Kapitel 9
Skyler saß auf dem Verandageländer und starrte in das glitzernde Weiß hinaus. Schmerzen erschütterten ihren Körper und ihre Seele, bis die Last so schwer wurde, dass sie kaum noch atmen konnte. Im Haus konnte sie Gabriel und Francesca lachen hören. Die beiden spielten mit der kleinen Tamara. Gelegentlich fühlte sie ihren behutsamen mentalen Zugriff, als wollten sich Gabriel und Francesca vergewissern, dass sie noch in der Nähe war.
Sie achtete darauf, dass sie nur die Oberfläche streiften, nur das Bild empfingen, das sie ihnen bot – ein junges Mädchen an einem aufregenden, fremden Ort, das sich auf eine Weihnachtsfeier freute. Das karpatianische Blut, das ihnen gemeinsam war, erleichterte es ihr, die Fassade aufrechtzuerhalten, und die lebenslange Gewohnheit, ihre Gefühle vor anderen zu verbergen, machte die Aufgabe einfach.
Skyler biss sich fest auf die Unterlippe und betrachtete ihre langen Fingernägel. Sie knabberte ständig an ihnen herum, aber dank des karpatianischen Blutes, das Francesca und Gabriel ihr gegeben hatten, wuchsen sie schnell nach und waren kräftiger und fester als je zuvor. Sie war immer noch nicht in der Lage, andere körperlich zu berühren, ohne deren Gefühle selbst zu empfinden. Wenn überhaupt hatte das karpatianische Blut ihre Gabe verstärkt, und das konnte sehr unangenehm werden. Sie ging nicht gern zur Schule, sondern bevorzugte die Privatlehrer, die Francesca gefunden hatte, obwohl sie wusste, dass ihre Adoptiveltern der Meinung waren, dass sie die Gesellschaft anderer junger Leute brauchte. Das stimmte nicht. Sie brauchte es, allein zu sein.
»Skyler? Alles in Ordnung mit dir?«
Beim Klang der Männerstimme schrak sie zusammen. Josef stand vor der Veranda, beide Hände in die Hosentaschen gesteckt.
Bemüht, sich ihren Kummer nicht anmerken zu lassen, biss sie sich erneut fest auf die Unterlippe. Der Schmerz bereitete ihr Übelkeit, und alles, was sie sah, schien vor ihren Augen zu verschwimmen. »Klar.« Sie brachte das Wort kaum heraus und verzichtete darauf, ihm ein erzwungenes fröhliches Lächeln zuzuwerfen.
Das war nicht ihr eigener Schmerz. Irgendwo da draußen im Wald litt der Mann, der behauptete, ihr Gefährte des Lebens zu sein, furchtbare Qualen. Sie wollte es ignorieren, aber das ging nicht. Schuldgefühle nagten an ihr. Skyler wusste nur zu gut, was Qualen bedeuteten – und Verzweiflung. Und trotz allem faszinierte sie der Mann. Er war natürlich sehr alt. Und viel zu dominant. Bestimmt würde er von ihr bedingungslosen Gehorsam erwarten, und das war ganz und gar nicht ihr Stil. Sie fügte sich Francescas und Gabriels Wünschen, weil sie die beiden liebte, nicht, weil sie es musste.
»Skyler.« Josefs Stimme unterbrach ihre Überlegungen. Er kauerte sich auf das Geländer und beugte sich zu ihr vor. »Schau mich an.«
»Warum?«
Er zückte ein Taschentuch und tupfte ihr Gesicht ab. »Dir stehen kleine Blutstropfen auf der Stirn.« Er tat so, als merkte er nicht, dass sie vor ihm zurückzuckte und seiner Berührung auswich. Josef machte einfach weiter, wobei er darauf achtete, sie nicht mit seinen Fingern zu streifen, richtete sich dann auf und ließ einen tiefen Atemzug heraus. »Was ist los?«
»Nichts.« Wie konnte er es nicht fühlen? Wie konnten Francesca und Gabriel den Schmerz und das Leid nicht fühlen, die so schwer auf dem Wald lasteten ? Die Wölfe spürten es. Skyler konnte in der Ferne ihren klagenden Gesang hören. Hörte Josef wenigstens die Tiere?
Skyler fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht, als könnte sie einen Schleier vor die Wahrheit ziehen. Dieser Mann, der so unbezwinglich schien, so streng und kalt und düster, ein Mann mit Eis in den Adern und Tod in den Augen, hatte sie angeschaut – direkt in sie hineingeschaut – und etwas in ihrem Inneren berührt, das niemand zuvor auch nur gestreift hatte. Sie presste eine Hand fest auf ihr schmerzendes Herz. Es tat weh. Das sollte es nicht, aber der Schmerz schloss sich wie eine eiserne Zwinge immer fester darum.
»Es ist nicht ›nichts‹, wenn du Blut schwitzt, Skyler. Wir sind Freunde, oder? Du kannst mir sagen, was nicht stimmt.«
Skyler wusste, dass sie keine Freunde hatte. Sie vertraute ihren Adoptiveltern und Lucian und Jaxon. Ansonsten vermied sie es, mit jemand anders allein zu sein. Francesca glaubte, dass die Zeit ihre Wunden heilen würde, aber Skyler bezweifelte es. Um zu überleben, um nicht den Verstand zu verlieren, hatte sie sich als Kind völlig von der Außenwelt zurückgezogen, und vielleicht war sie zu lange fort gewesen. Sie wusste nicht, wie es war, einen Freund zu haben – oder einen Partner.
Sie entschied sich für die obligatorische Antwort. »Ja, natürlich sind wir Freunde«, antwortete sie. Im Lauf der Jahre hatte sie gelernt, dass die anderen zufrieden waren und sie in Ruhe ließen, wenn sie das sagte, was man von ihr erwartete.
Josef entspannte sich sichtlich. »Warum bist du nicht zu Aidan rübergekommen, um das neue Videospiel auszuprobieren ? Es ist echt cool.«
»Ich habe Francesca geholfen, die Pfefferkuchenhäuser für heute Abend zusammenzusetzen.« Schützend schlang sie ihre Arme um sich.
»Antonietta bereitet irgendwas ganz Tolles für das Festmahl zu. Komm doch mit und hilf ihr. Ich bin gerade auf dem Heimweg.«
»Dich habe ich schon ein Dutzend Mal gesehen, und ich kenne dich übers Internet, aber Antonietta habe ich noch nicht getroffen. Irgendwie habe ich fast Angst davor. Sie ist so berühmt.«
»Sie ist Pianistin«, räumte Josef ein, »aber sie ist kein bisschen eingebildet. Sie war blind, bevor sie mit Byron zusammen war, aber ich glaube, jetzt sieht sie auch nicht viel besser.« Er grinste, sodass seine weißen Zähne sich grell vor den dunklen Konturen abhoben, die er um seine Lippen zog, um die Aufmerksamkeit auf sein Zungen-Piercing und den kleinen Ring in seiner Lippe zu lenken.
»Ich dachte, wenn jemand umgewandelt wird, verschwinden alle Narben und Behinderungen.« Sie berührte die halbmondförmige Narbe auf ihrem Gesicht. »Und wie kannst du Piercings tragen? Heilt sich dein Körper nicht selbst?«
Josef seufzte. »Es ist ein echter Kampf«, gestand er. »Meistens trage ich sie nicht, weil sich die Löcher innerhalb von Minuten schließen, doch weil ich einen Ruf zu wahren habe, konzentriere ich mich ständig darauf, und dann geht es.«
»Ist deshalb die Haut über dem Diamanten an deiner Nase zugewachsen?«, fragte Skyler, während sie sich ihr Kinn an ihren hochgezogenen Knien rieb. Wieder starrte sie in die glitzernde weiße Welt hinaus. Es schien eine Landschaft aus einem Märchen zu sein, nur Kristall und Eis. Und kalt – wie sie selbst. Sie schloss kurz die Augen vor dem Leid, das auf ihr lastete, und konzentrierte sich stattdessen auf den Gesang der Wölfe. Skyler hatte diese Tiere schon immer geliebt und von jeher eine Verbundenheit mit ihnen empfunden, und jetzt sprach ihr Gesang etwas Einsames und Animalisches in ihrem Inneren an.
Josef legte hastig seine Hand auf seine Nase. »Nicht schon wieder! Hoffentlich war es nicht so wie jetzt, als mich der Prinz gesehen hat.« Er musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. »Du kommst doch mit, oder? Antonietta ist echt nett. Und Byron auch. Er will bloß nicht, dass ich es weiß.«
Skyler schüttelte den Kopf. »Ich kann jetzt nicht. Ich komme später nach.« Sie musste allein sein, um gründlich über alles nachzudenken. Sie mochte Josef, aber er lenkte sie ab, und er hatte keine Ahnung, wie aufgewühlt sie war. Dimitri würde es wissen. Der Gedanke kam ungebeten und erfüllte sie mit Scham – mit Bedauern. Mit Zorn.
»Komm schon, Skyler, sei nicht albern. Bloß weil deine Eltern finden, dass du einen Babysitter brauchst, musst du nicht hierbleiben. Du kannst ruhig mit mir gehen. Ich bin über einundzwanzig. «
Sie starrte ihn böse an. »Ach ja? Ich dachte, du wärst in Joshuas Alter. Du wirst mich nicht dazu bringen, das Falsche zu tun, Josef.« Ihre Schuldgefühle nahmen zu. Josef konnte sie vielleicht nicht zu Dummheiten zu verleiten, doch sie war im Begriff, ihren Eltern nicht zu gehorchen. Die schreckliche Last in ihrer Brust wurde immer schwerer, und das Leid erstickte sie fast. Sie musste dem ein Ende setzen – musste Dimitri begreiflich machen, dass es nicht an ihm lag. Es war nichts Persönliches. Sie würde jeden ablehnen. Er musste weiterziehen.
»Du bist bloß sauer, weil ich mich darüber lustig gemacht habe, dass du auf einen Erwachsenen warten musstest, statt allein nach Hause zu gehen«, sagte er. »Ich hab dich doch bloß auf den Arm genommen. Kein Grund zur Aufregung.«
»Ich bin kein Baby«, brauste sie auf und presste beide Hände auf ihren schmerzhaft brennenden Magen. »Es war wirklich nicht nötig, sich über mich lustig zu machen.«
»Klar war es das. Freunde dürfen so was.«
Das ließ sie verstummen. Irgendwie waren sie tatsächlich Freunde. Sie mochte Josef. Doch sie war einfach nicht gern mit ihm allein – mit keinem Mann. Mit niemandem. Skyler fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und konzentrierte sich darauf, nicht zu weinen.
Josef, der ihren Gesichtsausdruck sah, versuchte es noch einmal. »Der Prinz kam auf einen Sprung vorbei, als ich bei Aidan und Alexandria war. Er hat erzählt, dass er Gregori heute Abend als Weihnachtsmann auftreten lassen will. Mann, das wird die Kids total in Panik versetzen! Müsste eigentlich ganz lustig werden.«
»Kleinen Kindern Angst einzujagen, ist nicht lustig, Josef. Schon gar nicht, wenn es um den Weihnachtsmann geht. Sie könnten ein Trauma zurückbehalten.«
»Du klingst immer mehr wie Francesca.« Offenbar war diese Bemerkung nicht als Kompliment gemeint. »Ich traumatisiere sie jedenfalls nicht. Das macht Gregori – und nicht ich habe ihn ausgesucht, sondern der Prinz.«
»Pass bloß gut auf, dass du nicht dabei hilfst, die Kinder zu erschrecken, vor allem Tamara nicht.«
Sie starrten einander einen langen Moment finster an. Als Josef sich schmollend abwenden wollte, räusperte Skyler sich. »Kannst du eigentlich deine Gestalt wechseln?«
Er warf sich in die Brust. »Natürlich!«
Sie spähte zum Haus. »Glaubst du, jemand, der nur zum Teil Karpatianer ist, kann es auch?« Sie wich seinem Blick aus, indem sie ihr Kinn wie gedankenverloren an ihren Knien rieb. In Gegenwart Erwachsener mochte Josef sich wie ein Idiot aufführen, doch er war nicht auf den Kopf gefallen und könnte durchaus in der Lage sein, ihren Gesichtsausdruck richtig zu deuten.
»Na ja ...« Er runzelte die Stirn. »Gute Frage. Natalya hat sich in einen Tiger verwandelt, was nebenbei ziemlich cool war, aber ich habe nie von den Erwachsenen gehört, dass es jemand anders auch kann.«
»Wie machst du es?«
Er schüttelte den Kopf. »Denk nicht mal dran, Skyler. Es ist nicht so einfach. Ich übe ständig, und mir unterlaufen immer noch Fehler.«
»Du übst nicht ständig. Du spielst ständig Videospiele.« Mit einem weiteren verstohlenen Blick zum Haus ließ sie sich vom Geländer in den Schnee gleiten. Im Gegensatz zu Josef konnte sie ihre Körpertemperatur nicht regulieren, und ihr war kalt, weil sie zu lange im eisigen Wind auf dem Geländer gesessen hatte. Wenigstens hatte es – einstweilen, dachte sie, als sie den von schweren Wolken verhangenen Himmel betrachtete – aufgehört zu schneien.
Josefs Miene verdüsterte sich. »He, und ob ich meine Gestalt wechseln kann! Pass mal auf!« Er trat ein paar Schritte zurück und richtete sich mit ausgestreckten Armen auf. Federn sprossen aus seinem Körper, und sein Gesicht verformte sich einige Male, ehe es flach und rund war, mattweiß mit graubraunen Sprenkeln und schwarz umrahmt. Seine Augen wurden hellgelb, und sein Schnabel, der sich allmählich bildete, war graugrün mit kleinen Federbüscheln am Ansatz. Sein Körper zog sich zusammen, verformte sich und schrumpfte mit einigen Verzögerungen, bis er in der perfekten Form einer sehr kleinen Eule im Schnee hockte. Das Gefieder der Eule war graubraun mit einem komplizierten Muster aus Streifen und Punkten. Der Vogel saß regungslos da. Er war so klein, dass Skyler wirklich staunte, wie Josef das geschafft hatte. Die großen Augen blinzelten sie an.
Skyler wanderte um das winzige Geschöpf herum. »Unglaublich, Josef. Wie konntest du so klein werden? Kannst du tatsächlich fliegen? Oder soll ich dich einfach ausstopfen lassen und als Dekoration verwenden?«
Die Eule gab einen kläglichen Laut von sich und hüpfte hin und her, wobei sie die Flügel ausbreitete und mit ihnen schlug, bis sie unbeholfen aufstieg. Josef flog ein paar Mal um Skyler herum, bevor er höher aufstieg und wieder nach unten schoss, direkt auf ihren Kopf zu.
Skyler warf die Arme hoch, rannte los und schaufelte mit beiden Händen Schnee, um den lästigen Vogel damit zu bewerfen. »Hör auf! Das ist nicht komisch, Josef!«
Wieder stieg der Vogel auf und umkreiste sie, um den nötigen Schwung für einen neuerlichen Sturzflug zu bekommen. Skyler rannte zum Haus zurück und hatte es beinahe erreicht, als der Vogel wieder herunterstieß. Sie duckte sich und hielt beide Hände über ihren Kopf. Der kleine Kauz prallte an die Hausseite, fiel wie ein Stein auf den Boden und lag ganz still da, die winzigen Füße nach oben gestreckt, genau wie in einem Cartoon.
Skyler ließ zischend den Atem entweichen. »Das ist nicht witzig, Josef. Steh auf.« Unheilvolles Schweigen antwortete ihr. Sie hob den Kopf und machte einen Schritt auf ihn zu. Wenn er – wie gewöhnlich – versuchte, ihr einen Schreck einzujagen, würde sie ihm den Hals umdrehen. Die kleine Eule blieb regungslos und steif liegen. Skylers Hand flatterte zu ihrer Kehle, als Panik in ihr aufstieg. Sie hatte Angst, sich zu bewegen, Angst, das kleine Geschöpf zu untersuchen.
»Josef!« Sie lief zu ihm, kniete sich in den Schnee und streckte eine Hand nach der Eule aus. Gerade als sie das Tierchen aufheben wollte, riss es die riesigen Augen und den scharfen Schnabel weit auf und fing an, heftig mit den Flügel zu schlagen. Skyler konnte den Schreckensschrei, der ihr unwillkürlich entfuhr, nicht unterdrücken.
»Erwischt!« Josef setzte sich lachend auf.
Skyler sprang auf. Ihr Herz klopfte laut. Am liebsten hätte sie etwas auf seinem Schädel zertrümmert, dabei war sie nie gewalttätig – na ja, fast nie. Josef brachte ihre schlechtesten Eigenschaften zum Vorschein. Er liebte es, anderen Streiche zu spielen, und sie schien das ideale Opfer zu sein. »Das ist überhaupt nicht komisch.«
Das Lächeln auf seinem Gesicht verblasste. »Was ist in letzter Zeit bloß mit dir los, Skyler? Käuzchen fliegen oft in etwas rein und gehen zu Boden. Die Leute denken dann, sie wären tot, aber in Wirklichkeit sind sie nur k.o. Ich habe darüber gelesen und dachte, es würde dich zum Lachen bringen. Ehrlich, viel Spaß hat man mit dir nicht.« Er sprang auf und wich ein Stück vor ihr zurück. »Wir sind schließlich noch nicht erwachsen. Ab und zu mal einen Jux zu machen, ist total in Ordnung.«
Er marschierte davon, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen. Skyler redete sich ein, dass sie froh wäre, ihn los zu sein, dass er unmöglich wäre, aber das Gefühl von Einsamkeit in ihrem Inneren wurde stärker. Sie lachte nicht wie andere Jugendliche – sie wusste nicht einmal, wie man von Herzen lachte. Wenn sie sich online mit Josef unterhielt, war es etwas anderes. Niemand konnte sie sehen oder anfassen, und sie konnte sich einfach entspannen und Spaß haben. Aber hier ... hier waren alle so nahe. Sie konnte jede Empfindung fühlen, und das riss an ihrer Haut und fraß sich in ihr Herz, bis sie sich so wund fühlte, dass sie am liebsten einfach aufhören wollte zu existieren. Manchmal schien sogar die Erde vor Schmerzen zu schreien und nach ihr zu rufen.
In der Ferne heulte ein Wolf. Die einzelne, lang gezogene Note traf sie bis ins Innerste. Der Wolf war genauso einsam wie sie. Sie schloss ihre Finger um den Anhänger, der zwischen ihren Brüsten ruhte. Plötzlich fühlte er sich nicht mehr eiskalt, sondern so warm an, dass er in ihrer Hand zu pulsieren schien. Sie war drauf und dran, einen Fehler zu machen, das wusste sie. Sie würde schrecklichen Ärger bekommen, wenn Gabriel und Francesca dahinterkamen, dass sie wieder allein losgezogen war, doch sie konnte nicht anders.
Skyler schlang ihren weißen, pelzgefütterten Parka enger um sich und lief in leichtem Trab in die Richtung, aus der das Wolfsheulen gekommen war. War es Dimitri? Bei dem Gedanken machte ihr Herz einen Satz. Seine Augen waren so blau gewesen, so eindringlich – und so schmerzerfüllt. Sie wusste, was Schmerz war – und sie kannte die Menschen. Sie verbargen furchtbare Neigungen und schreckliche Geheimnisse hinter einem falschen Lächeln. War sie besser als all die anderen, wenn sie diesen Mann so sehr leiden ließ, nur weil sie Angst hatte?
Trotz der warmen Jacke fröstelte sie. Gabriel würde böse auf sie sein, und sie mochte es gar nicht, wenn er wirklich wütend war. Meistens warf er ihr nur einen einzigen Blick zu, doch wenn er zornig war, bestand er darauf, sie zu bestrafen. Dann musste sie für gewöhnlich mehr mit Jugendlichen in ihrem Alter zusammen sein. Für andere wäre das kein Problem gewesen, aber für sie war es die Strafe, die sie am meisten fürchtete.
Ihre Füße schleppten sich durch den Schnee, und sie blieb noch einmal stehen, um in Richtung Haus zu schauen. Sie konnte es nicht mehr sehen, weil sie bereits die Baumgrenze erreicht hatte. Wieder heulte der Wolf, diesmal fast flehend, als wäre auch er auf der Suche nach Antworten.
Skyler straffte die Schultern und ging weiter, indem sie versuchte, in den Schneeverwehungen dem schmalen Pfad zu folgen, der entlang des Flussbettes verlief. Ihre Nasenspitze wurde kalt, ebenso ihre Ohren, und sie zog die Kapuze enger um sich, um die Kälte abzuwehren. Es war unmöglich. Sie stolperte und wäre beinahe gestürzt. Die abrupte Bewegung schreckte sie auf, und sie schüttelte den Kopf, um die leisen, klagenden Rufe des Wolfes auszusperren, die sie einfach nicht losließen.
Lange Zeit hatte sie geglaubt, es wäre für sie die Lösung, in der Welt der Karpatianer zu leben, doch jetzt war ihr klar, dass sie dort nicht besser zurechtkam als in der Welt der Menschen. Sie rieb sich die Augen, um die Tränen wegzuwischen, die dort hätten sein sollen, doch es waren keine da. Sie fühlte sie tief in ihrem Inneren brennen, weggesperrt wie ihre Erinnerungen. Nur Francesca und Gabriel schienen fähig zu sein, sie mit all ihren Abweichungen und Unzulänglichkeiten zu akzeptieren. Sie würde ihre Vergangenheit nie bewältigen – und ihre übersinnlichen Fähigkeiten auch nicht. Dank ihrer Adoptiveltern hatte sie diese Gaben vielleicht besser im Griff, aber deshalb war sie noch lange nicht wie andere Leute.
Skyler trat auf einen Zweig, der unter der Schneedecke begraben war, schaute sich um und musste feststellen, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie sich befand. Mit gerunzelter Stirn drehte sie sich im Kreis. In welcher Richtung ging es nach Hause? Sie könnte nach Gabriel rufen, doch er würde wütend auf sie sein. Viel besser wäre es, den Rückweg selbst zu finden. Er würde sich immer noch aufregen, wenn er dahinterkam, dass sie sich allein vom Haus entfernt hatte, doch sein Zorn würde nachlassen, wenn er sie in Sicherheit wusste.
Ein fast menschlicher, qualvoller Schrei zerriss die Stille und jagte ihr kalte Schauer über den Rücken. Ihre Nackenhaare sträubten sich, und ihr gefror beinahe das Blut in den Adern.
Skyler schnappte nach Luft und sah sich panisch um. Es war sehr nahe, so nahe, dass sie das Knurren und Schnappen eines Wolfes hören konnte. Von einer unsichtbaren Kraft getrieben, rannte Skyler los und ließ sich vom Widerhall der Geräusche leiten.
Unter einem großen, verkrüppelten Baum kämpfte ein großer Wolf mit rötlichem Fell gegen das Eisen, das sich um sein Bein geschlossen hatte. Blut spritzte in den Schnee, als der Wolf sich selbst in die Pfote biss, um sich zu befreien. Als Skyler abrupt stehen blieb, fuhr das Tier herum, um sich der neuen Bedrohung zu stellen. Seine Lefzen waren zurückgezogen und entblößten seine gefletschten Zähne, und seine gelben Augen funkelten vor Bösartigkeit.
Skyler wich zurück, um auf Sicherheitsabstand zu dem Wolf zu gehen, der sich auf sie stürzte. Die Falle hielt ihn fest, und er fuhr winselnd herum und biss sich wieder in sein Bein, bevor er sich umdrehte und sie argwöhnisch musterte. Seine Flanken hoben und senkten sich, sein Fell war dunkel von Schweiß, und sein ganzer Körper wurde von Schauern geschüttelt. Sie konnte die Schmerzen fühlen, die wellenförmig von ihm ausgingen. Es war nicht Dimitri. Der Wolf konnte kein Formwandler sein, sonst hätte er sich befreit. Es war tatsächlich ein wildes Tier, das sich in einer heimtückischen Falle gefangen hatte. Als sie ihm in die Augen schaute, erkannte sie, dass er seine Freiheit zwar verloren hatte, sich aber weigerte aufzugeben. Der Wolf knurrte sie unablässig an und zeigte ihr die Zähne, ohne dass seine gelben Augen auch nur eine Sekunde von ihrem Gesicht wichen.
Hatte sie selbst bereits aufgegeben, während dieses prachtvolle Tier bereit war, sich die eigene Pfote abzubeißen, um zu überleben? Skyler, deren Mitleid bereits geweckt war, konnte den Wolf nicht im Stich lassen. Sie hielt ihre Hand mit der Innenfläche nach außen hoch. »Ganz ruhig«, redete sie ihm zu und versuchte gleichzeitig, ihr eigenes wild klopfendes Herz zu beruhigen, indem sie tief Luft holte und sie langsam wieder entweichen ließ.
Der Wolf ließ ein tiefes, kehliges Grollen vernehmen, hörte aber auf zu knurren. Skyler nickte, als unterhielten sie sich miteinander. »Ja, so ist es brav.« Manchmal konnte sie ein Tier, selbst ein wildes, ruhigstellen, während sie seine Verletzungen untersuchte, aber bei einem Wolf hatte sie es noch nie probiert. Dazu war die geistige Vereinigung von zwei völlig andersartigen Wesen erforderlich, und das war nicht einmal unter den günstigsten Umständen leicht. Sie konzentrierte sich ausschließlich auf das Tier, während sie unermüdlich versuchte, bis in sein Innerstes vorzudringen.
Der Wolf verstummte und starrte sie aus seinen Augen eindringlich an. Als sie näher trat, spürte sie wie immer vor einer geistigen Verschmelzung, wie sich eine prickelnde Wärme in ihr ausbreitete. Plötzlich krampfte sich ihr Magen schmerzhaft zusammen, und ihre Kehle brannte. Ein bitterer Geschmack lag in ihrem Mund. Ein Schatten streifte ihr Bewusstsein, etwas Öliges, Schleimiges und Böses. Ihre Seele erschauerte und zog sich sofort zurück.
Entsetzt hob Skyler den Kopf und starrte den Wolf an. Sie sah, wie sich seine Pfote umformte, sein Körper sich wand und verzerrte, die Schnauze länger und zu einem abstoßenden Schädel wurde, der auf einem Körper, halb Mensch, halb Wolf, thronte. Der Mund verzog sich zu der Parodie eines Lächelns und entblößte spitze, fleckige Zähne.
Skyler gefror der Atem in den Lungen. Sie konnte sich nicht rühren, nicht einmal daran denken, Francesca oder Gabriel zu rufen. Sie konnte nur dastehen und auf ihren Tod warten.
In diesem Moment brach ein großer schwarzer Wolf aus den Bäumen, jagte mit gewaltigen Sätzen über den Boden und stieß sie mit der Schulter aus der Reichweite des Vampirs. Eisblaue Augen glühten vor Kälte, als der Wolf mitten im Sprung herumfuhr und seine Zähne in die Kehle des Vampirs schlug, der gerade versuchte, seine Gestalt zu verändern. Mit seinen schweren Muskeln warf der Wolf das Geschöpf um, bevor es Gelegenheit hatte, die eine oder andere Gestalt anzunehmen. Mächtige Kiefer packten die entblößte Kehle und schlugen zu.
Schau nicht hin !
Der Befehl erklang scharf und deutlich in Skylers Kopf. Sie kniff die Augen fest zu, doch das half nicht, das Geräusch auszusperren, das entstand, als Fleisch von den Knochen gerissen wurde, oder die gellenden Schreie und das Knurren und Geifern des Untoten zu dämpfen. Die Stimme traf sie wie ein Peitschenschlag. Sie spürte Tropfen, die wie glühend heiße Funken durch ihre Handschuhe und Haut bis zu ihren Knochen durchdrangen, und konnte einen kurzen Entsetzensschrei nicht unterdrücken.
Das Knurren wurde lauter, das Kreischen schriller und qualvoller. Skyler vergrub ihr Gesicht in den Händen, um nichts zu sehen, konnte aber das morbide Grauen nicht abschütteln, das sie dazu trieb, ihre Finger zu spreizen und hindurchzuspähen. Dimitri war wieder ein Mann – nein, kein Mann. Er war ein karpatianischer Krieger durch und durch. Seine Augen blitzten vor Zorn, und sein Mund war zu einem grausamen, unbarmherzigen Strich zusammengezogen. Muskeln strafften sich auf seinem Rücken und wölbten sich an seinen Armen, als er seine Faust in die Brust des Vampirs hieb und seine Finger um das geschwärzte, verdorrte Herz schlang. Ein grauenhafter schmatzender Laut war zu hören, und das Kreischen wurde noch schriller. Blut spritzte in einem weiten schwarzen Bogen. Skyler hielt schützend die Hände vors Gesicht, doch das Blut tropfte auf ihre Handschuhe und fraß sich sofort durch Stoff und Haut.
Skyler keuchte vor Schmerzen und stieß beide Hände in den Schnee, während sie entsetzt beobachtete, wie Dimitri das Herz des Vampirs aus der Brust riss und es weit von sich schleuderte. Der Untote setzte sich verzweifelt zur Wehr, kratzte und biss und riss tiefe Wunden in Dimitris Haut. Säure verbrannte den Jäger an Hals, Brust und Armen, als er ein Gewitter heraufbeschwor und Blitze über den Himmel zucken ließ.
Skyler, die aus dem Augenwinkel eine Bewegung auffing, wandte sich ab, um den Vampir nicht anschauen zu müssen, sah aber stattdessen, wie das schwarze Herz über den Schnee rollte, um zu seinem Herrn zurückzukehren, und dabei ihren Händen bedrohlich nahe kam. Mit einem Schrei des Entsetzens riss sie ihre Hände aus dem Schnee, wandte sich um und übergab sich.
Ein Blitz schlug in das Herz des Vampirs ein und setzte es in Brand. Im letzten Moment teilte sich der Blitz und bildete zwei Stränge, von denen einer den Vampir, der andere das Herz traf. Ein widerwärtiger Gestank lag in der Luft, und schwarzer Rauch stieg auf, der gleich darauf ebenso wie der grauenhafte Schrei des Untoten verwehte.
In dem Schweigen, das folgte, hörte Skyler ihr Herz überlaut in ihren Ohren hämmern. Sie hob den Kopf und begegnete Dimitris Blick. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Er sah so stark aus – unbesiegbar. Seine blauen Augen waren kalt wie Eis, und doch brannten sie sich durch ihre Haut bis zu den Knochen und versengten sie. Als er sich bewegte, blinzelte sie, und der Bann war gebrochen. Skyler wich unwillkürlich zurück, als sein Zorn sie wie eine Woge überschwemmte, mit einer solchen Wucht, dass sie sich duckte und beinahe in die Knie gegangen wäre. Ein leiser Wehlaut entschlüpfte ihr und lenkte Dimitris eindringlichen Blick sofort auf ihren rasenden Puls.
Im selben Moment war sein Zorn verraucht. Er streckte seine Hand aus. »Komm her zu mir! Du bist verletzt. Hab keine Angst, Skyler. Ich könnte dir unter keinen Umständen jemals etwas antun.«
Sie schluckte mühsam und trat noch einen Schritt zurück. Ihr Mund wurde trocken, als er sie zu sich winkte. Warum schrie sie nicht nach Gabriel oder Francesca? Sie waren immer ihr Rettungsanker, wenn das Grauen sie überfiel und sie sich innerlich von allem zurückzog. Vor ihm weglaufen konnte sie nicht. Sie hatte vor langer Zeit gelernt, dass Flucht nur zu rascher Vergeltung führte. Man konnte sie mit körperlicher Gewalt zwingen, sich zu unterwerfen, doch im Geist konnte sie Orte aufsuchen, wohin niemand ihr folgen konnte. An diesem Ort in ihrem Inneren war sie in Sicherheit.
Dimitri konnte die nackte Angst in den Augen seiner Gefährtin sehen. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, und ihre Haut war so blass, dass sie durchsichtig schien. Der Zorn, den er zügelte, wich Beschützerinstinkten, von denen er nicht einmal gewusst hatte, dass er sie besaß. Er wollte sie in die Arme nehmen und schützend festhalten, aber er konnte selbst fühlen, wie ihre Seele vor dem Verlangen in seinem Inneren zurückscheute. Er hätte sich nie träumen lassen, dass jemand so zerbrechlich sein könnte. Sich ihr zu nähern, erforderte ein Feingefühl, von dem er nicht wusste, ob er es besaß.
»Hör zu, meine Kleine.« Dimitri bemühte sich, seine Stimme sanft klingen zu lassen. Er hatte kaum Umgang mit anderen Leuten, und seine Kehle fühlte sich wie eingerostet an. »Das hättest du nicht mit ansehen dürfen. Einen Vampir zu töten, ist immer eine blutige und grausame Angelegenheit. Ich möchte nur die Verbrennungen auf deiner Haut heilen. Erlaubst du es mir?«
Sie antwortete nicht, sondern starrte ihn bloß benommen an.
Innerlich zuckte er zusammen. »Wenn ich dir solche Angst mache, rufe ich Francesca. Sie ist eine fantastische Heilerin, aber es muss bald etwas unternommen werden. Vampirblut brennt wie Säure. Dieser hier ist erst vor Kurzem zu einem Untoten geworden, sonst wäre es nicht so leicht gewesen, ihn zu ...« Er zögerte, da er das Wort ›töten‹ vermeiden wollte. »Zerstören.«
Skyler schluckte ein paar Mal. »Wie?« Das Wort war kaum mehr als ein Wispern.
Er rührte behutsam an ihr Bewusstsein und stellte fest, dass ihre Hände pochten und brannten. Sie sah aus, als würde sie gleich ohnmächtig werden. »Es wird nicht wehtun. Ich bin ganz vorsichtig.«
Skyler holte tief Luft, hob ihr Kinn und zwang sich, ein Stück auf ihn zuzugehen. Sie zitterte am ganzen Leib. Dimitri konnte sehen, wie viel Mühe es sie kostete, sich zu diesem Schritt zu überwinden, aber er war stolz auf sie, weil sie es versuchte. Er beging nicht den Fehler, zu ihr zu gehen. Er war zu groß, überragte ihre zierliche Gestalt bei Weitem, und er wusste, dass es sie nur noch mehr ängstigen würde, wenn er sich bewegte. Mit angehaltenem Atem wartete er und passte ihren Herzschlag seinem an, um ihr zu helfen, ruhiger zu werden. Sie wagte einen zweiten Schritt, dann einen dritten und streckte beide Arme aus, damit er dort, wo das Blut des Vampirs den Stoff ihrer Handschuhe aufgelöst hatte, die Verätzungen auf ihrer Haut sehen konnte. Ihre Hände zitterten, als sie sie in seine offenen Handflächen legte.
»Soll ich lieber Francesca rufen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie wissen nicht, dass ich dem Ruf des Wolfes gefolgt bin. Sie werden verärgert sein.« Skyler hob den Kopf und sah ihn an. »Enttäuscht.«
Sie war seinem Ruf gefolgt. Dimitri verwünschte sich innerlich. Er hatte sie nicht an sich gebunden, aber sein Blut, sein Herz und seine Seele riefen ständig nach ihr. Natürlich hatte sie darauf reagiert. Keine Gefährtin konnte widerstehen, wenn ihre zweite Hälfte sie brauchte. Und er brauchte sie so sehr. Dimitri schloss seine Finger um ihre.
»Dann mache ich es. Ich kann nicht den Blitz rufen, weil du noch nicht vollständig karpatianisch bist, deshalb muss ich meine eigenen Heilkräfte gebrauchen. Es kann sich ... intim anfühlen. Du musst darauf vertrauen, dass ich die Situation nicht ausnutze, sondern nur tue, was notwendig ist.«
Ganz langsam, Zentimeter für Zentimeter, senkte er den Kopf, um Skyler genug Zeit zu geben, ihre Meinung zu ändern. Sein Blick hielt ihren fest und verhinderte, dass sie sich von der vertrauten Behandlung, die er an ihr vornahm, abwandte. Seine Lippen wanderten federleicht über die Verätzungen, streiften sie kaum und hauchten kleine Liebkosungen auf die Wunden. Seine Zunge streichelte sie wie weicher Samt. Sie zuckte zusammen und hätte beinahe ihre Hand weggerissen. Instinktiv verstärkte er seinen Griff und hielt ihre Haut an seine Lippen.
Du weißt, dass unser Speichel heilen kann.
Skyler, die ihren Blick nicht von dem tiefen Blau seiner Augen abwenden konnte, nickte. Es fühlt sich anders an als bei Francesca und Gabriel. Es ist... Intim. Zu intim. Sexy, sogar erotisch. Bei dem Gedanken stahl sich leichte Röte in ihre Wangen. Sie konnte nicht verhindern, dass Hitze durch ihren Blutkreislauf jagte und ihr Unterleib sich verkrampfte, als Dimitris Lippen eine weitere Verätzung berührten. Sie stand so sehr in seinem Bann, dass ihr nicht einmal auffiel, dass sie die intimste Kommunikationsform von allen verwendete – die mentale Form, auf einem privaten Pfad, zu dem nur sie beide Zugang hatten.
Seine wirbelnde Zunge nahm ihr den Schmerz. Es fühlte sich sehr verführerisch an – als nähme er ihr mehr als nur die Schmerzen. Sie konnte jedes Detail seines Gesichts sehen, das kräftige Kinn, die markante Nase, die Form seines Mundes und vor allem jene gletscherblauen Augen, denen sie nicht entkommen konnte. Seine Wimpern waren dicht und genauso wie sein Haar und seine Augenbrauen tiefschwarz. Die Farbe seiner Augen wirkte durch den Kontrast noch dramatischer, noch intensiver. Ihr wurde beinahe schwindlig, als stürzte sie in diese bezwingenden Tiefen und ginge unter.
Skyler atmete tief ein und nahm seinen Geruch wahr. Ihr Herz schlug in einem Rhythmus mit seinem, und ihr Bewusstsein ließ in seiner Wachsamkeit nach und erlaubte Dimitri, sich ihr zu nähern und ihre Seele zu berühren. Er drängte nicht, nahm nichts, berührte sie einfach nur, so leicht, dass sie kaum spürte, wie ihre Seele sich ihm instinktiv zuwandte – sich nach ihm sehnte.
Am liebsten hätte sie ihm ihre Hand entrissen und gesagt, dass sie sich doch lieber von Francesca helfen lassen wollte, aber sie konnte es nicht. Nichts in ihrem Leben hatte sich je so richtig angefühlt. In diesem kurzen Moment gab es weder Vergangenheit noch Zukunft, nur das Jetzt und diesen Mann.
Dimitri achtete darauf, jede Verätzung auf ihrer Haut zu finden, jede Spur, die das Blut des Vampirs hinterlassen hatte. Wenn es nicht völlig ausgelöscht wurde, konnte es sich wie Sporen ausbreiten und furchtbare Parasiten in die Blutbahnen einschleusen. Zum Glück war der Vampir erst vor Kurzem zu einem dieser bösartigen Wesen geworden und hatte noch nicht die volle Macht seiner Art besessen. Dimitri ließ sich Zeit. Er strich mit der Kuppe seines Daumens über ihr Innengelenk und genoss es, ihre Haut zu fühlen und zu wissen, dass Skyler in diesem Augenblick völlig entspannt war.
Nur zögernd hob er den Kopf und ließ ihre Hände los. »So. Es ist vorbei.«
»Was ist mit deinen Wunden? Ich kann dich nicht heilen.«
»Darum kann ich mich selbst kümmern.« Aber ohne sie konnte er nicht atmen. Er wandte den Blick ab, bevor es ihr auffiel – das Verlangen, sie in die Arme zu nehmen und weit wegzubringen, an einen Ort, wo sie keine andere Wahl hatte, als ihn zu akzeptieren. Das Tier in ihm regte sich und forderte seine Gefährtin. Dimitri drängte es entschlossen zurück. Nichts durfte diesen Augenblick mit ihr beeinträchtigen.
»Ich wollte dich sehen. Ich muss mit dir reden.«
Er machte eine leichte Verbeugung und streckte genauso langsam wie vorhin eine Hand aus, denn er wollte ihr Zeit für einen Rückzug lassen. Als sie nicht weitersprach, schob er eine verirrte blonde Haarsträhne hinter ihr Ohr. »Ich höre.«
Ihr Lächeln war zaghaft, aber ein Friedensangebot. »Ich wollte dir sagen, dass es nicht an dir liegt. Es liegt an mir. Ich weiß, was eine Gefährtin des Lebens ist, und das mit uns muss ein Irrtum sein. Ich ... ich bin beschmutzt. Ich kann nicht wie andere Frauen sein – werde es nie können.« Sie senkte den Kopf, um seinem Blick auszuweichen. Seine Augen, die so lebendig waren, schienen sich in ihre Haut zu brennen und waren gleichzeitig so kalt, dass sie fror.
»Es erfordert viel Mut, mir so etwas zu sagen, meine Kleine. Ich danke dir, dass du diesen Mut aufgebracht hast.« Er sprach sehr sanft und unterdrückte den Impuls, sie in seine Arme zu nehmen. Sie war einfach anbetungswürdig, wie sie dastand und versuchte, ihn zurückzuweisen, ohne seine Gefühle zu verletzen. Sie hatten alle unrecht – Francesca und Gabriel und sogar Mikhail. Skyler war nicht zu jung. Selbst jetzt, da sie nicht mehr als ein Mädchen sein sollte, das eben der Kindheit entwachsen war, wusste er, dass sie bereits eine erwachsene Frau war. Seine Seele hatte ihre berührt. Sie war ihrer Kindheit brutal entrissen worden, aber die junge Frau, so nahe sie auch zu sein schien, war einfach noch zu zerbrechlich. So unglücklich und so sensibel mit ihrer enormen übersinnlichen Gabe – die Verbrechen, die man an ihr begangen hatte, hatten ihren Geist zu weit getrieben, und sie war kaum noch imstande, in dieser Welt zu bleiben. »Das alles wird die Zeit für uns klären. Inzwischen erlaube mir, dich nach Hause zurückzubringen.«
»Bist du mir nicht böse?«
»Weil du noch nicht bereit für meinen Anspruch bist?« Er nahm ihre Hand, hielt sie mit seinen warmen, festen Fingern und gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. »Natürlich nicht.«
Von einem Baum in ihrer Nähe fiel Schnee, und beide fuhren herum. Äste schwankten hin und her, als eine kleine Eule sich mit flatternden Flügeln etwas unsicher in die Luft schwang. Der Vogel hielt direkt auf sie zu.
Dimitri schob sich blitzschnell vor Skyler und erwischte die Eule mit einem gezielten Schlag. Skyler stieß einen entsetzten Schrei aus.
»Nicht! Es ist Josef! Es muss Josef sein.« Sie versuchte, sich an Dimitri vorbeizuschieben, doch ihr angstvoller Ton irritierte ihn, und die Vorstellung, dass sie einen anderen Mann beschützen wollte, weckte erneut das Tier in ihm. Scheinbar ohne sich zu rühren, hinderte er sie daran, an ihm vorbeizulaufen.
Die Eule schwankte unsicher hin und her, und an den Stellen, wo Flügel gewachsen waren, brachen Arme hervor. Dann fiel sie in den Schnee, und gleich darauf kroch ein junger Mann auf allen vieren über den Boden. Er sah leicht benommen und sehr ängstlich, aber wild entschlossen aus. Er rappelte sich auf, ballte die Fäuste und starrte Dimitri finster an. »Lass sie in Ruhe!«
Dimitri hätte die Instinkte seiner Spezies vielleicht überwinden können, doch er fühlte Skylers Reaktion auf den Fremden: leichte Erheiterung, in die sich Bewunderung mischte. Ein tiefes Knurren drang aus seiner Kehle, und er zeigte dem anderen drohend die Zähne. Sofort war die kleine Lichtung von Wölfen umstellt. Die Tiere liefen mit glühenden Augen unruhig hin und her und stimmten in Dimitris Grollen ein. Ein Feuer brannte in seinem Inneren, tobte in seiner Seele und zeigte sich in seinen Augen, die jetzt rötlich glommen.
Skyler versuchte, an ihm vorbeizukommen, doch er hielt sie mit eisernem Griff am Arm fest. »Was ist dieser Mann für dich?«
»Er ist mein Freund. Wehe, du tust ihm etwas!« Auch wenn sie nicht für sich selbst kämpfen konnte, für Josef würde sie kämpfen.
Das Wolfsrudel rückte näher und kreiste die kleine Gruppe ein. Skyler konnte sehen, dass sich die großen, zottigen Tiere, die alle in guter Verfassung zu sein schienen, ausschließlich auf Josef konzentrierten.
»Du brauchst keine männlichen Freunde«, stieß Dimitri hervor. Seine weißen Zähne blitzten. Kurz wurden seine verlängerten Eckzähne sichtbar. Unter seiner Haut wölbten sich Muskeln, verformten sich und verschwanden wieder, als er sich gegen die Verwandlung wehrte.
Erschrocken wich Skyler vor ihm zurück, denn sie spürte den wilden Zorn in ihm, das Tier, das die Oberhand zu gewinnen drohte. Aber irgendetwas – vielleicht Verzweiflung, Schmerz oder Kummer – ließ sie innehalten. Sie legte eine Hand leicht an seine Brust und schaute ihm in die Augen. Selbst in der Gestalt eines Wolfes würden seine Augen immer blau sein, und in diesem Moment waren sie aufgewühlt und stürmisch. »Dimitri. Er ist ein guter Freund, mehr nicht.« Sie hätte keine Erklärung abgeben sollen, doch sie musste ihn einfach beruhigen. Dieses Verlangen war genauso stark wie der Impuls wegzulaufen.
Er nahm ihre Hand, zog sie an seine Lippen und machte eine Handbewegung zu den geifernden Wölfen. »Geh. Geh jetzt«, sagte er, »solange ich mich noch unter Kontrolle habe.«
»Es tut mir leid«, flüsterte sie.
Skyler und Josef liefen zusammen davon, achteten aber gut darauf, einander nicht anzufassen. Skyler war das Herz schwer von nagenden Schuldgefühlen. Tränen liefen ihr übers Gesicht, und sie fragte sich, woher sie kamen. Sie fühlte sich minderwertig und feige. Sie lief vor Dimitris Leid und vor ihren eigenen Ängsten davon. Würde es denn nie eine sichere Zuflucht für sie geben?