9

Zentimetertief in Schlamm und Matsch versunken, erstarrte Saria unter Drake und sah mit schreckgeweiteten Augen zu ihm auf. Die Laute, die aus den Wäldern drangen, waren fürchterlich. Es hörte sich an, als kämpfe eine Meute von Raubtieren um Beute. Die Vögel stoben wieder auf und ihr Kreischen vermischte sich mit dem wütenden, immer lauter werdenden Brüllen und Fauchen. Zweige brachen und Büsche erzitterten unter dem Aufprall kräftiger Körper.

Drake rollte von Saria herunter und half ihr auf. Das Gewehr fest in der Hand, folgte sie ihm auf dem Weg zurück zum Schauplatz des Kampfes, wobei er sich vorsorglich schon das Hemd aufknöpfte. Durchnässt und dreckig liefen sie durch die dichte Vegetation, quer durch die Spinnennetze, die sich über einen schmalen Pfad spannten, an Löchern und Treibsand vorbei zu einem Nadelwald.

Fünf schwer bewaffnete Männer hatten zwei goldene und einen riesigen schwarzen Leoparden eingekreist. Drake zog sofort seine Pistole, doch Saria drückte sie wieder herunter.

»Nicht schießen. Das ist Elie Jeanmard mit vier von meinen Brüdern«, flüsterte sie mit bebender Stimme. »Und der schwarze Panther ist mein ältester Bruder, Remy. Ich habe ihn einmal so gesehen.«

Das war ein Schlag für Drake. Er hatte zwar damit gerechnet, es mit Sarias Brüdern zu tun zu bekommen, aber nicht gleich mit allen zusammen.

Überall lagen Stofffetzen. Am Geruch erkannte Drake, dass es sich bei den beiden goldenen Leoparden um Armande und Robert handeln musste. Sie hatten sich hastig ihrer Kleidung entledigt, um nicht in menschlicher Gestalt von dem wütenden Panther angegriffen zu werden. Remy hatte sich so überraschend auf sie gestürzt, dass Armande sich noch gar nicht richtig verwandelt hatte, als er bereits rückwärts in das dunkle, schilfübersäte Wasser gestoßen wurde. Dann hatte der Panther sich im Sprung gedreht, Robert die Krallen über die Schnauze gezogen und sich mit solcher Wucht auf ihn geworfen, dass ihm die Rippen brachen und beide in einem wüsten Knäuel über den Boden rollten.

Es regnete Fellhaare und Blut spritzte auf das Schilf. Obwohl die beiden goldenen Leoparden aus reiner Todesangst schnell wieder aufsprangen, war der schwarze Panther schneller, er holte sie gnadenlos wieder von den Füßen, teilte dank seines überaus biegsamen Rückgrats nach allen Seiten aus und zerfleischte beiden Kontrahenten Flanken und Bauch. Die Verletzungen, die er den goldenen Leoparden zufügte, würden eine Weile brauchen, um zu heilen und Remy war noch lange nicht fertig.

Ein schwarzer Panther war schon in freier Wildbahn eine Seltenheit, bei den Leopardenmenschen aber noch viel seltener. Unter den Gestaltwandlern waren sie meistens größer und stärker als ihre Artgenossen, und in diesem Fall auch noch schneller. Mit blitzartigen Attacken strafte Remy die beiden anderen ab, weigerte sich, irgendein Zeichen der Unterwerfung zu akzeptieren und zwang sie, immer wieder aufzustehen und sich zu verteidigen, selbst als klar war, dass sie aufgeben wollten.

Mehr als einmal signalisierten beide Leoparden dem aufgebrachten Panther, dass sie sich geschlagen gaben, doch er wollte nichts davon wissen, wandte sich ab, tigerte hin und her, fegte so zornig mit der Pranke über den Boden, dass Blätter und Dreck die Besiegten trafen, und griff immer wieder an, ohne Erbarmen.

Niemand machte Anstalten, den zwei glücklosen Leoparden zu helfen. Drake war klar, dass es hier um mehr als nur eine Bestrafung ging. Remy Boudreaux war außer sich. Und Drake verstand ihn, auch wenn die anderen vielleicht nicht seiner Meinung gewesen wären. Er hätte die beiden Bastarde auch umgebracht. Sie hatten es gewagt, auf Saria Boudreaux zu schießen. Remy und seine Brüder hatten die Kerle offenbar verfolgt und den Schuss gehört, den Armande auf Drake und ihre Schwester abgefeuert hatte.

Sarias ältester Bruder war ein großartiger Kämpfer, einer der besten, die er je gesehen hatte; wenn er ein so versierter Gestaltwandler war, musste er außerhalb der Bayous von Louisiana seine Erfahrungen gemacht haben. Es hätte Drake nicht gewundert, wenn Remy auch bei einem seiner eigenen Teams im Urwald dabei gewesen wäre. Wenn es nach Drake ging, war Remy Boudreaux der Führer des Rudels, nicht Amos Jeanmard. Remy jagte den Zuschauern gehörige Angst ein. Es war unmöglich zu sagen, ob er aufhören würde, ehe es zu spät war, doch niemand schien großes Mitleid zu haben.

Drake musterte Elie Jeanmard, der dem Leopardenkampf ruhig zusah. Sein Geruch verriet Drake, dass er gestern Nacht der erste Herausforderer gewesen war und der dritte Mann auf dem Mercier-Grundstück. Elie verfolgte den heftigen Kampf mit grimmiger Miene, wirkte aber nicht so, als wollte er eingreifen. Das also war Amos Jeanmards Sohn, und wenn Drake mit seiner Vermutung, dass der alte Jeanmard der Anführer des Lousiana-Rudels war, richtig lag, hatte der Sohn kein Interesse daran, diese Position zu übernehmen. Das war verständlich. Elie hatte gesehen, wie sein Vater seine Pflicht gegenüber dem Rudel erfüllte und wie unglücklich er dabei gewesen war und seine Mutter höchstwahrscheinlich auch. Trotzdem hatte er, als ihm klar wurde, das Armande und Robert ihn und Saria jagten, nicht weggeschaut und Sarias Brüdern Bescheid gegeben.

»Oh«, flüsterte Saria leise. »Vielleicht solltest du besser hinter mir bleiben als andersherum.« Sie wollte vortreten, um ihn zu beschützen.

Sofort packte Drake sie am Arm und zwang sie mit eisernem Griff, an ihrem Platz zu bleiben. Sein Körper schirmte sie halbwegs vor dem Kampfgetümmel ab. Einer nach dem anderen lösten ihre Brüder den Blick von Remy und seinen blutenden Gegnern und richteten ihn auf Drake. Bald war die Atmosphäre so zum Zerreißen gespannt, dass es selbst dem schwarzen Leoparden auffiel, und er langsam den Kopf wandte. Blutunterlaufene Augen nahmen Drake ins Visier. Dann kam der Panther in dem typischen, zeitlupenhaften Schleichgang geduckt auf ihn zu.

»Ich bin keine so leichte Beute wie die zwei«, sagte Drake und streifte seelenruhig das Hemd ab. Während er die Schuhe wegkickte, lockerte er seine Schultermuskulatur. »Es wäre kein fairer Kampf, Boudreaux. Du bist müde, und ich bin frisch. Ich würde dir auch ein andermal in den Hintern treten, aber wenn du darauf bestehst, dich vor den beiden Drecksäcken zum Narren zu machen, tu ich dir den Gefallen.«

Er sprach mit ruhiger Stimme, amüsiert, mit einem leicht spöttischen Unterton, den der Panther sehr wohl wahrnahm. Fauchend bleckte der die Zähne und legte die Ohren an. Er war immer noch blutrünstig und hatte nun ein neues Angriffsziel einen Fremden, der es gewagt hatte, sich an seine Schwester heranzumachen. Drake wusste, dass er Sarias Bruder nicht hätte reizen sollen, aber er war diese »Erst schlagen, dann fragen«-Politik dieses außer Kontrolle geratenen Rudels verdammt leid. Irgendjemand musste den Leuten eine Lektion erteilen.

Noch konnte er klar denken und merkte, dass es sein Leopard war, der wütend über den Angriff auf Saria war und ihn ein wenig anstachelte, aber er hatte genug. Er wollte der Wildheit des Tieres nachgeben. Er fingerte schon an den Knöpfen seiner Jeans.

»Was machst du?«, fragte Saria und hielt ihn am Handgelenk fest. »Bist du verrückt? Das ist mein Bruder

Doch es war schon zu spät. Ihre Brüder rissen sich bereits die Oberteile vom Leib und zogen die Schuhe aus. Das würde kein Kampf Mann gegen Mann werden. In ihren Augen hatte man ihre Schwester entführt gekidnappt , und gezwungen, einen Mann zu akzeptieren, von dem noch keiner wusste, dass er Sarias Gefährte war. Sie rochen ihn an ihrer Schwester und das machte sie rasend. In der geduckten Haltung, die einem Frontalangriff vorausging, rückte Remy immer näher.

Plötzlich knallte ein Schuss. Gleichzeitig schlug ein Kugelregen ein paar Meter vor Sarias Brüdern ein und wirbelte Dreck und Zweige auf. Weitere Kugeln brachten den Panther zum Stillstand. Das Gewehr im Anschlag wirbelte Elie herum, fand aber kein Ziel. Alle standen wie versteinert.

»Schluss jetzt! Der Nächste, der sich bewegt, ist tot.«

Das war Joshua Tregres Stimme. Sie klang todernst, und keiner, am allerwenigstens Drake, war dumm genug, sich zu rühren.

»Drake, geh wieder in Deckung«, befahl Joshua. »Alle anderen bleiben, wo sie sind, und glaubt bloß nicht, wir würden nicht scharf schießen. Ihr seid uns scheißegal. Verfluchte Bastarde, euch gegen einen Artgenossen zu stellen«, sagte er verächtlich.

Zwei von Sarias Brüdern zuckten zusammen und machten finstere Gesichter. Einer schielte sogar nach der Waffe, die er neben sein T-Shirt gelegt hatte.

»Besser nicht«, sagte Drake warnend. »Beim ersten Schritt wärst du tot. Sie verfehlen niemals ihr Ziel.«

Der schwarze Panther verwandelte sich mit knackenden Gelenken und sein Fell verschwand nach und nach, als das Tier wieder zum Menschen wurde. Saria schnappte nach Luft und drückte das Gesicht in Drakes Rücken, um ihren ältesten Bruder nicht nackt sehen zu müssen.

Remy war blutverschmiert und zerkratzt, doch er richtete sich ohne zu zögern auf und suchte mit seinen eisblauen Augen die Umgebung ab. »Niemand rührt einen Finger. Keiner von euch«, befahl er seinen Brüdern. Dann sah er Drake an. »Anscheinend sind deine Jungs zu uns gestoßen.«

Dass Remy die Mordlust seines Leoparden so rasch in den Griff bekommen hatte, und nun ganz sachlich, sogar lässig klang, zeigte, wie stark er war. Außerdem lenkte er auf diese Weise die Aufmerksamkeit auf sich. Aber das würde ihm nichts helfen. Drakes Team war zu gut geschult. Jeder hatte ein anderes Ziel im Visier, oder in diesem Fall mehrere andere. Remys Brüder standen zu nah zusammen und waren eingekreist worden.

Drake nickte knapp. »Ich habe mehrere Teams im Regenwald.« Es war eine bloße Vermutung, aber Remy schien kein Hinterwäldler zu sein und kannte die Welt. Ein Leopard suchte immer die Wildnis. Falls Remy wirklich weit gereist war, war er vielleicht einer anderen Sippe begegnet oder zumindest einigen von den Männern, die bei den Sonderkommandos arbeiteten.

»Mahieu, wirf mir meine Jeans rüber, ehe Saria einen Schlag bekommt.«

Sarias Bruder war genauso groß wie Drake und ebenso kräftig, doch sein Haar war pechschwarz, und er trug es lang und offen. Sein markantes Gesicht hatte ausgeprägte Züge und auffällige, kobaltblaue Augen. Eine Narbe an seinem Hals verriet, dass ein Messer ihn fast getötet hätte.

»Und beeil dich«, fügte Saria hinzu, »denn ich möchte Remy nicht in seiner ganzen Schönheit sehen. Ich würde mich zu Tode erschrecken.« Ihre Stimme zitterte ein wenig, aber sie würde nicht zusammenbrechen, nicht einmal in dieser angespannten Situation.

»Lasst ihn«, befahl Drake seinen Leuten. Sie waren im Gebüsch versteckt, unmöglich zu entdecken, obwohl die Boudreaux-Brüder ihre Witterung mittlerweile sicher aufgefangen hatten. Vorsichtig hob Mahieu die Jeans seines Bruders auf und warf sie ihm zu.

Remy fing sie mit einer Hand auf und zog sie über die Hüften.

»Remy, die beiden müssen verarztet werden«, gab Elie Jeanmard besorgt zu bedenken. »Vielleicht ist es schon zu spät.«

»Dann haben sie Pech gehabt«, blaffte Remy. »Mir ist scheißegal, ob sie durchkommen.« Er heftete den Blick auf Drake und sah ihn mit seinen durchdringenden Augen unverwandt an. »Ich will, dass meine Schwester heraustritt. Ich muss wissen, ob es ihr gut geht. Saria, komm raus, damit wir dich sehen können. Hab keine Angst. Wenn der Typ dich als Geisel hält «

Drake ließ Saria nicht gehen. »Es ist ein bisschen spät, den besorgten großen Bruder herauszukehren. Wo zum Teufel bist du gewesen, als man sie überfallen hat?«

Er konnte hören, wie Saria tief Luft holte. Die beiden verwundeten, blutigen Leoparden, die mit hängender Zunge und bebenden Flanken am Boden lagen, zuckten zusammen, und versuchten, in die Büsche zu kriechen. Doch als Remy sich umdrehte und sie fixierte, ließen sie es sofort wieder bleiben. Langsam wandte Sarias Bruder sich wieder Drake zu und musterte ihn mit einem verwirrten Stirnrunzeln.

»Was willst du damit sagen, verdammt?«

»Dass ich mehr weiß als du. Vor ein paar Wochen hat ein Mitglied eures Rudels versucht, sich Saria aufzudrängen. Anscheinend hat niemand auf sie geachtet. Weder ihre Artgenossen noch ihre Familie.«

»Von Zurückhaltung hältst du also nichts«, konstatierte Remy.

»Das solltest du bedenken, wenn du mich noch mal zum Kampf aufforderst.«

Ein kurzes Lächeln spielte um Remys Mund. »Außerdem bist du ein sturer Hund.«

»Darauf kannst du Gift nehmen«, gab Drake freimütig zu. »Du hast nicht auf sie aufgepasst.« Sein Ton war vorwurfsvoll und beinah verächtlich.

Saria straffte die Schultern. »Ich bin hier«, sagte sie an alle beide gerichtet, »und ich bin keine Geisel. Ich bin aus freien Stücken mit Drake gegangen.«

»Alles in Ordnung, Saria?«, fragte Remy. »Komm her, cher.« Doch ehe Saria gehorchen konnte, trat Drake ihr in den Weg und schnitt sie von ihren Brüdern ab. »Nein, keiner fasst sie an.«

Remys stechender Blick bohrte sich in seine Augen, und die Iris um die Pupillen waren dabei so gut wie komplett verschwunden. Remys Leopard war immer noch sehr nah und sehr wütend. »Diese beiden haben es gewagt, auf meine Schwester zu schießen«, zischte er. »Es ist mir scheißegal, ob sie leben oder sterben. Und ich denke, es ist nicht zu viel verlangt, dass ich meine Schwester sehen möchte. Ich will wissen, ob es ihr gut geht. Saria, komm sofort her, verdammt, ehe ich deinen Romeo umbringe.« Remys Stimme war sehr leise, wie eine samtene Hülle über einem stählernen Dolch. »Und ihr andern solltet aufhören, euch hinter euren Gewehren zu verstecken. Wählt, Mensch oder Leopard«, rief er herausfordernd.

Seine Brüder rührten sich ein wenig, als wollten sie protestieren.

Armande und Robert verwandelten sich unter großen Schmerzen wieder in Menschen und versuchten stöhnend, das Blut zu stillen, das sich bereits um sie herum sammelte.

Drakes Augen glühten bernsteinfarben. Er kämpfte gegen die heiße Wut und die Wildheit seines Leoparden, der auf die offene Kampfansage ansprang.

»Wir haben nur geschossen, um ihr Angst einzujagen«, wiegelte Armande mit schwacher Stimme ab. Er hatte Menschengestalt angenommen, damit seine Wunden verarztet werden konnten. »Ich habe aufgepasst, dass ich sie nicht treffe.«

»Halt die Schnauze, verdammt noch mal«, schnitt Remy ihm eiskalt das Wort ab. »Sonst bring ich dich doch noch um.« Es war ihm todernst, man sah es an seinem rastlosen Hin- und Herstreifen, das er trotz der Waffen, die auf ihn gerichtet waren, plötzlich wieder aufnahm. Er sah Drake wütend an. »Schick meine Schwester rüber, sofort.«

Die Lage spitzte sich weiter zu und schien auf einen heftigen Zusammenstoß zuzusteuern, weil die beiden männlichen Leoparden unnachgiebig um die Vorherrschaft stritten und ihre menschlichen Gegenstücke anfeuerten. Drake versuchte, seinen Zorn wegzuatmen. Normalerweise war er ein besonnener, ruhiger Mensch. Sein Selbstvertrauen und die Willensstärke, mit der er das Tier in sich dominierte, war der Grund, warum er zum Teamleiter gewählt worden war, doch im Augenblick konnte er seine Angriffslust kaum bezähmen.

»Stimmt was nicht?«, flüsterte Saria. »Glaubst du, mein Bruder würde mir etwas tun?«

War es das? Gute Frage. Was zum Teufel war los mit ihm? Remy hatte vielleicht Anlass anzunehmen, dass er Saria gegen ihren Willen bei sich hatte, doch er umgekehrt hatte keinen Grund zu glauben, dass Remy seiner Schwester wehtun würde. Also worauf reagierte sein Leopard, verflucht?

Drake rieb sich den Nasenrücken und musterte sein Gegenüber. Er fühlte sich wie gegen den Strich gebürstet. Jede Zelle seines Körpers war hellwach und kampfbereit. Und sein Leopard tobte.

»Drake?« Sarias Stimme zitterte.

Diese eine ängstliche Frage reichte, um ihn zur Vernunft zu bringen. Auch wenn sein Leopard weiter nach außen drängte, Drake wandte sich Saria zu. Ihr Gesicht war blass und die Augen riesengroß. Sie versuchte, mutig zu sein, doch da ihre Brüder kurz davor waren, außer Kontrolle zu geraten, und Drake die Stimmung noch anheizte, fürchtete sie sich. Aber sie hatte Wort gehalten, das musste man ihr lassen; sie stand zu ihm, hielt ihr Gewehr nach wie vor fest umklammert und war nicht zu ihren Brüdern übergelaufen sie wollte sie nur besänftigen. Welche Schwester hätte das nicht versucht?

»Glaubst du wirklich, Remy würde mir etwas tun?« Saria ließ den Blick bedeutungsvoll von Armande und Robert in ihren Blutlachen zu ihrem Bruder schweifen.

»Nein, er würde sein Leben geben, um dich zu schützen«, erwiderte Drake und zwang sich beiseitezutreten. Das war der entscheidende Moment. Wenn Sarias Brüder sie davon überzeugen konnten, dass sie vorschnell gehandelt hatte, war er verloren.

Remy streckte einen Arm aus und winkte seine Schwester mit einem Finger zu sich. Drake trat etwas näher an sie heran, um sie bei Bedarf verteidigen zu können, versuchte aber nicht mehr, sie zurückzuhalten.

»Lasst mich den beiden helfen«, rief Elie und bewegte sich vorsichtig auf die zwei Verwundeten zu.

»Natürlich.« Drake signalisierte seinem Team, Jeanmard zu den beiden Abgestraften gehen zu lassen, damit er sie verarzten konnte.

Verlegen hob Saria die Hand, um sich den Schmutz vom Gesicht zu wischen, doch Drake fasste sie am Handgelenk und zog ihren Arm sanft wieder herunter. »Du bist wunderschön, Saria, und du hast nichts falsch gemacht. Du hast deinen Klienten beschützt, und wenn sie deinen Mut nicht honorieren oder meinen, du hättest nicht richtig gehandelt, sollen sie sich zum Teufel scheren.«

Sie blinzelte, schluckte die Worte, die ihr auf der Zunge gelegen hatten, herunter und nickte. Dann ging sie über den sumpfigen Boden zu Remy. Ihr Bruder fasste sie bei den Achseln und suchte sie von Kopf bis Fuß nach Verletzungen ab.

»Mir geht’s gut, Remy, ich habe bloß etwas Angst bekommen. Es war das erste Mal, dass jemand auf mich geschossen hat.« Sie hörte sich so an, als wäre sie ein wenig erschrocken darüber, dass ihre Brüder ihr gefolgt waren.

Remy legte einen Arm um Saria, zog sie an sich und drückte sie fest. »Du hast uns eine Höllenangst eingejagt, cher. Als Elie uns berichtet hat, dass Armande und Robert dich im Sumpf mit Waffen jagen « Er brach ab und sein hitziger blauer Blick heftete sich erneut mordlüstern auf Armande.

Saria sah zu ihrem Bruder auf. »Es tut mir leid. Ich habe nicht geahnt, dass sie so etwas tun würden. Warum seid ihr alle so komisch?«

Er holte tief Luft und roch eine Mischung aus Drake und Saria. Daraufhin kehrte sein durchdringender Blick zu dem Fremden zurück. »Ich glaube, ma soeur, das liegt an dem Mann, dessen Geruch an dir klebt.«

Der anklagende Ton in seiner Stimme ließ sie erröten.

»Hat der Kerl sich dir aufgedrängt?«, fragte Remy.

Interessiert traten auch Sarias andere Brüder vor und verengten den Kreis. Sofort schlug ein Kugelhagel vor ihren Füßen ein. Erschrocken drehte Saria sich zu den Schützen um. Drake schüttelte den Kopf und hob die Hand, damit das Feuer eingestellt wurde, wich aber nicht von der Stelle. Sein Hemd war bereits aufgeknöpft und seine Schuhe war er, wie alle Gestaltwandler, schnell losgeworden, doch die Jeans konnte problematisch werden. Trotzdem Er wartete, wie alle anderen. Jeder in der Runde starrte Saria an, nicht ihn, und er hätte es ihr nicht vorwerfen können, wenn sie dem Druck nicht gewachsen gewesen wäre.

Dann schob Saria das Kinn vor, sah Remy direkt in die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn gebeten, mich zu markieren. Angegriffen hat mich jemand anders, er hat mir den Rücken zerkratzt und mich gebissen. Ich war zu Tode erschrocken, und es hat furchtbar wehgetan. Ich wollte, dass Drake mir erklärt, was es mit dem Han Vol Don und den Gestaltwandlern auf sich hat, sonst hat es ja keiner getan.« Diesmal war der Vorwurf unüberhörbar und traf ihre Brüder.

Die beiden Jüngsten wechselten einen Blick und schauten dann betreten zu Boden.

»Hat er dich in irgendeiner Weise bedrängt, Saria?« Remy ignorierte ihre spitze Bemerkung. »Eine Katze kurz vor dem Han Vol Don kann sehr liebebedürftig sein. Das dürfte ihm bekannt sein.«

»Wenn du unbedingt die Wahrheit erfahren musst, Remy, ich habe ihn bedrängt. Er hat sich die ganze Zeit wie ein Gentleman verhalten, obwohl ich mein Bestes getan habe, ihn zu verführen. Ist es das, was du wissen wolltest?« Nun lag ein Hauch von Trotz und Tränen in ihrer Stimme.

»Saria«, sagte Drake sanft. »Du brauchst nichts weiter zu sagen. Komm her, Süße.«

Remy ließ den Arm um seine Schwester liegen und wandte sich Drake zu. »Er hätte zu uns kommen sollen.«

»Alles ging so schnell, Remy. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Und außerdem wollte ich nicht, dass er zu euch geht.«

»Das spielt keine Rolle, er hätte es trotzdem tun müssen.« Diesmal spießten seine kobaltblauen Augen den Fremden geradezu auf.

Drake zuckte die Achseln. »Wenn du damit andeuten willst, ich hätte mich nicht getraut, irrst du dich gewaltig. Ich hätte euch heute Abend besucht, aber da war noch was Wichtiges zu erledigen, das konnte nicht warten, und Saria war bei mir sicher.«

»So verdammt sicher, dass jemand auf sie geschossen hat.«

Wieder zuckte Drake die Achseln. »Ich hätte die beiden erledigt, ehe sie an Saria herangekommen wären.« Sein Ton war sachlich und überaus selbstsicher.

Remy musterte ihn. »Woher kommst du?«

»Ursprünglich aus dem Regenwald von Borneo. Im Moment arbeite ich für Jake Bannaconni.« Drake warf einen Blick auf die beiden Männer, die erschöpft und blutend am Boden lagen. »Aber ein Rudel wie dieses habe ich noch nie gesehen. Ich kenne niemanden, der einem weiblichen Wesen Schaden zufügen würde, und wenn es so einen Verbrecher gäbe, würde er getötet und verbrannt und seine Überreste kämen tief unter die Erde.« Er legte all seine Verachtung für die ganze verdammte Meute in seine Stimme.

Remy zuckte nicht mit der Wimper. »Wir werden uns darum kümmern.« Er hob Sarias Kinn an, sodass sie gezwungen war, ihm in die Augen zu sehen. »Weißt du, was es bedeutet, wenn dich jemand markiert? Hat er dir das erklärt? Du musst ihn nicht akzeptieren, Saria, nicht einmal, wenn deine Leopardin es tut.«

»Ich weiß, aber ich habe mich für ihn entschieden. Und ich ändere meine Meinung nicht.«

Remy seufzte. »Wenn er der Mann deiner Wahl ist, werden wir dich unterstützen, Saria. Aber vorher muss ich wissen, wer dich überfallen hat.«

»Ich weiß es nicht, wirklich nicht. Ich habe nichts riechen können. Nur, dass es ein Leopard war. Ich hatte solche Angst.«

»Du hättest zu mir kommen sollen.«

Saria schluckte schwer, senkte den Kopf und nickte. »Ich weiß, aber ich konnte nicht, Remy, damals nicht. Ich habe meine Gründe.«

Überrascht zog Remy eine Braue hoch. »Wirst du sie uns verraten?«

Sie senkte die Stimme. »Zu Hause. Wenn wir allein sind, Remy.«

Ihr ältester Bruder musterte ihr Gesicht. Dann biss er die Zähne zusammen und nickte knapp. »Komm mit nach Hause.«

»Sobald wir fertig sind, treffen wir uns dort«, versicherte sie.

»Fertig? Womit?«, fragte Remy. Er fixierte seine Schwester mit einem tiefblauen Blick, der sie mühelos zu durchschauen schien.

»Jake hat mir einen Auftrag erteilt«, mischte Drake sich ein. Saria wollte vor den anderen Mitgliedern des Rudels keine Auskunft geben, aber auch nicht lügen. Er half ihr damit aus der Klemme.

Remy warf ihm einen irritierten Blick zu. »Ruf du erst mal deine Leute her. Dir tut schon keiner was.« Er schaffte es, die Aufforderung so klingen zu lassen, als wäre Drake ein kleiner Junge, der sich hinter dem Rock seiner Mutter versteckte.

Kühl begegnete Drake seinem Blick. »Du musst mich nicht mögen, Boudreaux, genauso wenig, wie ich dich mögen muss. Auch wenn du an allem Schuld bist, du kannst die Verantwortung gern auf mich abwälzen, wenn sie dir Bauchschmerzen bereitet, aber glaub bloß nicht, dass ich mich von dir einschüchtern lasse. Ich bin kein kleines Mädchen, das von seinen Brüdern geliebt werden möchte.«

Saria schnappte nach Luft und drehte sich hastig zu ihm um. »Was machst du denn da? Du drängst ihn ja förmlich zum Kampf.«

Vielleicht hatte sie recht. Er bekam seinen Leoparden nicht in den Griff. Das Tier wollte Sarias Bruder unbedingt an die Kehle. Remy schien das gleiche Problem zu haben, und so wie der Rest der Brüder aussah, hatten sie ebenfalls Mühe, sich zu beherrschen.

Drake runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, um den roten Nebel zu verscheuchen. Dann schaute er zu den verletzten Leoparden hinüber, die schrecklich zugerichtet waren. Elie hockte neben ihnen und versuchte zu helfen. Drakes Verstand arbeitete schwerfällig, bleiern, wie betäubt, so als sei der rote Nebel in sein Hirn eingedrungen und mache es ihm unmöglich, klar zu denken. Plötzlich begegnete er Armandes Blick.

Armande Mercier und Robert Lanoux lagen zerkratzt und mit gebrochenen Rippen in ihrem eigenen Blut und jeder Atemzug fiel ihnen schwer. Die Boudreaux-Brüder beäugten sie nach wie vor mit mordlüsternen Blicken, immer noch nicht zufrieden mit der Abreibung, die Remy ihnen verpasst hatte, aber da war noch etwas. Bei Drake ging eine innere Alarmglocke los, obwohl er nicht genau wusste, warum.

»Irgendetwas stimmt hier nicht«, sagte er zu Remy. Der Mann war bei der Mordkommission und offensichtlich ein geborener Anführer. Bestimmt merkte er es auch.

Remy öffnete den Mund, klappte ihn wieder zu und sah sich um. Richtig. Er hatte auch ein schlechtes Gefühl. Er gab seinen Brüdern ein Zeichen, mit dem Anziehen schnell zu machen. Also bedeutete Drake Joshua, aus der Deckung zu kommen, obwohl ihm nicht ganz wohl dabei war.

Joshua Tregre trat aus dem Gebüsch. Trotz des schussbereiten Automatik-Gewehrs in der Hand wirkte er sehr entspannt. Er ging im Bogen um die Brüder herum und stellte sich in etwa sechs Metern Entfernung neben Drake. Die sonnengebleichten Strähnen in Joshuas Haar ließen eher an einen Surfer als an einen Leoparden denken bis man seine auffallenden, blaugrünen Augen sah. Das waren keine ruhigen Seen, sondern stürmische, brodelnde Ozeane, die nicht zu den Lachfältchen ringsherum passen wollten. Wie fast alle Artgenossen hatte er eine breite Brust und einen äußerst kräftigen Oberkörper. Das Gewehr, das er so lässig hielt, wirkte fast wie mit ihm verwachsen.

Auf Remys rechter Seite, nur etwa neun Meter von den verletzten Leoparden entfernt, tauchte ein zweiter Mann auf. Drake grüßte ihn knapp. Jerico Masters nickte zurück. Wenn Drake nicht da war, was häufiger vorkam, war er Sicherheitschef auf der Bannaconni-Ranch. Jerico war ein ruhiger Mann mit dunklem Haar und grünen, aufmerksamen Augen. Drake wurde etwas besorgt, als er ihn sah. Wenn Jerico fort war, wer achtete dann auf Jake, seine Frau Emma und die Kinder?

Der letzte Mann, Evan Mitchelson, war für Drake eine Überraschung. Evan war ein ehemaliger Berufsboxer mit einem ausgeprägten Sprachfehler, sehr still, groß und muskulös. Meist redete er überhaupt nicht, sondern verständigte sich mit Zeichen. Er verwandelte sich niemals vor den Augen anderer, und Drake hatte sich schon öfter gefragt, ob er überhaupt dazu imstande war. Jerico hielt seine Waffe, als wäre er damit auf die Welt gekommen.

»Schön, euch zu sehen, Jungs«, empfing Drake sie ruhig. »Wir haben ein kleines Problem. Ich muss wissen, ob eure Leoparden sich seltsam aufführen. Ob sie aufgeregt sind, um die Vorherrschaft ringen und euch dazu treiben wollen, einen Streit anzuzetteln oder eure Waffe abzufeuern.«

Remy warf ihm einen erstaunten Blick zu. Dann musterte er die drei Neuankömmlinge. Joshua nickte. »Beinah von dem Augenblick an, in dem wir die Marsch betreten haben. Es ist uns schon aufgefallen, wie nervös wir sind. Aber wir haben es darauf zurückgeführt, dass du in Gefahr warst. Wir haben uns einfach beeilt.«

Evan fing hektisch an zu gestikulieren. Er lasse seinen Leopard nur selten los, weil er ein Killer sei und selbst unter den günstigsten Voraussetzungen nur sehr schwer zu kontrollieren, im Augenblick aber noch schlimmer als sonst. Er wolle schnellstmöglich aus der Marsch heraus.

Jerico nickte bekräftigend.

»Woher wusstet ihr, wo ich bin?«

»Wir sind deiner Witterung gefolgt«, sagte Joshua mit schuldbewusster Miene. »Oder besser ihrer. Ihre Leopardin verbreitet starke Pheromone.«

Saria verdrehte die Augen. »Großartig. Ihr könnt mich quer durch den Sumpf riechen. Was für ein schönes Kompliment!«

Sie rückte etwas näher an Drake heran, so als suche sie seinen Schutz. Man konnte sehen, wie unbewusst diese kaum merkliche Bewegung war.

»Entschuldigen Sie, Ma’am«, bat Joshua um Verzeihung, »aber diese Lockstoffe sind sehr verführerisch.«

Drakes Leopard tobte so heftig, dass seine Muskeln und Kiefer schon zu wachsen begannen. Fast zu schnell, um dagegenzuhalten, setzte die Verwandlung ein. Schon begann alles zu verschwimmen, nur zufällig blickte er zu den beiden Verletzten hinüber und fing Armandes Blick auf. Das Starren des Mannes verriet Furcht und noch etwas etwas Undefinierbares. Dieser seltsame Ausdruck brachte Drake endlich wieder zur Vernunft. Es war, als wüssten die beiden Verletzten etwas, das die anderen nicht wussten, als warteten sie nur darauf, dass eine Katastrophe geschah.

Drake riskierte einen Blick auf Remy und erkannte, dass auch er um seine Selbstbeherrschung rang. »Ich glaube, es liegt an der Marsch.« Drake sprach so laut, dass die beiden Verletzten ihn hören konnten, und beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Beiden schien unbehaglich zu sein, doch ansonsten hatten sie offenbar die gleichen Schwierigkeiten wie alle anderen.

Remy runzelte die Stirn, machte seinen Brüdern jedoch ein Zeichen, sich so gut es ging zusammenzureißen. »Vielleicht sollten wir ganz schnell weg von hier.«

Drake sah Saria an. »Was ist mit dir, Süße? Ist deine Leopardin ruhig oder macht sie Probleme?«

»Sie ist ganz ruhig. Wenn ihr nicht alle über ihre Pheromone reden würdet, wüsste ich wahrscheinlich nicht einmal, dass es sie gibt.« Saria wich seinem Blick aus, was ihm verriet, dass sie ihn zum ersten Mal angelogen hatte. Auch ihr machte das wilde Tier zu schaffen, aber sie wollte es nicht zugeben.

»Remy, ich will meine Männer hier raushaben. Evan hat große Schwierigkeiten mit seinem Leoparden.«

»Ich auch«, gab Lojos zu.

»Ich ebenfalls, Remy«, meinte Gage. »Wenn ich ihn nicht bald rauslasse, zerreißt er mir die Eingeweide.«

Remy sah zu seinen anderen beiden Brüdern hinüber. Mahieu und Dash nickten einmütig. »Elie, meine Brüder helfen dir, die beiden Verletzten wegzubringen. Falls du Schmerzmittel hast, kannst du sie ihnen geben.« Böse starrte er die beiden Verwundeten an. »Wir holen euch hier raus, aber wir haben alle Mühe, uns im Zaum zu halten. Also seid schön still, egal, was passiert. Besser ihr liefert uns keinen Vorwand, euch doch noch um die Ecke zu bringen. Es ist noch nicht zu spät, eure traurigen Ärsche im Sumpf zu versenken.«

Gage und Lojos gingen sofort zu Elie und halfen ihm, die beiden Verwundeten auf die Füße zu stellen. Obwohl es dabei viele unterdrückte Flüche gab, war keiner der Bestraften dumm genug, sich zu beschweren. Schließlich machte sich die kleine Gruppe unter sorgfältiger Umgehung aller tückischen Stellen mit Dash auf den Weg zum Dock, an dem die Boudreaux-Brüder ihr Schnellboot vertäut hatten.

Nur Remy und Mahieu blieben zurück. Sie warteten, bis die anderen vom Dickicht vollständig verschluckt worden waren, dann gingen sie zu Drake und seinen Männern hinüber.

»Brauchst du uns noch hier, Boss?«, fragte Evan in Zeichensprache.

Drake schüttelte den Kopf. »Wir treffen uns in der Pension.« Joshua warf Remy und Mahieu noch einen scharfen Blick zu, ging dann aber mit Jerico und Evan hinter den anderen her.

»Ich bin Remy Boudreaux, Sarias ältester Bruder. Und das ist Mahieu«, sagte Remy und streckte die Hand aus.

Drake schüttelte sie. »Drake Donovon. Jake Bannaconni hat mich geschickt, um hier nach dem Rechten zu sehen. Ich habe Saria angeheuert, damit sie mich durch die Sümpfe führt, und dann geriet die Lage schnell außer Kontrolle.«

Remy nickte bedächtig. »Ich kann mir vorstellen, wie es dazu gekommen ist, und wenn Saria sich für dich entschieden hat, stehen wir an deiner Seite. Wir brauchen frisches Blut. Unser Rudel schrumpft immer mehr. Die meisten von uns finden keinen Partner.«

»Vielleicht solltet ihr mal darüber nachdenken, in den Regenwald zu gehen und dort nach einer Gefährtin zu suchen«, sagte Drake. »Obwohl ich ziemlich sicher bin, dass du das schon getan hast.«

Remy zuckte die Schultern. »Ich hab’s versucht. Und ich schicke auch meine Brüder hin, sobald die Lage sich wieder beruhigt hat. Aber wir haben gedacht, Saria hätte keine Leopardin in sich.«

Drake öffnete den Mund, um etwas Barsches zu erwidern. Seiner Meinung nach war das kein Grund, die kleine Schwester so zu vernachlässigen, aber er kannte nicht alle Umstände und musste ehrlich zugeben, dass er nicht sicher sein konnte, ob sein Leopard ihn nicht nur als Sprachrohr benutzte, um seinen Zorn auf Sarias Brüder zu äußern.

»Hab ich aber«, mischte sich Saria plötzlich ein. Ihre Augen leuchteten.

Drake musste sich das Grinsen verkneifen. Er legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie an sich. »Ja, hast du.«

»Nur dass sie im Moment an diesem Ort etwas schwer zu zügeln ist«, fügte Saria hinzu. Wieder mied sie seinen Blick.

»Du bist doch schon öfter hier gewesen«, sagte Drake. »Was hat sich denn verändert?«

Mit gerunzelter Stirn schaute Saria sich um. »Ich weiß nicht. Es ist wunderschön, aber das war schon immer so. Es gibt mehr Blumen und Pflanzen, als ich in Erinnerung hatte, aber das ändert sich ständig, je nachdem, wie das Wetter ist, und ob es Sturmfluten gegeben hat. Du siehst ja das viele Wasser. Manchmal wäscht es die Erdkrume fort und ein andermal schwemmt es fruchtbaren Boden an. Die Marsch ist sehr wild und urwüchsig. Dieses Areal hat eine größere Artenvielfalt und mehr ebenes Terrain als die anderen ringsum. Alles davon ist sumpfig, aber obwohl wir es Fenton’s Marsh nennen, handelt es sich um ein riesiges Stück Land. Und je weiter man hineingeht, desto fester wird es.«

»Wirst du uns erklären, was los ist, Saria? Das Rudel ist in heller Aufregung. Wenn Elie uns nicht rechtzeitig gerufen hätte, säße ich jetzt im Gefängnis, wegen zweifachen Mordes«, meinte Remy.

»Ich glaube, mich hat niemand auf der Rechnung«, mischte Drake sich ein. »Saria brauchte Hilfe, und ich war zufällig zur Stelle. Unsere Leoparden haben sich definitiv wiedererkannt. Aber als der andere sie überfallen hat, hat ihre Leopardin sich vor ihm versteckt.«

Remys Augen wurden eiskalt. »Wer war das, Saria, und erzähl mir jetzt nicht, dass du es nicht weißt. Du musst ihn doch gerochen haben. Und wenn er dich markiert hat «

Remys Vorwürfe ärgerten Drake. Er drehte Saria um und hob den Saum ihres T-Shirts, sodass die langen Kratzer zu sehen waren, die, obwohl bereits vernarbt, immer noch dunkelrot waren.

Der Anblick ließ Remy und Mahieu beinahe gleichzeitig knurren. Ihre Leoparden kümmerte es wenig, dass die Wunden schon älter und fast verheilt waren.

Remy trat näher an seine Schwester heran und inhalierte tief, um einen ihm bekannten Geruch zu entdecken. Doch Saria schüttelte den Kopf, riss ihr T-Shirt wieder herunter und warf Drake einen bösen Blick zu.

»Ich habe den Angreifer nicht erkannt. Ich weiß nicht, warum ich ihn nicht riechen konnte, Remy. Vielleicht hatte ich zu viel Angst. Ich habe gedacht, er würde mich umbringen. Ich bin noch nie von einem Leoparden angefallen worden. Und nie einem Raubtier so nahe gekommen.«

»Du hättest sofort mit mir reden müssen.«

»Und dir sagen sollen, dass ein Leopard mich angegriffen hat? Die einzigen Leoparden, die ich kannte, waren meine fünf Brüder«, sagte Saria und sah ihrem Bruder direkt in die Augen.

»Du hast es gewusst?«, fragte Remy.

Sie nickte. »Ich habe euch einmal gesehen, als ich klein war. Zu der Zeit hat Pere noch gelebt, und danach habe ich ihn genau beobachtet. Ich habe euch alle beobachtet. Es war aufregend und unheimlich. Manchmal gab es Kratzspuren im Haus und dazu viele andere Anzeichen. Ich bin eine gute Fährtenleserin.«

Remy schüttelte den Kopf, offenbar überraschte ihn seine jüngere Schwester. »Wenn du zu uns gekommen wärst, hätten wir darüber reden können.«

Saria presste die Lippen zusammen und Drake konnte sehen, dass sie gekränkt war, obwohl sie es schnell hinter einem lässigen Achselzucken versteckte. »Ich habe gedacht, ihr wolltet nichts mit mir zu tun haben, weil ich keine von euch war.«

Sie versuchte, dem alten Schmerz mit dieser einfachen, ehrlichen Erklärung die Spitze zu nehmen, doch Drake litt mit ihr und sein Leopard ebenso. Die Großkatze begehrte so heftig auf, dass Drake einen festeren Stand suchte und seine Muskeln unwillkürlich zu verkrampfen begannen. Er musste tief einatmen, um das Tier im Zaum zu halten. Evan hatte signalisiert, dass er seinen Leoparden sehr streng hielt, ihm kaum Freiraum ließ, und auch das nur dann, wenn er ganz allein war, weil seine Raubkatze so gewalttätig sei. Allmählich begann Drake zu glauben, dass seine Katze dem nacheiferte zumindest was Sarias Familie anbetraf.

Remy trat einen Schritt zurück und zog Mahieu mit sich. »Hast du sonst auch Probleme mit deinem Leoparden?«, fragte er Drake leise.

Wenn Remy mit einem spöttischen oder abfälligen Unterton gesprochen hätte, hätte Drake seinen Leoparden nicht mehr bremsen können, das war ziemlich sicher, aber Sarias Bruder klang eher besorgt und sah sich schon wieder misstrauisch um.

»Nein. Niemals. Mein Leopard ist immer sehr ausgeglichen, sonst könnte ich keine Kampfeinsätze leiten.«

Remy nickte zustimmend. »Irgendetwas ist faul. Ich spüre es nach wie vor, und es liegt nicht an Sarias Leopardin«, sagte er. »Ich glaube, ihr beide seid hier nicht sicher.«

»Mein Auftrag ist wichtig, sonst würde ich Saria nicht bei mir behalten«, sagte Drake. »Aber vielleicht könnte ich es auch allein zurück schaffen, wenn du «

»Das kommt nicht infrage.« Saria reckte das störrische Kinn und in ihren großen, dunklen Augen leuchteten immer mehr warnende goldene Lichter auf. »Ich bin deine Führerin, und ich bleibe bei dir. Außerdem bin ich eine exzellente Schützin. Lass uns diese Sache schnell hinter uns bringen und dann nach Hause fahren.«

Drake grinste Remy reumütig an. »Sie hört einfach nicht.«

»Das war schon immer so. Ich erwarte euch beide zu Hause.« Remy musterte seine Schwester streng. »Und dann redest du, Saria. Ich will wissen, was los ist, hast du mich verstanden?«

»Selbstverständlich«, entgegnete Saria und fügte leise hinzu: »Es war ja nicht zu überhören.«

»Wie bitte?«, blaffte ihr Bruder.

Doch Drake sah die Belustigung in Remys Augen, die seinen Ton Lügen strafte. »Wir sind bald da.« Drake strich über Sarias Arm, verschränkte seine Finger mit ihren und zog sie fort. Er wollte sie so schnell wie möglich von Fenton’s Marsh wegbringen.

Immer noch etwas überrascht, dass ihre Brüder ihr zu Hilfe geeilt waren, sah Saria Remy an. »Bien merci, ich hatte keine Ahnung, dass ihr mir folgen würdet.«

Mahieu trat vor und umarmte sie fest. »Natürlich sind wir da, wenn du uns brauchst, Saria.«

»Bring mich nicht zum Weinen, Mahieu. Das wusste ich nicht.«

»Aber wir sind deine famille.« Er beugte sich zu ihr herab. »Je t’aime beaucoup, ma soeur. Wieso wusstest du das nicht? Wenn du in Schwierigkeiten bist, Saria, sind wir alle für dich da.«