Kapitel 10
Musik erfüllte den Raum, klang in den Flur hinaus und schwebte nach draußen. Antonietta Scarletti-Justicano wandte den Kopf und lauschte. Die Schritte von zwei Fußpaaren näherten sich. Sie schnupperte in die Luft und konnte mühelos den vertrauten Geruch Josefs und den unbekannten Geruch seiner Begleitung unterscheiden. Weiblich ... jung... und sehr verstört. Es dauerte eine Sekunde, durch die Angst des Mädchens hindurch Josefs Unruhe zu spüren. Antonietta nahm ihre Hände von den Elfenbeintasten und wandte sich zu den beiden um.
»Josef? Was ist los?«
Skyler erkannte sofort, dass Antonietta sie nicht wirklich sehen konnte, obwohl es für Karpatianer praktisch ausgeschlossen war, körperlich nicht vollkommen zu sein. Sie versuchte, sich zu erinnern, was sie über Josefs Tante wusste. Antonietta war eine berühmte Pianistin gewesen, bevor Byron sie als Gefährtin beansprucht hatte, und praktisch seit ihrer Kindheit blind. Skyler trat näher, um es ihr leichter zu machen. »Ich bin Skyler Daratrazanoff, Francescas und Gabriels Tochter.« Sie berief sich nicht oft darauf, aber sie liebte es, diese Tatsache laut auszusprechen.
»Wie schön, dich kennenzulernen, cara«, begrüßte Antonietta sie mit einer Stimme, die ebenso musikalisch wie ihre Finger war. »Sagt mir doch bitte, was euch so aus der Fassung gebracht hat.«
»Ein Vampir hat Skyler angefallen«, platzte Josef heraus.
Antonietta streckte ihre Hände nach dem jungen Mädchen aus. Instinktiv, bevor sie es verhindern konnte, wich Skyler zurück.
»Mir ist nichts passiert. Dimitri hat ihn getötet.«
»Und dann hat er sie angefasst. Sie abgeleckt.« Josefs Stimme klang angewidert. »Wir sind mit Müh und Not lebend davongekommen. Er hatte ein Wolfsrudel bei sich, und die Wölfe wären fast über uns hergefallen.«
Byron! Antonietta rief sofort nach ihrem Gefährten. »Ist einer von euch beiden verletzt worden, Josef? Habt ihr Gabriel gerufen?«
»Nein!«, protestierte Skyler. »Ruf ihn bitte nicht! Wir sind beide unverletzt. Etwas Vampirblut ist auf meine Hände gespritzt und hat sich durch meine Handschuhe gefressen. Dimitri hat bloß die Verätzungen geheilt, als Josef uns sah. Josef hat das Ganze missverstanden.«
»Dass er mir die Zähne gezeigt hat, war jedenfalls kein Missverständnis, Skyler«, brauste Josef auf. »Du hast ihn nicht gesehen. Mordlust stand in seinem Blick, als er mich anschaute.«
»Er hat mir das Leben gerettet«, erklärte Skyler.
»Dein Herz klopft sehr schnell und sehr laut«, stellte Antonietta fest. »Ich glaube, du hast viel mehr Angst gehabt, als du zugeben magst.«
»Wegen des Vampirs«, behauptete Skyler.
Ein großer, gut aussehender Mann kam hereingeschlendert. »Ein Vampir?« Er schaute von seinem Neffen zu seiner Gefährtin und legte einen Arm um Antoniettas Taille.
Sofort konnte Antonietta die anderen im Zimmer sehen. Meistens, wenn sie nicht müde war, konnte sie schattenhafte Umrisse ausmachen und mit ihren anderen geschärften Sinnen erkennen, wer und was um sie herum war, doch manchmal hatte sie einfach keine Lust, sich so sehr anzustrengen. Sie war daran gewöhnt, nicht sehen zu können, und wenn nicht gerade Byron ihr seine Sehkraft lieh, war es anstrengend, sich ständig konzentrieren zu müssen, um es allein zu können. Ein Vampir hat diese junge Dame angegriffen, und Josef scheint zu glauben, dass Dimitri, ihr Retter, sich anschließend ungehörig verhalten hat, obwohl sie behauptet, er hätte nur ihre Hände geheilt.
Byron wandte sich sofort auf dem allgemein zugänglichen Kommunikationsweg an die anderen Karpatianer, um ihnen die Neuigkeit mitzuteilen. Gabriels Reaktion kam sehr schnell und war sehr heftig. »Dein Vater ist unterwegs«, verkündete Byron laut, während er gleichzeitig nach Skylers Händen griff, bevor sie protestieren konnte, und sie genau anschaute. Alte Narben, die unverkennbar daher rührten, dass sie sich gegen Angreifer gewehrt hatte, verliefen im Zickzack über ihre Unterarme. Dieser sichtbare Beweis für die Misshandlung eines jungen Mädchens bereitete ihm Übelkeit. Auf ihren Handrücken befanden sich frischere Male, erst vor Kurzem verheilt und nur noch schwach zu sehen, aber eindeutig vorhanden.
Skyler, die am ganzen Leib zitterte, riss ihre Hände zurück. »Ich habe doch gesagt, dass er mich geheilt hat.« Sie versteckte ihre Hände hinter ihrem Rücken. »Es war furchtbar.«
Gabriel tauchte völlig unvermittelt auf, langte nach ihr und riss sie an sich, um sich zu überzeugen, dass sie unversehrt war. »Du hast für einiges geradezustehen, Skyler Rose.«
»Sie hat einen furchtbaren Schreck bekommen«, mischte Antonietta sich ein.
»Irgendein Fremder hat sie betatscht«, bemerkte Josef mit missbilligend gerunzelter Stirn. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Ich bin ihr gefolgt, weil sie so komisch war, und dann ist sie von einem Vampir angegriffen worden. Bevor ich etwas unternehmen konnte ...«
»Mich rufen, zum Beispiel?«, fiel Byron ihm ins Wort. »Ich kann mich nicht erinnern, einen Hilferuf empfangen zu haben.«
»Ich auch nicht«, sagte Gabriel, der seine Tochter immer noch fest im Arm hielt. »Allein bei der Vorstellung, dass du von einem Vampir angegriffen werden konntest, Skyler, bekomme ich graue Haare. Was hattest du überhaupt ganz allein da draußen verloren? Du bist gewarnt worden, dass du in Gefahr bist, und hast es einfach ignoriert? Du hast dich über eine eindeutige Anordnung deiner Eltern hinweggesetzt!«
Skyler klammerte sich an ihn. Inmitten dieser chaotischen Welt war er ein Fels in der Brandung. Er würde ihr immer Halt geben. »Es tut mir leid«, wisperte sie. Ich konnte nicht anders, als zu ihm zu gehen. Er litt so furchtbare Qualen. Ich weiß, was das bedeutet, und ich wollte nicht die Ursache für seine Schmerzen sein.
Ein leises Zischen entschlüpfte Gabriel. Trotz seines väterlichen Zorns streichelte er sie liebevoll. Ein Teil von ihm hätte sie am liebsten gepackt und geschüttelt, aber seine andere Hälfte wollte sie festhalten und trösten, ihr Geborgenheit geben. Und du hast nicht daran gedacht, dich Francesca anzuvertrauen – oder mir? Du hättest uns bitten können, dir dabei zu helfen, damit fertig zu werden, Skyler.
War das Schmerz in seiner Stimme? War es ihr bestimmt, jedem wehzutun, der ihr etwas bedeutete ? »Es tut mir so leid«, versicherte sie noch einmal. »Ich konnte nicht klar denken.« Es war die Wahrheit – und die einzige Entschuldigung, die sie anzubieten hatte.
»Erzähl uns genau, was passiert ist«, forderte eine andere Stimme. Als Skyler aufblickte, sah sie Mikhail und Lucian vor sich stehen. Beide machten grimmige Gesichter. »Falls Dimitri dir zu nahe getreten ist, Skyler, musst du es uns sagen«, fügte der Prinz hinzu.
»Nein!« Ein Adrenalinstoß schoss durch ihre Blutbahn, und sie schrie das Wort heraus. Alle drängten sich um sie und starrten sie an. Sie konnte kaum noch atmen, kaum noch sprechen. »Er hat versucht, mir zu helfen. Warum hört ihr mir nicht zu?«
»Wenn euch euer Leben lieb ist«, unterbrach sie eine weitere Stimme, »lasst ihr meine Gefährtin in Ruhe. Bis in den Wald hinein kann man spüren, wie verstört sie ist, und trotzdem bestürmt ihr sie mit Fragen, die ihr eigentlich dem Jäger stellen solltet.« Dimitri stand groß und aufrecht in der offenen Tür. Sein langes Haar wehte in der leichten Brise, und ein paar Schneeflocken lagen auf seinem Kopf und seinen Schultern.
Gabriel schob Skyler in Antoniettas Richtung. »Ich denke, ich werde dich beim Wort nehmen«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen zu Dimitri. »Antonietta, sei so gut, und geh mit meiner Tochter in die Küche, und gib ihr etwas Süßes wie Orangensaft zu trinken.«
»Gabriel«, protestierte Skyler.
Geh mit ihr. Es ist ebenso meine Pflicht wie mein Vorrecht, für deine Sicherheit zu sorgen, und genau das habe ich vor. Wir sprechen später darüber.
»Er hat mir das Leben gerettet«, beharrte Skyler trotzig und sah sich in dem Raum voller karpatianischer Jäger um. »Er hat mir das Leben gerettet.«
Antonietta ignorierte das automatische kleine Zögern von Skylers Seite und legte einen Arm um das Mädchen. »Ich glaube, Dimitri kommt schon allein zurecht.« Halt zu ihm, Byron. Bitte. Er wirkt so schrecklich allein. Sie schenkte Skyler ein beruhigendes Lächeln. »Ich kann ganz gut sehen, wenn ich mir Mühe gebe, du brauchst also keine Angst zu haben, dass ich dir aus Versehen Olivenöl statt Orangensaft einschenke.«
Skyler ging mit ihr, blieb aber in dem Gang stehen, der zur Küche führte, und schaute zurück. Ihr sorgenvoller Blick fiel auf Dimitri.
Alles wird gut, lyubof maya. Geh mit der Frau, und überlass es mir, alles mit diesen Männern – und deinem Vater – zu regeln.
Tu bitte niemandem weh – und lass dir nicht wehtun. Das könnte ich nicht ertragen. Sie spähte zu Gabriel. Seine Stirn war leicht gerunzelt, und er beobachtete sie, nicht Dimitri. Seine Tochter war schon wieder ungehorsam! Skyler senkte den Kopf und wandte sich ab, um Antonietta zu folgen.
Wir werden uns schon verständigen, dein Vater und ich, Skyler. Danke, dass du für mich eingetreten bist. Und halt dich von dem Jungen fern. Er ist eifersüchtig und imstande, mehr Ärger zu machen, als er sich selbst vorstellen kann.
Skyler wusste nicht, was sie ihm darauf antworten sollte. Josef hatte sich tatsächlich benommen, als wäre er eifersüchtig, doch er war nicht in sie verliebt. Viel wahrscheinlicher war, dass er einsam war – genau wie sie – und ihre Freundschaft nicht verlieren wollte.
In der Küche war es dunkel, und Antonietta vergaß, das Licht anzuschalten, also versuchte Skyler, möglichst unauffällig nach dem Schalter zu tasten. »Diesmal ist Gabriel wirklich böse auf mich. Es war idiotisch von mir, einfach loszurennen, aber ich war völlig durcheinander. Ich konnte nur noch daran denken, zu dem Wolf zu kommen.«
Antonietta nahm Orangensaft aus dem Kühlschrank. »Zu dem Wolf? Oder zu Dimitri?«
Skyler runzelte die Stirn und rieb sich die Schläfen. »Ich weiß nicht. Ich dachte, es wäre Dimitri, aber ich bin dem Ruf des Wolfes gefolgt.«
»Und Dimitri war nicht der Wolf?«
Skyler erschauerte und schüttelte den Kopf. »Es sah so aus, als steckte der Wolf in einer Fußfalle, als blutete er am Bein. Ich wollte ihm helfen, aber da verwandelte er sich in ein grausiges Monster, und dann kam Dimitri und bekämpfte es.«
»Das muss schrecklich gewesen sein.« Antonietta gab die Information an Byron weiter, damit er es den anderen mitteilen konnte. »Es klingt irgendwie seltsam«, bemerkte sie. »Komm, setz dich. Du zitterst ja immer noch.«
Skyler, die bestürzt feststellte, dass ihre Beine sehr wackelig waren, zog sich einen Stuhl zurück und ließ sich darauf sinken. »Ich habe versucht, mich dagegen zu wehren, doch ich habe nicht Gabriel oder Francesca zu Hilfe gerufen, und das hätte ich tun sollen.«
Antonietta nahm ihr gegenüber Platz. »Es klingt nach einer Art Zwang, findest du nicht? Aber wie hätte ein Vampir dich ködern können? Er müsste Zugriff zu deinem Bewusstsein haben, um dir mit Dingen, die dir vertraut sind, eine Falle stellen zu können.«
»Etwas früher heute Abend habe ich versucht, einem Energiefluss nachzugehen. Sie kam aus der Richtung des Gasthofs, deshalb dachten wir alle, es müsse von jemandem dort kommen. Aber wer diese Energie auch einsetzte, hat mich erwischt, und vielleicht war man meinem Bewusstsein nahe genug, um zu erkennen, wie sehr ich Wölfe liebe.« Sie biss sich auf die Lippe. »Und dass ich mir Sorgen um Dimitri mache.«
Die anderen hatten nicht mit einem so schnellen Angriff gerechnet – vor allem nicht mit dem Angriff eines Vampirs. Sie dachten, jemand vom Syndikat würde ihr eine Falle stellen - jedenfalls ist das die Erklärung, die sie Skylers Gefährten gehen. Dimitri ist wütend, und das mit gutem Grund. Er hat das Recht zu verlangen, dass sie ständig beschützt wird, und zwar besser als jede andere, wenn sie es schon ablehnen, seinen Anspruch auf sie zu akzeptieren. Mikhail hat keine andere Wahl, als Dimitris Forderungen nachzugeben. Byron gab Antonietta die Auskunft, denn sie mochte es nicht, in irgendeiner Weise »im Dunkeln« gelassen zu werden. Ihre Familie hatte lange Zeit sehr viel vor ihr geheim gehalten. Er wollte sie an allem teilhaben lassen. Seine Gefährtin des Lebens würde zu jeder Zeit sein Wissen teilen. Gleichzeitig übersandte er ihr Wärme und Liebe und die Zuversicht, dass dem Mädchen nichts zustoßen würde.
Ich kann ihre wachsende Angst fühlen, Byron. Sie müssen alle sehr behutsam mit ihr umgehen. Sie schob das Glas Orangensaft näher an Skylers Hand heran. »Trink. Es wird dir gleich besser gehen.«
Skyler schenkte ihr ein schwaches Lächeln. »Es tut gut, mit dir zu reden. Die anderen blaffen mich bloß an, und keiner von ihnen hört richtig zu. Es war mutig von Josef, sich einzuschalten, doch er sagt nicht ganz die Wahrheit. Er lügt auch nicht, aber bei ihm klingt es so, als hätte Dimitri etwas falsch gemacht.«
Tief im Inneren erschauerte sie, als sie sich daran erinnerte, wie es sich angefühlt hatte, Dimitris Mund auf ihrer Haut zu spüren, seine Zunge, die ihre Verletzungen mit samtweichen Liebkosungen geheilt hatte. Hitze strömte durch ihre Adern und weckte ihre schlummernde Weiblichkeit. Winzige elektrische Funken tanzten über ihre Haut, und ihre Brüste prickelten. Sie wurde rot und war froh, dass Antonietta nicht sehr gut sehen konnte.
»Magst du Dimitri?«, fragte Antonietta.
»Er verwirrt mich. Einen Moment scheint er der netteste Mann von der Welt zu sein, und im nächsten ist er wie ein Dämon, gefährlich und bereit zu töten.«
»Als er gegen den Vampir kämpfte, meinst du?«
Skyler schüttelte den Kopf. »Ich glaube, damit wäre ich zurechtgekommen, aber ich meine Josef gegenüber. Josef ist einfach ... Josef. Er ist süß und witzig und viel intelligenter, als alle annehmen. Er hätte für mich gekämpft, und Dimitri ist... groß und stark. Du hast ihn ja gesehen. Trotzdem wollte Josef mir helfen.«
»Er hätte Byron holen können, und du hättest Gabriel rufen sollen«, erwiderte Antonietta.
»Ich weiß.«
»Josef macht gerade eine schwierige Phase seines Lebens durch. Er verbringt viel zu viel Zeit im Internet, statt mit Leuten zusammen zu sein. Er braucht mehr soziale Kompetenz. Dich und Josh nach all den Monaten ständiger Kommunikation im Netz zu treffen, war für ihn, als hätte er Freunde.«
Skyler fand es bei Antonietta schwieriger als bei anderen, in ihr zu lesen, doch sie war sicher, dass es bei diesem Gespräch nicht nur um Josef, sondern auch um sie und ihre eigene Neigung ging, sich vor dem Leben zu verkriechen. »Na ja, wenigstens brauche ich mir keine Sorgen wegen des Vampirs zu machen. Er ist jetzt tot, das heißt, ich bin in Sicherheit, und alle anderen, einschließlich Josef, können aufatmen.« Sie hoffte, die Tatsache, dass Dimitri die Bedrohung aus dem Weg geräumt hatte, würde Gabriel davon abhalten, allzu zornig zu werden.
Sie ist überzeugt, dass ihr keine Gefahr mehr droht, teilte Antonietta Byron mit.
Diese Überzeugung teile ich leider nicht. Skyler ist eindeutig zum Ziel unserer Feinde auserkoren worden, und das war bereits der zweite Angriff auf sie. Dimitri sagt, dass ihr Angreifer erst vor ungefähr einem Monat zum Vampir geworden sein kann und noch nicht über seine volle Macht verfügte. Neulinge unter den Untoten werden gern von einem weit mächtigeren Vampir als Marionetten benutzt. Wir wissen, dass sie hier in der Gegend sind, und kein Neuling würde es wagen, gegen so viele Karpatianer anzutreten. Er wurde von einem anderen geschickt, um das Terrain zu sondieren.
Antoniettas Hand flatterte anmutig an ihre Kehle. Dann ist Skyler mehr denn je in Gefahr. Irgendjemand muss es ihr sagen. Es ist nicht fair, sie in dem Glauben zu lassen, dass sie in Sicherheit ist. Wirklich, Byron, ich an ihrer Stelle würde es wissen wollen.
Man wird es ihr zweifellos mitteilen, wenn dieses Durcheinander geklärt ist. Ich würde mir nicht wünschen, es mit Lucian und Gabriel aufzunehmen, schon gar nicht, wenn sie zu zweit sind, aber Dimitri hat sich zu einer Persönlichkeit entwickelt, mit der man rechnen muss. Er hat die Brüder Daratrazanoff kritisiert und seine Rechte ausgesprochen. Dimitri gibt nicht nach und ist nicht bereit, Konzessionen zu machen. Er gibt Gabriel die Schuld daran, dass Skyler in Gefahr geraten ist, und ehrlich gesagt, Antonietta, was kann Gabriel darauf schon entgegnen? Es ist allein seine Pflicht, sie als seine Tochter und erst recht als Dimitris Gefährtin des Lebens zu beschützen. Was im Lauf der Jahrhunderte auch passiert ist, es hat aus Dimitri einen starken, tödlichen Krieger gemacht. Er hat vor, von Mikhail eine eindeutige Anordnung zu erzwingen – oder Skyler mitzunehmen.
Sie ist zu jung ... zu verstört. Sie braucht Zeit, damit ihre Wunden heilen können, Byron.
Ich glaube, dessen ist sich Dimitri bewusst. Er drängt nicht darauf, sie an sich zu binden, sondern verlangt nur, dass seine Wünsche respektiert werden.
»Du sprichst mit deinem Gefährten, nicht wahr?«, vermutete Skyler.
»Mit Byron«, sagte Antonietta. »Ja, er gibt Informationen an mich weiter. Wir haben eine echte Partnerschaft. Er hat mir versprochen, mich immer als gleichberechtigten Partner zu behandeln, und daran hält er sich, auch wenn andere finden, er sollte es nicht tun. Ich bin eine bestimmte Lebensweise gewöhnt, und Byron hat nie von mir verlangt, sie aufzugeben.«
»Er macht dich also glücklich?«
»Sehr sogar. Ich kann mir mein Leben ohne ihn nicht vorstellen. Ohne ihn hätte ich kein Leben.«
»Was geht denn da drinnen vor? Sie sind alle ganz schön wütend. Keiner von ihnen bemüht sich wirklich, seine Emotionen abzuschirmen.« Skyler hob den Blick zu Antonietta. Die Frau schaute sie an und sah sie diesmal auch – und sah mehr, als Skyler lieb war. »Das ist meinetwegen, oder?«
Antoniettas Lächeln war sehr sanft. Sie schüttelte den Kopf und zog damit die Aufmerksamkeit auf ihren kunstvoll geflochtenen, dicken Zopf. »Da drinnen herrscht vor allem große Aufregung, weil sie Männer sind. Ein Vampir hat eine ihrer Frauen angegriffen, und jetzt müssen Schuldfragen geklärt und Strategien entwickelt werden. Vor allem ist die Atmosphäre angespannt, weil zu viele Jäger zu dicht beieinander sind. Sie sollten dir einfach sagen, dass sie dich keine Sekunde aus den Augen lassen dürfen, und sich darauf verlassen, dass du vernünftig genug bist, das zu verstehen.«
»Aber ist der Vampir denn nicht tot? Ich habe gesehen, wie Dimitri sein Herz verbrannt hat.« Ihr Puls raste wieder. Sie wollte nie wieder einem Vampir begegnen.
»Es war zu leicht, ihn zu töten. Das bedeutet normalerweise, dass ein anderer ihn vorgeschickt hat. Vermutlich war es nur ein Manöver, um uns von dem eigentlichen Angriff abzulenken.«
Skyler nippte an dem Orangensaft. Es fiel ihr nie leicht, etwas zu essen oder zu trinken. Die Sachen rochen gut, aber ihr Magen rebellierte häufig. »Danke, dass du mich nicht wie ein kleines Kind behandelst. Ich werde sehr vorsichtig sein. Doch weißt du, auch wenn ich schon zweimal Ziel eines Angriffs war, ist es möglicherweise nur deshalb passiert, weil ich gerade zur Stelle war. Man hatte eine Spur, die zu mir zurückverfolgt werden konnte, und wusste, was bei mir eine Reaktion auslösen würde, und dieses Wissen wurde eingesetzt. Jetzt machen alle viel Theater um mich, aber dieser unbekannte Feind könnte genauso gut hinter Prinz Mikhail oder einem anderen her sein, der für die Karpatianer sehr wichtig ist.«
Kindermund tut Wahrheit kund, lautete Byrons Antwort, als Antonietta Skylers Bemerkung an ihn weiterleitete. Wir werden unsere Sicherheitsvorkehrungen für Mikhail verdoppeln. Leicht wird es nicht sein; er mag es nämlich gar nicht.
»Es ist schlimm zu wissen, dass es so viel Böses auf der Welt gibt«, sagte Antonietta. »Ich glaube, die meisten Erwachsenen wollen ihre Kinder so lange wie möglich vor diesem Wissen bewahren.«
Skyler spielte mit ihrem Glas, indem sie es erst in die eine, dann in die andere Richtung drehte. »Das habe ich schon früh gelernt, und leider geht es nicht, dass ich einfach zurückkehre und so tue, als wäre es nie passiert. Ich wollte das hier nicht - diese Weihnachtsfeier. Ich habe Weihnachten nie gekannt.«
»Mit einem Baum und dem Weihnachtsmann und einem Krippenspiel?« Antonietta war erstaunt. »Aber es macht so viel Spaß! Ein wunderbarer Anlass, um die ganze Familie zusammenzubringen und gemeinsam zu feiern. Dafür ist jeder Vorwand gut, und jetzt ist einfach die perfekte Jahreszeit.«
»Das hat Francesca auch gesagt.« Skyler stützte einen Ellbogen auf den Tisch und legte ihr Kinn in ihre Handfläche. »Gregori soll den Weihnachtsmann spielen. Hast du ihn schon einmal gesehen?«
»Ich bin ihm ein paar Mal begegnet. Byron und Jacques sind gute Freunde, und Gregori besucht häufig Shea. Sie kann jeden Moment ihr Baby bekommen, und deswegen sind alle schon ganz aufgeregt. Er scheint nicht unbedingt der richtige Kandidat für diese Rolle zu sein.«
»Das ist stark untertrieben.« Zum ersten Mal zeigte sich ein zaghaftes Lächeln. Dann schnitt Skyler ein Gesicht. »Warte nur, bis Sara und Corinne hören, dass Gregori den Weihnachtsmann spielt. Sie haben die Kinder alle darauf vorbereitet, sich auf den Schoß des Weihnachtsmannes zu setzen.«
Antonietta brach in Lachen aus. »Das könnte übel ausgehen.«
»Heute Nacht wird es ein paar heulende Kinder geben«, prophezeite Skyler. Sie atmete tief ein und entspannte sich erstmals genug, um ihre Umgebung wahrzunehmen. »Was riecht denn da so herrlich?«
»Meine Haushälterin hat mir das Rezept für ein köstliches Pasta-Gericht gegeben.« Antonietta lachte herzlich. »Josef und Byron haben mir bei der Zubereitung geholfen. Du hättest uns sehen sollen! Ich konnte die Zutaten nicht richtig erkennen, deshalb las Byron jede einzelne vor, und Josef gab sie mir.«
»Oh nein!« Wieder blitzte Skylers Lachen auf, und dieses Mal erreichte es ihre Augen. »Er hat bestimmt nicht gewusst, was das alles ist.«
»Byron auch nicht. Ich hatte gar nicht daran gedacht, dass die beiden keine Ahnung haben, welche Gewürze man wofür verwendet. Unser erster Versuch landete in einem Loch im Garten.«
»Francesca und ich haben Pfefferkuchenhäuser gemacht, und Gabriel musste uns helfen. Es war komisch, ihn so hilflos zu erleben. Sonst wirkt er immer so unbesiegbar.«
»Und das ist auch gut so«, meinte Antonietta. »Übrigens, ich glaube, die Männer haben ihre ruhige und sachliche Diskussion beendet, Skyler.«
Einen Moment herrschte Schweigen, dann brachen beide Frauen in Gelächter aus. Skyler musste nur einen Herzschlag lang warten, bis Gabriel neben ihr stand. Er streckte seine Hand aus, und sie griff sofort danach. »Es tut mir leid, Gabriel. Ich konnte einfach nicht anders.«
»Ich weiß, Liebes. Du bekommst keinen Ärger, obwohl ich stark versucht bin, dich nicht mehr loszulassen. Francesca will dich sehen. Sie ist sehr beunruhigt.«
Skyler nickte. »Wo ist Dimitri? Du hast doch nicht mit ihm gestritten, oder? Du weißt doch, dass er mir das Leben gerettet hat?«
»Es ist für Karpatianer schwierig, einander zu täuschen. Dimitri hat die Wahrheit gesagt. Er hielt es für besser, dich nicht noch mehr aufzuregen.« Gabriel schenkte Antonietta ein Lächeln, nahm ihre Hand und neigte sich tief darüber. »Antonietta, es ist mir wie immer eine Freude, dich zu sehen. Danke, dass du dich um meine Tochter gekümmert hast.«
»Es war mir ein Vergnügen«, sagte Antonietta. »Sie ist mir jederzeit willkommen.«
»Werden wir dich heute Abend spielen hören?«
»Man hat mich darum gebeten, etwas zu der Aufführung beizutragen, ja. Ich bin mir nicht sicher, ob es den Kindern gefallen wird, aber wenn Gregori, wie ich höre, den Weihnachtsmann spielen soll, ist Musik vielleicht das Einzige, was ihn ein bisschen versöhnlich stimmt.«
Josef kam hereingerannt, versuchte, stehen zu bleiben, und prallte mit Gabriel zusammen, der ihn am Hemd erwischte und festhielt. Josef schien es nicht zu bemerken. »Skyler! Ich hatte schon Angst, dass du nicht mehr da bist. Paul und Ginny warten bei sich zu Hause auf uns. Wir müssen uns beeilen. Wir haben Sara versprochen, ihr mit den Kostümen zu helfen.«
»Skyler kommt später nach«, erklärte Gabriel energisch. »Ich werde sie selbst hinbringen«, fügte er hinzu, bevor einer von beiden protestieren konnte. »Francesca möchte sie sehen.«
Josefs Miene verdüsterte sich. »Du glaubst wohl nicht, dass ich auf sie aufpassen kann.«
»Auf mich braucht niemand aufzupassen«, protestierte Skyler und warf Josef einen finsteren Blick zu. »Ich bin kein Baby mehr.«
»Er will doch nur nicht, dass dir etwas passiert«, warf Antonietta hastig ein. »Josef, Skyler kommt in ein paar Minuten nach. Du musst auch gut auf dich aufpassen, mein Junge.« Sie lächelte Byron an, der die anderen Männer hinausbegleitet hatte und jetzt in der Küche erschien. Er legte einen Arm um ihre sehr weibliche, kurvenreiche Figur und gab ihr einen Kuss auf den Scheitel.
Die beiden folgten Gabriel und Skyler zur Tür und winkten ihnen nach. Byron zog Antonietta in seine Arme. »Was ist los? Ich konnte fühlen, dass du unruhig wurdest, wusste jedoch nicht, warum.« Er rahmte mit seinen Händen ihr Gesicht ein und strich mit seinen Daumen zärtlich über ihre Haut. »Es tut mir leid, dass unser Haus gestürmt wurde, als du gerade komponiert hast. Ich weiß, wie wichtig es dir ist, beim Arbeiten Ruhe zu haben.«
»Das ist es nicht. Außerdem ist es mit Josef nie wirklich ruhig.« Der junge Karpatianer verbrachte einen Großteil seiner Zeit bei ihnen. Er liebte Italien und den Palazzo, in dem sie wohnten. Vor allem, so glaubte Antonietta, bewunderte er Byron und wollte in seiner Nähe sein. Manchmal machte er genauso ein Gesicht wie sein Onkel und imitierte seine Gestik. Byron schenkte ihm Aufmerksamkeit und arbeitete mit ihm an seinen karpatianischen Fähigkeiten – er bewies Interesse an seinem Neffen.
Er geht mir entsetzlich auf die Nerven.
Du magst ihn, und das spürt er. Er braucht dich.
Byron schnaubte abfällig. »Josef, solltest du noch einmal das Gefühl haben, dass dein Leben in Gefahr ist, rufst du nach mir und jedem anderen Karpatianer in der Umgebung. In deinem Alter wirst du mit einem Vampir nicht fertig. Du magst Mut haben, doch es fehlt dir noch an den erforderlichen Kenntnissen.« Er bedachte den jungen Mann mit einem strengen Blick. »Habe ich dein Wort?«
Josef nickte. »Ja.« Er lief zur Tür, drehte sich dann aber noch einmal zu Byron um. Einen kurzen Moment glitzerten Tränen in seinen Augen, bevor er sich wieder im Griff hatte. »Ich hätte sie fast sterben lassen, nicht wahr? Ich hätte in dem Augenblick um Hilfe rufen sollen, als ich sah, wie der Wolf in der Falle seine Gestalt veränderte. Aber plötzlich ging alles so schnell.« Er senkte den Kopf. »Ich konnte mich nicht rühren. Kein bisschen. Ich habe keinen Mut, Byron. Ich hatte Angst.«
»Mit gutem Grund. Niemand macht bei seiner ersten Begegnung mit einem Vampir alles richtig. Dimitri ist ein Jäger und noch dazu ein verdammt guter. Er jagt die Untoten seit Jahrhunderten ohne jede Hilfe, aber lass dir gesagt sein, bei seinem ersten Vampir ist er genauso wie du vor Schreck zur Salzsäule erstarrt.«
»Und du?«
Ein kurzes Lächeln huschte über Byrons Gesicht. »Jacques und ich waren zusammen und fühlten uns ziemlich gut, bis das Ding aus heiterem Himmel vor uns auftauchte und uns einen Mund voller scharfer schwarzer Zähne zeigte. Ich glaube, wir hätten beide fast einen Herzinfarkt bekommen.« Er fuhr mit einer Hand durch Josefs Haar. »Du hast dich gut gehalten. Und du hast dein Möglichstes getan, um Skyler vor Dimitri zu beschützen.«
»Er hat sie nicht bloß geheilt«, sagte Josef. »Das war eine astreine Anmache.«
»Dimitri ist ihr Gefährte des Lebens, Josef. Das darfst du nicht außer Acht lassen.«
Josef zog ein finsteres Gesicht und knallte die Tür hinter sich zu.
Byron seufzte. »So viel zu dem Versuch, ein guter Leihvater zu sein. Ich wünschte wirklich, meine Schwester würde wieder die Verantwortung für den Burschen übernehmen.«
»Nein, das stimmt nicht.« Antonietta schmiegte sich an ihn, sodass ihre weichen Brüste ihn streiften, und fuhr mit ihren Fingern durch sein Haar. »Du findest es ganz toll, ein Onkel zu sein.«
»Der Junge macht mich wahnsinnig. Ich kann mich nicht erinnern, je so jung gewesen zu sein.«
Antonietta verschlang ihre Finger mit seinen, als sie durch das Haus zu dem gemütlichen kleinen Salon gingen, wo sie sich gern aufhielten, wenn sie unter sich sein wollten. Ihr Haushalt in Italien brachte viele Verpflichtungen mit sich. Antoniettas Familie lebte bei ihnen im Palazzo, und es gab immer wieder große Dramen.
»Ich fühle das Jaguarweibchen«, gestand Antonietta, ohne ihn anzuschauen. Sie legte eine Hand an ihre Brust. »Sie ist irgendwo da drinnen und reagiert auf etwas, das hier in der Luft liegt. Sie ... sie krallt sich an mir fest. Meine Sehkraft ist schlechter als sonst, aber mit den Jaguaraugen kann ich sehen.«
Byron wusste, dass die Familie Scarletti, Antoniettas Vorfahren, in direkter Linie von Jaguarwesen abstammten, und in ihr war die Raubkatze schon immer sehr stark gewesen. Er beugte sich zu ihr vor, nahm ihre Hände und zog sie an seinen Mund. »Wann hat das angefangen?«
»Vor ein paar Stunden. Zuerst war ich einfach ruhelos und gereizt, aber jetzt ist es eher schlechte Laune, das Verlangen zuzuschlagen, eine Wildheit, die ich nicht richtig erklären kann.« Sie machte ein bekümmertes Gesicht. »Ich dachte, ich hätte das alles hinter mir gelassen.«
»Du bist Karpatianerin, Antonietta, und nicht alles am Jaguar ist schlecht. Manche machen etwas Böses daraus, doch im Augenblick ist es wichtiger herauszufinden, was die Raubkatze in dir geweckt hat.« Er schaute durch das Fenster auf die düsteren Wolken. »Es dauert nur noch ein paar Stunden, bis wir die Dorfbewohner zu diesem Weihnachtsspiel und dem Festmahl im Gasthof treffen. Wir müssen auf jede etwaige Gefahr vorbereitet sein.«
Sie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Ich war immer in der Lage, das Jaguarweibchen zu beherrschen, doch jetzt kämpft sie gegen mich und versucht zu entkommen, und ich glaube ... « Ihr Blick begegnete seinem. »Ich glaube, sie ist gefährlich.«
»Du könntest nie jemandem etwas antun, Antonietta«, versicherte er ihr.
»Du verstehst das nicht. Sie versucht, mir wehzutun. Ich lasse sie nicht heraus, und sie ist zornig.«
Byrons Augen wurden schmal, und er setzte sich kerzengerade auf, während er alle seine Sinne in die Nacht hinausschickte, um die Umgebung zu untersuchen, zu überprüfen und dabei auf eine kaum merkliche Anwesenheit von Macht zu stoßen, die Einfluss auf diese Seite von Antonietta hatte. Er konnte spüren, dass die Luft leicht aufgewühlt war, aber bei so vielen Karpatianern an einem Ort war es unmöglich zu sagen, ob dieses Phänomen für das Aufbegehren des Jaguarweibchens verantwortlich war.
»Ich habe gehört, dass die ›Dark Troubadours‹ Ärger mit den Leoparden haben, die sie mitgebracht haben«, bemerkte er. »Ihre Raubkatzen haben eines der Bandmitglieder angegriffen und mehrere andere bedroht. Sie haben die Tiere in den Käfig gesperrt, und das war noch nie erforderlich. Sogar Darius hat Schwierigkeiten, das Verhalten der Katzen zu kontrollieren.«
Antonietta runzelte die Stirn. »Was könnte die Ursache dafür sein? Und was ist mit den anderen, die hier sind? Ist nicht einer der Karpatianer mit einer Frau zusammen, die voll und ganz Jaguarwesen ist? Wie geht es ihr?«
»Du meinst Juliette. Dann wäre da noch Natalya, Vikirnoffs Frau. Der Tiger ist sehr stark in ihr.« Byron drückte Antonietta tröstend an sich. »Komm mit.«
»Wohin?« Er zog sie in Richtung Tür, und ihr Herz flatterte vor Furcht. »Ich will kein Risiko eingehen, Byron.«
»Die Katze wird wissen, woher der Energiestrom kommt. Sie kann die Macht direkt zu ihrer Quelle zurückverfolgen.«
»Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich stark genug bin, den Jaguar zu beherrschen.« In all den Jahren hatte sie sich nie vor der Katze in ihrem Inneren gefürchtet, die immer um ihre Freiheit gekämpft hatte. Bis heute. Sie fröstelte. Es schneite wieder, aber es war eher Furcht als Kälte, die sie erschauern ließ.
»Zusammen können wir es. Bleib ständig mit meinem Bewusstsein verschmolzen, auch wenn sich die Katze dagegen wehrt«, sagte er.
Aus irgendeinem Grund überfielen sie Erinnerungen an ihre Umwandlung. Es war ein besonders schwieriger und schmerzhafter Prozess gewesen, weil sich die Katze gegen das karpatianische Blut gewehrt hatte. Schweiß brach an ihrem Körper aus. »Bist du dir auch sicher, Byron?«
»Wenn du Angst hast, dass wir beide es nicht schaffen, rufe ich Jacques. Gemeinsam sind wir unbesiegbar. Du kannst nicht zu der Feier gehen, solange du einem Einfluss ausgesetzt bist, über den wir nichts wissen.«
Sie rührte an Byrons Bewusstsein und verschmolz mühelos mit ihm. Es war ein sehr intimer Vorgang, und wie immer reagierte ihr Körper auf diese Nähe. Sie war Frau genug, seine erotischen Fantasien zu genießen und sich darüber zu freuen, wie begehrlich er ihre üppigen Formen betrachtete, statt sich eine dünnere Frau zu wünschen, wie sie heutzutage in Mode waren. Er liebte ihr Haar, seine Fülle und seine Farbe. Ganz besonders liebte er es, ihren kunstvoll geflochtenen Zopf zu lösen, bevor er mit ihr schlief.
Es dauerte einen Moment, bis sie geistig völlig vereint waren, aber es geschah wie von selbst. Antonietta sprach die Raubkatze in ihrem Inneren an, begrüßte sie und ließ sie frei. Mit ausgefahrenen Krallen jagte der Jaguar davon, getrieben von dem wilden Drang, über die schneebedeckte Wiese zu den Bäumen zu springen. Byron hielt mühelos Schritt, ohne das warnende Grollen des Weibchens zu beachten. Er würde Antonietta nicht aus den Augen lassen.
Das Jaguarweibchen wurde langsamer und setzte seine Pfoten behutsam in den feinen Schnee, lief aber zielstrebig tiefer in den Wald hinein. Sie bewegten sich in der allgemeinen Richtung des Gasthofs, waren aber immer noch einige Meilen entfernt. Soweit Byron wusste, befanden sich in der Gegend, der sie sich näherten, nur zwei Häuser. Gregoris Zuhause lag hoch oben in den Bergen, umgeben von dichtem Wald und großen Felsen. Es war auf drei Seiten vor dem Wetter und vor Feinden geschützt, und selbst ein Wanderer, der bis auf wenige Meter herankam, würde es kaum entdecken. Gregori hatte zusätzlich unsichtbare Sicherheitsbarrieren errichtet, um das Haus vor feindlichen Augen zu verbergen.
In dem anderen Haus lebten Jacques und Shea. Auch dieses Gebäude lag sehr abgeschieden, da Jacques immer noch Distanz zum Rest der Bevölkerung brauchte. Shea und Savannah waren gut befreundet und besuchten einander häufig, doch selbst ihre Häuser lagen meilenweit voneinander entfernt. Jacques hatte sein schönes Haus fast in den Berg hineingebaut, sodass es selbst von der Luft aus unmöglich zu sehen war.
Die Katze hob den Kopf und witterte in die Luft. Sie sucht einen bestimmten Geruch.
Welchen? Byron fühlte die Getriebenheit in der Katze, konnte aber den Grund für ihre Unruhe nicht ausmachen.
Antonietta antwortete nicht sofort. Sie will Beute schlagen.
Das Jaguarweibchen stieß sich mit den Hinterbeinen ab, sprang auf einen umgestürzten Baumstamm und hielt einen Moment inne, um kurz zu den Bergen zu schauen, wo Gregoris Haus lag, bevor es sich in die Richtung des anderen Hauses wandte.
Tief im Inneren des Jaguarkörpers schnappte Antonietta nach Luft. Byron! Hast du gespürt, wie sie Witterung aufgenommen hat? Ihren Eifer?
Hinter was ist sie her?
Es ist das Baby. Sie hat es auf Sheas Baby abgesehen. Das bedeutet, dass Darius' Leoparden dazu gedrängt werden, Shea anzugreifen. Wer ihnen auch den Befehl dazu gibt, weiß nichts von mir. Der Zwang richtet sich ausschließlich auf die Katzen.
Byron nahm den persönlichen mentalen Kommunikationsweg, der ihn mit seinem Kindheitsfreund verband. Jacques! Hör mir zu! Er gab die Information weiter; er teilte Antoniettas Wahrnehmungen ebenso mit wie ihre Befürchtungen. Wir geben diese Information an alle Karpatianer weiter, aber sowie wir das tun, wird Shea es erfahren. Brauchst du Zeit, um es ihr schonend beizubringen ?
Byron hasste es, die Sorgen des Ehepaares zu vergrößern. Beide hatten Angst vor der bevorstehenden Geburt ihres Kindes, und das mit gutem Grund. Jetzt mussten sie sich Gedanken um einen Feind machen, der Tiere manipulierte – mit der gezielten Absicht, ihrem Baby etwas anzutun.
Gib es weiter, Byron. Wir müssen diesen Feind aufspüren, bevor Shea das Kind zur Welt bringt. Ich fürchte, es ist schon heute Nacht so weit. Einen Moment herrschte Schweigen, dann seufzte Jacques. Sie wehrt sich jetzt schon dagegen, weil sie unseren Sohn im Schutz des Mutterleibs behalten will.
Du bist sicher, dass es ein Sohn ist?
Ja. Ich habe einen Sohn. Er ist stark und will in die Welt hinaus, aber Shea hindert ihn daran. Zu wissen, dass ein Feind es auf unser Kind abgesehen hat, macht alles noch schwieriger.
Shea steht auch unter meinem Schutz. Ich bin an eurer Seite und jederzeit bereit zum Kampf.
Wir danken dir, alter Freund. Jacques' Stimme klang müde. Danke bitte auch Antonietta. Es kann nicht leicht gewesen sein, der Katze in ihr diese Information zu entlocken. Ohne ihre Bemühungen wüssten wir nicht, dass wir unmittelbar bedroht werden. Auch Shea schickt ihren Dank.
Byron teilte diese Antwort seiner Gefährtin mit, während sie beide extremen Druck auf den Jaguar ausübten, um die Raubkatze dazu zu zwingen, nach Hause zurückzukehren. Die Warnung an alle Karpatianer ging sofort über den allgemeinen Kommunikationsweg hinaus, und Byron empfand tiefen Stolz auf Antonietta.
Das Jaguarweibchen knurrte und widersetzte sich dem Befehl. Byron schob sich näher an die große Katze heran, und Antonietta, die seine Überlegung auffing, sprach sofort darauf an. Es gab wesentlich angenehmere Möglichkeiten als Zwang, um die Katze abzulenken. Byron veränderte rasch seine Gestalt, landete in Form eines männlichen Jaguars auf den Schultern des Weibchens und rieb sein Kinn an ihrem Rücken. Das Weibchen machte einen Satz nach vorn, warf ihm aber über die Schulter einen lockenden Blick zu. Sie rasten zum Haus. Hitze besiegte das Verlangen nach Beute.
Als beide wieder ihre natürliche Gestalt annahmen, lagen sie einander bereits in den Armen, und Byrons Hände lösten geschickt Antoniettas eleganten Zopf.