3

Bis in den Sumpf hinein wurden Saria und Drake verfolgt, und ihre Verfolger gaben sich auch gar keine Mühe, das zu verbergen. Drakes Leopard streckte sich lässig und schärfte die Krallen, er war bereit zum Kampf ja geradezu versessen darauf. Einige Augenblicke musste Drake ganz still stehen bleiben und sich darauf konzentrieren, seinen eigenen Machtkampf im Innern zu gewinnen, denn der Geruch der Männchen, die ihrem Boot am Ufer folgten, machte seinen Leoparden wild. Innerhalb von Minuten war aus ihm ein kaum bezähmbares Raubtier geworden.

Drake hob das Gesicht gen Himmel. In den Wolken brodelte eine explosive Mischung aus Hitze und Feuchtigkeit, die sich bald zu entladen drohte. Das stürmische, unberechenbare Wetter passte zu seiner Verfassung. Er durfte es seinem Leoparden nicht erlauben hervorzukommen, das war zu gefährlich in einem Boot, so nah bei Saria. Und angesichts der Leoparden am Ufer, die nur auf Streit warteten. Drake bezwang das Verlangen, sich zu verwandeln, indem er alle möglichen Formen von Disziplin und Kontrolle einsetzte, die er sich über die Jahre angeeignet hatte, um den aufgebrachten Kater in Schach zu halten.

Der Schmerz in seinem Kiefer ließ nach, doch die Knochen schmerzten immer noch, insbesondere der im verletzten Bein. Er verlagerte das Gewicht, um es zu entlasten, und holte mehrmals tief Luft, um den wahnsinnigen Drang nach der Verwandlung zu unterbinden. Ein ums andere Mal drängte er den Leoparden zurück. Seine Handknöchel brannten und in den Fingerspitzen pulste ein stechender Schmerz. Als ihm ein leises Knurren entschlüpfte, merkte er, wie Saria erstarrte und ihm einen Blick zuwarf. Da tat er, als sei er in den Anblick der Landschaft versunken.

Das Boot glitt über den weichen grünen Teppich aus Entengrütze und trug sie tiefer in den nebligen Sumpf. Schon waren die Bäume dabei, ihre Blätter zu verlieren, sodass die Äste sich wie riesige, knöcherne Finger über das dunkle Wasser streckten, als wollten sie jeden unvorsichtigen Besucher in die alligatorverseuchten Kanäle und Bayous zerren. Während der Mond aufging und sein silbernes Licht auf die schwarze Wasseroberfläche warf, fuhren sie an weiten Grasebenen vorüber. Zypressen und Weiden ragten über die Ufer und aus den verschlungenen Ranken und Pflanzen am Boden des Sumpfes wuchsen Tupelobäume. Schmale Silhouetten von Reihern, die ihr weißes Gefieder putzten, zeichneten sich vor dem dämmrigen Himmel ab.

Riesige Gewitterwolken kündigten weiteren Regen an und machten den Himmel noch düsterer. Drake gebrauchte die Sehfähigkeit des Raubtiers, um alle Schleier zu durchdringen, und entdeckte eine Biberratte, die ihnen nachschaute. Ein Otter hockte auf einem Baumstamm, doch seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf einen Zypressenhain am Rande des Sumpfes. Es wunderte ihn nicht, als ein großer Bock vom Ufer weglief und sich in Sicherheit brachte, wahrscheinlich hatten die Leoparden, die ihrem Boot folgten, ihn aufgeschreckt.

Drake suchte nach Orientierungspunkten, fand aber keine. »Du scheinst dich gut auszukennen, obwohl es nicht viele Landmarken gibt, die einem den Weg weisen könnten.«

»Du solltest hier nie ohne Führer unterwegs sein«, warnte sie ihn. »Ich sage das nicht einfach nur, um im Geschäft zu bleiben. Der größte Teil der Gegend ist verpachtet, und die Pächter sind bereit zu schießen, um ihr Land zu verteidigen. Ihren Lebensunterhalt verdienen sie sich mit Fallenstellen, Jagen und Fischen ein hartes, zufriedenes Leben. Leider gibt es Wilderer und andere mit undurchsichtigen Geschäften, von denen niemand etwas wissen soll. Und das ist es, was die Art, wie wir hier leben, bedroht.«

»Verstehe«, sagte Drake, um sie zu beruhigen. Es war Saria anzusehen, dass sie sich wirklich um seine Sicherheit sorgte und normalerweise hätte sie ja auch Grund dazu gehabt. Doch er trug einen Leoparden in sich, der sich überall zurechtfand sogar in ihrer Welt. Er konnte sich auf sich selbst verlassen.

Als ob sie seine Gedanken gelesen hätte, fuhr Saria mit ihren Warnungen fort. »Weite Strecken des Landes sind löchrig wie ein Schwamm, ein falscher Schritt und du versinkst.«

Drake entdeckte eine Raubkatze, die durch die Bäume am Ufer rannte, und musste heimlich grinsen. Leoparden setzten ihre Tatzen instinktiv richtig. Sie waren gute Schwimmer und Kletterer. Er würde sich im Sumpf genauso gut zurechtfinden wie ein Einheimischer.

Die Gegend war wunderschön. Die halb versunkenen Bäume ragten nackt, schief und knochig aus dem Wasser und reckten die knorrigen Äste, die unter großen Moosschleiern verborgen waren. Drake beobachtete den Leoparden. Gestaltwandler konnten ihre Geschwindigkeit über längere Strecken halten als echte Leoparden, aber nicht über mehrere Meilen, nicht bei diesem Tempo. Deshalb kam gerade ein Leopard schlitternd zum Stehen und ein anderer, der ihn erwartet hatte, übernahm die Verfolgung. Das Rudel wusste also Bescheid und trommelte seine Leute zusammen.

Drake musste sich abwenden, um sein Grinsen zu verbergen. Sie hätten Saria doch einfach fragen können, wohin sie ihn bringen würde, dann hätten sie sich die ganze Mühe erspart. Doch sie wären ihnen wohl trotzdem gefolgt um auf das Weibchen zu achten. Er jedenfalls hätte es so gemacht. Wie auch immer, heute Nacht würde er Besuch bekommen. Die andern wussten genau, was er war; sie hatten das Tier in ihm gewittert, und die Tatsache, dass er sich nicht hatte einschüchtern lassen, würde ihnen nicht gefallen, nicht wenn ein Weibchen im Spiel war.

Drake schaute auf seine Armbanduhr. Bald sollte er über sein Satellitentelefon Kontakt mit Jake Bannaconni aufnehmen. Er hatte es gerade noch auf das letzte Schiff geschafft, weil er auf einen Abschiedsbesuch bei seinem Chirurgen vorbeigeschaut hatte. Sobald sich eine Gelegenheit ergab, wollte er sich verwandeln. Sein Leopard hatte sich lange genug geduldet. Sie gingen beide zugrunde, wenn sie ihre wilde Natur nicht ausleben konnten.

Der Nebel sammelte sich, schob sich langsam durch die schemenhaften Bäume und verdichtete sich zu einem schweren grauen Vorhang. Je tiefer sie in den Sumpf eindrangen, desto stärker veränderten sich die Geräusche. Drake erhaschte einen Blick auf eine Jagdhütte, eine kleine, gemütliche Unterkunft, die beim Fischen und Fallenstellen benutzt wurde. Das Holzhaus stand für etwas, das im Verschwinden begriffen war: für die Art, wie jene unabhängigen und überaus stolzen Menschen hier von dem lebten, was das Land ihnen gab. In dieser Gegend hielten die Familien noch fest zusammen und die hart arbeitenden Menschen unterstützten einander im Kampf ums Überleben.

Drakes Blick schweifte von der Hütte zu Saria, die das Boot mit leichter Hand lenkte. Das Haar wehte ihr ums Gesicht, trotzdem wirkte sie nobel, ja geradezu majestätisch, wie sie so dastand in ihren einfachen Bluejeans und ohne eine Spur von Make-up. Sie war wie die Natur selbst. Stark, aber empfindlich. Unabhängig und dennoch verletzlich. Schwer zu fassen und gleichzeitig sehr verlockend. Ihre Lippen waren leicht geöffnet und ihre Augen glänzten. Der Wind hatte ihre Wangen leicht erröten lassen. Sie sah zu ihm herüber und lachte laut, offenbar genoss sie die Fahrt. Ihr Lachen hallte über das Wasser und vermischte sich, für ihn untrennbar, mit der rhythmischen Melodie des Sumpfes.

Die körperliche Reaktion ließ nicht auf sich warten, sein Inneres wurde ganz weich und das Äußere hart. Bislang war er selten von Begierde geplagt gewesen doch diesmal gehörte zu dem Gefühlschaos, das Saria in ihm ausgelöst hatte, eindeutig auch das Begehren dazu. Er bewunderte ihre Ruhe. Ihr Schlichtheit und Komplexität. Und ihr magisches Lachen verzauberte ihn.

»Kommst du aus einer großen Familie?« Sie hatte von Brüdern gesprochen, im Plural, also hatte sie mehr als einen.

»Ja und Nein.«

Sie zuckte lässig die Achseln, etwas zu lässig vielleicht. Sofort war seine Neugier geweckt. Saria hatte sich nur flüchtig nach ihm umgesehen und schnell wieder weggeschaut. Nun starrte sie über das Wasser. Ihre Haltung hatte sich nicht verändert, doch er spürte, dass sie ihm auswich. Sie sprach nicht gern über ihre Familie. Lag es an ihrer Art, ihrer natürlichen Zurückhaltung, oder steckte etwas Schlimmeres dahinter?

»Ich habe fünf Brüder, aber ich bin acht Jahre jünger als der jüngste von ihnen. Meine Mama ist ein paar Jahre nach meiner Geburt gestorben, und ehe ich die Gelegenheit hatte, einen von ihnen näher kennenzulernen, waren sie schon alle fort, um woanders zu arbeiten. Natürlich haben sie Geld geschickt, aber ich bin eigentlich nicht mit ihnen aufgewachsen; ich war also gewissermaßen ein Einzelkind.«

»Du musst sehr einsam gewesen sein.«

Saria runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Manchmal, wenn sie zu Hause waren und sich unterhielten, ohne mich richtig zu beachten, fühlte ich mich ausgeschlossen, doch im Großen und Ganzen hatte ich eine tolle Kindheit.« Sie grinste ihn an. »Ich tat einfach, was ich wollte.«

Schon allein für dieses Grinsen liebte er sie; es war so vertraut, als wüsste er, was sie meinte. Er konnte es sich nicht verkneifen, genauso zurückzugrinsen. Es war sehr schön, dass Saria ihm einen kleinen Einblick in ihr Leben und ihre Vorstellungen gewährte. Er speicherte die Informationen gut ab, damit er sie nicht mehr vergessen konnte. Nachdem er in den letzten Jahren wie ein Zombie durchs Leben gegangen war, hatte sie ihn mit einem Schlag aufgeweckt.

Plötzlich fuhr ihr Kopf herum und sie spähte angestrengt in die Sumpflandschaft zur Linken. Drake schaute vorsichtshalber nach rechts, für den Fall, dass sie ihn im Auge behielt. Ja, genau. Dort liefen zwei Leoparden. Allein war er definitiv in der Unterzahl, und falls sich die beiden zusammen auf ihn stürzten, was sehr wahrscheinlich war, würde es Verletzte geben.

Er riskierte einen schnellen Blick auf Sarias Gesicht. Sie war blass geworden und schaute, die Lippen fest zusammengepresst, die Schultern sehr gerade, auf den Kasten zu ihren Füßen. Er hätte seinen letzten Dollar darauf gesetzt, dass er Waffen enthielt. Seine kleine Führerin war also darauf vorbereitet, ihn zu verteidigen. Ihm wurde ganz warm ums Herz.

»Festhalten«, sagte sie grimmig.

Dankbar für den Hinweis suchte Drake sich einen Halt. Abrupt schwenkte das Boot herum und rauschte durch den dichten Entengrützenteppich in einen anderen Kanal hinein. Schilfrohr überwucherte den schmalen Wasserweg, der sie vom Sumpf wegführte, in dem die großen Katzen sich bei der Verfolgung ablösten. Ein wütendes Brüllen ließ die Vögel kreischend auffliegen einer der Leoparden verschaffte offenbar seinem Ärger Luft.

Drake suchte Sarias Blick. »Was zum Teufel war das?« Die Frage musste er ja stellen.

»Es gibt ein paar unerfreuliche Dinge im Sumpf«, erklärte sie. »Aber keine Sorge. Ich kenne mich aus.«

»Das sehe ich. Und ich mache mir keine Sorgen, Saria. Ich bin durchaus imstande, auf mich selbst aufzupassen und notfalls auch noch auf dich«, versicherte er ihr. »Ich habe dich als Führerin engagiert, nicht als Beschützerin. Falls wir hier draußen in Schwierigkeiten geraten sollten, möchte ich, dass du so schnell wie möglich abhaust.«

Saria gab etwas von sich, das in einem Hüsteln endete. Drake war sich ziemlich sicher, dass sie leise das Wort »Schwachsinn« gemurmelt hatte, den Ausrutscher aber nett überspielte. »Ach, cher«, sagte sie beruhigend, »ich hätte nicht mehr viel zu tun, wenn ich meine Kunden im Sumpf den Alligatoren überließe, nicht wahr?« Es hörte sich schon wieder so an, als hielte sie ihn für einen alten Trottel.

»Ich verstehe«, konstatierte er und musste wider Willen lachen.

Saria lachte mit. »Das freut mich. Die letzten drei, die ich als Köder für Alligatoren benutzt habe, haben mich angeschwärzt. Dabei ist ihnen bloß ein Arm oder ein Bein abhandengekommen, mehr nicht, begreifst du das?«

»Kaum zu glauben, dass man sich über solche Kleinigkeiten beschwert.«

Das Boot schwenkte noch einmal jäh zur Seite und fuhr über eine Schmalstelle im Schilf zurück in den Hauptkanal. Dann glänzte die Wasseroberfläche mit einem Mal dunkelblau. Sie befanden sich auf einem See und die offene Wasserfläche schimmerte wunderschön in der Nacht.

Saria deutete auf eine kleine, einladende Bucht. »Siehst du den kleinen Strand da drüben? Viele Ausflügler gehen zum Schwimmen dorthin. Einer der größten Alligatoren, die ich je gesehen habe, nutzt den Platz immer, um ein Sonnenbad zu nehmen. Sein Revier ist gleich drüben links. Die Leute sind verrückt, ihre Kinder hierherzubringen.«

»Hat man schon mal versucht, ihn zu fangen?«

»Ihn zu fangen?«, wiederholte Saria. »Hier werden Alligatoren nicht umgesiedelt, Drake. Wir leben von ihnen, doch die Antwort lautet Ja, wir haben versucht, ihn zu erwischen. Aber er ist schlau. Er nimmt den Köder, löst ihn vom Haken, stiehlt ihn und lässt uns nur das Nachsehen.« Ihr Ton verriet einen gewissen Respekt.

Ein bläuliches Grau legte sich über das Ufer und hüllte die dortigen Bäume in seinen geheimnisvollen Schleier. Es war schwierig, den dichten Dunst zu durchdringen. Während das Boot einer Biegung folgte und die Zypressen von Eichen und Kiefern abgelöst wurden, beobachtete Drake aufmerksam das Gelände. Die Bäume gruppierten sich um ein langgestrecktes, viktorianisch angehauchtes Schlösschen. Das blassblaue Haus mit den weißen Einfassungen verschmolz mit dem blaugrauen Nebel, der vom Bayou hereinwehte. Die umlaufende Veranda wirkte sehr einladend und die großen Balkone im ersten Stock verlockten dazu, sich einfach hinzusetzen und dem Wasser beim Fließen zuzusehen. Ein paar Schritte vom Ufer entfernt hingen Hängematten im kühlen Schatten der Bäume. Ochsenfrösche und Grillen gaben ein Konzert zur Begrüßung.

Saria strahlte ihn an. »Ist es nicht ein Juwel? Heutzutage wird es von Miss Pauline Lafont als Pension geführt. Ursprünglich war es das Zuhause ihrer Großmutter. Ihre Mutter hat daraus später eine Frühstückspension gemacht und Miss Pauline selbst hat das Ganze dann ausgebaut.«

»Es ist genauso, wie du es mir beschrieben hast«, bestätigte Drake. Ihm war am wichtigsten, dass er ungestört blieb. Das Haus zeugte von der altertümlichen Eleganz einer längst vergangenen Ära. Es war ruhig, abgelegen und ein Schmuckstück, genau wie Saria es versprochen hatte, als er sie auf ihre Anzeige hin kontaktiert hatte. »Perfekt«, setzte er zufrieden hinzu.

Er hatte Saria noch nicht verraten, dass er die gesamte Pension für zwei Wochen gemietet hatte, in der Absicht, sein Team nachzuholen, sobald er etwas entdeckte. Und dass er etwas finden würde, dessen war er sich nun sicher. Schließlich war er mitten in den Sümpfen von Louisiana auf ein Gestaltwandler-Rudel gestoßen, das keinen Deut weniger scheu war als jene in den Regenwäldern, dieselbe eingeschworene Gemeinschaft. Jetzt ergab alles einen Sinn.

Drake hörte geduldig zu, als er der Frau vorgestellt wurde, deren Familie dieses wunderschöne viktorianische Haus schon seit hundert Jahren gehörte. Pauline Lafont war eine zierliche alte Dame mit Lachfältchen um die Augen und einem heiteren Gemüt. Er mochte sie auf Anhieb.

»Hätten Sie gern die große Tour?«, fragte sie freundlich.

»Sehr gerne, Ma’am«, erwiderte er ehrlich. »Dieses Haus ist wunderbar.« Es war wichtig zu wissen, wie der Grundriss aussah, wo die Ecken waren, die als Versteck dienen konnten. Und in welchem Teil Ms. Lafont wohnte, wo sie sich aufhielt, wenn sie sich nicht gerade um ihre Gäste kümmerte.

»Ich überlasse dich jetzt Miss Pauline«, sagte Saria, »aber bei Tagesanbruch bin ich wieder da und hole dich ab.«

Drake ließ sie nur ungern ziehen. Wenn der Anführer des Rudels wusste, dass ihr Han Vol Don direkt bevorstand und sich der Leopard in ihr bald zeigen würde, dann ließe er sie wohl kaum auch nur in Drakes Nähe. »Willst du nicht einfach bleiben, damit wir früh aufbrechen können? Das ist vielleicht unkomplizierter. Außerdem möchte ich heute Nacht noch in den Sumpf.«

»Ich habe bereits mit Pauline abgemacht, dass ich in der Pension übernachten werde«, gestand Saria, »aber ich brauche noch ein paar Sachen von zu Hause. Falls ich es heute Nacht nicht mehr hierher schaffe, bin ich vor dem ersten Sonnenstrahl zurück.«

Drake konnte sie schlecht festhalten, so gern er es auch getan hätte. Stattdessen sah er ihr tief in die Augen, denn er wusste, dass in ihnen bereits jener faszinierende Katzenblick lag, mit dem er sie durch pure Willenskraft an sich binden konnte. Sie musste den Hunger darin, den drängenden Trieb, längst wahrgenommen haben, denn er konnte ihn nicht unterdrücken, obwohl er sich sagte, dass er sie richtig umwerben musste sie hatte es verdient. Selbst ein Leopard näherte sich seiner Partnerin nicht ohne Vorbereitung. Der Blickkontakt wurde so intensiv, dass vor seinen Augen bunte Schatten zu tanzen begannen.

Pauline räusperte sich. Saria blinzelte mehrmals und riss sich los. Ihre Wangen waren rot angelaufen.

»Miss Pauline«, sagte sie, ohne einen weiteren Blick in seine Richtung zu riskieren, »ich bin so bald wie möglich zurück.« Dann wandte sie sich mit gesenktem Kopf ab, um ihn nicht mehr ansehen zu müssen.

»Saria«, sagte Drake sanft, er schaffte es nicht, sie einfach so gehen zu lassen.

Sie blieb stehen, sah sich aber nicht um.

»Sei vorsichtig. Und komm zu mir zurück.« Er musste das loswerden, nahm dem klaren Befehl aber durch den samtweichen Tonfall die Schärfe.

»Ich versprech’s.« Ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern, und doch ging sie ihm durch und durch. Mit geballten Fäusten sah Drake zu, wie Saria sich zum Gehen wandte. Sein Leopard war ganz nah zu nah. Schon spürte er, wie nadelspitze Krallen in seine Handflächen drangen. Er atmete gegen das Tier an.

Pauline brachte Saria zur Tür und blieb eine Minute im Eingang stehen, um zuzusehen, wie ihre Freundin leichtfüßig zum Steg hinunterlief. »Sie ist ein sehr kluges Mädchen«, verkündete sie; offenbar hatte seine Wirtin bemerkt, dass ihm etwas an Saria lag. Drake kam zu dem Schluss, dass Pauline Lafont eine unverbesserliche Romantikerin sein musste und kaum, dass er sein Interesse an Saria hatte durchscheinen lassen, auch schon am Planen war. Wenigstens eine, die auf seiner Seite war. »Und sie ist sehr nett.«

»Sie kennt sich gut aus im Sumpf«, sagte Drake. »Ich war überrascht von ihr. Sie weiß sehr viel, trotzdem ist sie hiergeblieben. Ich hätte gedacht, dass die meisten jungen Leute sich woanders Arbeit suchen.« Saria hatte sich nicht ein einziges Mal nach ihm umgesehen. Das wusste er, weil er ihr den ganzen Weg bis zum Boot nachgeschaut hatte. Sie hatte nicht einmal einen Blick über die Schulter geworfen.

Pauline nickte. »In der Regel ist das auch so, obwohl die meisten von uns später wieder zurückkehren. Diese Landschaft hat etwas an sich, das einen nicht loslässt. Saria stammt aus einer der sieben alteingesessenen Familien. Die verlassen die Sümpfe so gut wie nie, selbst wenn sie außerhalb arbeiten. Remy, ihr ältester Bruder, ist bei der Kripo in New Orleans. All ihre Brüder haben in der Armee gedient und arbeiten heute größtenteils am Fluss, aber sie kommen immer wieder nach Hause.« Sie sah ihm direkt in die Augen und ließ den nächsten Satz wie eine Warnung klingen. »Sie hat fünf Brüder.«

»Anscheinend nichts Besonderes in dieser Gegend«, erwiderte Drake ungerührt. »Ist es denn eher ungewöhnlich, dass die Kinder direkt nach ihrer Schulzeit in den Sumpf zurückkehren?«, fragte Drake, während er Pauline folgte und sich dabei den Grundriss des großen Hauses einprägte.

»Ich glaube, die meisten jungen Leute denken, woanders ginge es ihnen besser. Sicher wollen sie mehr vom Leben«, sagte Pauline. »Hier im Sumpf kann es sehr hart sein. Sie ziehen alle nach der Schule weg, wie ich schon sagte.«

»Es sei denn, sie stammen aus einer der Gründerfamilien?« Drake achtete darauf, nur beiläufig interessiert zu klingen.

Pauline legte die Stirn in Falten und dachte nach. »Die sieben Familien, die am engsten zusammenleben, kommen immer wieder nach Hause«, gab sie zu. »Seit ich mich erinnern kann, geht das schon so sie gehen zur Schule, kommen wieder und übernehmen das Geschäft und den Lebensstil der Eltern. Meine Schwester Iris hat in die Familie Mercier eingeheiratet. Ihre Kinder Armande und Charisse sind beide aufs College gegangen und danach zurückgekehrt. Ich habe nie eigene Kinder gehabt, deshalb sind mein Neffe und meine Nichte etwas Besonderes für mich genau wie Saria. Charisse ist unglaublich begabt«, sagte Pauline voller Stolz. »Sie und ihr Bruder haben eine Parfümerie in New Orleans, aber eigentlich kreiert Charisse Düfte und vertreibt sie weltweit. Es ist ihr zu verdanken, dass das Geschäft ein so großer Erfolg geworden ist. Trotzdem wohnen die beiden lieber auf dem Familiensitz als in der Stadt.«

»Sie möchten nicht in New Orleans leben?«

Pauline nickte. »Remy, Sarias Bruder, arbeitet auch und wohnt zu Hause. Das hat mich schon etwas überrascht. Insbesondere bei Charisse, weil sie immer behauptet hat, sie könne es gar nicht abwarten, hier herauszukommen und in die Stadt zu ziehen. Die Familien stehen sich sehr nah, aber wie ich schon sagte, es ist ein schweres Leben.«

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Drake mit einem bewundernden Unterton in der Stimme. Er war im Dschungel groß geworden und kannte die Sehnsucht nach der Wildnis. Und die Sümpfe von Louisiana waren mit Abstand das Wildeste, was sich einem einheimischen Leoparden bot. »Sieben Gründerfamilien, sagten Sie? Gehören Sie auch zu einer davon?« Pauline hatte kein Tier in sich. Das wäre ihm sofort aufgefallen. In ihrem Alter wäre das Tier längst hervorgekommen, aber er wollte, dass sie weiterredete.

Pauline öffnete eine Tür und zeigte ihm ein Speisezimmer mit glänzendem Parkett und einer polierten Tafel. »Oh nein, aber ich kenne sie alle seit Jahren. Eine sehr enge Gemeinschaft. Sie kommen zwar schon zu Festen, schotten sich aber sonst nach außen hin ab. Sie sind recht isoliert.«

Alles passte zusammen. Leoparden, ob echte und unechte, waren in der Regel scheu und verschlossen. Ein Rudel aus sieben Familien schien ihm für ein so kleines Gebiet recht groß zu sein.

»Wie heißen denn diese sieben Familien?« Drake schlug extra einen beiläufigen Ton an, um Pauline noch mehr zu entlocken. »Ich finde, die Namen in dieser Gegend klingen so interessant.«

»Warten Sie mal. Boudreaux natürlich, und dann wären da noch die Familien Lanoux, Jeanmard, Mercier, Mouton, Tregre und Pinet. Sie alle können ihren Stammbaum bis zur ersten Besiedlung zurückverfolgen.«

Es war wie ein Schlag in die Magengrube, und Drake musste vorsichtig atmen, um sich nichts anmerken zu lassen. Tregre? Den Namen kannte er. Eine Frau aus seinem Rudel hatte einen Mann dieses Namens geheiratet. Später, als sie ihren Mann verloren hatte, war sie zurückgekehrt, mit ihrem Sohn, Joshua. Und der wiederum arbeitete nun auf der Bannaconni-Ranch als Leibwächter für Jakes Frau Emma.

Joshua hatte nie auch nur ein Wort über seine Verbindung zu einer Familie in Louisiana verloren. Wusste er überhaupt, dass sein Vater aus den Sümpfen hier stammte? Joshua gehörte zu den Männern, die Jake als Verstärkung schicken wollte. Konnte man Joshua überhaupt trauen, falls er über seine eigenen Verwandten richten musste?

Warum war Elaina damals eigentlich nach Hause zurückgekehrt? Drake konnte sich noch gut an sie erinnern. Sie war in den Staaten zur Schule gegangen, hatte dort geheiratet, und war dann ein paar Jahre später, Joshua war ungefähr vier oder fünf, mit ihrem Sohn zu ihrer Familie in den Dschungel von Borneo zurückgekehrt. Joshuas Vater wurde von niemandem mehr erwähnt. Und Elaina hatte nie wieder geheiratet. Mit jedem Moment, den er über die Geschichte nachdachte, desto verworrener erschien sie ihm.

Nachdem Drake Pauline davon überzeugt hatte, dass er kein Abendessen mehr wollte, verabschiedete er sich und ging hinauf in sein Zimmer. Als Erstes rief er mit seinem Satellitentelefon Jake Bannaconni an.

»Wir haben tatsächlich ein Problem hier, Jake«, sagte er gleich nach der Begrüßung. »Ich habe keine Ahnung, wie groß es ist, aber in dieser Gegend gibt es ein Gestaltwandler-Rudel.«

Jake Bannaconni brauchte einen Augenblick, um die Nachricht zu verdauen. »Bist du in Sicherheit?«

»Im Augenblick schon. Aber bestimmt bekomme ich heute Abend Besuch. Die anderen wissen, dass ich da bin, und auch, was ich bin. Sie werden nicht begeistert sein, dass ich in ihrem Revier herumschnüffle, und wenn sie den Grund meines Besuches erfahren, werden sie mich erst recht nicht mit offenen Armen empfangen.«

»Hast du schon herausgefunden, wer mir den Brief geschrieben hat?«, fragte Jake.

»Noch nicht, aber so wie er formuliert ist so vorsichtig, und doch mit eindeutigen Anspielungen auf die Leopardenmenschen –, muss es jemand aus den sieben Familien sein, die dazugehören. Ich habe meine Führerin kennengelernt und die Pensionswirtin, aber sie scheinen nichts von den Gestaltwandlern zu ahnen, obwohl ich bei beiden nicht hundertprozentig sicher sein kann. Dein Urgroßvater muss Bescheid gewusst haben. Er hat ihnen dieses Land verpachtet.«

»Jake Fenton ließ sich niemals gern in die Karten schauen«, erwiderte Jake. »Er hat immer darauf geachtet, wie viel er mir erzählt. Andererseits hat er mir dieses Land ja hinterlassen, und ich schätze, er würde von mir erwarten, dass ich diese Menschen beschütze.«

»Nicht wenn einer von ihnen zum Mörder geworden ist, Jake«, gab Drake zu bedenken. »Was weißt du über Jake Fenton? Wie war er?«

»Er war der Großvater meiner Mutter. Einmal habe ich ihn einfach gefragt, ob er sich verwandeln könne, und er hat Nein gesagt. Aber er hat zugegeben, dass seine Familie versucht hat, Frauen mit dem richtigen Erbgut zu finden, um Gestaltwandler zu produzieren. Sie wollten ein Kind, das die Fähigkeit besitzt, Öl zu wittern.«

»So wie du.«

»Ganz genau, aber sie haben nicht bemerkt, dass es ihnen gelungen war. Nur mein Urgroßvater hat geahnt, dass ich ein Gestaltwandler bin«, sagte Jake, »aber ich habe es ihm gegenüber nie zugegeben. Er war derjenige, der mir geraten hat, nach Borneo zu gehen und mein Volk zu suchen, um mehr darüber zu erfahren.«

»Hat er dir je vorgeschlagen, nach Louisiana zu gehen? Oder diese Gegend bei einer Unterhaltung über Gestaltwandler erwähnt?«, hakte Drake sofort nach.

Es gab eine kleine Pause, in der Jake die Gespräche mit seinem Urgroßvater Revue passieren ließ. Sie hatten nur selten miteinander geredet, und Jake war sehr jung und verschlossen gewesen. »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er in Verbindung mit Louisiana je von Gestaltwandlern gesprochen hätte. Aber er wusste, dass es dort Öl gibt. Deshalb hat er alle Holzfirmen aufgekauft, nicht wegen des Holzes, sondern wegen des Öls«, erklärte Jake. »Ich habe noch nicht allzu viel Zeit darauf verwandt, die Gegend zu erforschen. Ehrlich gesagt hatte ich das erst in zwei Jahren vor. Ich habe die Pachtverträge einfach weiterlaufen lassen. Fenton schien mit sieben oder acht Familien dort unten befreundet zu sein, und hat ihnen erlaubt, das Land zum Jagen, Fischen und Fallenstellen zu nutzen.«

»Kannst du mir sagen, wie diese Familien heißen?«, fragte Drake. »Dann kann ich die Namen auf den Verträgen mit denen der Familien vergleichen, die ich für Gestaltwandler halte. Ich würde meinen letzten Dollar darauf verwetten, dass die Pächter deines Urgroßvaters mit den Gestaltwandlern identisch sind. Das scheint hier wirklich ein richtiges Rudel zu sein. Früher oder später wird also ihr Anführer Flagge zeigen müssen. Aber zuerst wird er seine Soldaten schicken. Sobald das Alphatier sich zu erkennen gegeben hat, kann ich herausfinden, woher diese Leute kommen.«

»Das klingt gar nicht gut, Drake.«

»Ich bin schon mit Schlimmerem fertiggeworden. Was weißt du von Joshuas Familie?«

Er bekam keine Antwort. Anscheinend war es ihm gelungen, den unerschütterlichen Jake Bannaconni sprachlos zu machen. »Du hast dich für ihn verbürgt, Drake. Das hat mir gereicht«, erwiderte Jake vorsichtig.

»Sein Nachname ist Tregre, und genauso heißt auch eine der Familien, die wie ich vermute mit zu den Pächtern gehört. Seine Mutter hat ihn in den Regenwald zurückgebracht, zu ihrer Familie, also weiß er vielleicht gar nichts von der Verbindung, aber mir macht sie Sorgen.«

»Soll ich ihn danach fragen?«

»Nein. Ich kenne Joshua beinah sein ganzes Leben lang. Er würde uns nie verraten. Ich habe keinerlei Zweifel an seiner Loyalität, andererseits ist es vielleicht nicht besonders gut, wenn er herkommt. Ich möchte ihn nicht in eine Situation bringen, in der er sich zwischen seinem Team und seiner Familie entscheiden muss.«

Jake fluchte leise. »Er ist einer unserer besten Männer. Ich wollte dir die Jungs schon schicken, als Rückendeckung. Joshua gehört zu uns, verdammt noch mal. Zu unserer Familie.«

»Ich habe doch gesagt, dass ich nicht an ihm zweifle. Ich will nicht, dass du denkst, er würde Emma und die Kinder nicht unter Einsatz seines Lebens schützen so wie dich übrigens auch. Er ist ein guter Mann. Ich möchte nur etwas mehr über die Familie seines Vaters herausfinden, ehe ich ihn in eine gefährliche Situation bringe. Wir sollten Rio Bescheid geben und ihn bitten, ein bisschen nachzuforschen.« Rio Santana war der Anführer einer Gruppe von Gestaltwandlern auf Borneo, die weltweit zu Hilfseinsätzen gerufen wurde. Auf ihn konnte Drake sich blind verlassen.

»Vielleicht sollten wir die Sache abbrechen, uns neu formieren und mit einer größeren Mannschaft wiederkommen«, schlug Jake vor.

Drake räusperte sich. »Ich schaffe das schon, Jake. Es gibt auch gar keinen Grund dafür, es sei denn, einer der hiesigen Leoparden hätte Unschuldige getötet.«

»Was verheimlichst du vor mir, mein Freund?«

Drake fluchte leise. Jake konnte man eben nichts vormachen, scharfsinnig wie er war. »Ein Weibchen hier steht kurz vor dem Han Vol Don. Ich habe ihren Duft aufgeschnappt und mein Leopard ist dabei glatt durchgedreht.«

»Ja?«, drängte Jake ihn zum Weiterreden.

»Und ich übrigens auch.« Es war heraus. Alles. Eine Warnung. Und zugleich eine Kampfansage.

Jake hüllte sich in Schweigen, doch mehr ließ Drake sich nicht entlocken. Er blieb ganz ruhig sitzen und starrte über den See. Es war längst dunkel geworden. Die Ochsenfrösche hatten eine Unterhaltung begonnen und die Grillen ihren eindringlichen Gesang angestimmt. In ihm brodelte es genauso heiß wie in den schwarzen Sturmwolken, aus denen die Blitze zuckten.

»Wenn du dabei draufgehst, wirst du nichts mehr von ihr haben, Drake.«

»Viel wahrscheinlicher geht dabei ein anderer drauf.«

»Sollte es sich dabei um ihre Leute handeln, die sie beschützen wollen, wird sie wohl kaum begeistert sein, wenn du jemanden von ihnen umbringst«, warnte Jake.

Drake merkte, wie er in sich hineingrinste, und seine innere Anspannung ließ ein wenig nach. Er hatte den Dschungel von Borneo verlassen, um Jake in die Lebensweise der Gestaltwandler einzuführen und um ihn im Zaum zu halten. Man brauchte viel Disziplin und Kraft, um einen männlichen Leoparden zu bändigen, und Drake war nicht nur bekannt für seine Selbstbeherrschung, sondern auch dafür, dass er ganze Gruppen von Gestaltwandlern in brenzligen Situationen zusammenhalten konnte und nun war er es, der von seinem Schüler einen guten Rat bekam.

»Ich schätze, damit dürftest du Recht haben«, gab er zu. »Ich rufe dich an, sobald ich Näheres weiß.«

»Die Jungs stehen bereit, Drake. Melde dich, wenn du sie brauchst. Und lass mich wissen, ob ich Joshua mitschicken soll. In der Zwischenzeit werde ich Rio kontaktieren.«

»Viele Grüße an Emma.«

Drake legte auf und warf dabei einen genaueren Blick vom Balkon nach unten auf das Gelände. Er musste wissen, wie die Gestaltwandler sich nähern würden und Vorkehrungen treffen. Ihm blieb nicht viel Zeit zur Erforschung des Terrains. Eine Stunde war vergangen, seit Saria nach Hause aufgebrochen war. Er hatte sie nur ungern gehen lassen, aber er hatte keinen Grund gefunden, sie zurückzuhalten, und vielleicht war es ganz gut, dass sie nichts von dem bevorstehenden Kampf mitbekommen würde. Er wollte nicht, dass sie Angst vor ihm bekam.

Drake holte tief Luft und sprang über das Geländer. Seine Beine funktionierten wie Sprungfedern und fingen den Aufprall ab. Es war das erste Mal, dass er das verletzte Bein voll belastete, um zu sehen, ob es den starken Beanspruchungen des Gestaltwandlerlebens gewachsen war. Soweit er es beurteilen konnte, für einen Sprung vom oberen Stockwerk gar nicht schlecht. Er war zwar etwas härter aufgekommen als sonst, doch das war nicht besonders überraschend, wenn man aus dem Training war; viel überraschender war, mit welcher Wucht das Animalische sich Bahn brach.

Seine Haut begann, unerträglich zu kribbeln, und sein Kiefer konnte es kaum erwarten zum Maul zu werden. Er schaffte es nicht, noch länger zu warten. Sein Leopard war voller Ungeduld und er auch. Heiße Vorfreude durchströmte ihn. Er wollte nicht mehr vorsichtig und geduldig sein. Er wollte die absolute Freiheit, die das Leopardenleben bot. Falsch, er brauchte die Freiheit, seine wahre Natur ausleben zu können, die primitive Wildheit, die mehr dem Instinkt als dem Verstand gehorchte. Er war zu lange gezwungen gewesen, sie zu unterdrücken; sein ganzer Körper bebte vor Erwartung. Knochen und Muskeln waren zum Zerreißen gespannt.

Drake zog das Hemd über den Kopf und bückte sich hastig, um auch die Schuhe loszuwerden. Schon verbogen sich seine Knöchel und seine Fingerspitzen brannten, während das auf Höchstgeschwindigkeit ausgelegte Skelett, das in seiner menschlichen Gestalt schlummerte, sich erwartungsvoll streckte. Er streifte die Schuhe ab und fasste nach der Jeans, um sich möglichst schnell davon zu befreien, denn es gab kein Zurück mehr. Schon knackten die Knochen und die Muskeln dehnten sich. Das schmerzhafte Reißen fühlte sich großartig an, wie eine Erlösung, ein Vorgeschmack auf die große Freiheit.

Stechender Schmerz in seinem Bein raubte ihm den Atem, doch selbst den begrüßte er, denn er fühlte, wie seine Knochen sich veränderten, neu ausrichteten und sich endlich dem Befehl des Leoparden fügten. Fast stockte ihm das Herz, als die Krallen ausfuhren und das Raubtier sich zeigte. Freudig ließ er ihm Raum und hieß es willkommen, dankbar dafür, dass er allein war, und es keine jungen Leoparden in Schach zu halten gab. Wenn man sich nach so langer Zeit zum ersten Mal gehen ließ, hatte man eine ungehemmte, ja brutale Verwandlung aus purem Übermut verdient.

Drake ging zu Boden, blieb auf allen vieren liegen und ließ sich vom Schmerz und der Schönheit des Vorgangs überwältigen. Starke Muskeln überwuchsen den Körper, während die Kiefer größer wurden und sich mit Zähnen füllten. Die kräftigen Muskeln und Sehnen verwandelten sein Skelett in einen agilen, gelenkigen, überaus biegsamen Apparat, der ihm elegante, katzenhaft geschmeidige Bewegungen erlaubte. Wieder durchzuckte ein Stechen sein Bein, bohrte sich von der Hüfte bis zur Tatze und brannte sich in die Knochen, die heftig protestierten, doch Drake weidete sich an seiner zunehmenden Kraft, egal um welchen Preis. Sein Pelz wurde feucht und dunkel von Schweiß, als sein Körper sich zitternd bemühte, den Widerstand des letzten Knochens zu überwinden.

Endlich erhob er sich, voll ausgestaltet, als mächtiger Leopard, der sich schüttelte, um jeden einzelnen Muskel zu spüren, und den Moment genoss, in dem ihm allmählich klar wurde, dass er es nach mehr als zwei Jahren, in denen er sich nicht verwandeln konnte und geglaubt hatte, nie wieder dazu fähig zu sein –, endlich geschafft hatte. Er war groß für einen Leoparden die meisten Gestaltwandler waren kräftiger als ihre rein tierischen Verwandten , doch Drake bestand aus beinahe zweihundert Pfund purer Muskelmasse. Damit war er selbst unter seinesgleichen ein gewaltiges Exemplar.

Wie alle Artgenossen besaß auch er ein Fell, das einzigartig war, mit einem wunderschönen Muster aus dunklen Flecken auf goldfarbenem Hintergrund, das, selbst wenn er sich nicht rührte, dem Auge Bewegung vorgaukelte. Dieser dichte und zugleich bewegliche Pelz bot besten Schutz bei wilden Kämpfen. Und Drake war, wie an seinen Narben zu sehen war, ein unerschrockener, erfahrener Kämpfer. Außerdem ungewöhnlich stark, selbst nach den Maßstäben der Gestaltwandler, die generell enorme Kräfte besaßen.

Tief in seinem Innersten glühte ein Feuer, das andere nur dann zu sehen bekamen, wenn sie in seine leuchtend grünen Augen schauten. Ihr durchdringender Blick verriet, wie klug und listig Drake war. Sein Leopard wollte laufen, jagen und sein Weibchen finden. Nun da das Tier frei war und der Geruch des Rivalen alles andere überdeckte, wurde der Paarungstrieb nahezu übermächtig und die finstere Eifersucht des brünstigen Leoparden packte ihn.

Drake erlaubte dem Raubtier, eine Weile zu laufen, die Beine zu bewegen und sich an seiner Freiheit zu freuen, achtete jedoch darauf, wohin es sich wandte, und ließ nicht zu, dass es Saria folgte. Zuerst musste er sein Revier markieren, so oft und so deutlich wie möglich, sein Territorium rund um die Pension abstecken, damit er rechtmäßige Ansprüche hatte, falls ein anderes Männchen ihn herausforderte. Denn das würde zweifellos passieren. Das Rudel würde seinen besten Kämpfer schicken. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zu stellen und dabei darauf zu achten, den Gegner in der Hitze des Gefechts nicht zu töten nur für den Fall, dass der Herausforderer irgendwie mit Saria verwandt war. Sein Leopard hatte verstanden, was er vorhatte, und machte sich gleich daran, jeden Quadratmeter, über den er lief, in Besitz zu nehmen.

Drake war sehr gründlich, obwohl die Zeit drängte und er entschlossen war, ein möglichst großes Terrain zu markieren. Er kratzte an den Bäumen, setzte seine Duftmarken, rollte sich in einem immer größer werdenden Umkreis auf dem Boden und vereinnahmte das gesamte Land rund um die Pension, bis hinunter zum See. Wie erwartet gab es keinerlei Hinweise auf irgendeinen anderen Leoparden, denn wenn die Familien nach den Regeln der Gestaltwandler lebten, blieb jede auf dem von ihr gepachteten Land. Vielleicht grenzten manche Grundstücke eng aneinander oder sie mochten sich sogar irgendwo überschneiden, doch in diesen Gebieten würden sie versuchen, sich nicht in die Quere zu kommen.

Drake dehnte sein Revier bis in die angrenzenden Sümpfe aus und erforschte das Gelände. Sein Leopard registrierte jeden Geruch, die Form jedes einzelnen Zweiges. Er kletterte auf Bäume und hinterließ seine Marken an den verdrehten Ästen, prüfte ihre Stärke und ihre Eignung als Ansitz. Er war gekommen, um einen Mörder zu jagen, doch nun war alles anders. Nun ging es ihm hauptsächlich darum, seine Gefährtin zu bekommen. Das Werben um eine Leopardenfrau war selbst im günstigsten Fall sehr riskant. So wie das Tier konnte auch das menschliche Gegenstück launisch, temperamentvoll und höchst verführerisch sein. Wenn dazu dann noch ein Mörder und ein ganzes Rudel männlicher Leoparden kamen, konnte man sich auf etwas gefasst machen. Es würde ein harter Kampf werden genau das, was sein Leopard suchte.

Das Tier erkundete den Sumpf, drang immer tiefer und tiefer ins Innere vor und kennzeichnete ein immer größer werdendes Territorium. Es wusste genau, dass es damit die erste Welle von Angreifern in Rage bringen würde. Auch wenn diese Gestaltwandler nicht im Dschungel geboren waren, ihre Sitten und Instinkte waren sicherlich ähnlich, wenn nicht sogar gleich.

Während Drake in einem weiten Bogen zur Pension zurückkehrte, prägte er sich jeden Quadratzentimeter seines neuen Reviers ein, brannte die Karte des Sumpfes in sein Hirn. Der Radar seines Leoparden verriet ihm, wo die anderen Tiere waren, und zwar lange bevor er an ihnen vorbeikam. Die animalischen Instinkte führten ihn sicher über den tückischen Grund; es fiel ihm nicht schwer, festen Boden zu finden. Sein großes Ziel war, Fenton’s Marsh ganz für sich zu beanspruchen. Kein Leopard hätte je einen Fuß auf das Grundstück setzen dürfen, doch dem geheimnisvollen Brief nach waren die Morde genau dort passiert.

Als Drake wieder in die Nähe der Pension kam, sprang er in die Bäume und lief in luftiger Höhe über die Äste, bis er das doppelstöckige Gebäude erreicht hatte. Der Satz bis auf seinen Balkon war schwierig, aber er schaffte es und das hieß, dass andere Leoparden es auch schaffen konnten. Ohne große Lust, wieder zum Menschen zu werden, tigerte er mehrere Minuten auf dem Balkon hin und her, und stieg schließlich aufs Dach. Ebenfalls kein leichtes Unterfangen, doch er musste wissen, wie die anderen Leoparden sich an ihn heranschleichen konnten.

Zufrieden damit, dass er alles, was er als Leopard tun konnte, getan hatte, tappte er auf leisen Sohlen zurück in sein Zimmer, um sich ungestört wieder verwandeln zu können. Ein atemberaubender, jäher Schmerz durchzuckte sein schlimmes Bein, als seine Knochen sich unter heftigem Knacken erneut umformten. Mehrere lange Minuten blieb er schweißgebadet und nach Luft schnappend auf dem harten Holzboden liegen. Als der Schmerz endlich etwas nachließ, schob er sich hoch und versuchte, das verletzte Bein zu belasten. Er musste fit sein, wenn er sich behaupten wollte, und durfte sein Humpeln nicht zeigen. Die Erinnerung daran, dass Saria es irgendwie bemerkt hatte, nagte an ihm. Er war sich so sicher gewesen, dass er das operierte Bein beim Gehen nicht schonte. Wenn Saria das Hinken aufgefallen war, obwohl er glaubte, es unter Kontrolle zu haben, würde es einem aufmerksamen Leoparden bestimmt nicht entgehen.

Mit kaltem Wasser wusch Drake sich den Raubtiergeruch ab. Nun musste er seinen Verstand benutzen, sich in seine Gegner hineinversetzen, ihre Angriffe voraussehen und sich darauf vorbereiten. Das Wichtigste war, dass er von Anfang an seine Überlegenheit demonstrierte, damit er den Anführer aus der Reserve lockte. Durch Saria war alles sehr viel komplizierter geworden. Ein Weibchen kurz vor dem Han Vol Don musste unter allen Umständen beschützt werden, und jedes Männchen im Umkreis war rastlos, launisch und gelegentlich sogar machtlos seinem Trieb ausgeliefert die gefährlichste Situation, in die ein männlicher Leopard geraten konnte.

Drake wanderte nackt durch das geräumige Zimmer, trocknete sich ab und prüfte sein Bein. Der stechende Schmerz wurde mit jedem Pulsschlag dumpfer. Es würde halten. Um ganz sicherzugehen, versteckte er einige Waffen im Zimmer und auf dem Balkon. Ein Messer fand in der Dachrinne Platz. Er war ein vorsichtiger Mann, und er wusste, wie unberechenbar Leoparden sein konnten. Am besten, man war auf alles vorbereitet.

Drake zog eine lockere Jogginghose über, die er leicht wieder loswerden konnte, und ging barfuß auf den Balkon hinaus. Dann stellte er, möglichst weit weg vom Dachüberstand, einen Stuhl an die Wand, setzte sich und wartete geduldig auf den Besuch, der bald eintreffen würde.