Epilog
Rafael! Colby!«, rief Ginny und ruderte wild mit den Armen. »Kommt her und schaut euch das an!«
Rafael legte einen Arm um Colby und zog sie eng an sich, während sie durch die Reitbahn zu Ginny gingen. Sie saß rittlings auf einer dunklen Stute und strahlte vor Freude über ihre jüngste Errungenschaft. »Endlich kann ich so springen, wie Julio es mir gezeigt hat. Schaut her!« Ginny hatte mehrere Wochen gebraucht, sich an einen englischen Sattel zu gewöhnen, aber sie hatte unermüdlich geübt, bis sie es beherrschte und ihre Onkel erklärt hatten, sie sei jetzt bereit zum Springen.
»Wie sie strahlt«, sagte Colby leise zu Rafael. »Schau dir bloß an, wie sie hier im Kreise der Familie aufgeblüht ist.«
»Und jetzt verbringt sie mehr Zeit mit dir als früher«, sagte Paul, der zu ihnen trat. »Früher hast du so viel gearbeitet, dass wir kaum Gelegenheit hatten, richtig mit dir zu reden, doch nun haben wir dich jeden Morgen und praktisch sofort, wenn wir aus der Schule kommen.«
»Du scheinst dich gut mit Juan und Julio zu vertragen«, stellte Colby fest. »Ihr verbringt viel Zeit miteinander.« Die beiden erinnerten sie so sehr an Armando, dass es ihr manchmal wehtat, sie anzuschauen. Sie schaute ihren Bruder an, der seinem Vater und seinen Onkeln so ähnlich war. Seit seinem Erlebnis mit dem Vampir wirkte er älter und ernster.
»Ich kann viel von ihnen lernen«, gestand Paul. Er winkte Ginny zu, als Pferd und Reiterin im leichten Galopp um die Bahn ritten. »Sie wissen viel über Pferde, und sie erzählen uns Geschichten über Dad, als er noch jung war.«
»Gibt es etwas Neues von Sean? Läuft alles gut auf der Ranch?«, erkundigte Colby sich.
Paul nickte. »Er hat gestern Abend angerufen. Zwei Ehepaare bewirtschaften die Ranch. Ben geht es gut. Anscheinend hatte er ein langes Gespräch mit Tony Harris, und Tony hat zugegeben, für die meisten Vorfälle auf der Ranch verantwortlich zu sein, doch er bestreitet, das Feuer gelegt zu haben.«
»Clinton Daniels Angestellter, dieser Ernie Carter, war der Handlanger des Vampirs«, sagte Rafael. »Er hat das Feuer gelegt.«
Paul schaute Rafael an und wandte dann hastig den Blick ab. »Ja, wahrscheinlich.«
Colby fühlte die Scham, die ihren Bruder erfüllte. Sie runzelte die Stirn und legte tröstend eine Hand auf seinen Arm, aber Rafael sprach, bevor sie das Wort ergreifen konnte.
»Ich hatte keine Gelegenheit, dir dafür zu danken, dass du deiner Schwester das Leben gerettet hast«, erklärte Rafael ruhig. »Der Vampir hätte sie getötet, wenn du nicht so standhaft gewesen wärst.«
Paul zog scharf den Atem ein und wandte das Gesicht ab. Colby sah ihm seinen inneren Kampf an. »Ich habe furchtbare Sachen gemacht. Nicolas hat mir angeboten, meine Erinnerungen zu löschen, doch das will ich nicht. Er hat mich gewarnt, dass ich mich dann manchmal so fühlen würde wie jetzt, aber nicht wissen würde, warum.« Er ließ den Kopf hängen. »Mir ist es lieber, wenn ich weiß, dass es dafür gute Gründe gibt.«
»Es ist nichts passiert, wofür du dich schämen müsstest, Paul«, entgegnete Rafael. »Du bist ein ganz normaler Mensch ohne übernatürliche Fähigkeiten und hast trotzdem gegen ein Monster gekämpft, das so stark war, dass nicht einmal unsere mächtigsten Jäger es allein hätten besiegen können. Auch mit der Hilfe eines zweiten Jägers wäre ich im Kampf gegen den Vampir fast gestorben. Aber du, Paul, bist stark geblieben. Du hast ihn aufgehalten, seine Pläne mehr als einmal vereitelt und uns letzten Endes davor gewarnt, dass er es auf deine Schwester abgesehen hatte. Du solltest stolz auf dich sein.«
Paul nickte, schluckte jedoch schwer und machte immer noch ein unglückliches Gesicht. Er drehte sich um und schaute Colby direkt an. »Ginny hat gesehen, wie ich mir das Handgelenk aufgeschlitzt habe. Ich habe versucht, sie aus dem Zimmer zu schicken. Ich konnte einfach nicht dagegen an. Den Ausdruck auf ihrem Gesicht vergesse ich nie.« Er schaute zu seiner kleinen Schwester, die immer noch übte.
Colby räusperte sich, um den Kloß zu vertreiben, der ihr in der Kehle steckte. »Ginny ist kein Kleinkind mehr, Paulo. Und Nicolas hat ihr diese Erinnerung genommen. Du hast dein Bestes gegeben, und mehr kann niemand von dir verlangen.«
»Mir hat der Vampir das Herz aus der Brust gerissen«, gestand Rafael. »Du wusstest es, konntest es fühlen, aber was du nicht wusstest, war, dass ich Colby bereits an mich gebunden hatte. Wenn ich gestorben wäre, wäre sie mir irgendwann gefolgt. Also, wenn sich hier jemand schämen muss, dann bin ich es, nicht du. Wir könnten nicht stolzer auf dich sein.«
»Hat mir Nicolas deshalb erlaubt, etwas über das Volk der Karpatianer zu erfahren?«
Rafael nickte. »Und wir hoffen, dass auch Ginny eines Tages versteht, was ihre Schwester ist. Und dass ihr beide immer in unserer Nähe bleibt, hier in diesem Land und bei eurer Familie.«
Ein schwaches Grinsen erhellte Pauls Gesicht. »Habt ihr vor, mich mit einer Nichte oder einem Neffen zu beglücken, damit es sich auch lohnt?«
Colby gab ihm einen Klaps. »Sehr witzig. Ich bin immer noch dabei, mich an all das zu gewöhnen.«
»Ginny wünscht sich eine Hochzeit in Weiß und mit allem Drum und Dran«, verkündete Paul.
Nicolas trat zu ihnen. »Alle Frauen scheinen sich diese Zeremonie zu wünschen. Warum bloß? Juliette, Riordans Gefährtin, hat das Thema schon ein paar Mal zur Sprache gebracht, aber mir kommt es völlig sinnlos vor.«
Paul grinste. »Das glaube ich gern, Nicolas.« Dass er so unbefangen mit Nicolas scherzte, überraschte Colby, und noch mehr erstaunte es sie, als sie sah, wie Nicolas ihren Bruder in den Arm boxte. Paul grinste bloß und bemerkte von oben herab: »Frauen machen sich gern zurecht.«
»Ich nicht«, behauptete Colby entschieden. »Niemand wird mich dazu bringen, Rafael vor Gott und der Welt Gehorsam zu geloben.«
Rafael zog eine Augenbraue hoch. »Zu dieser Hochzeitszeremonie gehört das Versprechen, seinem Mann zu gehorchen? Paul, wir müssen uns unterhalten.«
»Das wird nie passieren«, erklärte Colby.
»Paul!« Juan winkte den Jungen zu sich.
Paul lief sofort zu seinem Onkel und hörte ihm aufmerksam zu.
Colby konnte kaum ihre Augen von ihren Geschwistern lassen. »Hat einer von euch etwas von Vikirnoff gehört? Wo ist er? Wohin wollte er? Ich konnte mich nicht einmal bei ihm bedanken, nachdem er so viel für Rafael getan hatte.«
»Er sucht die Frau, Natalya Shonsky«, antwortete Nicolas. »Ich glaube, er ist unterwegs in die Karpaten.«
»Habt ihr schon mal daran gedacht, dorthinzufahren?«, fragte sie neugierig.
»Irgendwann werden wir es tun«, sagte Rafael. »Aber jetzt ist das hier unsere Heimat.«
Colby kuschte dem Klang von Pauls Lachen, der mit seinem Onkel herumblödelte. All das war in ihrem früheren Leben zu kurz gekommen. Sie beobachtete, wie Juan liebevoll einen Arm um Pauls Schultern legte. Julio applaudierte Ginny und feuerte sie an. Beide Kinder wirkten viel gelöster, als Colby sie je gesehen hatte. Als sie sich wieder zu Rafael umwandte, stellte sie fest, dass er sie forschend aus seinen faszinierenden dunklen Augen ansah.
»Ist alles gut?«, fragte er.
»Sehr gut«, antwortete sie.