er wünschte und brauchte.
»Hier bei uns gibt's Ärger, Colby. Ich hätte auf dich hören sollen, als du mir von Petes Verschwinden und all den merkwürdigen Vorfällen bei euch auf der Ranch erzählt hast.« Ben nahm seinen Hut ab und setzte sich in ihren einzigen guten Schaukelstuhl. »Drei Leute sind in der Stadt als vermisst gemeldet worden und zwei weitere in der Umgebung.«
Colby spähte verstohlen zu Rafael. Die Neuigkeit schien ihn nicht zu überraschen.
Vampire brauchen Nahrung, und wenn sie ihr Opfer ausgesaugt haben, töten sie es.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Er wirkte so gelassen und unbewegt. Als wären seinerseits keine Gefühle im Spiel.
Ich habe jahrhundertelang keine Gefühle gehabt. Ich fühle nichts, wenn ich Vampire jage, sonst könnte ich nicht immer wieder jene töten, die einmal meine Freunde waren.
»Gibt es Hinweise, dass es sich um Verbrechen handelt?«, fragte Colby, ohne Rafael aus den Augen zu lassen. Empfand er nicht einmal etwas für die Opfer und ihre Familien? Ihm war nichts Derartiges anzusehen. Was hast du gefühlt, als du diesem armen, unglücklichen Mann das Herz aus der Brust gerissen hast? Es hätte Pauls Herz sein können. Er könnte ihren Bruder gejagt haben. Der Vampir hatte Paul gebissen und versuchte, ihn wie eine Marionette zu benutzen.
Gar nichts. Er würde sie nicht belügen. Sie bestand darauf, sich selbst Angst einzujagen und alles noch viel schwieriger zu machen, als es bereits war.
Wärst du auch so ungerührt gewesen, wenn es sich um Paul gehandelt hätte ?
Es war nicht Paul.
»Sag mal, Colby, hörst du eigentlich auch nur ein Wort von dem, was ich sage?«, wollte Ben wissen.
»Tut mir leid, das ist einfach schrecklich. Hier bei uns sind doch noch nie Leute einfach verschwinden oder ermordet worden.«
»Ich habe mit Tony Harris gesprochen.« Bens harter Blick heftete sich auf Rafael.
Colby musste zugeben, dass Rafael kein bisschen reumütig oder beeindruckt aussah. »Ich habe keine Ahnung, was in Tony gefahren ist. Er war viel schlimmer als sonst.«
»Zum Glück für Mr. De La Cruz hat er zugegeben, dass er bei dir handgreiflich geworden ist«, sagte Ben. »Ich hätte ihm am liebsten selbst eine anständige Abreibung verpasst.«
»Tony hat es zugegeben?« Colby war fassungslos. Misstrauisch schaute sie zu Rafael. Hatte er den Mann dahingehend manipuliert, die Wahrheit zu sagen? Rafaels dunkle Züge verrieten nichts.
Ben nickte. »Ich hatte mit ihm ein langes Gespräch über alles, was hier vorgeht, und hatte den Verdacht, dass sein Boss es auf eure Ranch abgesehen hat und er hinter einigen der Vorfälle bei euch steckt.«
»Daran habe ich auch schon gedacht, Ben«, gestand Colby, »aber so mies Tony auch sein mag, er ist einer von uns. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er meinen Geschwistern und mir so etwas antut. Ich kenne ihn schon mein ganzes Leben.«
»Und du hast stets auf ihn herabgeblickt.«
Colby breitete ihre Hände vor sich aus. »Ja, vielleicht. Er war schon früher so ein Blödmann. Ich hasse es, wie er mit mir spricht.«
»Er hat bereits seit Jahren eine Schwäche für dich, Colby«, sagte Ben.
Sie warf einen Blick auf Rafael, obwohl sie es gar nicht wollte. Sie konnte einfach nicht anders, denn sie fühlte seinen Blick feurig und besitzergreifend auf ihrem Körper. Hör auf, mich so anzuschauen! Die Worte kamen wie von selbst, bevor sie es verhindern konnte. Er weckte ihr Verlangen, ohne sie auch nur anzufassen, und obwohl er einfach nur dastand und kühl, fast schon gelangweilt aussah. Ich hasse das! Ich hasse, was du mit mir machst.
»Das kann ich mir nicht vorstellen, Ben. Er war immer gemein zu mir. Gemein und bissig. Er nennt mich seit ewigen Zeiten die ›Eisprinzessin‹.«
»Jeder weiß, dass er was für dich übrig hat. Und er ist gemein und bissig. Ich will nicht behaupten, dass Tony Harris ein guter Kerl ist – er ist gemeiner als eine Viper –, doch er scheint sich einzubilden, dass du mit ihm Zusammensein solltest, und er ist stinksauer, weil es nicht so ist. Es ging noch, solange er keinen Rivalen hatte, aber jeder weiß nun, dass du mit De La Cruz« – Ben zeigte mit dem Daumen auf Rafael – »herumziehst, und jetzt fühlt er sich vor den Kopf gestoßen.«
»Das gibt ihm noch lange nicht das Recht, mich zu begrapschen.«
»Nein, natürlich nicht, und ich hätte ihn eingesperrt, wenn du Anzeige erstattet hättest. Und wenn ich dabei gewesen wäre, hätte ich ihn ebenfalls vermöbelt.« Er sah Rafael an. »Sie haben sich einen Feind fürs Leben gemacht. Tony hält sich nicht immer unbedingt an die Gesetze.«
Rafael zuckte gleichgültig die Schultern. »Hat er etwas mit den Vorfällen auf Colbys Ranch zu tun?«
»Ich denke schon«, erwiderte Ben. »Er ist dem Thema ausgewichen, doch er hat es auch nicht ausdrücklich geleugnet. Ich glaube, sein schleimiger Boss versucht, billig an Colbys Land zu kommen, und Tony hat ein bisschen nachgeholfen. ›Colby wäre nicht so hochnäsig, wenn ihr klar wäre, dass sie einen Mann braucht, der ihr hilft.‹ Das hat er im Verlauf unseres Gesprächs gleich zwei Mal gesagt. Ich glaube, auf seine verdrehte Art hat Tony geglaubt, er könnte Colby dazu bringen, ihn um Hilfe zu bitten.«
»Ausgerechnet!« Colby hätte beinahe geschnaubt. »Diese Ratte würde ich nie um Hilfe bitten. Du hättest ihn sehen sollen, als er dachte, dass ich allein draußen bei den Minen wäre. Er und dieser... « Sie brach ab und biss sich fest auf die Lippe. Sie wollte nicht über Ernie Carter reden oder an Rafael denken, wie er, über und über mit Wunden bedeckt, seine Faust in die Brust des Mannes gestoßen hatte. Ihr wurde übel, und sie schloss die Augen.
Ben zuckte die Schultern. »Tony hatte die Gelegenheit und auf seine Art auch ein Motiv.«
Sie richtete sich kerzengerade auf. »Du verdächtigst ihn doch nicht, Pete getötet zu haben, oder?« Tony war einiges, aber ein Mörder ganz sicher nicht. Sie wollte gar nicht erst versuchen, Ben zu erzählen, dass sich Vampire und ihre Handlanger in seinem Bezirk herumtrieben. Er würde sie in eine Gummizelle sperren. Doch sie konnte nicht zulassen, dass Tony unter Mordverdacht festgenommen wurde.
»Tony ist nicht clever genug, um einen Mord zu begehen und damit durchzukommen. Er trinkt zu viel, und er redet, wenn er getrunken hat. Niemand würde ihm helfen, einen Mord zu decken.«
Colby ließ langsam ihren Atem entweichen. »Wenn dieser Widerling Clinton Daniels hinter all den Vorfällen auf meiner Ranch steckt, wie sollen wir ihn dann überführen ? Sicher lässt er Tony oder einen anderen seiner Männer die Drecksarbeit erledigen – er selbst würde sich nie die Hände schmutzig machen.«
»Woran du jetzt auch denken magst, Colby«, warnte Ben sie, »vergiss es.«
»Irgendjemand muss ihn schließlich aufhalten ! Und es macht mich nicht glücklich, Tony ins Gefängnis wandern zu sehen, wenn Daniels der wahre Schuldige ist.«
Rafael, den es ärgerte, dass Ben Colbys Gedanken so leicht erriet, entdeckte in ihrem Bewusstsein, was sie plante. Sie überlegte, ob sie Daniels gelegentlich auf einen Drink treffen und ein bisschen mit ihm flirten könnte, um sich Informationen zu verschaffen und auf Band aufzunehmen. Würde sie es über sich bringen, ihn zu küssen? Sie war sich nicht sicher, ob sie so weit gehen könnte.
Lieber nicht. Ich müsste den Mann töten. Rafael klang sehr sachlich. Und danach müsstest du mit meinem Zorn fertig werden.
Erspare mir dein Macho-Theater! Die Sache ist ernst. Clinton Daniels ist eine Schlange. Ich kämpfe seit Monaten um unsere Ranch.
»Halt dich von Daniels fern, Colby«, bat Ben. »Ich kann mich zusätzlich zu Toten und Vermissten nicht noch mit deinem Mumpitz belasten.«
Colby grinste ihn an. Ben hatte seinen strengsten Ton angeschlagen. »Ben, Liebling, kein Mensch sagt mehr ›Mumpitz‹.«
Sofort spürte sie die Dunkelheit und hörte das Brüllen eines wilden Tieres. Rafael wandte das Gesicht ab und starrte aus dem Fenster. Er stand mit dem Rücken zu ihnen, aber Colby wusste, dass seine Eckzähne lang und messerscharf wurden. Rafael kämpfte gegen einen dunklen Impuls an, der ihm schwer zuzusetzen schien.
Was ist? Gereizt fuhr sie sich mit einer Hand durchs Haar.
Du nennst diesen Mann ›Liebling‹, wenn du die Möglichkeit, mich zu lieben, nicht einmal in Betracht ziehen willst. Was erwartest du von mir?
Es war fast ein Knurren. Ihr Herz hämmerte hart gegen ihre Brust. Du bist eifersüchtig auf Ben ? Spinnst du ? Ben hält mich für total irre. Er liebt mich wie eine Schwester oder so was in der Art. Und ich liebe ihn auf dieselbe Art.
Sprich nicht davon, dass du einen anderen liebst, wenn du es ablehnst, mich zu lieben.
Rafael, Ben versucht nicht, die geistige Kontrolle über mich zu bekommen und mich zu beherrschen, als wäre ich ein hirnloses Sexspielzeug. Vielleicht könntest du das eine oder andere von ihm lernen.
Ben versucht es nicht, weil du nicht ihm gehörst.
»O Gott!« Colby sprang erzürnt auf. »Männer sind solche Idioten! Ich halte das nicht mehr aus, wirklich! Ben, geh jetzt, bitte, und nimm Rafael gleich mit.«
Der Sheriff sah völlig verdattert aus. »Du bist ja wohl mal wieder total daneben, Colby.«
»Bin ich nicht! Männer sind daneben. Ich brauche jetzt dringend Ruhe. Ich bin durcheinander, und ehrlich gesagt, wenn ihr zwei nicht sofort aus meinem Haus verschwindet, hetze ich den Hund auf euch.« Sie stemmte die Hände in die Hüften und starrte Rafael böse an.
Er richtete sich langsam auf. Es war eine träge Bewegung, die katzenhaft und sehr sinnlich wirkte. Oder raubtierhaft und sehr sinnlich. Colby wusste es selbst nicht. Was es auch war, sie konnte kaum noch atmen, als er sie mit Blicken verschlang.
Mit Blicken auszog und für sich beanspruchte. Er kam einen Schritt auf sie zu und blieb plötzlich abrupt stehen. Die unterschwellige Leidenschaft in seinen Augen verblasste und wich eiskalter Berechnung. Sie spürte sofort die Dunkelheit, die am Himmel aufzog und sich über ihr Land legte.
Was ist los? Aber sie wusste es bereits. Der Vampir war da draußen und beobachtete sie; vielleicht war er wieder hinter Paul her. Der Untote war aus seinem Versteck gekommen.
Er weiß, dass ich noch nicht ganz bei Kräften bin, und will mich zum Kampf herausfordern. Ein Vampir nimmt jeden Vorteil wahr.
»Dann geh nicht. Bleib hier bei mir.« Colby lief zu ihm und packte ihn am Arm. »Warte, bis es dir besser geht.« Es war pervers und eine völlige Kehrtwendung, doch ihre Emotionen gerieten bei der Vorstellung, dass Rafael in Gefahr sein könnte, völlig außer Kontrolle. Sie konnte nicht anders, sie musste sich an ihn klammern, obwohl sie ihn gerade eben noch sonst wohin gewünscht hatte.
Ben warf gereizt die Arme hoch. »Vor zwei Minuten wolltest du uns noch rausschmeißen und den Hund auf uns hetzen, und jetzt sollen wir bleiben. Reiß dich zusammen, Colby.«
Rafael beugte sich zu ihr vor und nahm ihr Gesicht in seine Hände. »Du weißt, dass ich gehen muss, meu amor. Paul ist in viel zu großer Gefahr.«
»Dann ruf Nicolas!«
Er legte seine Stirn an ihre und ließ Ben, den Vampir und alles und jeden in den Hintergrund treten, bis es nur noch sie beide gab: Colby und Rafael. »Das geht nicht, und das weißt du auch. Er ist zu müde, zu nahe am Abgrund. Und er kämpft ständig gegen die Dunkelheit an.«
»Er wird noch mehr kämpfen müssen, wenn dir etwas zustößt«, flüsterte sie. »Geh nicht allein, Rafael. Genau das will der Vampir doch.«
»Wissen Sie etwas über das Verschwinden dieser Leute, De La Cruz?«, fragte Ben. »Wenn Sie jemanden treffen wollen, der gefährlich ist, komme ich mit Ihnen.«
Rafael wandte leicht den Kopf, sah aber immer noch Colby an. »Danke für Ihre Besorgnis, doch mit diesem Problem muss ich allein fertig werden. Vielleicht könnten Sie zur Eve-rett-Ranch fahren und Colby mitnehmen. Sagen Sie Juan und Julio, sie sollen auf den Jungen aufpassen.«
Er küsste Colby und nahm ihren Mund in Besitz, wie er es immer tat, ohne zärtliche Worte und ohne leichtes Vorspiel, sondern heiß und fordernd. Colby schlang ihre Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn. Bens Anwesenheit hatte sie völlig vergessen.
Rafael ließ sie los, drehte sich um und ging. Colby lief zum Fenster, um ihm nachzuschauen. Er löste sich einfach auf, war nicht länger zu sehen, doch sie erhaschte einen kurzen Blick auf einen Haubenadler, der sich in die Lüfte schraubte.
»Ich hoffe, dass du verdammt noch mal weißt, was du tust, Colby«, blaffte Ben sie an.
»Das hoffe ich auch«, antwortete sie geistesabwesend.
»Komm, ich bringe dich zu den Everetts.«
»Ich kann nicht dorthin, Ben, aber schaust du bitte nach, ob mit Paul und Ginny alles in Ordnung ist?«
»Bist du sicher?« Er stülpte sich seinen Hut auf den Kopf.
»Ganz sicher.« Sie wandte sich nicht um, sondern schaute aus dem Fenster, bis der riesige Vogel hinter den Laubkronen der Bäume verschwunden war. Ihr sank der Mut. »Ich habe eine Menge zu tun.«
»Pass auf dich auf, Colby, und sei vorsichtig mit deinem Bein.«
Die Verletzung hatte sie fast vergessen. Rafael hatte die Wunde vollständig geheilt. Lange nachdem Ben weggefahren war, starrte Colby immer noch aus dem Fenster und kämpfte mit den Tränen. Schließlich langte sie in ihre Tasche und zog den zerknitterten Zettel mit Natalyas Handy-Nummer heraus.