Kapitel 11

Guten Abend, Rafael.«

Die aalglatte Bösartigkeit in der schnurrenden Stimme ließ Colbys Atem stocken. Sie fuhr herum und starrte das Monster an, das am Rand der Lichtung stand. »Paul!« Ein leiser Schrei entschlüpfte ihr, als sie sah, dass Paul wie ein Schild vor das Wesen gehalten wurde.

Die Augen ihres Bruders waren vor Entsetzen weit aufgerissen, und sein Atem kam in kurzen, flachen Stößen. Sein Gesicht zeigte Spuren von Schlägen, und seine Knöchel waren blutig geschlagen. Sein Hemd war zerrissen, und Colby konnte Verletzungen auf seiner Brust sehen. Eine starke, von kräftigen Sehnen durchzogene Hand umklammerte mit eisernem Griff seine Kehle. Ein langer, scharfer Fingernagel presste sich auf Pauls Halsschlagader, und selbst aus der Entfernung konnte Colby das Blut sehen, das an Pauls Hals hinunterlief.

Rafael! O mein Gott, was ist das? In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie etwas so abgrundtief Böses gesehen. Es ähnelte einem Mann oder dem, was einmal ein Mann gewesen war, doch die bläulich gefleckte Haut, die straff an seinem nahezu fleischlosen Schädel klebte, wirkte eher tot als lebendig. Rote Augen glühten wie brennende Kohle in dem abstoßenden Gesicht, und schreckliche, lange Eckzähne ragten aus dem lippenlosen Schlitz der Mundhöhle. Dutzende Schlangen, die aus dem Fleisch des Ungeheuers zu wachsen schienen, wanden sich um seine Gliedmaßen. Die Schlangen zischten bösartig, bäumten sich drohend auf und zeigten in ihren klaffenden Kiefern ganze Reihen von scharfen, kleinen Zähnen, die an die von Piranhas erinnerten.

Eine der Schlangen, die sich auf dem Arm des Monsters zu ihrer vollen Größe aufgerichtet und weit nach vorn gestreckt hatte, zog sich langsam zu ihrem Herrn zurück. Hellrotes Blut bedeckte den grausigen Schädel des Tieres, und Colby konnte trotz ihrer Benommenheit sofort eine Verbindung herstellen. Die mutierte Schlange hatte Rafael angegriffen, indem sie ihre messerscharfen Zähne durch das Fleisch auf seinem Rücken geschlagen hatte und direkt auf sein Herz losgegangen war.

Das ist ein Vampir. Unterdrückter Schmerz lag in Rafaels Stimme.

Wie schwer bist du verletzt?

Er ignorierte ihre Frage. Lenk nicht seine Aufmerksamkeit auf dich.

Noch während er seine Warnung aussprach, packte der Vampir Paul fester am Hals. Ihr Bruder stieß einen Schrei aus, und Colby hob unwillkürlich einen Arm, als könnte sie so die Zeit stehen bleiben lassen, als könnte sie so ihre Welt wieder zu dem werden lassen, was sie vor wenigen Augenblicken noch gewesen war. »Nicht!«, rief sie leise, während sie aufsprang. Ihr Blick flog zu Rafael. Sie hatte keine Ahnung, wie er sich blutend und mit einem tiefen Loch in seinem Rücken auf den Beinen halten konnte.

Ich war so auf dich fixiert, dass ich seine Nähe nicht gespürt habe, querida. Ein derartiger Fehler ist mir seit meiner Jugend nicht mehr unterlaufen. Seine Stimme war müde, aber ruhig. Bleib hinter mir, damit er dich nicht in seinem Blickfeld hat.

»Colby?« Paul klang sehr jung und verängstigt.

Der Vampir schüttelte ihn und trieb seinen Fingernagel tiefer in Pauls Fleisch, sodass der Junge vor Entsetzen und Schmerz aufschrie. Noch mehr Blut floss. Mit einem kleinen Schluchzen stürzte Colby los. Rafael hielt sie am Arm fest, als sie an ihm vorbeizulaufen versuchte, und schob sie hinter sich.

O Gott, Rafael, was ist mit Ginny ? Sie waren beide allein im Haus, während ich mit dir hier draußen war. Schuldgefühle und Angst befielen Colby.

Ginny liegt in ihrem Bett und schläft tief und fest, bewacht von ihrem Hund. Sie ist in Sicherheit, beruhigte Rafael sie.

»Du bist Kirja Malinov.« Rafael machte eine knappe Verbeugung. »Es ist lange her, seit wir einander zuletzt begegnet sind.«

Das Monster stieß ein hässliches Lachen aus, das Colby in den Ohren wehtat. »Ich wusste, du würdest dich erinnern. Du bist leichtsinnig geworden, Rafael.«

Ihr kennt euch ?, fragte Colby ungläubig. Sie konnte ihren Blick nicht von ihrem Bruder und dem grauenhaften Wesen, das ihn festhielt, abwenden.

Wir waren einmal Freunde.

» Du bist also gekommen, um der Gerechtigkeit ihren Lauf zu lassen, Kirja. Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich mich nicht anderweitig beschäftigt, sondern dir einen gebührenden Empfang bereitet.« Grenzenloses Selbstvertrauen lag in Rafa-els Stimme. Colby warf einen Blick auf das Blut, das ihm über den Rücken lief, und erschauerte.

Seine Worte oder vielleicht sein Auftreten schienen den Untoten zu reizen. »Schau dir deine Schwester an, Junge.« Der Vampir schüttelte Paul. »Sie ist jetzt seine Hure.« Er zeigte auf einen Fetzen Stoff, der am Boden lag, und Colbys zerrissener Slip wehte Paul ins Gesicht. Ihr BH fiel von einem Busch herunter und wand sich obszön um den Arm des Jungen.

Paul starrte die seidige Unterwäsche mit versteinerter Miene an.

»Er kann sie dazu bringen, alles für ihn zu tun. Schau sie dir an, seine Zeichen, die er auf ihr hinterlassen hat, dann weißt du, was er mit ihr angestellt hat. Ich habe dir ja gesagt, dass er sie zu seiner Sklavin machen würde.«

Ein Ausdruck von Schock und Schmerz lag in Pauls Augen, und ihm stand ins Gesicht geschrieben, wie sehr er das Verhalten seiner Schwester verurteilte. Colby zuckte innerlich zusammen, als sie seine angewiderte Miene sah. Bevor sie von Scham und Schmerz überwältigt werden konnte, beschwor sie ihre angeborene Macht herauf und ließ sie durch ihren Geist und ihren Körper strömen. Im Moment war es wichtiger, Paul zu retten, als die Wahl ihres Liebhabers zu verteidigen.

Der Untote gebraucht seine Stimme, um Paul zu beeinflussen, hörte sie Rafael sagen. Er ist ein uralter Meistervampir und nahezu unbesiegbar. Warte, bis ich meine Macht mit deiner vereinen kann.

Rafael stieß einen Seufzer aus. »Deine kleinen Spielchen langweilen mich, Kirja.«

Sag mir, was ich tun kann, um dir zu helfen. Es schockierte Colby, wie leicht es ihr fiel, geistig mit ihm zu kommunizieren. Es schien ganz natürlich zu sein, als wären sie jetzt so eng miteinander verbunden, dass sie praktisch eine Person waren. Wenn Rafael Erfahrung im Töten von Vampiren hatte, würde sie ihm die Führung überlassen, aber er sollte sich lieber nicht zu viel Zeit lassen. Sie konnte die Macht in ihrem Inneren nicht immer bändigen, wenn sie wütend war, und im Moment war sie rasend vor Wut. Zu sehen, wie dieses gemeine Wesen mit scharfen Klauen über Pauls Kehle strich, brachte jeden Beschützerinstinkt in ihr zum Vorschein – und mehr Wut, als sie je geglaubt hätte, empfinden zu können.

Der Vampir stieß zwischen seinen scharfkantigen, bräunlichen Zähnen einen zischenden Laut aus. »Der große karpa-tianische Jäger – besiegt von seinen fleischlichen Gelüsten. Darin liegt wohl so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit.« Seine blutunterlaufenen Augen starrten Colby an. »Du kannst dich entscheiden, welchen von beiden du retten willst, deinen Liebhaber oder deinen geliebten Bruder.« Er lachte, als hätte er einen guten Witz gemacht, und das Geräusch war so misstönend, dass Colby eine Gänsehaut überlief.

Nimm ein paar Hände voll Erde, so gehaltvoll wie möglich, und mische sie mit deinem Speichel. Mein Blut fließt in deinen Adern, und du hast jetzt dieselben heilenden Kräfte wie ich. Dann legst du die Erde auf die Wunde in meinem Rücken, aber so, dass der Vampir dich dabei nicht beobachten kann. Denk dran, deine Macht ist jetzt größer als früher, weil du dabei bist, Schritt für Schritt in unsere Welt einzutreten. Natürlich müssen wir den jungen retten. Denk nur daran, nicht an mich.

Was Rafael sagte, war ihr völlig unverständlich. Erde, auf die sie gespuckt hatte, auf eine offene Wunde packen? Colby erschauerte, als sie an die Bakterien dachte, die dabei in Rafa-els Blut gelangen würden. Eigentlich müsste er leblos am Boden liegen, statt kühl und gelassen dazustehen und absolut Herr der Lage zu sein. Sein Bewusstsein war fest mit ihrem verbunden; sie konnte fühlen, wie er ihr befahl, ihm zu gehorchen. Colby versuchte, nicht zu Paul zu schauen und nicht an die bösartigen, scharfen Krallen zu denken, die zum Töten bereit waren.

Kopfschüttelnd wich sie zurück, taumelte und stolperte in den tiefsten Schatten, während sie mit beiden Händen in die frische Erde hinter einem umgestürzten Baumstamm griff. Sie schluchzte laut auf und beugte sich vor, als müsste sie sich übergeben. In Wirklichkeit spuckte sie mehrmals auf die Erde, die sie erwischt hatte. Voller Angst um Rafael raffte sie sie hastig zusammen, während der Vampir leise knurrte und mit seinen hässlichen, fleckigen Zähnen in ihre Richtung schnappte.

»Steh auf!«, brüllte er. »Steh auf und triff deine Wahl, bevor ich es für dich tue!«

Colby erhob sich schwankend, achtete jedoch darauf, dass Rafael zwischen ihrem Bruder und ihr stand, als sie zu ihm ging. Mit geschlossenen Augen stopfte sie die Erde tief in die klaffende Wunde in Rafaels Rücken. Er zuckte nicht zusammen; mit keinem Zeichen verriet er etwas von den Schmerzen, die durch seinen Körper schießen mussten. Stattdessen schickte er ihr Wärme und Zuversicht.

»Es gibt keine Wahl«, sagte Rafael ruhig. Seine Stimme war schön, klar und fest und beinahe magisch. »Ich würde nie zulassen, dass das Leben eines Kindes gegen das meine eingesetzt wird.« Er schaute Colby nicht an, aber sie spürte ihn in ihrem Bewusstsein. Ich werde Paul aus seinem Griff befreien. Kirja wird den Angriff von mir erwarten, doch ich werde dich benutzen. Schau ihn einfach nur an. Die Brüder Chevez und Nicolas sind unterwegs, es gibt also keinen Grund, zu verzweifeln.

Die absolute Gewissheit, die er ausstrahlte, ermöglichte es Colby, ihre Panik in Schach zu halten. Sie hatte seine Stimme schon immer schön gefunden, aber als er mit dem Vampir gesprochen hatte, hatte sie sich unwillkürlich gewünscht, ihn immer und immer wieder sprechen zu hören. Ein Zauber und große Überzeugungskraft lagen in seiner Stimme. Obwohl ihr Rafaels Fehler durchaus bewusst waren, wusste sie, dass sie gerade den Unterschied zwischen Gut und Böse vor sich sah.

»Nicht du hast die Wahl zu treffen. Mal sehen, wen deine Frau lieber am Leben halten will«, knurrte der Vampir. Seine Kralle zog quer über Pauls Kehle einen Strich und hinterließ eine schmale Blutspur.

Colby schrie auf und trat einen Schritt vor, doch Paul stand im Weg und würde zu Schaden kommen, wenn sie ihrer Macht jetzt freien Lauf ließ. Das konnte sie nicht riskieren.

Ihr Bruder fing an zu schluchzen und flehte sie an, ihm zu helfen.

Rafael, der Colbys inneren Aufruhr spürte, machte eine Handbewegung in Pauls Richtung. Der Junge wurde sofort ruhig; sein Körper erschlaffte, und sein Blick trübte sich. Er weiß nicht, was vorgeht, kann sich also auch nicht fürchten, versuchte Rafael, Colby zu beruhigen.

Wie stehen unsere Chancen, ihn zu retten ? Es kostete sie alles, was sie an Selbstbeherrschung besaß, sich nicht auf den Vampir zu stürzen. Seltsamerweise traute sie Rafael zu, Paul zu retten. Sie war in seinem Bewusstsein und sah seine absolute Entschlossenheit. Er würde notfalls sein Leben für ihren Bruder opfern. Sie fuhr herum und legte eine Hand an ihren Hals. Der Vorsatz war in ihm zu erkennen. Was er auch plante, es würde ihn möglicherweise töten, doch er war entschlossen, Pauls Leben zu retten. Ein Laut des Protests formte sich in Colbys Geist.

Sieh ihn an ! Lass ihn nicht aus den Augen ! Es war ein scharfer, herrischer Befehl, erteilt von jemandem, der es gewohnt war, zu befehlen und Gehorsam zu finden.

Rafael war viel mehr als ein Mensch. Sie konnte seine Macht fühlen. Colby hielt ihren Blick unverwandt auf den Vampir gerichtet. Worauf wartete er? Warum verlängerte er diese Folter?

Vampire nähren sich vom Grauen und von den Schmerzen anderer. Er genießt es, deine Angst zu sehen, während du daraufwartest, welchen von uns ertöten wird. Es ist die absolute Macht über Leben und Tod, die Kontrolle über andere, die jetzt seine Bedürfnisse befriedigt.

Donnerschläge grollten, und grelle Blitze, die über den Himmel zuckten, blendeten sie. Über ihnen ballten sich Wolken zu dunklen Gespinsten zusammen. Colbys Haut prickelte, und sie wusste, dass irgendwo in den Felsen über ihnen die Brüder Chevez waren. Sie unterdrückte den Drang, ihren Blick fragend auf Rafael zu heften. Er hatte ihr diese Information übermittelt, das Wissen, dass Gewehre auf den Vampir gerichtet waren.

»Triff eine Wahl!«, knurrte der Vampir, die Krallen an Pauls Kehle gedrückt. Die mutierten Schlangen gerieten in ihrer Mordlust und Gier nach Blut sofort in Aufruhr, erhoben ihre hässlichen Köpfe und wiegten sich zuckend hin und her.

In der Erde bewegte sich etwas. Colby fühlte ein Beben unter ihren Füßen und wusste sofort, dass noch mehr von den widerwärtigen Geschöpfen, die den Vampir bewachten, sich zum Angriff bereit machten. Sie ballte die Fäuste. Worauf wartest du ? Er hat noch mehr von diesen ekelhaften Kreaturen bei sich. Ich kann fühlen, wie sie sich unter uns in der Erde bewegen.

Rafael ignorierte sie. »Du Abschaum, denkst du daran, dir diese Frau zu nehmen und deine Seele mit ihr zu heilen? Daraus wird nichts. Sie würde sich nie unterwerfen und dir irgendwann das Herz aus der Brust schneiden.«

Der Vampir lachte. Nach der Reinheit von Rafaels Stimme klang es hässlich und misstönend. »Sie ist von keinerlei Nutzen für mich. Sie verfügt nicht über die Gabe, die ich suche. Warum sollte ich wie du sein wollen und anderen dienen, wenn ich über sie herrschen kann?« Verachtung zeichnete sich auf seinen Zügen ab und verstärkte das Böse, das er ausstrahlte.

»Du suchst eine Gabe?« Rafael klang leicht belustigt. »Warum sollte einer vom uralten Stamm die Gabe eines Menschen brauchen? Du hast dir einen gewissen Ruf erworben, und wenn bekannt wird, dass du Menschen brauchst, um deine Pläne erfolgreich auszuführen, könntest du dich lächerlich machen.«

Colby wand sich innerlich. Rafael provozierte den Vampir bewusst. Er schien Zeit schinden zu wollen.

»Es interessiert mich nicht, was Menschen von mir denken. Ich habe keine Achtung vor denen, die Macht haben und sich trotzdem geringeren Lebensformen unterwerfen.« Der Vampir umschloss mit einer Handbewegung die Ranch. »Für mich sind Menschen Futter, Beutetiere. Ich benutze sie und herrsche über sie. Sie erfüllen meine Wünsche, leben oder sterben, ganz, wie ich es will. Du bist so schwach, dass du nicht einmal deine Gefährtin ganz in deine Gewalt bringst, und setzt damit dein Leben, ihres und das ihres Bruders aufs Spiel. Du verdienst es nicht, am Leben zu bleiben«, höhnte er. »Was ist aus dir geworden, Rafael? Du warst immer ein Führer, und trotzdem hast du dich von Vlad wie ein kleiner Handlanger wegschicken lassen, um seine Befehle zu befolgen.«

Die mit scharfen Zähnen bewehrten Schlangen brachen direkt vor ihren Füßen aus dem Boden und gingen mit aller Gewalt auf Rafael und Colby los. Gleichzeitig schossen dichte, dornige Schlingpflanzen aus der Erde und schlangen sich um die mordlustigen Reptilien. Colby wusste, dass Rafael diese Pflanzen geschaffen hatte, um den Angriff abzuwehren. Sie taumelte zurück, aber Rafael blieb unerschütterlich stehen und sah dem Vampir direkt ins Gesicht.

Jetzt! Er gab das Kommando, doch es richtete sich nicht nur an Colby. Sie stellte fest, dass sie über Rafael sowohl mit den Brüdern' Chevez als auch mit Nicolas verbunden war. Noch mehr Schlingpflanzen durchbrachen das Erdreich, griffen nach Paul, zerrten ihn aus den Armen des Vampirs und hüllten ihn in einen dichten Kokon. Die Schlangen attackierten wie rasend die Pflanzen, um an den Jungen heranzukommen, aber so schnell sie die faserigen Stängel auch umstießen, ständig wuchsen neue nach, die mit dichten Dornen auf die Tiere herabstießen und sie immer tiefer in das Dickicht hineinzogen.

Als Paul auf den Boden sank, spürte Colby, wie Rafael und Nicolas ihre Macht an sich nahmen. Sie entrissen sie ihr rücksichtslos, um sie mit furchtbarer Gewalt gegen den Vampir zu richten. Feuer brach durch den Himmel, eine Fackel aus glühender Hitze und züngelnden roten Flammen, erzeugt von Colby und angeheizt von den Brüdern De La Cruz. Colby hörte ihren eigenen Aufschrei und wusste sofort, in welchem Moment Rafael und Nicolas den Brüdern Chevez befahlen, mit ihren Gewehren Schüsse abzugeben.

Das Feuer steckte einige der Schlangen in Brand, doch der Vampir war bereits verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen, nicht einmal fahlen Rauch oder eine leere Stelle, die angezeigt hätte, welche Richtung er eingeschlagen hatte. Rafael schwenkte eine Hand gen Himmel und drehte sich dabei im Kreis. Colby hielt unwillkürlich den Atem an. Sie wusste, dass etwas Furchtbares kommen würde.

Grelle Blitze zuckten, und die Wolken breiteten sich aus, als würde auf Rafaels Befehl ein riesiger Schleier über den Himmel gezogen. Colby blinzelte ein paar Mal, um zu sehen, was Rafael so interessierte. Sie fand, er sollte sich lieber Sorgen wegen der Schlangen machen, die mit rasantem Tempo auf ihn zugekrochen kamen, statt geduldig den Himmel zu betrachten. Seine Hände bewegten sich in einem fließenden Rhythmus, und sie hörte ihn Worte wispern, die sie nicht verstand.

Etwas bewegte sich am Rand einer Wolke, eine dunkle, formlose Masse. Colby hätte schwören können, dass Rafael dem Blitz befahl, wie ein Speer direkt auf die dunkle Stelle zuzuschießen. Ein Zischen verriet, dass der Blitz einen Treffer gelandet hatte, aber die Vergeltung folgte auf dem Fuß. Die Erde bebte unheilverkündend.

Colby erstarrte. »Rafael, er versetzt das Vieh in Panik!« Die Schlangen und Schlingpflanzen schienen überall zu sein und eine Hindernisbahn zwischen ihr und Paul zu bilden. Sie hatte geglaubt, ihr Bruder wäre innerhalb der dicken, faserigen Stängel in Sicherheit, doch er war den Rindern, die mit donnernden Hufen in blinder Panik auf ihn zustürmten, hilflos ausgeliefert.

Rafael wandte seine Aufmerksamkeit dem Boden zu, sodass die Schlingpflanzen verwelkten und abstarben und die Schlangen sich schwarz verfärbten und schwelten, aber immer noch am Leben waren und mit weit aufgerissenen Mäulern und gefletschten Zähnen versuchten, an den Jäger heranzukommen.

Los, querida, hol ihn da raus. Juan, Julio ! Helft ihr!

Colby zögerte nur einen Moment. Rafael war geschwächt, jedoch entschlossen, sie und ihren Bruder zu retten. So ungern sie ihn auch verließ, Paul hatte in dem Dickicht aus Ranken, in dem er steckte, keine Chance gegen diese Stampede. Sie rannte zu ihm, wobei sie den züngelnden Schlangen auswich, die immer noch versuchten, ihrem Herrn und Meister zu gehorchen, obwohl die Hitze sie von innen heraus zerfraß. Colby kannte das Gelände und wusste, dass die Rinder den steilen Abhang hinunterrasten, der genau zu der Stelle führte, wo sie sich befanden. Sie konnte sie jetzt furchtsam muhen hören, und in der Ferne sah sie direkt unter dem Bergrücken einen unheimlichen, orangeroten Lichtschein. »Paul!« Ohne auf die Dornen zu achten, fing sie an, die Ranken von ihrem Bruder zu reißen.

Die Attacke kam von hinten, in Form eines Windstoßes und lautem Flügelschlagen. Unnatürlich große Fledermäuse verdunkelten den Himmel, die mit ausgefahrenen Krallen auf Rafael herunterstießen.

Colby konnte nicht hinschauen. Zu groß war ihre Angst, er würde unter dem Gewicht so vieler Angreifer zu Boden gehen. Verzweifelt klammerte sie sich an Rafaels ruhige Zuversicht und konzentrierte sich darauf, Paul zu befreien. Rafael hatte ihren Bruder aus seiner Trance aufwachen lassen, und er war bereits damit beschäftigt, sich aus dem von Pflanzen geschaffenen Gefängnis herauszukämpfen. Colby unterdrückte ihre Furcht und trieb mit der Kraft ihrer Gedanken die dicken Stängel auseinander, bis sich die Ranken weit genug teilten, um Paul herauszulassen. Er kam taumelnd auf die Beine und hielt sich an Colbys Hand fest, während sie versuchte, ihn aus dem Weg der heranstürmenden Rinder zu ziehen.

Im Laufen rief sie Rafael zu, sich in Sicherheit zu bringen. Die Erde bebte unter den schweren Hufen, und sie konnte sehen, wie die verschreckten Tiere über die Hügelkuppe und den Abhang hinuntergaloppierten. Colby keuchte vor Entsetzen, als sie sah, dass große, rötliche Flammen zwischen den einzelnen Tieren hin und her sprangen und ihre Panik noch steigerten. Sie schubste Paul auf einen Felsvorsprung und drehte sich zu Rafael um.

Rafael! Der Schrei kam aus ihrem Inneren, nicht von ihren Lippen. Noch immer hielt er unerschütterlich die Stellung.

Die Schwärme von Fledermäusen waren nur wenige Zentimeter von seiner Haut entfernt, aber unfähig, die unsichtbare Barriere, die Rafael offensichtlich errichtet hatte, zu durchdringen und ihm das Fleisch von den Knochen zu reißen. Colby spürte, wie viel Anstrengung es ihn kostete, die grausamen Geschöpfe abzuwehren und gleichzeitig Regen vom Himmel fallen zu lassen, um die Feuer zu löschen, die überall in der Herde ausbrachen, und noch dazu mit dem Vampir zu kämpfen, der sich irgendwo in der Nähe verbarg. Sie trat einen Schritt vor. Wie konnte sie ihm helfen?

Du darfst ihn nicht ablenken. Nicolas klang genauso ruhig, genauso selbstbewusst und genauso gebieterisch wie Rafael. Seine Stimme war in ihrem Bewusstsein, eine Erinnerung, wie nahe die Brüder einander waren. Nicolas verursachte ihr eine Gänsehaut, und statt sie zu beruhigen, verstärkte er nur das Gefühl, von allen Seiten bedroht zu werden.

»Colby!« Paul packte sie am Arm und zerrte sie auf den Felsen, als die Rinder durch das Tal fegten.

Sie konnte den Blick nicht von Rafael wenden. Selbst angesichts einer Stampede strahlte er Macht und Selbstvertrauen aus. Ohne eine Miene zu verziehen, beherrschte er die Elemente, zeigte keinen Augenblick lang ein Anzeichen von Furcht oder Schmerzen, obwohl er körperlich unter dem starken Blutverlust leiden musste. Colby war bei ihm, in seinem Bewusstsein, und kämpfte den Kampf mit ihm. Sie wusste, dass Nicolas geistig mit ihnen beiden verbunden war. Er war bereit, jeden Moment zuzuschlagen. Durch Rafael wusste sie, dass Nicolas sich mit hoher Geschwindigkeit in ihre Richtung bewegte ... und dass er durch die Luft flog!

Blitze sprangen von der Wolkendecke zu Rafael. Er fing die glühend heißen Speere ab und benutzte sie für eine Attacke, indem er einen Hagelschauer silbriger Lichtpfeile auf den Vampir regnen ließ. Hinter Rafael wurde ein Baum entwurzelt und stürzte mit weit ausgebreiteten gewaltigen Ästen auf ihn hinab.

Colby versuchte, ihn mit einem Schrei zu warnen, aber Paul presste ihr grob seine Hand auf den Mund und warf sie fast an einen Felsen. Ihr blieb keine Zeit, ihn anzufahren, weil sie im selben Moment einen flammenden Speer entdeckte, der durch die Luft sauste und direkt auf ihr Herz zielte. Sie trat wild um sich und versuchte, sich aus Pauls ungewohnt kräftigem Griff zu befreien, mit dem er sie immer noch festhielt.

Rafaels Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als er erkannte, dass Colby in Gefahr war, und er lenkte sofort die unsichtbare Barriere, die ihn vor dem Fledermausgeschwader des Vampirs schützte, zwischen sie und den Speer. Die Waffe prallte wirkungslos an der Barriere ab, aber Rafael wurde sofort von Fledermäusen umschwärmt, die mit ihren Krallen nach seiner Haut und seinem Gesicht hieben.

Colby rammte ihrem Bruder ihren Ellbogen in die Rippen, um vom Felsen zu springen und Rafael zu helfen. Doch der erste Ansturm der Rinder stürmte über die Lichtung, sodass der schmale Streifen Land voller großer, schwerer Leiber war. Sie versuchte, ihren Bruder vor den gewaltigen Tieren abzuschirmen, indem sie sich dicht an ihn presste. Die Erde bebte; Regen fiel herab, löschte die Feuer und ließ kleine Rauchwolken aufsteigen. Sie spürte, wie Paul sie brutal an den Schultern packte. Bevor sie einen Laut über die Lippen brachte, hob er sie hoch und schleuderte sie mitten in die Herde.

Colby rollte sich instinktiv zusammen und legte ihre Arme über ihren Kopf, um sich vor den donnernden Hufen zu schützen. Nichts geschah. Der Boden unter ihr schwankte, aber nicht ein einziges der Tiere, die vorbeipreschten, traf sie. Colby hörte Stimmen und wusste, dass die Brüder Chevez die Herde umlenkten und die Tiere zu beruhigen versuchten, ehe sie die steilen Felsen erreichten, die sich im Osten erhoben.

Vorsichtig hob Colby den Kopf. Nicolas stand mit grimmiger Miene neben ihr. Er streckte einen Arm aus und zog sie scheinbar ohne jede Anstrengung hoch. Zuerst waren ihre Beine unsicher und trugen sie kaum, aber Nicolas achtete nicht darauf, sondern zerrte sie beinahe im Laufschritt zu seinem Bruder.

Rafael stand aufrecht, doch sie konnte ihn kaum sehen, weil Hunderte der gefiederten Kreaturen an ihm hingen und tiefe Wunden in seinen Körper schlugen. Mit einem Schrei riss sie sich von Nicolas los und holte nach einem der Tiere aus, das nach seinem Gesicht hackte. Bevor sie es berühren konnte, klatschte Nicolas in die Hände und sprach einen Befehl. Die Fledermäuse fielen zu Boden und wurden in Brand gesteckt. Der widerwärtige Geruch bereitete Colby Übelkeit, aber sie lief weiter zu Rafael.

Er schwankte. Colby legte einen Arm um ihn. »Ich lasse einen Arzt kommen.« Sie konnte sich nicht vorstellen, wie ein Arzt ihm helfen sollte. Ein Großteil seiner Haut war ihm vom Leib gerissen worden. Noch nie hatte sie derartige Verletzungen gesehen. Panisch sah sie sich nach dem Vampir um, da sie jeden Moment mit einem neuerlichen Angriff rechnete. »Wo ist er? Kannst du ihn sehen?«

»Er ist längst weg«, sagte Nicolas. »Er wird nicht gegen uns alle kämpfen.« Sanft berührte er Rafael.

Paul kam angelaufen, in den Händen einen schweren Ast, mit dem er nach Rafaels Kopf ausholte.

»Don Nicolas!«, rief Julio Chevez warnend.

Nicolas fing den Stock ab, wand ihn mühelos aus den Händen des Jungen und ließ Paul zu Boden sinken.

»Der Junge ist verdorben. Der Gestank des Vampirs haftet an ihm. Er ist nicht mehr als eine menschliche Marionette. Ich werde ihn sofort erledigen und die Frau für dich umwandeln. Du gehst unter die Erde, damit deine Wunden heilen können.« Nicolas war zum Äußersten entschlossen.

Colby erkannte, dass er Paul bereits abgeschrieben hatte und ihn ohne Bedenken töten würde. Sie warf sich vor ihren Bruder. »Wage es ja nicht! Komm ihm nicht in die Nähe!« Paul war größer als sie, aber sie breitete ihre Arme aus und beschwor alles herauf, was ihr an Macht gegeben war. Sie wollte nicht Paul beschützen, sie wollte zu Rafael und alles versuchen, um ihn zu retten. Sie hasste es, hier zu stehen und ihren Bruder abzuschirmen, wenn Rafael völlig am Ende war. Ihr Herz zersprang in Millionen Stücke, als sie in sein verwüstetes Gesicht schaute.

Meu amor, ich würde nie zulassen, dass Paul von einem Mitglied meiner Familie Schaden zugefügt wird. Das solltest du wissen. Die Stimme erklang nur sehr schwach in ihrem Inneren, als wäre Rafael im Begriff, von ihr zu gehen.

Sie war völlig verängstigt, wusste nicht mehr, zu wem sie zuerst laufen, wen sie beschützen sollte. »Rafael stirbt, Nicolas«, rief sie. »Willst du, dass er mit seinem letzten Atemzug gegen dich kämpft? Willst du das wirklich?«

Rafaels hohe, muskulöse Gestalt sackte in sich zusammen. Er sank auf die Knie, hielt sich noch einen Moment schwankend aufrecht und fiel dann nach vorn.

Colby konnte sich nicht erinnern, einen Satz gemacht zu haben, um ihn aufzufangen, aber sie war unter ihm, um seinen Sturz zu dämpfen. Zu ihrer Überraschung schlug sie unter seinem Gewicht nicht wie erwartet hart auf dem Boden auf. Nicolas ließ Rafael sachte nach unten gleiten und drehte ihn um, kurz bevor sein Körper auf ihren traf, sodass sein Kopf in ihrem Schoß lag. Sie erschauerte vor Angst, als Nicolas über ihr aufragte, auch wenn sie versuchte, sich zusammenzureißen.

Juan und Julio bauten sich links und rechts von Paul auf. »Don Nicolas, zwingen Sie uns bitte nicht, eine solche Wahl zu treffen. Dieser Junge ist família. Er steht genauso wie Colby unter Don Rafaels Schutz. Dies sollte auch Ihnen heilig sein.«

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Die Nacht selbst schien den Atem anzuhalten. Insekten verstummten, und das Vieh hielt unvermittelt in seiner wilden Hetzjagd inne.

»Das Gift kann möglicherweise aus seinem Körper entfernt werden, doch dafür werde ich sein Blut nehmen müssen.« Nicolas ließ es wie eine Drohung klingen und starrte Colby unverwandt an.

Sie vertraute ihm nicht und wünschte, Rafael wäre wach und könnte ihr sagen, was sie tun sollte. »Rafael hat mir versichert, dass er mich nicht belügen kann – kannst du es ?«

»Sag Ja oder Nein«, gab Nicolas schroff zurück. »Er wird unter der Säure des Vampirbluts leiden, und er wird sich nach dem Geschmack von Menschenfleisch sehnen. Er wird innerlich verrotten, und der Vampir wird ihn benutzen, um uns alle zu vernichten.«

Paul brach in Tränen aus und presste seine Hände auf seinen Magen. »Es brennt, Colby. Und in meinem Kopf summt es so laut, dass ich fast verrückt werde. Will er damit sagen, dass ich zum Kannibalen werde?«

»Dann tu, was du zu tun hast, Nicolas, doch wenn du ihm Schaden zufügst, bringe ich dich zur Strecke und ramme dir einen Holzpfahl durch dein eiskaltes Herz«, warnte Colby ihn.

Der Karpatianer ignorierte die Drohung und kniete sich neben Rafael. Fassungslos beobachtete sie, wie er mit den Zähnen sein Handgelenk aufritzte und die offene Wunde an Rafaels Mund hielt. Er sah sie aus leeren, schwarzen Augen an, als er seinen Bruder zwang, das uralte Blut zu trinken. »Er hätte dich sofort wegbringen sollen, statt deinen Launen nachzugeben.« Seine Stimme traf sie wie ein Peitschenschlag.

Colby hielt Rafaels Kopf in ihrem Schoß, die Finger in seinem langen, seidigen Haar vergraben. Ihre Jeans war mit seinem Blut beschmiert. »Ich mag dich auch nicht besonders«, fuhr sie Nicolas an. »Worin unterscheidest du dich von diesem Monster? Mein Bruder ist unschuldig. Er hat diese furchtbare Kreatur nicht darum gebeten, ihn zu entführen und mit seinem Gift zu infizieren. Ich habe nicht darum gebeten, die Gefährtin deines Bruders zu sein. Ich habe hier mein eigenes Leben, meine Verpflichtungen. Warum sollten eure Rechte mehr wiegen als meine?«

Nicolas beugte sich dicht zu ihr vor. Seine Augen waren flach und hart wie Diamanten. »Weil du nicht zu einem Monster wirst, das durch und durch schlecht ist und nur dafür lebt, anderen Schmerzen und den Tod zu bringen, wenn du deinen Gefährten des Lebens nicht findest. Ich schon. Ich bin kein Mensch. Rafael ebenfalls nicht. Seit Jahrhunderten kämpfen wir gegen die Dunkelheit. Du könntest seine Schmerzen so leicht lindern. Du könntest dafür sorgen, dass er nie den Augenblick erlebt, in dem er der Dunkelheit erliegt, aber du bist zu starrköpfig und zu egoistisch, um ihm zu geben, was er braucht. Und so dumm, das Leben deiner Geschwister, Nachbarn und anderer Leute, die du nicht einmal kennst, aufs Spiel zu setzen. Schlimmer noch, du setzt die Seele meines Bruders, meine Seele und die Seelen meiner família aufs Spiel. Letzten Endes wird er dich doch bekommen. Du gehst also völlig vergebens das Risiko ein. Wenn du mein wärst, würde ich dich einfach nehmen und die Sache hinter mich bringen.« Seine Zähne knirschten bedrohlich, als wäre er drauf und dran, ihr hier und jetzt die Kehle durchzubeißen.

Colbys Herz schlug noch lauter in ihrer Brust, aber sie wich seinem Blick nicht aus. Sie war bemüht, ihm gegenüber offen zu sein und zu verstehen, was er ihr sagte. Colby wollte begreifen, was all das zu bedeuten hatte, als sie sah, wie er seinem schwer verletzten Bruder sein eigenes Blut gab. Und der Gedanke, Rafael könnte zu einem so grauenhaften Monster werden wie das Geschöpf, das sie angegriffen hatte, war unvorstellbar. »Ich kann deinen Standpunkt verstehen. Verstehst du meinen? Ich bin keine Karpatianerin. Bis vor Kurzem wusste ich nicht einmal, dass es euch gibt. Ich kenne Rafael nicht. Ich weiß kaum etwas über ihn, außer dass er anders ist, über ungeheure Kräfte verfügt und mich auf eine Weise kontrollieren kann, die mir eine Todesangst einjagt. Ich habe Geschwister, die ich liebe, und eine Ranch, die ich für die beiden erhalten will, so wie ich es meinem Vater an seinem Totenbett versprochen habe. Ich hatte keine Ahnung von den Konsequenzen, die du mir geschildert hast. Ich bin nicht seit Jahrhunderten auf der Erde, und Vampire kenne ich nur aus Filmen.«

»Jetzt hast du einen gesehen, kennst die Folgen für Rafael und weißt, dass ich die Wahrheit sage. Was wirst du tun?«

»Ich weiß nicht einmal, was du von mir erwartest, Nicolas«, antwortete sie ehrlich. »Wie kann ich Rafael beschützen? Er hat davon gesprochen, mich vollständig in eure Welt zu holen. Was bedeutet das?«

»Hast du nicht gemerkt, dass es der Untote auf dich abgesehen hatte ? Wenn es ihm gelingt, dich zu töten, tötet er auch Rafael. Bei dem Versuch, dich umzubringen, hat er den Jungen benutzt.

»Ich habe nicht versucht, sie zu töten«, protestierte Paul. Sein Gesicht war sehr blass.

»Doch«, entgegnete Nicolas ruhig. »Und wenn das Gift nicht aus deinem Körper entfernt werden kann, wirst du es immer wieder versuchen, bis du es irgendwann schaffst. Colby, solange du ein Mensch bist, bist du verletzlich, und der Vampir weiß, dass er durch dich die Chance hat, Rafael zu töten.«

»Warum würde mein Tod Rafael töten?« Colby stellte die Frage, obwohl sie die Antwort bereits zu kennen glaubte. Sie wehrte sich gegen die Erkenntnis, aber sie konnte die Vorstellung, Rafael zu verlieren, nicht ertragen. Ihr Verstand weigerte sich, diese Möglichkeit ins Auge zu fassen, weil ihr Herz sicher war, dass sie es nicht überleben würde.

»Du weißt es«, sagte Nicolas leise.

»Denk nicht mal dran, Colby!«, begehrte Paul auf. Er krümmte sich vor Schmerzen und hielt sich den Bauch. »Lass nicht zu, dass sie irgendwas mit dir machen. Siehst du nicht, was sie sind?«

Julio legte einen Arm um Pauls Schultern. »Sie sind großartige Männer und haben uns vor dem Vampir beschützt, Paul. Nicolas ist derjenige, der dich vor dem Gift in deinem Körper bewahren kann. Kein Arzt könnte dich heilen.«

Nicolas hörte auf, Rafael Blut zu geben, und verschloss die Wunde an seinem Handgelenk, indem er kurz mit seiner Zunge über die Stelle fuhr. Colby erschauerte unwillkürlich, so beiläufig war seine Geste.

»Ich muss Rafael an einen Ort bringen, wo er in Sicherheit ist und wo ich ihn heilen kann«, erklärte Nicolas. »Er hat dich an sich gebunden, und du wirst sehr unter der Trennung leiden. Das könnte ich verhindern, indem ich dich umwandle, aber dann müsstest du mit ihm in der Erde ruhen. Entscheide dich. Er braucht sofort Pflege.«

»Wenn ich mich sofort entscheiden muss, bleibe ich hier bei meinen Geschwistern und kümmere mich darum, dass ihnen nichts passiert«, sagte Colby. In ihrer Stimme lag ein herausfordernder Ton.

»Du wirst seinetwegen leiden. Du wirst glauben, er sei tot, und dich danach sehnen, bei ihm zu sein. Du kannst dir nichts antun, egal, wie verzweifelt du bist. Nimm Verbindung mit mir auf, dann kann ich dir helfen, falls es nötig ist.« Nicolas bückte sich und hob mühelos seinen Bruder auf.

»Warte!«, rief Colby panisch. »Was ist mit Paul?« Ihr Bruder konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten, sondern musste von seinen Onkeln gestützt werden. Vornübergebeugt sackte er hilflos in sich zusammen und stöhnte vor Schmerzen.

»Ich komme später wieder, um ihn von dem Gift zu befreien. Aber du weißt, was das bedeutet: Wenn ich das tue, wird er für alle Zeit an mich gebunden sein.«

In Colbys Ohren klang es wie eine Warnung, fast schon wie eine Drohung. Schützend legte sie eine Hand an ihre Kehle. »Sollte ich nicht auf Rafael warten?« Sie wandte nicht den Blick von ihm. Sie würde sich nicht einschüchtern lassen, und sie wollte die Wahrheit wissen.

»Das liegt ganz bei dir.« Er nahm Rafael in seine Arme, als wäre sein Bruder ein kleines Kind, nicht ein großer und sehr gefährlicher Mann.

Colby legte eine Hand an Rafaels Gesicht. Er fühlte sich kalt und leblos an. Ein Schrei formte sich in ihrer Kehle, aber sie kämpfte ihn nieder. »Ist er noch am Leben?«

»Ich lasse ihn nicht sterben. Soll ich wiederkommen?«

Colby schaute ihren Bruder an, sah den abartigen Hass in seinen Augen und erschauerte. »Bitte«, flüsterte sie und wandte den Blick von Paul ab. »Bald.«

»Verräterin! Hure!« Paul ging mit erhobenen Fäusten auf sie los, das Gesicht zu einer dämonischen Fratze verzerrt.

Julio packte ihn am Arm und zog ihn aus Colbys Reichweite. »Sollen wir ihn ins Haus bringen, Senhorita ?«

Paul wehrte sich gegen seine Onkel, schnappte mit den Zähnen nach ihnen und knurrte. Dann gab er plötzlich nach, schaute sich um und blinzelte. »Colby?« Er klang jung und verwirrt. »Was ist mit mir los?«

»Du bist krank, Liebling.« Sie versuchte, ihn zu trösten, aber Tränen brannten in ihren Augen und schnürten ihr die Kehle zu. Sie konnte Rafaels Bewusstsein nicht mehr erreichen, und schon jetzt empfand sie den Verlust so schmerzlich, als hätte ihr jemand das Herz aus der Brust gerissen. Sie konnte kaum noch atmen, geschweige denn denken. Am liebsten hätte sie geschrien, mit den Händen die Erde aufgewühlt und sich bis zu der Stelle durchgegraben, wo sein Körper ruhen würde. Die Brüder Chevez schauten sie mitleidig an. »Schaffen wir ihn ins Haus«, sagte sie müde.

»Juan kümmert sich um die Herde«, erklärte Julio. »Ich passe auf Sie und Paul und Ginny auf.«

Colby stolperte hinter ihm her. Sie konnte in der Dunkelheit besser als je zuvor sehen, doch sie war so aus der Bahn geworfen, dass sie sich blind und taub fühlte. »Passiert so etwas öfter?« Was waren das für furchtbare Wesen, und wie schlimm wurde er verletzt, Nicolas ? Er ist so schwer angeschlagen und hat schrecklich viel Blut verloren. Sie hatte Rafael nicht geküsst und nicht versucht, ihn in den Armen zu halten. Was, wenn Rafaels Bruder mehr Monster als Mann war?

Ich bin mehr Monster als Mann, bestätigte Nicolas. Seine Stimme klang leise und fast geistesabwesend. Sie konnte einen Sprechgesang hören, der sich ständig wiederholte, uralte Worte in einem tröstenden Rhythmus der Macht. Ich werde ihn heilen, ihm noch mehr Blut geben und ihn dann der Erde anvertrauen.

Julio sah sich nach ihr um, während er Paul zum Haus schleppte. »Brauchen Sie Hilfe, Colby?« Als sie den Kopf schüttelte, fuhr er fort: »Ja, ich habe schon viele Kämpfe zwischen Vampiren und Jägern mit angesehen. Dieser Vampir ist nicht wie die anderen. Er ist gerissener und hat sehr viel Macht.«

Colby schlang beide Arme um sich, als sie den schmalen Weg zum Ranchgebäude zurückging. Rafael war diesen Weg mit ihr gegangen, hatte ihre Hand gehalten und ihr das Gefühl gegeben, die schönste und begehrenswerteste Frau der Welt zu sein. Wenn er in ihrer Nähe war, schien nichts anderes mehr zu zählen. Sie versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, was Nicolas über die Umwandlung gesagt hatte, doch in ihrem Kopf ging alles drunter und drüber.

»Werden sie oft verletzt?«, fragte sie Julio schüttelte den Kopf. »Vampire sind sonst ganz anders. Die Jäger sind sehr mächtig und haben viel Erfahrung. Rafael ist ein großer Kämpfer, und zusammen mit seinem Bruder Nicolas oder einem anderen seiner Brüder wird er kaum jemals verwundet. Aber dieser hier« – er schüttelte den Kopf-»dieser hier gehört zu denen, die sie ›Meistervampire‹ nennen, einer vom uralten Stamm, der seit langer Zeit seiner gerechten Strafe entgeht. Zacarias, der Älteste der Brüder De La Cruz, glaubt, dass ein Meistervampir einer vom uralten Stamm der Karpatianer ist, einer, der schon lange auf der Welt und sehr erfahren im Kampf ist, bevor er schließlich dem Ruf der Dunkelheit verfällt. Ein Meister tritt nicht zum Kampf an, sondern benutzt menschliche Marionetten, die seine Befehle ausführen. Er kann geringere Vampire zu sich rufen und sie wie Bauern auf einem Schachbrett benutzen. Und er kann andere Spezies zum verkörperten Bösen mutieren lassen. Ein Beispiel für sein Werk haben Sie gesehen.«

»Sie sind sehr nervös. Was verschweigen Sie mir?«

Julio schaute sie aus dunklen, sorgenvollen Augen an. »Nicolas kann das verseuchte Blut entfernen und die Schmerzen lindern, aber solange der Vampir nicht völlig zerstört ist, wird Paul mit ihm verbunden sein. Er kann immer noch versuchen, den Jungen zu benutzen. Nicolas wird der Einzige sein, der zwischen Paul und dem steht, was der Vampir von ihm will. Nicolas ist vom uralten Stamm und sehr mächtig, aber er ist dem Ende seiner Zeit bedenklich nahe. Außerdem muss er tagsüber ruhen. Was Sie von ihm verlangen, ist gefährlich für ihn. Wenn er es nicht tut, wird Paul irgendwann sterben, und Sie werden dafür dankbar sein.«

Colby presste ihre Finger an ihre pochenden Schläfen. Sie brauchte Rafaels beruhigende geistige Nähe. Er liegt in der Erde und ist in Sicherheit. Ich habe ihn mit Blut versorgt. Wir treffen uns nachher in der Scheune. Ich will nicht, dass das Mädchen sieht, was wir tun müssen, um ihrem Bruder zu helfen. Du musst dir ganz sicher sein. Faul kann und wird dir schaden, solange der Vampir Zugriff auf ihn hat und ihn programmieren kann. Ich kann mich dazwischenstellen und ihm die Schmerzen nehmen, aber die Bindung zwischen ihnen kann ich nicht aufheben.

Nicolas bot ihr an, ihren Bruder zu töten. Seine Stimme, die völlig unbewegt und leer klang, war es, die Colby krank und ihr Rafaels trostloses Dasein eindringlich bewusst machte. Sie konnte fast sehen, wie sich die Dunkelheit in ihn einschlich, seine Seele zerfraß und ihn schließlich verschlang. Sie schloss die Augen, doch sie konnte das Bild, das ihr vor Augen stand, nicht auslöschen.

Ich passe auf ihn auf, bis du eine Gelegenheit hast, den Vampir zu töten. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen.

Rafael hat einiges zu verantworten. Eine unüberhörbare Schärfe lag in Nicolas' Stimme.

Er hat versucht, mir Zeit zu geben. Ist das wirklich so schlimm? Tränen brannten in ihrem Herzen. Hatte sie all das ausgelöst? War es ihre Schuld, dass Rafael wie tot in der Erde lag?

Ich fühle seine Liebe für dich. Dieses Gefühl gibt mir Halt, aber es kann mich nicht milder stimmen. Er hat mir Hoffnung gegeben, indem er mir seine Gefühle für dich mitteilte. Seine Empfindungen reichen sehr tief und sind äußerst komplex. Vie Anwesenheit anderer Männer in deiner Nähe, einschließlich meiner, bereitet ihm Unbehagen, doch er versucht, diese gefährlichen Emotionen zu ignorieren, um dir den Freiraum zu geben, den du brauchst, um zu ihm zu kommen.

Ist es meine Schuld?, beharrte sie.

Schweigen war die einzige Antwort, die sie erhielt, als sie die Scheunentür aufstieß und sich Nicolas und seinen erbarmungslosen schwarzen Augen gegenübersah.