Kapitel 14

Wir haben zu tun!«, rief Paul und schlug mit der flachen Hand an Colbys Schlafzimmertür. »Wie lange willst du noch im Bett liegen? Der Tag ist schon halb vorbei! Julio hat Ginny zu den Everetts gebracht, und Juan ist dabei, das Heu einzufahren. Komm jetzt endlich raus!«

Colby schlug die Bettdecke zurück und schirmte ihre Augen mit den Händen ab. Sie schien von Tag zu Tag empfindlicher auf das Sonnenlicht zu reagieren. Hastig duschte sie sich mit kaltem Wasser ab, um die schreckliche Mattigkeit zu vertreiben, die ihre Glieder befallen hatte. Drei Nächte waren vergangen, seit Rafael in die Erde gebettet worden war, um dort Heilung zu finden, drei Tage und Nächte reiner Hölle. Colby versuchte, tagsüber zu schlafen, von zehn Uhr morgens bis ungefähr vier Uhr nachmittags. Der Schlaf hätte ihr Erleichterung bringen müssen, aber sie wurde von endlosen Albträumen gequält. Sie war sogar zu der Stelle gegangen, wo Juan und sie Rafael begraben hatten, doch er war nicht mehr da. Sein Bruder hatte ihn an einen anderen Ort gebracht.

Immer wieder träumte Colby davon, wie Nicolas das Vampirblut aus Pauls Körper sog. Es waren beklemmende Angstträume, die sie zitternd aus dem Schlaf schrecken ließen. In dem Moment, in dem sie die Augen schloss, sah sie das Blut vor sich, das aus Pauls Poren drang, und Parasiten in seinem Blutkreislauf, die sich wie Würmer durch seinen Körper wanden. Wenn sie nicht von Paul träumte, träumte sie von Ginny, wie sie mit weit offenen, vorwurfsvollen Augen in einem flachen Grab lag. Manchmal sah sie in diesen Träumen auch Rafael, der sie anlächelte und ihr gleichzeitig mit seinen Zähnen die Kehle aufriss. Die meiste Zeit lag sie tagsüber einfach nur im Bett, wartete darauf, dass die Lethargie verging, und versuchte, nicht an Rafael und daran zu denken, wie furchtbar seine Verletzungen waren. Sie betete um ungestörten Schlaf, aber ihr Verstand beschäftigte sich unausgesetzt mit der Frage, wie sie ihre Geschwister beschützen könnte.

Oft wachte sie weinend auf, mit einem lähmenden Schmerz in der Brust und benommen vor Kummer. Sie hatte es bis obenhin satt, ständig zu leiden und Angst zu haben. Und sie hasste es, wie die anderen sie die ganze Zeit beobachteten, als könnte sie sich jeden Moment etwas antun.

»Komm schon, Colby, du musst wach werden ! Du hast mir gesagt, dass ich dich auf jeden Fall aus dem Bett holen muss, also mach schon!« Die Küchentür fiel krachend ins Schloss, und Colby zuckte zusammen. Da Ginny zu Besuch bei ihrer neuen Freundin auf der Everett-Ranch war, türmte sich Pauls Geschirr vom Frühstück und vom Mittagessen im Spülbecken. Allein der Anblick der Essensreste bereitete Colby Übelkeit, als sie sich mühsam durch die Küche schleppte. Ihr Körper lehnte es strikt ab, zu dieser Tageszeit zu arbeiten, ganz gleich, wie sehr sie sich bemühte, wieder normal zu funktionieren.

Colby konnte die Trennung von Rafael kaum ertragen. Die Hälfte der Zeit glaubte sie, den Verstand zu verlieren. Nicolas half ihr durch die langen Nächte, und die Brüder Chevez standen ihr tagsüber bei. Sie war überzeugt, dass Nicolas in ihren wachen Stunden ständig in ihrem Bewusstsein war und sie überwachte, und wenn sie zu lange darüber nachdachte, empfand sie es als Eingriff in ihre Privatsphäre. Alles in ihrem Inneren schrie nach Rafael und verzehrte sich nach ihm, und die Tatsache, dass jemand anders wusste, wie besessen sie von ihm war, war demütigend. Sie war schrecklich unglücklich und hielt kaum noch durch.

Rafael hatte für einiges Rechenschaft abzulegen. Wie zum Teufel stellte er sich vor, dass sie sich um die Ranch und zwei Kinder kümmern sollte, wenn sie so aus den Fugen war? Sie sehnte sich zwar verzweifelt nach ihm, gleichzeitig graute ihr jedoch vor dem Augenblick, wenn sie ihm gegenübertreten und sagen musste, dass es vorbei war. Es musste vorbei sein. Sie konnte nicht in seiner Welt leben. Er war viel zu gefährlich und gewalttätig.

Sie stolperte über den Hof zur Pferdekoppel, wo Paul die Zügel eines tückisch wirkenden Braunen hielt. Sie war jetzt so lichtempfindlich, dass sie sogar abends eine Sonnenbrille tragen musste, um ihre Augen zu schützen. Es erforderte Mut, ins Tageslicht hinauszugehen, und sie fragte sich, wie Rafael es geschafft hatte, bei ihr zu bleiben, als der Stall abgebrannt war, oder schlimmer noch, als Ginny verschwunden war. Er musste furchtbare Qualen gelitten haben. Sie war nur zum Teil in seiner Welt, doch es fühlte sich an, als würden ihre Augen von unzähligen Nadelstichen getroffen.

Sie beobachtete, wie das Pferd nervös hin und her tänzelte. Seine Augen waren blutunterlaufen und misstrauisch. Paul hatte das Tier bereits gesattelt. Colby war immer dafür, das schwierigste Pferd zuerst dranzunehmen, und anscheinend hielt sich Paul getreulich an ihre Philosophie.

»Hast du ihn?« Colby betrachtete das Tier, das den Kopf zurückwarf und sie bösartig fixierte. Sie versuchte, es mit geflüsterten Worten zu beschwichtigen, doch ihre normalerweise beruhigende Art zeigte bei ihm keine Wirkung.

»Ja, ich habe ihn«, versicherte Paul.

Colby holte tief Luft und schwang sich in den Sattel. In dem Moment, in dem ihr Körper das Leder nur berührte, explodierte das Pferd. Wütend warf es den Kopf zurück und bäumte sich mit einem lauten Wiehern auf, bevor es auf die Hinterbeine stieg. Es ließ die Vorderbeine donnernd auf den Boden krachen und wirbelte wie verrückt im Kreis herum. Colby, die noch nicht fest im Sattel saß, hatte keine Chance, sich zu halten. Wie ein Geschoss flog sie durch die Luft, krachte mit ihrem schlanken Körper in den Pfosten, rutschte ab und landete mit dem Gesicht nach unten auf der Erde.

»Pass auf, Colby!« Pauls gellender Schrei bewirkte, dass sie instinktiv zum Zaun herumrollte und beide Arme hob, um ihren Kopf zu schützen. Der Boden bebte unter den donnernden Hufen, als sich das Pferd erneut aufbäumte und mehrmals nach Colby ausschlug. Ein geschwungener Huf erwischte sie am rechten Oberschenkel, noch während sie sich unter dem Zaun hindurchschob.

Sofort war das Echo von zwei Schreien in ihrem Kopf zu hören. Rafael. Seine Stimme wirkte wie lindernder Balsam und war jeden Preis wert. Er war am Leben. Und Nicolas war zu hören, der sie wieder einmal ausschalt.

Ihr Bein war völlig taub. Sie lag ganz still da und starrte in den dunstigen Himmel, während sie versuchte, ihren rasenden Puls und ihre schnellen Atemzüge in den Griff zu bekommen. Obwohl es spät am Nachmittag war, konnte sie die letzten Sonnenstrahlen brennend auf ihrer Haut spüren, und ihr Körper war immer noch bleischwer und müde. Sie hätte noch eine Stunde oder länger warten sollen, ehe sie versuchte, sich an die Arbeit zu machen.

»O Gott, Colby!« Tränen standen in Pauls Augen, als er sich neben sie warf. »Du blutest schrecklich – sag mir, wie ich dir helfen soll. Ich weiß nicht, was zu tun ist.«

Colby richtete sich auf und stützte sich vorsichtig auf ihren Ellbogen, um die hässliche Fleischwunde anzustarren, die ihr Bein mit Blut tränkte. Sie fluchte leise und versuchte, die Übelkeit zu unterdrücken, die in ihr aufstieg. »Ich werde es überleben, Paul, doch ich fürchte, das muss genäht werden.« Sie zog die Wundränder zusammen und zwang sich, mit beiden Händen fest draufzudrücken. »Hol ein paar Handtücher und Eiswürfel. Du wirst uns mit dem Truck in die Stadt fahren müssen. Ruf Doc Kennedy an und sag ihm, dass er uns in seiner Praxis erwarten soll – ich habe keine Lust, ins Krankenhaus zu gehen und eine astronomische Rechnung gestellt zu bekommen.« Sie stieß die Worte zwischen den Zähnen hervor. Ihr Bein war nicht mehr taub, sondern brannte und tat furchtbar weh.

Paul rannte zum Haus. Colby war so bleich, dass sie wie ein Geist aussah. Solange er lebte, würde er nicht den Anblick ihrer zierlichen, kleinen Gestalt vergessen, die so zerbrechlich unter dem gewaltigen, rasenden Tier gewirkt hatte, das grauenhafte Geräusch, als der Huf auf Fleisch getroffen war. Er riss den Kühlschrank auf, holte Handtücher und die Autoschlüssel, tätigte hastig und völlig außer Atem den Anruf beim Arzt und war in wenigen Minuten wieder bei Colby.

»Tut es sehr weh?«, fragte er ängstlich, während er zusah, wie sie Eis auf die Wunde legte. Bei all ihren Verletzungen hatte sie noch nie so viel Blut verloren, einen ganzen Schwall von hellrotem Blut. Colby presste ihre Hand fest auf die Wunde und biss sich vor Anstrengung auf die Unterlippe.

Sie brachte ein schiefes Grinsen zustande und strich ihr Haar zurück, das ihr ins staubverschmierte Gesicht fiel. Die Geste hinterließ eine Blutspur an ihrer Schläfe. »Du wirst mir helfen müssen, Paul. Mein Bein ist von der Wucht des Hiebes ganz taub.« Sie biss die Zähne zusammen und wünschte, es wäre tatsächlich taub, aber das war immer noch besser, als ihm zu sagen, dass sie gleich vor Schmerzen und aufgrund des Blutverlustes das Bewusstsein verlieren würde. »Fahr den Truck hierher, damit ich einsteigen kann.«

Colby. Ihr Name kam wie aus dem Nichts, leise und wunderschön, und umgab sie mit Wärme und Geborgenheit. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie Rafaels zärtliche Stimme wahrnahm. Sie sehnte sich nach ihm und vermisste ihn so sehr. Allein seine Stimme zu hören gab ihr das Gefühl, vollständig zu sein.

Ich bin okay. Du klingst immer noch müde. Solltest du jetzt schon wach sein P Rafaels Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen, und es bedeutete für ihn unverkennbar eine Anstrengung, Colby zu erreichen. Dass er es versuchte, machte sie unendlich glücklich. Sie wusste, dass seine Wunden noch nicht ganz verheilt waren und dass der Hunger in ihm wütete, doch er suchte trotzdem ihre Nähe. Sie hasste es, einfach so dahinzuschmelzen, obwohl sie wegen der Probleme, die er ihr gemacht hatte, sehr böse auf ihn war. Sie wollte ihn nicht brauchen. Und sie wollte nicht daran denken, zu welcher Gewalttätigkeit er imstande war.

Ich kann nicht vor einer Stunde bei dir sein. Zeig mir, was passiert ist. Ich fühle deine Schmerzen. Sie sind groß genug, um mich aus meinem Schlaf zu reißen.

Sie holte tief Luft und zwang sich, ihren Blick auf die furchtbare Fleischwunde in ihrem Oberschenkel zu richten und gleichzeitig die Hand zu heben und das Handtuch mit Eis wegzunehmen. Als sie hörte, wie Rafael scharf den Atem einzog, deckte sie die Wunde hastig wieder zu. Paul bringt mich zum Arzt. Das ist keine große Affäre. Ein paar Stiche, mehr nicht.

Ich komme so bald wie möglich zu dir.

Sie ließ sich auf den Boden zurücksinken, weil es zu viel Kraft kostete, etwas anderes zu tun, und wandte den Kopf, um das Pferd anzuschauen. Es zitterte, scharrte mit den Hufen im Sand und wehrte sich immer noch gegen den Sattel. Sein Körper war dunkel von Schweiß. Sowie der Truck neben ihr stehen blieb und Paul heraussprang, zeigte Colby auf das Tier. »Schau mal, Paul, irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Er verhält sich einfach nicht normal.«

»Er ist ein Killer!«, brauste Paul auf und starrte das Pferd hasserfüllt an, was gar nicht seinem sonstigen Umgang mit Tieren entsprach. »Man sollte ihn abknallen.«

»Er hat Drogen bekommen, Paul. Guck ihn noch mal an. Er weiß überhaupt nicht, was los ist.«

»Wen interessiert's? Vergiss den verdammten Gaul! Sehen wir lieber zu, dass wir dich zum Arzt bringen.«

»Noch nicht. Ruf Dr. Wesley an, sag ihm, dass wir wegmüssen und dass er jemanden als Hilfe mitbringen soll. Die wird er brauchen. Ich will, dass das Pferd untersucht wird.«

»Du machst wohl Witze ! Ich soll den Tierarzt anrufen, während du hier liegst und alles vollblutest?«, protestierte Paul.

»Paul.« Unendliche Müdigkeit lag in Colbys Stimme.

Er gehorchte widerstrebend und schilderte dem erstaunten Tierarzt, was passiert war. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Paul imstande war, Colby in den Wagen zu hieven. Ruckelnd und holpernd raste der alte Truck in Richtung Stadt.

Colby japste mehr als einmal, während der Arzt ihre Wunde reinigte, nähte und verband. Sie ließ die Gardinenpredigt des Doktors und die einer mit einer Spritze bewaffneten Krankenschwester über sich ergehen. Nachdem die beiden mit ihrer Litanei fertig waren, hatte Colby das Gefühl, einen Vortrag über die Gefahren von Tetanus halten zu können. Die Wunde war tief und das Fleisch im Wundbereich beträchtlich geschwollen; es würde wehtun, doch sie hatte schon Schlimmeres überstanden.

Mit Pauls Hilfe humpelte sie zum Truck zurück und beäugte trübselig ihre blutbeschmierten und zerrissenen Jeans. Sie wusste, dass ihr Gesicht von Erde und Sand beschmutzt war und ihr Haar in einer wirren Masse über ihren Rücken fiel. Sie warf ihrem Bruder einen Blick zu. »Ist dir schon mal aufgefallen, wie ich es regelmäßig schaffe, ganz toll auszusehen?«, fragte sie mit dem kläglichen Versuch eines Lächelns und zeigte mit einer Kopfbewegung auf den schnittigen Porsche, der ein Stück weiter unten auf der Straße parkte.

Paul folgte Colbys Blick und erkannte die Frau, die gerade in einer kleinen, sehr teuren Boutique verschwand. Dann blickte er von Louises Perfektion zu seiner Schwester und starrte sie einen Moment lang an. Unter dem Schmutz und dem Blut verbarg sich etwas Besonderes, etwas, das ihm vorher nie aufgefallen war. »Du bist viel hübscher als sie, Colby, gar kein Vergleich. Echt nicht.«

Colby ertappte sich trotz ihrer jämmerlichen Verfassung bei einem Lächeln. »Du bist ein fantastischer Bruder, weißt du das? Ich bleibe hier und ruhe mich aus, und während du die Rezepte für mich holst, denke ich darüber nach, wie toll du bist.«

»Ich fahre ein bisschen näher ran«, sagte er und langte nach dem Zündschlüssel.

»Du fährst nicht einen Meter näher an diesen Laden ran -ihr schicker, kleiner Porsche steht direkt vor der Apotheke. Ein bisschen Bewegung wird dir nicht schaden.«

»Das ultimative Opfer«, stöhnte Paul. »Cowboys gehen einfach nicht zu Fuß.« Er steckte die Rezepte ein und half Colby, sich etwas bequemer hinzusetzen. »Unter all dem Dreck siehst du ein bisschen blass um die Nase aus, Colby. Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist und ich dich allein lassen kann?«

»Mir geht's gut, Paul«, versicherte sie ihm. »Lass bitte die Tür offen, damit ich keine Platzangst kriege und noch versuche, aus dem Fenster zu klettern.«

»Bin gleich wieder da!« Paul flitzte die Straße hinunter.

Als sie ihm nachschaute, befiel sie eine furchtbare Müdigkeit. Das Schlimmste war, dass immer noch unendlich viel Arbeit auf sie wartete. Da Juan und Julio ihnen halfen, hatten sie endlich alles aufgeholt, was liegen geblieben war. Aber eine Verletzung wie diese würde sie ebenso bei den erforderlichen Reit- und Trainingsstunden der Pferde wie bei den täglichen Arbeiten behindern.

Was war mit dem Braunen los gewesen? Könnte er genauso wie King Drogen bekommen haben ? Ernie war tot. Er konnte nicht dahinterstecken. Sie wollte nicht daran denken, dass es Paul gewesen sein könnte. Sie versuchte, sich genau zu erinnern, wie das Pferd ausgesehen hatte, bevor sie in den Sattel gestiegen war. Ihr Verhalten war unverzeihlich. Sie hatte nicht bemerkt, in welcher Verfassung das Tier war, weil sie in Gedanken mal wieder bei Rafael gewesen war. Immer wieder lief es darauf hinaus: auf Rafael und die Macht, die er über sie hatte.

»Hallo!« Eine leise Stimme riss sie aus ihren Überlegungen.

Als Colby aufblickte, sah sie die Frau mit den auffallenden grünen Augen vor sich, die ihr Hilfe angeboten hatte, als Rafael sich auf dem Parkplatz vor dem Saloon wie der letzte Macho aufgeführt hatte. Sie schenkte ihr ein freundliches Lächeln. »Ich scheine ständig in der Klemme zu sein, was? Ich bin Colby Jansen.«

»Natalya Shonski.« Als die Frau lächelte, erhellte sich ihr Gesicht schlagartig. Sie zeigte auf Colbys Bein. »Sieht schmerzhaft aus.«

»Ist es auch, glauben Sie mir. Ich wollte Ihnen wegen neulich Abend noch danken. Die meisten Leute wären einfach weitergegangen.«

»Sie hatten Angst vor ihm«, sagte Natalya. »Ich konnte es fühlen.«

Colby strich sich ihr Haar aus dem Gesicht und lächelte schwach. »Ich habe immer noch Angst vor ihm.«

Natalya lehnte sich in die offene Tür und begutachtete Colbys Hals. »Er ist einer der Jäger, nicht wahr? Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie gefährlich diese Männer sind?«

Colbys Handfläche legte sich sofort auf das Mal an ihrem Hals. »Woher wissen Sie etwas über sie?«

Natalya zögerte und wählte ihre Worte sorgfältig. »Ich hatte das Pech, bei mehr als einer Gelegenheit auf ihre Gegenspieler zu stoßen.« Sie beobachtete Colby scharf, um zu sehen, ob sie verstand, worauf sie anspielte.

»Ich hatte meine erste derartige Begegnung erst vor ein paar Nächten.« Colby erschauerte. »Es tut gut zu wissen, dass ich nicht im Begriff bin, den Verstand zu verlieren. Ich dachte schon, dass ich mir das Ganze vielleicht nur eingebildet habe.« Ihr fiel vor Erleichterung ein Stein vom Herzen, und sie brannte darauf, mit dieser Frau zu sprechen, die wusste, was sie, Colby, zurzeit durchmachte, und trotzdem nicht der Meinung war, dass man sie einsperren sollte. »Wie haben Sie davon erfahren? Die Hälfte der Zeit kann ich es immer noch nicht glauben.«

»Was will der Jäger von Ihnen?«

Colby drückte ihre Finger noch fester auf Rafaels Mal. Es war immer noch da, frisch wie an dem Tag, an dem er es hinterlassen hatte; es verblasste nie und pochte ständig, als riefe es nach ihr. Ja, was wollte er von ihr? Sex? Wenn es doch nur das wäre! Damit könnte sie umgehen.

Sie erinnerte sich an den Klang seines Lachens, das durch ihr Bewusstsein wehte. Tief und sinnlich und sehr verführerisch. Colby senkte die Wimpern. Er beherrschte sie sexuell, das traf zu. Sie konnte ihr Verlangen nach ihm nicht ablegen. »Ich weiß es nicht genau.« Sie versuchte, ehrlich zu sein. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. »Ich bin völlig durcheinander, Natalya. Er hat mich irgendwie an sich gebunden, und jetzt kann ich es nicht mehr ertragen, von ihm getrennt zu sein. Ich hasse diesen Zustand.«

Natalya schaute sich verstohlen um und senkte die Stimme. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, Colby. Hier ist meine Handy-Nummer. Ich verlasse diese Gegend demnächst. Wenn Sie mitkommen wollen, rufen Sie mich einfach an. Ich kann nie sehr lange an einem Ort bleiben.«

»Ich habe Geschwister, um die ich mich kümmern muss.«

»Wenn ein Jäger in der Gegend ist, ist ein Vampir nicht weit. Sie können sie vor einem Vampir nicht beschützen.«

»Woher haben Sie gewusst, dass Rafael ein Jäger ist?«

Natalya sprach noch leiser. »Ich habe ein Muttermal, links unten auf meinem Bauch. Es sieht wie ein feuerspeiender Drache aus, und wenn ein Jäger oder ein Vampir oder auch nur einer seiner menschlichen Handlanger in der Nähe ist, brennt dieses Mal.«

Colby zog scharf den Atem ein und legte eine Hand an ihre linke Seite. »Woher kommt dieses Mal?«

Natalya zuckte die Schultern. »Ich habe es von Geburt an. Es hat mir schon oft das Leben gerettet.«

Colby rieb sich direkt unter dem Verband den Schenkel, um den Schmerz ein wenig zu lindern. »Hier in der Gegend ist ein Vampir, und Rafael sagt, dass er sich von anderen unterscheidet, weil er mehr Macht hat.«

Natalya runzelte die Stirn. »Können die Jäger ihn töten?«

»Das weiß ich nicht. Rafael wurde verwundet, und der Vampir konnte entkommen. Aber ich glaube, Rafael hat ihn verletzt.«

Natalya seufzte. »Irgendwie gefällt es mir hier. Ich würde gern noch bleiben. Ich habe bis jetzt noch nicht gelernt, wie man einen Vampir tötet. Sie kommen immer wieder. Ständig Dracula-Filme anzuschauen bringt wohl doch nicht so viel.«

»Rafael und sein Bruder Nicolas stammen ursprünglich aus den Karpaten. Vielleicht finden Sie dort Hilfe«, meinte Colby. »Nicolas hat mir erzählt, man müsse sie anzünden. Es war ziemlich eklig. Er hat gesagt, dass sie diesen Kreaturen das Herz aus der Brust reißen und es auch verbrennen.«

Natalya richtete sich langsam auf. »Ich wünschte, ich hätte nicht gefragt.« Sie schaute Colby an. »Kommen Sie wirklich damit klar ? Werden Sie damit fertig? Für mich war es schwer, und ich möchte nicht, dass Sie sich so allein fühlen, wie ich es war.«

»Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Rafael spricht von einer Umwandlung.«

Natalyas Miene verdüsterte sich. »Er will sie zu einer von denen machen? Können sie das? Ich weiß, dass Vampire im Allgemeinen töten. Frauen behalten sie oft eine Weile bei sich und weiden sich an ihrer Angst, aber irgendwann töten sie sie auch. Ich habe ein paar Mal versucht, welche von ihnen zu retten, doch diese Frauen waren völlig irre. Sie wollten mich beißen und mein Blut trinken, und ich habe sogar gesehen, wie sie versucht haben, Menschenfleisch zu essen. Ich weiß nicht, Colby. Es klingt gefährlich.«

»Es fühlt sich auch gefährlich an. Ich habe Probleme mit dem Sonnenlicht, und ohne die Chevez-Brüder – sie sind mit Rafael aus Brasilien gekommen – käme ich mit der Arbeit auf der Ranch nicht mehr nach. Ich muss jetzt tagsüber schlafen.«

»Wollen Sie von ihm weg?«, fragte Natalya.

Colby seufzte schwer. Sie war den Tränen nahe. »Ich glaube nicht, dass ich das noch kann. Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich will. Ich habe große Angst, doch ich bin wie besessen von ihm. Wenn ich von ihm getrennt bin, muss ich ständig an ihn denken, bis ich das Gefühl habe, den Verstand zu verlieren.« Sie sah Natalya an. »Ich habe überhaupt keinen Appetit mehr – schon gar nicht auf Menschenfleisch.«

»Er ist kein Vampir«, bestätigte Natalya, »aber diese Jäger sind gefährlich. Er ist kein Mensch, Colby, und wie menschlich er Ihnen auch erscheinen mag, er ist trotzdem völlig anders und lebt nach ganz anderen Regeln.«

»Ich habe Angst«, gestand Colby leise. Es erstaunte sie, wie viel Furcht sie tatsächlich empfand. Rafael hatte sie vorsätzlich verführt. Er hatte einen Teil von ihr in eine Welt gebracht, über die sie nichts wusste, und er hatte einen Teil von ihr aus einer Welt geholt, die ihr vertraut war. Es war erschreckend, und trotzdem konnte sie sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen. Und das allein war schon beängstigend.

»Ihr könnt alle mit mir mitkommen«, bot Natalya an. »Es macht nicht viel Spaß, ganz allein herumzuziehen. Und zusammen wären wir vielleicht sicherer.«

Und ich würde dich finden. Es gibt keinen Ort, an dem ich dich nicht finden würde. Schärfe lag in Rafaels Stimme. Eine Warnung.

Colby spürte, wie es ihr kalt den Rücken hinunterlief. »Er kann mich hören.«

Natalya zog sich sofort zurück. »Ich gehe jetzt lieber. Hier kann ich nicht länger bleiben. Viel Glück.«

Colby unterdrückte den Impuls, sie an der Hand zu packen und festzuhalten. »Passen Sie gut auf sich auf, Natalya!«, rief sie und steckte den kleinen Zettel mit Natalyas Handy-Nummer ein. Am liebsten wäre sie auch weggelaufen. In Natalyas Augen hatte Furcht gestanden, Furcht und die Entschlossenheit, sich davonzumachen. Was die Vampire auch von ihr wollten, sie war nicht gewillt, es ihnen zu geben. Colby wünschte sich, alles würde einfach wieder normal werden. Sie schloss die Augen und zählte bis zehn. Paul hatte offensichtlich einen seiner Freunde getroffen und unterhielt sich mit ihm, statt auf schnellstem Weg mit der Medizin zu ihr zurückzukommen. So viel zu brüderlicher Fürsorge !

»Erzähl mir nicht, die große Colby Jansen ist vom Pferd gefallen!« Tony Harris lehnte sich in den Wagen, die hübschen Züge zu einem spöttischen Lächeln verzogen.

»Du bist genau das, was mir an diesem Tag noch gefehlt hat, Tony«, teilte Colby ihm müde mit.

»Wie ist denn das passiert?« Er schob sich weiter in die offene Tür hinein und beugte sich mit seinem ganzen Körpergewicht über sie, um den dicken, ziemlich blutigen Verband zu begutachten. Tony nagelte sie praktisch auf ihrem Sitz fest, indem er seinen Arm mit voller Absicht fest in ihre Taille bohrte. Mit einem leisen Pfiff hob er den Kopf und schaute sie an. Der triumphierende Ausdruck in seinen dunklen Augen verriet, wie sehr er es genoss, sie in einer solchen Notlage zu sehen. »Vielleicht sollte ich mir das lieber mal anschauen; es scheint zu bluten.« Seine Hand lag auf ihrem Schenkel, und seine Finger pressten sich in ihr angeschwollenes Fleisch.

»Wenn ich schreie, Tony, kommt die halbe Stadt angerannt.«

»Keiner kann dich sehen, weil ich die Sicht verstelle«, erinnerte er sie. »Schrei ruhig. Ich sage einfach, dass dein Bein wehgetan hat und ich bloß helfen wollte.«

»Als ob man dir mehr glauben würde als mir! Fahr zur Hölle, Tony! Und nimm deine Pfoten da weg!« Colby holte mit einer Hand aus, war aber durch den beengten Raum in ihrer Bewegungsfreiheit beeinträchtigt.

Er wich ihrer Ohrfeige aus und lachte. »Hast du dein Gewehr zu Hause gelassen, Colby? Was ist los, wo bleibt denn die eisige Verachtung, die du sonst so gern zur Schau stellst?« Seine Hand war wieder an ihrem Verband und verharrte dort, während er sie scharf beobachtete und sich an ihrer Hilflosigkeit weidete.

»Halt's Maul, Tony, und sieh zu, dass du wegkommst!«

Seine Finger rückten näher an die Wunde heran und bohrten sich etwas fester in ihren Schenkel.

»Das ist nicht witzig, Tony.« Colby versuchte, nicht zu seiner Hand zu schauen.

»Doch, ist es. Ich finde es jedenfalls sehr witzig. Du hast dich schon immer für etwas Besseres gehalten, stimmt's, Colby? Und jetzt, da du dir einen reichen Mann geangelt hast, bist du dir sicher, dass du zu gut für einen wie mich bist. Aber weißt du, was ich finde? Ich finde, du bist nichts anderes als seine bezahlte Hure. Ich werde dir zeigen, was ein richtiger Mann mit dir machen kann.«

Bevor sie ihm ausweichen konnte, beugte sich Tony über sie, presste seinen Mund auf ihren und rieb seine weiche Innenlippe bewusst an ihren Zähnen. Seine Hand blieb wie zur Warnung dicht neben der Wunde an ihrem Bein.

Colby vergaß alles um sich herum, ihre Müdigkeit, ihre Schmerzen, die Tatsache, dass sie mitten auf der Hauptstraße der Stadt parkte. Es war eine Sache, mit Tonys schlüpfrigen Bemerkungen und Grobheiten umzugehen, aber eine völlig andere, körperlichen Kontakt mit ihm zu haben. Ihre Feindschaft hatte auf dem Schulhof begonnen, als Tony, der zwei Klassen über ihr gewesen war, angefangen hatte, einen Jungen aus ihrer Klasse gnadenlos zu hänseln. Sie hatte Tony vor allen Leuten eine Ohrfeige gegeben. Als er auf sie losgehen wollte, kamen ihr Joe Vargas, Larry Jeffries und Ben sofort zu Hilfe. Im Lauf der Jahre hatte Harris ihr zwar immer wieder gedroht und sie belästigt, aber er hatte sie nie auch nur mit einem Finger berührt.

Sie rammte ihm ihren rechten Ellbogen in die Magengrube und packte ihn mit der linken Hand brutal an seinem lockigen, schwarzen Haar, um seinen Kopf nach hinten zu reißen. Zu ihrem Entsetzen wurde er plötzlich aus dem Wagen katapultiert, als hätten ihn unsichtbare Hände hochgehoben und durch die Luft geschleudert. Dann starrte sie in Rafaels sehr, sehr schwarze Augen. Ihr stockte der Atem angesichts der unverhohlenen Drohung, die in seinem Blick lag. Winzige rote Flammen glühten in den dunklen Tiefen seiner Augen. Er wirkte wie ein Raubtier oder ein bösartiger und verschlagener Dämon. Nichts in ihrem Leben hatte sie je mehr geängstigt als die grimmige Leere, die sich in seinen Augen zeigte. Sie sah den Tod vor sich. Und sie wusste, dass er ohne Weiteres imstande wäre, Tony Harris zu töten.

Nein! Nein, Rafael! Das kannst du nicht machen! Sie benutzte absichtlich die intimere Kommunikationsform, um den Mann in seinen Körper, in seinen Geist zurückzuholen. Was sie jetzt vor sich hatte, war ein ungezähmtes Raubtier. Schon wandte er sich von ihr ab und drehte sich zu Harris um, der der Länge nach auf der Straße lag.

»Hör auf, Rafael«, rief sie laut, während sie sich bemühte, vom Sitz zu rutschen. Ihr Herz klopfte laut vor Angst. Als ihr verletztes Bein ihr Gewicht abfangen musste, schoss ein brennender Schmerz durch ihren Körper, und sie stieß einen unterdrückten Fluch aus.

Tony sprang mit geballten Fäusten auf und spuckte auf die Straße.

Rafael schlug Tony Harris gezielt und sehr brutal mit der offenen Hand ins Gesicht, so kräftig, dass der Mann zurücktaumelte. Rafael versetzte ihm einen Schlag nach dem anderen und trieb so den Cowboy vor sich her. Tony, der bei jedem Hieb das Gleichgewicht verlor, taumelte die Straße hinunter. Colby hatte schon unzählige Prügeleien erlebt, aber das hier war etwas ganz anderes. Es war ein wilder und doch kaltblütiger Angriff, eine demütigende Bestrafung und eine so offen zur Schau gestellte Demonstration von Macht, dass die Leute auf den Bürgersteigen wie angewurzelt stehen blieben und mit offenen Mündern zuschauten.

Colby humpelte hinter den beiden her. Ihr Herz schlug schneller, als ihr aufging, dass Rafael Tony Harris mit einem einzigen Schlag zu Boden hätte werfen können, und Zorn stieg in ihr auf. Das hier war eine öffentliche Bestrafung. Rafael war imstande, Tony kaltblütig und ohne Reue zu töten. Wahrscheinlich hätte er es auch getan, er hielt sich jedoch zurück, weil er wusste, dass Colby ihm einen Mord nie verziehen hätte.

Es war keine große Hilfe, dass sie nicht aufhören konnte, ihn förmlich mit Blicken zu verschlingen, und ihr Körper zu neuem Leben erwachte. Sie konnte fühlen, wie sie sich mit jeder Faser ihres Seins nach ihm sehnte. Colby hasste es, wie sehr er ihren Körper und ihren Geist beherrschte. Sah man es ihr an? Natalya hatte sie mitleidig angeschaut... Ohne Rafael fühlte sie sich verzweifelt, fast schon selbstmordgefährdet, und verachtete sich dafür. Sie war gezwungen gewesen, sich an Nicolas zu wenden, um diese furchtbaren Nächte zu überstehen.

»Lass die beiden doch in Ruhe!«, rief Paul und packte seine Schwester am Arm. Er war die Straße hinuntergerannt und völlig außer Atem. Colby hinkte und schien nicht zu merken, dass sie vor Schmerzen die Zähne zusammenbiss.

Sie schüttelte ihren Bruder ab. »Halt die Klappe!«, brüllte sie ihn an.

Paul blieb abrupt stehen. Colbys Haarfarbe war kein Zufall. Sie konnte buchstäblich rotsehen, wenn ihr der Kragen platzte. Paul betrachtete De La Cruz mit größter Genugtuung. Der Mann würde öffentlich in die Schranken gewiesen werden. Die Menschenmenge war jedenfalls groß genug.

Colby packte Rafael am Arm und hielt einen Moment lang erschrocken inne, so hart fühlten sich diese Muskeln an. Es war, als hätte sie ein Stück Eisen in der Hand. »Hör auf damit, Rafael! Sofort!« Sie versuchte, sich zwischen die beiden zu stellen, aber Rafael glitt mühelos um sie herum und pflanzte seinen Körper zwischen Colby und Harris. Das machte Colby nur noch wütender. »Ich will nicht, dass du mir meine Probleme abnimmst. Verstanden? Mach das nie wieder! Das ist meine Sache.« Sie wusste, was Macht bedeutete, und verstand besser als irgendjemand sonst das Bedürfnis, die Kontrolle zu behalten, doch jetzt war sie schrecklich wütend auf die beiden Männer und versuchte, Rafael von Tony wegzuziehen. Viel Erfolg hatte sie nicht.

Harris nutzte die Gelegenheit, sich davonzumachen, wobei er sein zerschlagenes Gesicht mit beiden Händen hielt. Rafael sah ihm über Colbys Kopf hinweg nach. In den Tiefen seiner Augen flackerten immer noch rote Lichter.

»Verdammt, Rafael!« Colby fühlte sich wie eine lästige Fliege, die um ihn herumsummte. Sie boxte ihn in die Brust und legte all ihre aufgestaute Wut in den gut gezielten Hieb.

Er stand groß und aufrecht vor ihr, starrte sie an und blinzelte, als sähe er sie zum ersten Mal. Der Hauch eines Lächelns breitete sich langsam auf seinen sinnlichen Zügen aus und wärmte das bittere Eis in seinen Augen. Du hast mich geschlagen, querida? Seine Stimme war leise und sexy und ließ ihr Herz schneller schlagen – hier, mitten auf der Straße! Das brachte sie so auf, dass sie ihn am liebsten noch mal geschlagen hätte.

»Sehr witzig.« Sie würde sich nicht von seinem Charme einwickeln lassen. Und ihr Körper würde nicht von flüssiger Hitze durchströmt werden und langsam schmelzen. »Steck deine Nase nicht in meine Angelegenheiten! Wenn ich nicht von Tony Harris belästigt werden will, werde ich allein damit fertig. Du hast die Situation zehn Mal schlimmer gemacht! Nun weiß die ganze Stadt, dass etwas passiert ist. Falls du es vergessen haben solltest, du bist in den Vereinigten Staaten, nicht in Brasilien, und hier holen wir den Sheriff!«

Er hob sie einfach vor allen Leuten hoch, nahm sie in seine Arme und trug sie mit weit ausholenden Schritten zu ihrem Wagen zurück. »Du weißt, dass ich mich nicht fernhalten kann, wenn du verletzt wirst, Colby.« Seine Stimme strich weich, warm und unwiderstehlich über ihre Haut. Wie ein Zauber. Sein sengender Blick war besitzergreifend, und es lag noch etwas anderes darin, etwas Wildes und Animalisches, als wäre er mit Tony Harris noch nicht fertig. »Und ich erlaube keinem anderen Mann, dich anzufassen.«

Colby hob einen Arm, berührte seinen Mund und fuhr mit ihren Fingerspitzen über die Linien, die sich dort tief eingegraben hatten. Es waren Linien der Müdigkeit und Erschöpfung, die zuvor nicht da gewesen waren. Er war früher aufgestanden, als Nicolas gewünscht hatte. Auf seinem Gesicht waren schwache Spuren zu sehen, die langsam verblassten, aber immer noch Zeugnis für die Krallen ablegten, die nach ihm geschlagen hatten. Er hatte furchtbar gelitten, um sie zu schützen. Colby strich mit ihrer Hand über sein Herz und fragte sich, ob die Bisswunden noch zu sehen waren. Irgendetwas in ihr schmolz, obwohl sie es gar nicht wollte. »Mit Tony Harris komme ich schon klar«, sagte sie sanfter, als sie beabsichtigt hatte. »Unsere Gesetze erlauben nicht, dass man einfach jemanden umbringt, bloß weil einem nicht gefällt, was er macht.«

»Unsere Gesetze sind ganz eindeutig.« Seine Stimme verriet keine Emotion, nur eine tödliche Ruhe, und um seinen Mund lag ein grausamer Zug.

»Tony ist ein Blödmann.«

»Er wird entweder bald eine Lektion lernen, die er schon vor langer Zeit hätte lernen sollen, oder er wird nie mehr in der Lage sein, Frauen zu belästigen.«

»Nicht, Rafael. Ich weiß, du könntest ihm wirklich etwas antun, sogar aus der Ferne, aber es wäre nicht richtig. Lass es bitte.« Angesichts ihrer Schmerzen im Bein und Rafaels unversöhnlicher Miene verschlechterte sich ihre Laune noch mehr.

»Wenn du von mir hören willst, dass ich nie wieder Hand an den Mann lege, muss ich dir leider Folgendes sagen: Ich kann dich nicht belügen und lehne es ab, ein solches Versprechen zu geben. Sollte dieser Mann dich jemals wieder belästigen, wird er keine zweite Chance mehr bekommen. Nie mehr.« Rafaels Worte klangen absolut endgültig.

»Mann, bist du ein Macho! Ich bin echt beeindruckt. Und ganz nebenbei, Louise scheint es auch zu sein. Setz mich um Himmels willen ab! Ich fühle mich wie eine Idiotin. Ich bin durchaus imstande zu gehen.« Zu ihrem Entsetzen schossen ihr plötzlich Tränen in die Augen. Zum Teufel mit dem Kerl! Die ganze Stadt schaute zu und grinste, und das direkt vor Louises schadenfrohem Blick.

»Willst du wohl endlich stillhalten, Colby, oder muss ich es dir erst befehlen?«, stieß Rafael zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Was erwartest du denn von mir, que-rida? Ich konnte diesem schwachen Abklatsch eines Manns unmöglich erlauben, dich anzufassen. Du blutest, und du hast Schmerzen. Ich bin dein Gefährte, und es ist ebenso meine Pflicht wie mein Recht, auf dich aufzupassen. Und genau das habe ich vor.«

Erst jetzt spürte sie in ihm einen leidenschaftlichen Zorn, den er nicht herausgelassen hatte, als er sich Tony Harris vorgenommen hatte, einen Zorn, der sich kaum noch im Zaum halten ließ. Ihre großen Augen schwammen in Tränen, was seine Wut noch verstärkte. »Ich will einfach nur noch nach Hause, Rafael.« Weg von hierund weg von dir. Der Satz stahl sich in ihre Gedanken, ehe sie es verhindern konnte.

Ein Muskel zuckte in seiner Wange. Ich werde dich nie aufgehen. Nie im Leben, verstehst du ? Das sollte eigentlich schon geklärt sein. Seine Stimme war leise, aber schneidend scharf.

Schon geklärt? Spinnst du? Ich habe noch einige Fragen. Zum Beispiel zu dem Thema, wie es ist, einem Mann das Herz aus der Brust zu reißen. Die Sache ist noch lange nicht vom Tisch, Rafael.

Er ließ sie behutsam auf den Sitz des Pick-ups gleiten, ohne Pauls finstere Miene zu beachten. »Raus mit dir, Junge, ich fahre.« Rafaels Stimme war leise, aber darin schwang ein so warnender Unterton mit, dass Paul seine Schwester unsicher anschaute und mit einem hilflosen Schulterzucken auf die Ladefläche des Wagens sprang.

Nichts und niemand wagte es, sich Rafaels Macht zu widersetzen, und der Truck sprang sofort an.

»Kannst du Auto fahren?«, fragte Colby.

Seine schwarzen Augen streiften sie kurz, bevor er wieder auf die Straße starrte und den Truck in forschem Tempo durch die Stadt lenkte. Dabei verfehlte er Tony Harris, der neben seinem Wagen stand, nur knapp. »Du hast daran gedacht, mich zu verlassen. Und du nimmst diesen miesen Typen in Schutz.«

»Natürlich habe ich daran gedacht, dich zu verlassen.« Sie warf ihm einen finsteren Blick zu. »Glaubst du, ich bin verrückt? Und zum Teufel mit Tony Harris! Denkst du etwa, es geht um ihn? Es geht nicht um Tony, Rafael, sondern darum, dass du mich beinahe umbringst. Glaubst du wirklich, ich sinke dir einfach in die Arme und vertraue dir nicht nur mein Leben, sondern auch das meiner Geschwister an?«

Einen Moment herrschte Schweigen. »Ich kann dir das erklären, Colby.«

Rafael wirkte zum ersten Mal unsicher. Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ich möchte nicht, dass Paul etwas davon mitbekommt. Warten wir, bis wir zu Hause sind. Aber erklären wirst du mir tatsächlich einiges. Das Einzige, woran ich im Moment denken kann, ist, dass mein Bein wehtut«, fügte sie hinzu und klopfte an die Heckscheibe. Paul schob das Fenster auf. »Gib mir die Schmerztabletten. Ich schlucke sie alle auf einmal.«

Paul drückte ihr die Flasche in die Hand. Rafael nahm sie ihr wieder weg. »Die brauchst du nicht.«

»Woher willst du das wissen? Es tut höllisch weh.« Colby starrte ihn erzürnt an. »Du machst mich wahnsinnig, wirklich ! Du hast uns irgendwie aneinander geschmiedet, und dann hättest du dich beinahe umbringen lassen und hast mich allein gelassen, um in der Erde zu liegen und zu schlafen. Gib mir die Tabletten!«

»Nein. Und du brauchst mir keine Vorwürfe zu machen, das habe ich selbst schon erledigt, und zwar zur Genüge.«

»Das glaubst du vielleicht, doch mir wird es bestimmt nicht genügen.« Sie ließ langsam den Atem entweichen und lehnte sich zurück. »Mein Bein tut wirklich sehr weh, Rafael.«

»Das weiß ich. Ich fühle, was du fühlst, schon vergessen? Es ist nicht gut, derartige Medikamente zu nehmen; du bist teilweise in meiner Welt, und dein Körper würde so etwas nicht vertragen.«

»So, wie er kein Essen mehr verträgt?«, fragte sie böse.

Er warf einen Blick auf ihr bandagiertes Bein. »Der Arzt hat die Wunde genäht. Das ist barbarisch.«

»Hätten wir sie mit Erde beschmieren und draufspucken sollen? Oder mich in ein Grab legen und ein paar Tage drin-lassen sollen?«

»Sei bitte ruhig.« Er wusste, dass sie die verrückte Regung verspürte, aus dem Wagen zu springen. Sie war durcheinander, aufgeregt und krank vor Schmerzen. »Ich fahre rechts ran, damit ich dich von deinen Schmerzen befreien kann.«

Colby erhob keinen Protest. Wenn er ihr die Schmerzen nehmen könnte, würde sie mehr als dankbar sein. Er fand an der kurvenreichen Straße eine kleine, abgeschiedene Stelle zum Parken und hielt an, um seine Aufmerksamkeit vollständig auf Colby zu konzentrieren. Rafael begab sich außerhalb seines Körpers; er ließ ihn zurück, sodass nur sein Geist blieb, der in Form reiner, leichter Energie in Colbys Körper eindrang und ihre Verletzung von innen heraus heilte. Rafael ließ sich Zeit, ihr Bein vollständig zu heilen und dafür zu sorgen, dass die Schwellungen zurückgingen und die Wundränder sich nahtlos schlossen.

Als er wieder in seinen Körper zurückgekehrt war, beugte er sich über sie und berührte mit zarten Fingern ihr Bein. »Ist es jetzt besser?«

Colby konnte nur wie gebannt in seine dunklen Augen starren und in ihren Tiefen versinken, obwohl sie unbedingt hart bleiben wollte. Ihr Bein fühlte sich fantastisch an, doch die Linien in Rafaels Gesicht waren tiefer denn je eingegraben. »Das hättest du nicht machen sollen.«

»Ich hatte keine Wahl.« Er beugte sich noch tiefer über sie, um ihren Mundwinkel, ihre Lider und ihre Nasenspitze zu küssen. »Ich hatte Angst um dich. Tu mir das bitte nie wieder an!« Er nahm ihr Handgelenk, dasselbe, das sie aufgeritzt hatte, um ihm das Leben zu retten, zog es an seinen Mund und fuhr mit der Zunge über die schwache Narbe.

Bei der intimen Berührung breitete sich sofort Hitze in ihrem Inneren aus. »Rafael, du musst selbst erst wieder völlig gesund werden.« Sie konnte den Hunger fühlen, der an ihm nagte wie ein lebendes, atmendes Monster, das mit lautem Brüllen Aufmerksamkeit forderte. »Du solltest mehr an deine eigenen Bedürfnisse denken.«

»Daran denke ich gerade.« Seine Stimme war tief und rau und kitzelte alle ihre Sinne.

Der Schatten, der dunkel und unheilvoll über ihnen auftauchte, war die einzige Warnung. Neben ihr wurde die Tür so abrupt aufgerissen, dass Colby beinahe aus dem Wagen gefallen wäre. Sie stieß vor Entsetzen einen Schrei aus, als sich ihr Bruder mit einem Messer auf sie stürzte. Sein Gesicht war vor Wut und Hass verzerrt.