Kapitel 18
Sara, ich kann meine Flügel nicht finden«, rief die kleine Emma, die mit wippenden Locken den Flur hinuntergelaufen kam. »Ich habe überall geschaut.«
»Bestimmt hat Trav sie genommen«, verkündete Chrissy. »Er hat gesagt, dass Emma kein Engel ist und dass er ihre Flügel wegschmeißen will.« Ihre zu großen Augen waren sehr ernst. Sie war gespannt, welche furchtbare Strafe die Erwachsenen für ein derartiges Vergehen verhängen würden.
Sara verdrehte die Augen, als Emma anfing zu jammern: »Ich bin ein Engel! Ich bin einer! Trav ist ein ganz, ganz böser Junge, nicht, Falcon?«
Falcon hob sie hoch und wirbelte sie im Kreis herum, bevor sich ihr Knatschen zu einem echten Heulkrampf auswuchs. »Ich glaube, Trav ist ein kleiner Schlingel, kein böser Junge. Was könntest du wohl angestellt haben, dass er glaubt, du wärst kein Engel?«
»Er will immer was zu essen haben, und ich habe sein belegtes Brot genommen und es Marias Hund gegeben. Trav braucht das Brot nicht so sehr wie Marias Hund. Trav kann einfach in die Küche gehen. Das hat Sara gesagt, oder, Sara?«
»Das stimmt, Emma«, gab Sara ihr recht. »Es ist immer genug zu essen da, aber du darfst Trav trotzdem nicht sein Brot wegnehmen. Wenn du Marias Hund etwas geben willst, hol es dir aus der Küche.«
Falcon räusperte sich. Das könnte danebengehen. Sie ist imstande, dem Hund nächstes Mal einen Rostbraten zu bringen.
»Was ich damit meine, Emma, ist, dass du Slavica oder Maria fragen musst, bevor du etwas aus der Küche nimmst. Sie wissen, was Hunde essen dürfen«, fügte Sara hastig hinzu.
Emma war vier, und Sara war sicher, dass diese Debatte ewig weitergehen würde, wenn sie nicht schnell das Thema wechselte. »Wir müssen euch langsam ins Gasthaus bringen. Alle warten schon auf euren Auftritt.«
»Wir finden deine Flügel schon, Kleine«, versicherte Falcon ihr und hob den Kopf, um Sara anzulächeln.
Sie hatte es zustande gebracht, für diese Kinder ein Wunder zu wirken. Jetzt waren sie alle auf dem besten Weg, gesund zu werden und langsam daran zu glauben, dass sie nicht stehlen mussten, um etwas zu essen zu bekommen, und immer ein Dach über dem Kopf haben würden. Sara hatte sieben begabte Kinder, die in den Abwasserkanälen Rumäniens gelebt hatten, gerettet und in die Karpaten gebracht. Sara und Falcon standen so früh wie möglich auf und blieben wach, solange sie konnten, um mit den Kindern zusammen zu sein. Sie hatten das Glück gehabt, mehrere menschliche Frauen zu finden, die bereit waren, für sie zu arbeiten und während der Stunden aufzupassen, in denen Falcon und Sara nicht anders konnten, als zu schlafen.
Falcon hätte sich nie träumen lassen, so sehr lieben zu können, aber manchmal, wie zum Beispiel jetzt, schien er vor Liebe überzuquellen. Er umarmte Emma noch einmal, ohne auf ihr Gequieke zu achten, führte die kleine Schar zu dem Sessel, in dem Trav saß und versuchte, ein finsteres Gesicht zu machen. Falcon zwinkerte dem Jungen zu und streckte seine Hand aus. »Gehen wir! Auf uns wartet ein Festmahl, und je eher wir unser Spiel vorgeführt haben, desto schneller bekommt ihr etwas zu essen. Ich weiß, dass Corinne und Mrs. Sanders fantastisch kochen. Diese Mahlzeit wollt ihr euch bestimmt nicht entgehen lassen.«
Travis stand seufzend auf und zog die Flügel hinter seinem Rücken hervor. »Wenigstens muss ich kein Engel sein.« Plötzlich grinste er Falcon an. »Ich bin König!«
Falcon legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter. Travis war mit seinen acht Jahren der Älteste und hatte früher für die anderen die Verantwortung übernommen, indem er Portemonnaies gestohlen und sich bemüht hatte, etwas zu essen aufzutreiben. Ständig hatte er versucht, seine kleine Schar vor den älteren und stärkeren Jugendlichen auf den Straßen und in den Abwasserkanälen zu beschützen. Der Junge war groß für sein Alter und sehr dünn, mit einem wirren Schopf dunkler Haare, die er sich auf keinen Fall schneiden lassen wollte. Der Junge versuchte, wie Falcon zu sein, und wollte sein Haar deshalb lang und ungebändigt tragen. Nachdem Sara ihn darauf hingewiesen hatte, hatte Falcon einige Zeit damit verbracht, Trav ein paar Pflegetipps für langes Haar zu geben. Heute schien es dem Jungen besser gelungen zu sein als sonst. Nicht einmal Emma hatte etwas an Travis' Haaren auszusetzen.
»Du siehst richtig gut aus.«
»Sara hat gesagt, dass alle von der Kirche ins Gasthaus kommen.«
»Ja, sie gehen in die Mitternachtsmette und kommen anschließend zum Essen. Möchtest du zur Messe gehen?« Falcon warf Sara einen verstohlenen Blick zu und bemühte sich, ernst auszusehen.
Travis starrte ihn empört an. »Ich doch nicht! Ich geh da nicht hin!«
»Das hatte ich eigentlich auch nicht erwartet, aber ich dachte, ich frage lieber, damit du die freie Wahl hast. Wir gehen jetzt besser, sonst kommen wir noch zu spät.«
»Falcon«, fragte Emma auf dem Weg zur Tür, »kommt wirklich der Weihnachtsmann? Bringt er mir ein Geschenk mit?«
Einen Moment herrschte Schweigen, und als Falcon in die erwartungsvollen Gesichter der Kinder sah, erkannte er, wie wichtig seine Antwort war. Sogar Travis wirkte hoffnungsvoll, obwohl er versuchte, eine gleichgültige Miene aufzusetzen. Sie hatten bisher noch nie einen Weihnachtsbaum gehabt, noch nie ein Weihnachtsessen oder ein weihnachtlich geschmücktes Haus, ganz zu schweigen von Weihnachtsgeschenken.
»Ich bin ganz sicher, dass er kommt«, antwortete Falcon. In seiner Kehle steckte ein Kloß, an dem er zu ersticken drohte. Wieder wechselte er einen Blick mit Sara. Es war nicht schwer zu verstehen, warum es ihr ein Anliegen gewesen war, wenigstens diesen Kindern zu helfen, wenn sie schon nicht alle retten konnte, und sie gab ihr Bestes, um ihnen ein schönes Zuhause zu geben.
»Los, gehen wir! Wir fahren heute Abend in einem Schlitten«, verkündete Sara. »Achtet darauf, dass ihr alle eure Jacken, Mützen und Handschuhe habt.«
»Wie der Schlitten vom Weihnachtsmann?«, fragte Chrissy. Mit fünf war sie das älteste Mädchen und nahm ihre Rolle sehr ernst. Ungläubiges Staunen lag in ihrer Stimme, und Sara war sofort dankbar, dass Falcon an eine Schlittenfahrt gedacht hatte.
»Nun, wir haben Pferde statt Rentiere«, sagte Sara, »doch es macht bestimmt Spaß. Zieht die dicke Decke über euch, wenn ihr einsteigt, damit ihr es schön warm habt.«
Da sie nicht alle sieben Kinder in einem Schlitten unterbringen konnten, fuhr Sara mit den vier Jungs, damit sie »auf sie aufpassen« konnten, während Falcon die kleinen Mädchen übernahm. Travis griff nach den Zügeln und gab den Pferden mit wichtiger Miene das Kommando zum Laufen. Jase, der jüngste Junge, der erst drei war, klammerte sich an Sara und quietschte vor Vergnügen, als sie in Richtung Gasthaus über den Schnee glitten.
Falcon überprüfte die Umgebung. Er wusste von den Angriffen auf die Frauen und dem, der sich direkt gegen Prinz Mikhail gerichtet hatte, und seine Anspannung nahm zu, als sie durch den dichtesten Teil des Waldes fuhren. Ein leises Flattern über seinem Kopf lenkte seinen Blick nach oben, und er sah mehrere Eulen dahingleiten. Die Pferde schnaubten weiße Dampfwölkchen in die Luft und warfen die Köpfe zurück, als sie die Wölfe bemerkten, die neben ihnen hertrabten, wobei der Anführer des Rudels, ein großes schwarzes Tier mit blitzenden eisblauen Augen, parallel zu ihnen lief.
»Unsere Eskorte«, rief Falcon lachend. Überall waren Krieger; sie flogen über ihnen oder rannten neben ihnen her, um auf Sara und die Kinder aufzupassen. Er salutierte kurz, während der Schlitten von den Pferden über den Schnee gezogen wurde.
Die Schlittenglöckchen klingelten unentwegt. Die Wangen der Kinder waren rosig, ihre Augen glänzten vor Aufregung, und ihr Lachen war Musik in seinen Ohren. Ich liebe dich, Sara. Danke, dass du mir Leben geschenkt hast.
Ich liebe dich auch, Falcon. Danke, dass du einfach du bist. Kein anderer hätte diese Kinder so liebevoll aufgenommen, wie du es getan hast. Du bist ein außergewöhnlicher Mann.
Das Gasthaus war hell erleuchtet. Bunte Lichter strahlten vom Balkon und rund um die Tür. Die Pferde blieben direkt vor dem Eingang stehen, und Slavica, die Wirtin und eine der Frauen, die sich oft um die Kinder kümmerten, kam herausgeeilt, um sie zu begrüßen. Nachdem sie jeden von ihnen umarmt hatte, führte sie sie in den riesigen Festsaal, wo eine Bühne errichtet worden war. Falcon und Sara nahmen ihre Plätze ein, und Sara klammerte sich aufgeregt an seine Hand und drückte die Daumen, dass die Kinder Spaß an ihrer Vorführung für die Erwachsenen haben würden.
Das Hirtenspiel ging ohne größeres Missgeschick über die Bühne. Die Kinder machten ihre Sache gut, auch wenn der Engel den König gegen das Schienbein trat und er eine Minute auf der Bühne herumhüpfte, ehe ihm einfiel, dass er Publikum hatte. Josef sang einen Rap – seine ganz persönliche Version von »Jingle Bells«, die tatsächlich nicht schlecht war -und erntete so stürmischen Beifall, dass er vor Begeisterung beinahe von der Bühne gefallen wäre.
Falcon legte einen Arm um Saras Schultern und bettete eine Hand auf ihren Bauch, wo ihr ungeborenes Kind schlummerte. »Du bist eine unglaubliche Frau. Wie hast du das bloß auf die Beine gestellt? Die Kleinen sind so glücklich. Schau sie dir an! Sie sind alle die geborenen Bühnenkünstler.«
Mikhail nickte zustimmend. »Es war eine fantastische Vorstellung, Sara. So etwas hatte ich nicht erwartet. Du musst viel Zeit und Mühe in die Vorbereitungen investiert haben.« Er schaute sich im Saal um und sah nur lachende Gesichter. Selbst die grimmigen Mienen seiner Krieger wirkten gelöst und glücklich, als sie den Kindern tosenden Applaus spendeten.
»Waren sie nicht großartig?« Sara strahlte vor Stolz auf ihre Schützlinge. »Was hältst du von Josefs Rap-Version eines Weihnachtslieds? Er hat wirklich hart daran gearbeitet. Und Skyler hat wunderschön gesungen. Ich war fassungslos, als ich sie zum ersten Mal gehört habe. Paul und Ginny haben ihre Tanznummer toll gebracht, und natürlich kann niemand so Klavier spielen wie Antonietta. Ich bin sehr, sehr glücklich!«
»Und dass die ›Dark Troubadours‹ für alle gesungen haben, war ein echter Volltreffer«, warf Falcon ein. »Ich denke, unsere Gäste waren mit der Show sehr zufrieden.«
»Im Ernst, Sara, ich habe nicht annähernd so etwas wie diese Aufführung erwartet«, gestand Mikhail. »Woher hast du bloß die Zeit genommen, das alles in Szene zu setzen? Ich weiß, dass du mit den Kindern und auch mit den Teenagern geprobt hast, doch was hier geboten wurde, hat alle meine Erwartungen bei Weitem übertroffen.«
»Es hat Spaß gemacht, Mikhail. Und die Kinder haben wirklich das Gefühl gebraucht, auch etwas zu dem Fest beizusteuern. Ich will nicht, dass sie sich ausgeschlossen und anders fühlen. Keines von ihnen. Mir liegt viel daran, dass die Erwachsenen sie wirklich sehen und ihre Leistungen anerkennen.«
»Tun sie das denn nicht?« Das Lächeln auf seinem Gesicht verblasste. Nein, natürlich nicht. So wichtig ihnen die Kinder auch waren und so gut sie auch behütet wurden – der Rest der karpatianischen Gemeinschaft achtete auf ihre Gesundheit und Sicherheit, mehr nicht. Das war nicht immer so gewesen.
»Ich meine nicht nur ihre Eltern«, fuhr Sara fort. »Karpatianische Männer mussten sich so lange allein durchschlagen, dass sie vergessen haben, wie es ist, eine Familie zu haben. Ihr Leben besteht aus Krieg, nicht aus Frau und Kindern und einem Heim. Unsere Kinder brauchen eine Ausbildung, und zwar nicht nur Wissen aus Büchern. Sie müssen lernen, welche Fähigkeiten Karpatianer besitzen – wie man seine Gestalt wechselt, Schutzbarrieren errichtet, sogar, wie man kämpft. Aber wer übernimmt diese Aufgaben? Diese Frage haben wir nie geklärt. Es gibt nur sehr wenige Kinder, und niemand denkt daran, sie zusammenzubringen, wie bei dieser Feier zum Beispiel, wo sie einander kennenlernen und Freunde werden können und Erwachsene erleben, von denen sie Anerkennung erfahren.«
Mikhail erinnerte sich an seine eigene Jugend, an die Krieger, die sich die Zeit genommen hatten, ihm hier und da einen Rat zu geben, an die Edelsteinsucher, die ihn mit in die Höhlen genommen hatten, um ihm zu zeigen, wie sie arbeiteten, und an andere, die ihm das Formwandeln und sogar Kampftaktiken beigebracht hatten. Sara hatte recht.
»Ich werde mir deine Worte zu Herzen nehmen, Sara«, versprach er. »Was du sagst, klingt vernünftig. Die Kinder wirken glücklicher, als ich sie je gesehen habe. Ich hatte eine kurze Unterhaltung mit Joies Mutter, Mrs. Sanders, und sie erwähnte, dass du diese Kostüme selbst mit der Hand genäht hast. Ich hätte dir Hilfe besorgen können, wenn du gefragt hättest.«
»Ich hatte Hilfe: Corinne. Und wir wollten lieber richtig nähen, als die Kostüme auf karpatianische Weise zu beschaffen. Meine Mädchen und Jungs sollten sehen, wie man mit der Hand näht. Falcon und ich versuchen, unsere beiden Welten so gut wie möglich miteinander in Einklang zu bringen. Colby de la Cruz hat mir erzählt, dass Rafael und sie sich ebenfalls darum bemühen.«
Mikhail nahm Ravens Hand und zog sie an seinen Mund, um mit seinen Zähnen sanft über ihre Fingerknöchel zu streichen. »Es scheint sehr viele Dinge zu geben, die ich nicht bedacht habe. Wir haben von deiner Feier einiges gelernt, Raven. Etliche unserer Landsleute müssen die menschliche Lebensart mit der karpatianischen unter einen Hut bringen. Und da mehr und mehr unserer Krieger ihre Frauen unter den Menschen finden, wird es immer öfter vorkommen. Am besten lernen wir jetzt gleich, wie sich menschliche und karpatianische Familien miteinander vereinbaren lassen.«
Er lotste Raven von den anderen weg zu dem hohen Weihnachtsbaum. Überall im Dorf hatten die Leute Baumschmuck angefertigt und ihn Slavica gebracht. Mikhail beugte sich vor und streifte den Mundwinkel seiner Frau mit einem Kuss. »Schau dich um, Raven. Das ist dein Werk. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten sehe ich so viele Karpatianer zusammen mit unseren Nachbarn an einem Ort. Die Kinder lachen und laufen aufgeregt herum, und die Männer sind entspannt. Na schön«, korrigierte er sich, »sie sind wachsam, wie sie es sein sollen, doch entspannter, als ich sie je gesehen habe.« Sein Blick wanderte zu Lucian. »Schau ihn an, Raven. Der Mann hat sein ganzes Leben mit Kämpfen verbracht, aber jetzt hat er Frieden gefunden.«
Raven schenkte ihm ein sanftes und sehr verständnisvolles Lächeln. »Natürlich hast du diesen Anblick gebraucht. Du musst von Zeit zu Zeit daran erinnert werden, wofür du kämpfst, Mikhail. All deine Mühen sind für sie. Wenn du nie Ergebnisse siehst, wird die Last zu schwer für dich.«
Er fühlte, wie Schmerz ihm die Kehle zusammenpresste, als er sich im Saal umschaute. Es waren so viele von ihnen: seine Krieger, hochgewachsen und aufrecht, mit dem langen schwarzen Haar – ihrem charakteristischen äußeren Merkmal – und den rastlosen Augen, die jetzt allerdings strahlten. Er sah von ihnen zu den anderen Karpatianern, von denen sich einige im Saal, andere im Schankraum, die meisten aber draußen aufhielten, wo er ihre Anwesenheit spüren konnte. Sie befanden sich nahe am Abgrund, denn sie hatten keine Gefährtin des Lebens, die ihnen aus ihrem trostlosen Dasein half. Würde ihnen diese Zusammenkunft helfen? Konnte sie ihnen Hoffnung machen? Oder würde die gemeinsame Feier ihnen die eigene Einsamkeit nur noch deutlicher vor Augen führen?
Raven lehnte sich an ihn und teilte die Wärme ihres Körpers mit ihm. »Wir sind nicht nur ein Volk, sondern eine Gemeinschaft. Aber wie können wir eine Gemeinschaft sein, wenn wir nie miteinander verkehren?« Sie hob eine Hand und strich über sein Gesicht, das so sehr von Sorgen gezeichnet war. »Die alten Zeiten sind für immer dahin, Mikhail, so traurig das auch sein mag. Wir müssen eine Möglichkeit finden, all diesen Leuten neue Traditionen und Werte zu vermitteln. Wir müssen jetzt unsere eigene Geschichte schreiben. Wir haben Feinde, ja, doch wir haben auch das hier.« Sie schloss mit einer Handbewegung alle Karpatianer und ihre menschlichen Freunde ein. »Wir haben so viel, und das ist dein Verdienst. Gregori hat sich immer über deine Freundschaft mit diesem Priester, Pater Hummer, aufgeregt, aber jetzt ist einer seiner besten Freunde ein Mensch: Gary Jansen.«
Die Erwähnung seines langjährigen Freundes, eines Priesters, der von Mitgliedern des Syndikats wegen seiner Verbindungen zu Mikhail ermordet worden war, machte Mikhail traurig. Er zwang sich, seine Gedanken von der Vergangenheit abzuwenden.
»Sara meinte, wir hätten so viele Kriege geführt und wären so lange ohne Kinder gewesen, dass wir ihnen nicht geben, was sie brauchen. Findest du, sie hat recht?« Mikhails schwarze Augen ruhten auf Ravens Gesicht. Gefährten des Lebens belogen einander nicht, selbst wenn die Wahrheit schmerzlich war. Er las die Antwort in ihrem Gesicht und an der Art, wie sich ihre Finger fester um seine schlangen. An der Bestürzung, die sich auf ihrem makellosen Zügen widerspiegelte.
»Du kannst nicht an alles denken, Mikhail.«
»Ich habe gar keine andere Wahl, Raven. Es ist meine Pflicht. Diese Kinder sind alle Karpatianer, und diejenigen, die es noch nicht sind, werden es bald sein. Du hast recht, wenn du sagst, dass wir nicht nur ein Volk sind. Wir sind eine Gemeinschaft und müssen anfangen, uns wie eine solche zu verhalten. Unsere Feinde haben es geschafft, dass wir uns ausschließlich auf sie konzentrieren, statt anderen, sehr wichtigen Aspekten unseres Lebens Aufmerksamkeit zu schenken. Unsere Kinder sind alles für uns. Statt uns über ihre Streiche zu ärgern, sollten wir ihnen vieles beibringen. Denk nur daran, wie ich mich über Josef aufgeregt habe!«
»Schatz«, sagte sie sanft, »Josef würde die Geduld eines Heiligen überstrapazieren.«
Ein kleines Lächeln spielte um seinen Mund. »Na schön, ein Punkt für dich. Der Junge ist in mancher Hinsicht furchtbar altklug und dann wieder so kindisch. Keiner von uns hat sich mit Kindern wirklich beschäftigt, seit Jahrhunderten nicht, und die erforderliche Toleranz und Geduld aufzubringen, muss zur Priorität erklärt werden, vor allem, da einige unserer Frauen schwanger sind.«
Raven stupste Mikhail an, als Jacques und Shea hereinkamen. »Sie sieht angegriffen aus. Glaubst du, sie hat schon Wehen?«
»Sie wehrt sich dagegen. Das hat Jacques mir erzählt. Ich habe Syndil gebeten, einen Ort für die Geburt auszusuchen und die Erde für Shea und das Baby anzureichern. Ich hoffe, das wird Shea genügend beruhigen, um die Geburt zuzulassen.«
»Es überrascht mich, dass sie gekommen ist.«
»Sie will heute Abend eine Freundin treffen, die sie online kennengelernt hat. Sie ist unter den Gästen. Ihr Name ist Eileen Fitzpatrick. Bist du ihr schon begegnet?«
»Nein, aber Slavica hat sie erwähnt. Anscheinend musste sie sich, kurz bevor sie herkam, wegen ihres grauen Stars operieren lassen und hat die meiste Zeit auf ihrem Zimmer verbracht. Sie ist nur gekommen, um Shea zu sehen, und hätte den Besuch beinahe verschoben. Aber da sie nicht mehr die Jüngste ist, befürchtete sie, es könnte ihre einzige Chance sein.«
»Jacques hat mir gesagt, dass Aidan Nachforschungen über sie angestellt hat. Mit ihr scheint alles in Ordnung zu sein, aber ich möchte bei Shea besonders vorsichtig sein. Im Moment traue ich niemandem, der in ihre Nähe kommt, nicht einmal harmlosen alten Damen mit grauem Star.«
Shea und Jacques bahnten sich langsam durch die Menge einen Weg zu Mikhail und Raven. Der Prinz trat vor, um seine Schwägerin mit einem Kuss auf die Wange zu begrüßen.
»Bist du sicher, dass du dich nicht lieber ausruhen solltest?«, erkundigte er sich und warf Jacques einen fragenden Blick zu.
»Ich habe eindeutig Wehen«, gestand Shea. »Dieses Baby hat entschieden, noch heute Nacht auf die Welt zu kommen, ob ich will oder nicht. Es geht leichter und schneller, wenn ich so lange wie möglich auf den Beinen bleibe. Ich wollte die Aufführung sehen, doch ich bin ein bisschen zu langsam unterwegs.«
Raven umarmte sie. »Ich kann es dir später durch Gedankenübertragung zeigen, jedes Detail, vor allem die lustigen Stellen. Die Kleinen waren so süß, und ich hatte keine Ahnung, dass unsere Teenager so talentiert sind. Josef hat wirklich eine gute Stimme, und er ist immer so einfallsreich.«
»Josef hat gesungen? Und das habe ich verpasst?«, fragte Shea.
Mikhail seufzte. »Wenn man das ›Singen‹ nennen kann. Er hat tatsächlich eine gute Stimme, doch ich begreife nicht, warum der Junge nicht einfach ein Lied singt, das man auch verstehen kann. Und was waren das für Verrenkungen, die er da oben gemacht hat?«
»Verrenkungen ?«, echote Jacques und sah Raven fragend an.
»Es sah aus, als hätte er Krämpfe«, erklärte Mikhail.
»Er hat getanzt«, sagte Raven und warf ihrem Gefährten einen vernichtenden Blick zu.
»Ach ja? Ich war unschlüssig, ob das eine Striptease-Einlage war oder ob er dringend medizinische Hilfe brauchte. Da ihm niemand zu Hilfe kam, bin ich jedoch sitzen geblieben. Er rollte über den Boden und warf seinen Körper wie eine Raupe hin und her.«
»Breakdance«, erklärte Raven Shea.
»Und der Striptease?«, wollte Shea wissen.
»Also ich glaube, das war Freak Dance ohne Partner«, antwortete Raven. »Ich bin mit der Materie nicht unbedingt vertraut, doch er sah so aus, als ob er ... äh ... na ja, du weißt schon.«
»Ich weiß es nicht.« Mikhail zuckte die Schultern. »Im entscheidenden Moment wäre er fast von der Bühne gefallen.«
Shea lachte und hielt sich den Bauch. »Ich wusste, ich hätte dabei sein müssen, allein für diesen Auftritt.«
»Es hat sich gelohnt«, gab Mikhail zu, »obwohl ich kein Wort von seinem Vortrag verstehen konnte. Unklar bleibt auch, warum er beim Singen spucken und grunzen musste.«
»Du bist einfach nicht auf dem Laufenden«, stellte Jacques fest.
Raven und Shea brachen in Gelächter aus. Mikhail machte ein gekränktes Gesicht. »Was soll das heißen? Natürlich bin ich auf dem Laufenden, und zufällig weiß ich, dass das kein Tanz war. Paul und Ginny haben getanzt, und Antonietta hat richtige Musik gespielt, und Skyler hat wie ein Engel gesungen. Die ›Troubadours‹ haben wunderbare Balladen vorgetragen, und keiner von ihnen, nicht einmal Barack, hat dabei ausgespuckt.«
Jacques schüttelte bekümmert den Kopf. »Es besteht wohl keine Chance, dich zu modernisieren, Bruderherz.«
Shea legte eine Hand auf ihren Bauch und langte mit der anderen nach Jacques. »Die Kontraktionen werden allmählich stärker. Lachen macht es schlimmer.«
Beide Männer sahen bei dieser Eröffnung so panisch aus, dass Raven ein Lächeln unterdrücken musste. »Sie schafft das schon, Jacques. Du bist so blass. Du hast doch heute Abend schon Nahrung zu dir genommen, oder?«
»Ja, hat er«, sagte Shea. »Er stellt sich bloß an. Er wollte vorbereitet sein, falls ich Blut brauche.« Sie lächelte ihn an. »Was nicht passieren wird. Alles wird gut gehen.«
»Nicht für mich«, erklärte Jacques. »Ich habe keine Ahnung, wie es ist, ein Kind zu bekommen, und diese Erfahrung mit Shea zu teilen, macht mir einfach Angst.«
Mikhail nickte zustimmend, schaute aber zu seinen Kriegern – zu den Karpatianern, die noch keine Gefährtin gefunden hatten. Wie so oft in fremden Ländern, waren sie heute Nacht die Wächter, nur trugen sie diesmal die Verantwortung für den Schutz einer ihrer Frauen, die ein Kind zur Welt bringen würde. Die Männer gingen hin und her und suchten die Umgebung nach etwaigen Feinden ab.
»Ich bin schon ganz aufgeregt, eine Frau zu treffen, die extra aus San Francisco angereist ist. Sie heißt Eileen Fitzpatrick und ist vielleicht eine Verwandte von mir. Wir interessieren uns beide für Familiengeschichte, und da ich von meiner Seite der Familie eigentlich niemanden kenne, hoffe ich aufrichtig, dass sie mit mir verwandt ist«, erzählte Shea. »Sie hat mir von Slavica bestellen lassen, dass es ihr heute Abend nicht besonders gut geht und sie mich lieber oben auf ihrem Zimmer treffen will, damit sie nicht in das Gedränge hier muss. Ich halte das für eine sehr gute Idee.«
»Kommt nicht infrage«, protestierte Jacques.
»Nein!« Mikhail war unerbittlich.
Shea schnitt den beiden ein Gesicht. »Ich bin nicht aus Porzellan. Sie ist eine ältere Dame, die eine Operation hinter sich hat, und ist den weiten Weg gekommen. Das Mindeste, was ich tun kann, ist, die Treppe hinaufzugehen und sie zu besuchen.«
»Nicht allein. Sie wird länger als diesen einen Abend hier sein, Shea«, redete Jacques ihr gut zu. »Du musst sie nicht heute sehen.« Er legte seine Hand auf ihren Bauch, der erneut unter einer Kontraktion erbebte. »Heute hast du Wichtigeres zu tun. Raven, sei so nett und bitte Slavica, der Dame auszurichten, dass Shea Wehen hat. Sie können sich in ein, zwei Tagen sehen.«
»Aber Gregori als Weihnachtsmann lasse ich mir auf keinen Fall entgehen«, verkündete Shea. Hoffentlich bedeutet der eigensinnige Zug um Jacques' Kinn nicht, dass er seine Meinung geändert hat, dachte sie. »Glaub also nicht, du könntest mich hier rausschaffen.«
Gregori. Obwohl Sheas Niederkunft bedrohlich näher rückte und die Situation ernst war, konnte Mikhail das Lachen in seiner Stimme nicht unterdrücken. Bei Shea ist es bald so weit, und sie will dich noch in deinem schönen roten Kostüm sehen, bevor das Baby kommt. Also los, mein Sohn. Mikhail übermittelte den Befehl auf ihrem privaten geistigen Weg, der vor Jahrhunderten durch einen Bluttausch geschaffen worden war.
Der Weihnachtsmann lässt sich nicht drängen. Er hat heute Nacht viel zu tun, Mikhail. Nicht einmal du, mein Prinz, kannst über seine Zeit gebieten.
Mikhail warf Jacques ein kurzes Grinsen zu und zupfte an Ravens langem Haar. »Ich muss mit ein paar meiner Männer reden. Es dauert nicht lange. Du kannst ein bisschen mit Shea herumbummeln und aufpassen, dass sie brav ist.«
»Als wäre ich jemals nicht brav«, erwiderte Shea.
Mikhail schlenderte davon und schob sich durch die Dorfbewohner, Gäste und seine Leute zu dem Krieger, den er eben entdeckt hatte. Dimitri war im Schankraum, hielt sich im Schatten und folgte mit den Augen jeder Bewegung Skylers.
»Wie geht es dir?«, fragte Mikhail.
»Besser. Sie ist nicht mehr so verstört, und das hilft. Ich dachte, ich quäle mich ein paar Minuten und gehe dann wieder auf Patrouille. Wenn ich schon sonst nichts ausrichten kann, kann ich wenigstens darauf achten, dass sie in Sicherheit ist.«
»Wenn sie vom Clan der Drachensucher ist, wie Natalya vermutet, ist sie weit mehr als jemand mit starken übernatürlichen Fähigkeiten. Das würde die Fertigkeiten erklären, die sie laut Francesca bereits hat.«
»Und es bedeutet, dass ihr Trauma wesentlich größer ist, als wir wissen.«
Mikhail klopfte Dimitri auf den Rücken. »Du bist ein Mann von Ehre, Dimitri, und hast ein seltenes Juwel, wie unsere Skyler es zweifellos einmal sein wird, mehr als verdient.«
»Hoffen wir, dass du recht hast.«
Mikhail ließ Dimitri im Schatten zurück, dort, wo er sich meistens aufhielt. Wieder befiel den Prinzen Trauer. Er verspürte Mitleid mit seinen Kriegern, die so allein und ohne Hoffnung waren und doch ihr Leben lebten, so gut es ihnen möglich war.
Manolito de la Cruz stand in der Tür, und Mikhail ging auf ihn zu. »Hast du einen dieser Männer im Verdacht, der Magier zu sein? Du bist ihm am nächsten gekommen, als du in sein Versteck vorgedrungen bist, und könntest am ehesten seinen Geruch wahrnehmen.«
Manolito zuckte die Schultern. »Ich habe keinen einzigen Mann gefunden, der der Magier sein könnte, den wir suchen. Wir sind in sämtlichen Räumen gewesen, um sie gründlich zu untersuchen, aber alle Gäste scheinen völlig harmlos zu sein.«
»Was sagt dir dein Instinkt?«, wollte Mikhail wissen.
»Dass der Feind in der Nähe ist«, antwortete Manolito.
»Meiner sagt mir dasselbe.« Mihail sah ihn eindringlich an.
»Halte weiter Ausschau. Und richte den anderen aus, dass sie ebenfalls wachsam bleiben sollen. Wir können uns keinen Fehler leisten.«
Manolito nickte und machte erneut eine Runde durch den Raum, wobei er die Botschaft des Prinzen den anwesenden Kriegern mündlich überbrachte. Er vertraute nicht darauf, dass ihr allgemeiner Kommunikationspfad nicht abgehört werden konnte, wenn der Magier sich tatsächlich mit den Vampiren verbündet hatte. Als er sich Nicolae und Vikirnoff und ihren Frauen näherte, riskierte er einen kurzen Blick auf Mary-Ann.
Ihr Anblick raubte ihm den Atem. Sie saß mit Colby und Rafael an einem Tisch, unterhielt sich mit Paul, Ginny und Skyler und lachte über etwas, das sie ihr erzählten, und sie war so schön, dass es seinen Augen wehtat. Ihre Haut schien zu schimmern, und er war wie gebannt von ihrem Mund und ihren Augen. Der Klang ihrer Stimme prickelte auf seinem Rückgrat. Verlangen stieg in ihm auf, verkrampfte seine Muskeln und verhärtete seine Lenden, sodass er abrupt stehen blieb und ganz stillhielt, während er sich zwang, seinen Blick von der Versuchung abzuwenden. Es ging nicht an, dass er dabei ertappt wurde, sie anzustarren oder auch nur an sie zu denken. Er musste sich völlig auf seine Aufgabe konzentrieren, den dunklen Magier aufzuspüren.
»Mikhail hat das Gefühl, dass die Bedrohung angesichts Sheas knapp bevorstehender Niederkunft sehr real ist. Er bittet euch beide, äußerst wachsam zu sein.« Während er die Nachricht überbrachte, wappnete er sich geistig gegen einen Zugriff, da er wusste, dass beide ihn überprüfen würden. Sie hatten das Bewusstsein von so vielen der alleinstehenden Krieger untersucht, wie ihnen möglich war. Auch seine Gedanken hatten sie mehrmals erkundet.
Colby blickte auf und lächelte ihn an. »Geht es dir gut?
Rafael hat mir erzählt, dass du verwundet worden bist, als du den Prinzen verteidigt hast.«
»Es ist weiter nichts, kleine Schwester, ein Kratzer, mehr nicht.« Als Rafael diese Frau mit nach Hause gebracht hatte, hatte er für sie nicht mehr empfunden als das, was er über seinen Bruder an Eindrücken und Gefühlen empfing, aber jetzt erinnerte er sich an all die kleinen Dinge, die sie für ihn und seine Brüder tat. Sie teilte oft ihr Lachen und ihre Wärme mit ihnen, in der Hoffnung, ihr Dasein ein wenig zu erhellen. Jetzt konnte er echte Zuneigung für sie empfinden.
Er legte beiläufig eine Hand auf Colbys Schulter. »Ich habe nach Riordan und Juliette gesehen. Nichts hat ihren Schlaf gestört.« Sein Blick huschte zu Paul und Ginny. »Juliette hätte euch beide bestimmt gern tanzen gesehen. Sie hat oft erzählt, wie gern ihre Schwester früher getanzt hat. Hoffentlich hat sie bald einmal Gelegenheit, einen Auftritt von euch mitzuerleben.« Er schaute kurz zu Mary-Ann, verbeugte sich leicht und ging mit unbewegter Miene weiter.
Mary-Ann starrte ihm nach. »Mein Gott, ist der Mann attraktiv!«
Colby nickte. »Ja, nicht wahr? Das sind alle Brüder de la Cruz. Es gibt fünf von ihnen, und wenn sie alle zusammen sind, bleibt einem bei dem Anblick die Spucke weg. Die meisten Frauen schmelzen in ihrer Gegenwart einfach dahin.«
Mary-Ann, die fast so etwas wie Eifersucht auf diese unbekannten Frauen empfand, starrte dem Mann nach. Manolito zog die Aufmerksamkeit jeder einzelnen Frau im Raum auf sich, aber er schaute nicht ein einziges Mal in ihre Richtung. Nicht, dass sie einen Mann wollte, doch sie hätte nichts dagegen, von diesem Manolito de la Cruz bemerkt zu werden. »Was hat er mit Juliettes Schwester gemeint? Warum tanzt sie nicht mehr?« Sie fragte sich, ob Manolito je Juliettes Schwester tanzen gesehen hatte. Und der Gedanke, es könnte vielleicht so sein, gefiel ihr ganz und gar nicht.
Colby stieß einen tiefen Seufzer aus. »Juliettes jüngere Schwester Jasmine wurde von einigen Jaguarmännern entführt. Sie ...« Sie brach ab, schaute ihre Geschwister an und schüttelte den Kopf. »Sie haben ihr furchtbare Dinge angetan. Nun weigert sie sich, aus dem Dschungel oder in die Nähe der Ranch zu kommen. Sie will nicht einmal ihre Schwester sehen, wenn Juliette von Riordan begleitet wird. Juliette belastet das so sehr, dass sie davon spricht, die Ranch, unser Zuhause, zu verlassen, um zu versuchen, ihrer Schwester zu helfen. Rafael hat gerade vorhin gesagt, dass du Destiny so sehr geholfen hättest und wir vielleicht versuchen sollten, eine Therapeutin für Jasmine zu finden. Das könnte allerdings da draußen, wo wir leben, schwierig werden.«
Mary-Ann ertappte sich dabei, den hochgewachsenen Karpatianer mit Blicken zu verfolgen, als er durch den Raum schlenderte. Sein ungeheures Selbstbewusstsein verriet sich in jeder Linie seines Körpers. Er bewegte sich geschmeidig, fast elegant. Die Stelle über ihrer Brust tat wieder weh, und sie presste ihre Hand darauf. Der ziehende Schmerz breitete sich aus und ließ ihre Brüste prickeln und ihre Brustspitzen hart werden. Wärme strömte von ihrem Bauch bis zu ihren Oberschenkeln. Sie schluckte mühsam und versuchte, ihren Blick von dem sinnlichen Mund loszureißen und sich das Bild aus dem Kopf zu schlagen, wie dieser Mund über ihren Körper wanderte. »Ich nehme an, es gibt nicht besonders viele Therapeuten bei euch in der Nähe.«
»Nein.« Colby runzelte die Stirn. »Laut Juliette war Jasmine nie sehr robust. Und dann ist da noch diese Cousine – Solange. Sie verabscheut Männer, und Juliette kann einfach nichts gegen ihren Einfluss ausrichten. Das ist alles sehr traurig.«
»Vielleicht rede ich mal mit Juliette, wenn sie wieder aufsteht«, meinte Mary-Ann.
»Im Ernst? Das wäre wirklich eine große Hilfe. Unter Umständen könntest du ihr raten, wie man Jasmine dazu bringen kann, wenigstens die Männer in unserer Familie zu akzeptieren. Sie würden ihr Leben geben, um sie zu beschützen. So sind sie einfach.«
»Ich helfe gern«, sagte Mary-Ann. Wieder wanderte ihr Blick zu dem großen, gut aussehenden Karpatianer, der offensichtlich an diesem Abend als Wächter eingesetzt war.
»Entschuldige bitte, Colby«, fiel Paul ein, »aber du hast versprochen, mich mit Gary Jansen bekannt zu machen. Immerhin könnte er mein Onkel sein.«
Colby drückte Rafaels Hand. »Ja, das habe ich wohl. Na schön, gehen wir zu ihm und hören uns an, was er zu sagen hat.« Sie führte ihren Bruder an den Tisch, an dem Gary mit Gabrielle Sanders, ihrem Bruder Jubal und ihrer Schwester Joie saß. Joies Gefährte Traian erhob sich, als sie näher kamen, ebenfalls die beiden anderen Männer.
Gary starrte Colby an und schüttelte den Kopf. »Du siehst meiner Schwester unglaublich ähnlich. Sie war einige Jahre älter als ich und verließ das Haus, als ich ungefähr zehn war. Ich habe sie nie wiedergesehen. Aber ich schwöre, du siehst genauso aus wie sie.«
Colby stellte ihm Paul vor und setzte sich neben Gary. Ihr fiel auf, dass sich Gabrielles Mutter mit leicht verdüsterter Miene entfernte. »Tut mir leid, haben wir sie irgendwie gestört?«
»Nein, doch ich fürchte, sie mag nichts, was im Entferntesten mit Jaguarwesen zu tun hat, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass ich eines bin«, antwortete Gary. »Ich habe nie gehört, dass wir Jaguarblut in uns tragen. Um genau zu sein, ich hatte noch nie etwas von dieser Rasse gehört, bevor ich mich mit Gregori anfreundete.«
»Mach dir wegen Mom keine Sorgen«, meinte Gabrielle. »Sie beruhigt sich schon wieder. Aber sie muss das alles erst einmal verdauen.«
Die Flügeltüren, die von dem großen Saal auf den Balkon führten, schwangen plötzlich auf, und eine zierliche Frau mit üppigem blauschwarzem Haar, die als Elfe mitsamt Spitzohren verkleidet war, stand im Durchgang. »Meine Damen und Herren, dürfte ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten? Viele von Ihnen wissen es vielleicht nicht, aber ich bin zufällig Zauberkünstlerin. Können die Kinder bitte zu mir auf den Balkon kommen? Ich möchte ihnen einen der größten Zaubermeister aller Zeiten zeigen. Er ist ein gut gehütetes Geheimnis.«
Alle Kinder, von Karpatianern wie von Dorfbewohnern, drängten sich vor, dicht gefolgt von den Erwachsenen. Paul setzte Emma auf seine Schultern, Skyler nahm Baby Tamara, und Josef hob den kleinen Jase hoch. Travis packte Chrissy an den Schultern, während Ginny die beiden anderen Jungen von Sara und Falcon an der Hand nahm. Josh, der sich ziemlich erwachsen vorkam, kümmerte sich um das letzte Mädchen, die kleine Blythe.
Als Savannah sprach, blinkten viele bunte Lichter um sie herum, und Schnee fiel herab, ohne sie zu berühren. Die Welt ringsum erschien wie verzaubert. Dünne Nebelstreifen wanden sich um ihre Füße, als sie in ihren kleinen Elfenstiefelchen über die Balkonbrüstung tänzelte; ihr Haar schwang um sie herum wie ein Cape, und ihr Gesicht wirkte im Mondlicht ein wenig wie das einer Fee. Kristalle hingen an den Dachrinnen und erstrahlten ebenfalls in leuchtenden Farben, in weichem Rot und Grün und Blau und Gelb, und verwandelten den Nachthimmel in ein buntes Lichtermeer.
Alle Kinder hielten den Atem an, und Travis musste Emma festhalten, als sie auf den Balkon hinausging und ehrfürchtig die Lichter anstarrte. Savannah drehte sich einmal im Kreis und hüpfte zurück, direkt vor die Kinder. »Ach du meine Güte, ich habe ja meinen Zauberstab vergessen. Ich brauche ihn, damit ich euch den Weihnachtsmann zeigen kann.« Sie senkte verschwörerisch die Stimme und schaute verstohlen nach rechts und links, als würde sie sich nur ihnen anvertrauen. »Er kommt immer nur im Schutz der Nacht, damit ihn die Kinder nicht entdecken.« Wieder schaute sie sich um. »Wenn ich nur meinen Zauberstab hätte!«
»Aber Savannah«, wandte Chrissy ein, »du hast ihn doch in der Hand!«
»Wirklich?« Savannah gelang es, überrascht dreinzuschauen. Sie hob den leuchtenden Stab hoch und schwenkte ihn in einem kleinen Kreis durch die Luft. Es regnete funkelnden Elfenstaub auf den verschneiten Balkon. »Oh, gut! Er funktioniert. Mal sehen. Ihr schaut jetzt zum Himmel, und ich versuche, mich zu erinnern, wie es funktioniert. Ich habe es erst einmal gemacht, wisst ihr, doch für euch probiere ich es noch einmal.«
Savannah tanzte wieder über die Brüstung und schwenkte mit großer Geste den Zauberstab. Der fallende Schnee teilte sich wie ein Vorhang. Ein großer Schneemann mit Kohlenstücken als Augen und einer Karotte als Nase fuhr herum, zog ein schuldbewusstes Gesicht und rannte durch den Schnee ins Dorf.
»Ach herrje, das war der Falsche ! Das war Frosty, der Schneemann. Lasst es mich noch mal versuchen«, bat Savannah.
Die Kinder lachten, als Savannah den Schnee zurückholte, noch ein wenig tanzte und weiteren Elfenstaub aufwirbelte, als sie den Vorhang aus Schnee erneut öffnete.
Die Kinder – und fast alle Erwachsenen – schnappten nach Luft, und einige hielten sich die Hand vor den Mund, um still zu bleiben. Hoch oben am Himmel, wo die Sterne funkelten und der Mond schien, glitt ein schimmernder, von Rentieren gezogener Schlitten durch die Nacht. Ein Mann in einem mit Pelz besetzten roten Anzug und mit einem weißen Bart lenkte das Gespann. Hinten auf dem Schlitten lag ein gewaltiger Sack, der bis oben hin prall mit Geschenken gefüllt war. Kleine Glöckchen bimmelten an dem Schlitten, und die pulsierenden Lichter, die eben noch den Schnee beleuchtet hatten, funkelten jetzt rund um den Rentierschlitten. In einem Moment war Savannahs fröhliches Gesicht noch deutlich zu sehen, und im nächsten erschien es nur noch blass und verschwommen.
Die Augen des Mannes schienen schwarz wie Kohle zu sein. Schnee lag auf seinem Bart und auf den fransenbesetzten und mit silbernen Beschlägen verzierten roten Sätteln der Rentiere. Der Schlitten kreiste über ihren Köpfen. Andächtiges Schweigen senkte sich über die Menge, als die Rentiere in einem weiten Bogen immer weiter nach unten schwebten und schließlich auf dem Dach landeten. Niemand rührte sich. Das Geräusch von tänzelnden Hufen war zu hören, dann folgte Stille. Schließlich stapften schwere Stiefel über das Dach.
Als alle die Köpfe wandten, sahen sie den Weihnachtsmann beim Baum stehen und überall Geschenke aufstapeln. Einmal hielt er inne, um sich eine Hand voll von den Keksen und ein paar Karotten zu nehmen, die Sara und die Kinder für ihn und seine Rentiere hingelegt hatten.
Emma war die Erste, die in Bewegung kam. Sie zappelte so lange, bis sie heruntergehoben wurde, und rannte quer durch den Saal zum Weihnachtsmann. Knapp vor ihm blieb sie stehen, wippte auf ihren Fersen und starrte zu ihm hinauf. »Hast du mir ein Geschenk mitgebracht?«
Der Weihnachtsmann kramte in seinem Sack. »Ich glaube schon. Nanu, wo ist es denn? Elfe! Du musst mir helfen, Emmas Geschenk zu finden.«
Savannah legte einen Finger an ihre Lippen. »Der Weihnachtsmann hält mich für eine echte Elfe«, wisperte sie den Kindern zu. »Ich helfe ihm lieber.« Mit wippendem Hut huschte sie auf Zehenspitzen in ihren kleinen grünen Stiefeln lautlos durch die Menge.
Der Weihnachtsmann setzte sich und bedeutete den Kindern, sich in einer Reihe aufzustellen. Als Klein-Tamara auf seinen Schoß gesetzt wurde und an seinem Bart riss, warf der Weihnachtsmann der Elfe einen schwelenden Blick zu. Das werde ich deinem Vater heimzahlen!