38

Jonas fröstelte, als er zur Mittagszeit auf die Gasse trat. Viel zu schnell waren die ersten lauen Frühlingstage zu Ende gegangen.

Er kam gerade vom Mädchenunterricht, den er zweimal die Woche abhielt. Er mochte diese Stunden in der gemütlichen kleinen Wohnung in der Nähe des Waaghauses, auch wenn das Entgelt hierfür noch geringer war als für seinen Unterricht in den beiden städtischen Knabenschulen. Vor Jahrzehnten schon hatten die Reformierten unter den Bürgern für ihre Töchter eine Erziehung in den Elementarkenntnissen Lesen und Schreiben gefordert. Als Lehrer war er angewiesen, sein Augenmerk auf die Unterweisung in den christlichen Grundlagen und Tugenden zu legen, was nichts anderes bedeutete, als mit den Mädchen den Katechismus auswendig zu lernen und Kirchenlieder und Psalmen zu singen. Doch ließ er es sich nicht nehmen, seine eigenen Schwerpunkte zu setzen, nämlich Rechnen und Lesen in deutscher Sprache.

Er bog in die Bachgasse ein, als er wie vom Blitz getroffen stehen blieb: Seite an Seite mit dem Schlossergesellen Hofer, dessen jüngster Bruder seine Lateinklasse besuchte, ging Marthe-Marie. Sie gingen so dicht nebeneinander, so vertraut, als wären sie ein Paar. Jonas starrte ihnen mit offenem Mund hinterher wie ein aus dem Tollhaus Entlaufener.

Um ein Haar hätte er sie gar nicht erkannt, so ausgezehrt sah sie aus in ihrem geflickten, schäbigen Rock. Doch es war keine Täuschung, denn auch Agnes war dabei. Ausgelassen sprang sie vor den beiden her. Und dann geschah das Ungeheuerliche: Sie blieben stehen und umarmten sich. Seine Marthe-Marie, in ihren zerschlissenen Kleidern, und der junge Hofer! Er stand wie gelähmt vor Bestürzung, rührte sich nicht vom Fleck, bis ihn ein Fischhändler mit seinem Handkarren grob zur Seite stieß.

Anstatt nach Hause zu gehen und den Unterricht für den nächsten Tag vorzubereiten, tat er etwas, was ihm sonst nie in den Sinn gekommen wäre: Er suchte die Höhle auf, eine düstere Kaschemme gleich unterhalb des Mehlsacks, in der sich angeblich recht zwielichtige Gestalten trafen. Hier lief er wenigstens nicht Gefahr, irgendwelchen honorigen Vätern seiner Schüler zu begegnen, denn er wollte nichts anderes, als in Ruhe gelassen werden und den Aufruhr in seinem Inneren betäuben. Zumindest das Bier schmeckte wunderbar. Nach dem zweiten Krug begann er an allem, was er beobachtet hatte, zu zweifeln. Seine Augen mussten ihn getrogen haben. Was hatte Marthe-Marie mit Hofer zu schaffen? Und wenn sie in Ravensburg war, warum hatte er sie und die anderen aus Sonntags Truppe dann nie zuvor gesehen?

Nach dem dritten Krug winkte er den Wirt heran.

«Wisst Ihr, ob Gaukler in der Stadt sind?»

Die Worte kamen ihm wie unförmige Klumpen heraus, denn er war Alkohol nicht gewohnt.

«Gaukler? Nun ja, vor der Stadt, beim Untertor, lagern ein paar Landfahrer, wenn Ihr die meint. Noch einen Krug?»

Jonas nickte.

Eisiger Schneeregen schlug ihm ins Gesicht, als er wieder auf die Gasse trat. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren, doch dem fahlen Licht nach musste es bereits später Nachmittag sein. Er würde sich Gewissheit verschaffen. Schwankenden Schrittes durchquerte er die Stadt, bemerkte kaum, wenn ihn jemand grüßte.

Als er die Uferwiese erreichte, hatte der Schneeregen aufgehört. Eine tief stehende Sonne schickte ihre letzten Strahlen durch die aufgerissene Wolkendecke und ließ die Landschaft in kräftigen Farben leuchten. Er blieb stehen. Die kalte Luft hatte ihn ernüchtert und den Nebel aus seinem Kopf vertrieben. Dafür legte sich ihm jetzt eine tiefe Beklommenheit wie ein eisernes Band ums Herz. Vor ihm lag das Lager der Gaukler zum Greifen nah, die Konturen der Karren, die Äste der kahlen Bäume zeichneten sich scharf wie bei einem Scherenschnitt gegen die Umgebung ab. Seltsam, er hatte den Tross viel größer in Erinnerung, farbenfroher und eindrucksvoller. Als Erstes entdeckte er Marusch und Anna, wie sie sich am Feuer zu schaffen machten. Weiter hinten standen die Männer um Sonntag versammelt. Weder Diego noch Marthe-Marie waren zu sehen.

Noch konnte er zurück. Doch dann würde ihn das brennende Verlangen, Marthe-Marie wieder zu sehen, niemals mehr loslassen. Viel zu lange schon hatte er auf diese Fügung des Schicksals gewartet, auf diesen Augenblick, wo sich Marthe-Maries und seine Wege kreuzen würden – nun durfte er diesen Augenblick nicht aus der Hand geben.

«Jonas!»

Er fuhr herum. Antonia kam auf ihn zu, im Schlepptau eine Hand voll Kinder und Heranwachsende, von denen er einige gar nicht kannte. Wie sich Maruschs Älteste verändert hatte in den letzten eineinhalb Jahren! Zu einer hübschen jungen Frau hatte sie sich entwickelt. Doch mager war sie, wie alle anderen, erschreckend mager.

«Was für eine Überraschung.» Sie streckte ihm die Hand hin, die er herzlich drückte. «Willst du wieder bei uns arbeiten?»

«Das nicht gerade.» Er lächelte schief.

Nun hatten auch Marusch und Anna ihn entdeckt und eilten heran.

«Mein Gott, Jonas.» Marusch schloss ihn in ihre kräftigen Arme, dass seine Rippen knackten. «Wie oft habe ich in den letzten Monaten an dich gedacht. Lebst du nicht mehr in Ulm?»

«Nein.» In knappen Worten berichtete er, wie es ihm seit seinem übereilten Abschied in Freudenstadt ergangen war. «Und wie geht es euch?»

«Ehrlich gesagt – beschissen. Der Glanz von Leonhard Sonntags Compagnie ist endgültig erloschen, Leo will die Flinte ins Korn werfen. Will sich als Hintersasse irgendwo am See niederlassen, mit einer Sau und ein paar Geißen auf einem schäbigen Hof, wo er dann den ganzen Tag Steine aus dem Acker klaubt – was weiß ich. Er fühlt sich zu alt für dieses Wanderleben, zumal in diesen elenden Zeiten.»

Jonas sah den bitteren Zug um ihre Mundwinkel, und eine Welle von Mitgefühl überkam ihn.

«Komm, setz dich zu uns ans Feuer. Dann sollst du alles erfahren. Die Männer werden sich freuen, dich wieder zu sehen.»

Jonas zögerte. «Nein, lass nur. Ich komme ein andermal wieder. Vielleicht morgen.» Mein Gott, was war er für ein Feigling.

Marusch zog ihn ein Stück mit sich. «Ist es wegen Diego? Er ist nach Freiburg geritten. Vor übermorgen wird er kaum zurück sein.»

Er nahm allen Mut zusammen. «Und Marthe-Marie?»

«Sie ist in der Stadt, aber ich denke, sie wird bald kommen.» Plötzlich sah sie ihn verblüfft an und schlug sich gegen die Stirn. «Himmel, jetzt begreife ich erst, was das alles bedeutet. Du lebst hier und sie – nein, das kann kein Zufall sein. Du weißt schon, dass sie als Einzige von uns das große Glückslos gezogen hat, und jetzt willst du –»

Er unterbrach sie. «Sei mir nicht böse, wenn ich wieder gehe. Es war dumm von mir, überhaupt hergekommen zu sein. Leb wohl, Marusch, und grüße Sonntag von mir.»

Dann rannte er im Laufschritt davon, ohne auf Maruschs Rufe zu achten. Als er die Böschung zur Landstraße hinaufstolperte, da stand sie vor ihm, nicht einmal eine Armeslänge entfernt. Sie stieß einen Schrei aus, ganz leise nur, doch in seinen Ohren klang es wie ein gellender Schrei des Entsetzens.

«Jonas?», flüsterte Marthe-Marie. Ihr Gesicht war wachsbleich, was ihren Blick noch dunkler erscheinen ließ.

Regungslos starrte er sie an, wie einer seiner Schulbuben, wenn sie die Antwort auf eine Frage nicht wussten.

Das warme Abendlicht verblasste, und die Welt verlor ihre Farbe. Doch vor ihm erhob sich gegen die Silhouette der Stadt ihre Gestalt, die von innen heraus strahlte wie eine Erscheinung des Himmels, die Gestalt einer Frau, für die er in diesem Moment sein Leben gelassen hätte.

«Geh nicht weg, Marthe-Marie.» Hatte er diese Worte gesprochen? Oder sie nur gedacht? Warum sagte sie nichts? Wenn dies kein Traum war, dann musste er sie eigentlich berühren können.

Er streckte die Hand aus und strich vorsichtig über ihren Unterarm.

«Wie dünn du bist», sagte er leise.

Sie schwieg noch immer. Ihm war, als schimmerten in ihren Augen Tränen.

«Bitte sag etwas», bat er sie.

Sie schüttelte den Kopf.

«Soll ich morgen wiederkommen oder übermorgen? Das ist mir gleich, ich wohne in Ravensburg. Ich habe hier eine Stelle als Schulmeister gefunden.»

«Du wohnst hier?» Ihre Stimme klang rau, fast erschrocken.

«Ja.» Er konnte sich nicht länger zurückhalten. Er nahm ihre beiden Hände in seine, spürte ihre Wärme, ihre Zerbrechlichkeit. «Glaub mir, ich habe versucht, dich zu vergessen. Aber es ist mir nicht gelungen. Ich schlafe mit deinem Bild vor Augen ein, und wenn ich erwache, sehe ich als Erstes dich. So viele Nächte habe ich von dir geträumt, mich an so vielen Tagen um dich gesorgt. Mir ist, als hätten wir uns niemals getrennt. Bitte, bleib bei mir. Ich will dich nicht noch einmal verlieren. Bleib bei mir und heirate mich.»

Warum antwortete sie nicht? Hatte er heute Mittag also doch richtig beobachtet, richtig vermutet? War er zu spät gekommen?

Er ließ ihre Hände frei. «Dann antworte mir wenigstens auf eine Frage: Bedeute ich dir etwas? Habe ich dir jemals etwas bedeutet?»

«Ach Jonas, das ist es doch nicht. Sieh mich einfach nur an.» Sie öffnete ihren Mantel, der, wie ihm jetzt erst auffiel, nicht derselbe war wie heute Mittag, sondern nagelneu, aus warmem, gewalktem Grautuch. Doch darunter sah er einen zerrissenen Rock mit fleckiger Schürze, ihr Leibchen war aus zwei Teilen notdürftig zusammengenäht. Es war nicht mehr und nicht weniger als ein Haufen Lumpen, was sie da auf ihrem abgemagerten Leib trug. Wieder spürte er diesen eisernen Ring um sein Herz, und er hätte heulen mögen wie ein kleines Kind.

«Ja, trau nur deinen Augen. Ich bin schon längst keine Bürgerstochter mehr. Ich gehöre zum Stand der Unehrlichen, viel zu lange schon. Und du, du weißt gar nicht, was das bedeutet. Hast vielleicht ein paar Wochen mit den Komödianten verbracht, in ihrer besten Zeit mit Glitzer und Glimmer und herzlichem Applaus. Aber nicht einmal das ist uns geblieben. Hungernde Landstreicher sind wir, die kein Stadtwächter mehr einlässt, nichts anderes. Und was mich betrifft, die Marthe-Marie aus dem vornehmen Hause Mangolt: Tiefer als ich kann man gar nicht sinken. Ich habe die niedrigsten Arbeiten verrichtet, habe mit den anderen Früchte vom Acker und aus den Scheunen gestohlen und vorm Kirchenportal gebettelt. Ich habe Gras, faulige Wurzeln und Würmer gefressen wie die Wildschweine. Musste mit ansehen, wie man erst Mettel, dann den Medicus niedergemetzelt hat und wie Caspar vor Schwäche am Antoniusfeuer krepiert ist und zwei unserer Jungen beinahe am Galgen gelandet wären. Nur gehurt habe ich noch nicht, falls dich das interessiert. Nicht richtig jedenfalls.»

Sie stieß ein bitteres Lachen aus, während ihr gleichzeitig die Tränen über die Wangen liefen. «Und da willst du mich heiraten? Du, Jonas Marx, Schulmeister der Stadt Ravensburg? Willst aus freien Stücken solche Schande über dich gießen wie einen Kübel Jauche? Das kannst du gar nicht wollen.»

«Mein Gott, hör auf, so zu reden. Du magst Grausiges erlebt haben, magst in Lumpen gehen wie eine Bettlerin, aber das ist mir gleich. Und es gibt kein Gesetz, das mir verbietet, eine Unehrliche zu heiraten!»

«Ich will dein Mitleid nicht! Lieber verdinge ich mich irgendwo als Dienstmädchen oder als Magd. Ja – sieh mich nicht so an, ich kann mich allein durchschlagen. Ich weiß, wie schwer das ist, als Witwe mit einem Kind, dazu noch als Fremde. Aber ich hab den letzten Winter überstanden, also schaffe ich auch das.»

«Und Diego?»

«Was geht dich Diego an? Er ist ein guter Freund, vielleicht der beste, den sich eine Frau wünschen kann.»

Wie wütend sie war. Nein, er bedeutete ihr offenbar nichts mehr. Nur noch Abwehr und Trotz las er in ihrem Gesicht. Er schloss die Augen und atmete tief durch. «Dann wünsche ich dir viel Glück», murmelte er. «Wann zieht die Truppe weiter?»

«Das weiß ich nicht. Ich werde Marusch und die anderen verlassen.»

«Was heißt das?»

«Dass ich in Ravensburg bleiben werde.»

«Jetzt verstehe ich.» Dabei verstand er in diesem Augenblick überhaupt nichts mehr. Er sah nur noch diesen Benedikt Hofer mit ihr über die Bachgasse schlendern. »Warum bist du zu feige, mir ins Gesicht zu sagen, dass du mit einem anderen Mann zusammen bist? Das kannst du ruhig, ich habe euch gesehen, heute Mittag.» Er schluckte. «Bei dem hast du diese Vorbehalte mit Scham und Schande wohl nicht? Aber eins muss ich dem jungen Hofer lassen: Er scheint auch nicht zu zögern, sich vor aller Augen mit Jauche zu übergießen, indem er sich mit einer Frau unter seinem Stand zeigt. Hut ab!»

«Benedikt Hofer ist mein Bruder!»

«Dein was?»

«Ich habe es auch erst vor kurzem erfahren.»

«Dann ist der alte Hofer –?»

Sie nickte. Ihre Wangen hatten wieder Farbe angenommen. «Ich komme eben von dort.»

«Und – Agnes?»

Zum ersten Mal zeichnete sich so etwas wie Freude auf ihrem Gesicht ab. «Sie nennt ihn schon Großvater. Dabei weiß sie gar nicht genau, was das ist. Hofer – mein Vater will für sie sorgen. Agnes war sehr krank, musst du wissen.»

«Und du? Ich meine, was wirst du tun, jetzt, wo du deinen Vater gefunden hast?»

«Das habe ich dir doch gesagt.» Ihre Stimme zitterte ein wenig. «Ich suche mir ein Zimmer und eine Anstellung. Irgendwo in der Stadt, um in Agnes’ Nähe zu bleiben. Er hilft mir dabei.»

Jonas schüttelte ungläubig den Kopf. «Ein sauberer Vater, der seine eigene Tochter nicht bei sich aufnehmen will. Hat er Angst vor dem Gerede der Nachbarn?»

«Ich bin es, die nicht bei ihm wohnen will. Als alter Mann hat er erfahren, dass er noch eine Tochter und ein Enkelkind hat, verstehst du? Das muss wie ein Schlag für ihn gewesen sein. Wenn es uns nicht immer übler ergangen wäre, hätte ich ihn gar nicht aufgesucht – ich habe es für Agnes getan. Was mich betrifft, so will ich nur eins: auf eigenen Beinen stehen. Leider bin ich in meiner Lage noch auf seine Hilfe angewiesen. Doch heißt das längst nicht, dass ich mich jetzt in ein gemachtes Nest setze.»

«Warum bist du so stolz?»

«Weil Stolz das Einzige ist, was mir geblieben ist.»

Er fand keine Worte mehr. Sie hatte für sich selbst bereits alles entschieden. Stumm betrachtete er ihr schönes Gesicht, die fein geschnittenen Züge, denen nichts Mädchenhaftes mehr anhaftete. Es war die tiefgründige Schönheit einer erfahrenen Frau. Eine schwarze Haarlocke hatte sich gelöst und fiel ihr in die klare Stirn, fast bis auf die schmalen dunklen Brauen. Dann versank er im Blick ihrer Augen. Zu seiner Überraschung spiegelte sich darin dieselbe Liebe, die er für sie empfand. Es war, als ob ihrer beider Seelen sich gegenseitig öffneten, ohne Trug und Täuschung.

Sie senkte den Blick. «Ich muss jetzt gehen.»

«Ja, gewiss. Die anderen werden schon auf dich warten.»

Er trat einen Schritt zurück, zögerte noch. «Ich wohne in der Klostergasse, über der Werkstatt des Kammmachers.»

Dann drehte er sich um und ging die Straße hinunter Richtung Untertor.

 

Marthe-Marie lag auf ihrem Strohsack und starrte ins Dunkel des Wohnwagens. Zu viel hatte sich in diesen Tagen ereignet, zu viel, als dass sie hätte einen klaren Gedanken fassen können. Noch immer hatte sie nicht begriffen, dass sie ihren Vater gefunden hatte, viel weniger, so schien es, als der alte Benedikt Hofer selbst, der ihr heute mit offenen Armen entgegengetreten war. Es hatte lange gedauert, bis sich ihre Befangenheit gegenüber dieser fremden Familie, die nun die Ihre sein sollte, gelegt hatte. Hinzu kam, dass sie Anstand und Sitte bei Tisch nicht mehr gewohnt war, und sie ertappte sich mehr als einmal dabei, wie sie sich den Mund am Ärmel abwischte, statt die Mundtücher zu benutzen, oder den Braten mit der Hand von der Platte nahm anstatt mit dem bereitliegenden Messer.

Dabei hatte jeder von ihnen sich alle Mühe gegeben, es ihr leicht zu machen. Niemand hatte sie zum Reden gedrängt, abgesehen von Christoffel, dem Jüngsten, der nicht genug hören konnte von ihrem Leben bei den Gauklern. Hofers Tochter Margret, die, obwohl jünger als Marthe-Marie, sehr mütterlich und matronenhaft wirkte, hatte sie mit Essen und Trinken umsorgt wie eine Kranke. Dann war da noch Melchior, der Zweitjüngste, der auffallend still dabeisaß, bis sie erfuhr, dass er tatsächlich stumm war seit einem schrecklichen Unfall als kleiner Junge. Sie wusste nicht, was Hofer seinen Kindern erzählt hatte, aber sie fühlte sich aufgenommen wie ein lang zurückerwartetes Familienmitglied. Und sie musste ihrem Vater und ihren Halbgeschwistern versprechen, in Ravensburg zu bleiben.

«Du kannst Margrets Kammer haben, jetzt, wo sie verheiratet ist», hatte Hofer ihr angeboten. Als er indes merkte, wie sehr ihr das widerstrebte, gab er nach und versprach, sich in der Stadt nach einem Zimmer umzusehen.

«Ich kann verstehen, dass du Zeit brauchst. Aber vergiss nicht: Unsere Tür steht dir immer offen.»

Er war in allem sehr zartfühlend, nur eines hatte er sich nicht nehmen lassen: dass er ihr und Agnes am nächsten Tag neue Kleidung kaufen wollte.

Nach dem Essen, als die Magd mit Agnes in die Küche verschwunden war, hatte er seine Kinder hinausgeschickt. Marthe-Marie wusste, dass er jetzt Fragen stellen würde. So erzählte sie von ihrer Odyssee mit den Spielleuten und dem Grund ihrer Flucht aus Freiburg. Als die Rede auf Wulfhart kam, fiel ihr das Sprechen schwer.

«Lass nur», unterbrach er sie. «Wir haben noch so viel Zeit, miteinander zu reden. Ich denke, du solltest erst mal wieder zu Kräften kommen. Und die kleine Agnes auch. Wenn du einverstanden bist, würde ich sie gern bei uns behalten, zumindest so lange, bis du eine Unterkunft hast und alles seinen Gang geht. Unter Johannas Obhut ist sie bestens aufgehoben, die beiden haben ja von Anfang an einen Narren aneinander gefressen.»

Auch wenn es ihr schwer fiel, stimmte sie zu. Für Agnes hätte sie sich nichts Besseres wünschen können.

Dann sprachen sie über Catharina. Jetzt erst wurde Marthe-Marie klar, dass ihre Mutter in jener kurzen Zeit, in der sie mit Hofer in heimlicher Liebschaft zusammen war, gerade so alt gewesen war wie sie jetzt, und zum ersten Mal schmerzte es sie nicht, über sie zu reden. Und Benedikt Hofer erinnerte sich an so viele Einzelheiten, an ganz andere Dinge als die, die sie von ihrer Ziehmutter einst gehört hatte.

«Sie war so wunderbar. Mit ihr wäre ich bis ans Ende der Welt gegangen.» Verstohlen wischte er sich eine Träne aus den Augenwinkeln. «Und du hast viel von ihr. Vielleicht bist du mir deshalb gleich so vertraut gewesen. Du bist auch genauso dickköpfig wie sie.» Er lachte.

Dann war die Reihe an ihr, und sie schilderte ihre Begegnungen mit Catharina, die sie bis zu deren gewaltsamem Tod immer nur als ihre Lieblingstante Cathi gekannt hatte. Catharinas heimlichen Mann Christoph, der ihr in ihren Jahren als Witwe zur Seite stand, erwähnte sie nicht, denn sie wollte ihren Vater nicht verletzen.

Die Stunden vergingen wie im Flug. Als sie sich schließlich verabschiedete und in die Küche ging, um nach Agnes zu sehen, lag ihre Tochter auf der Küchenbank und schlief mit einem seligen Lächeln auf den Lippen. Hatte Marthe-Marie bis zu diesem Moment vielleicht noch gezweifelt, so war sie jetzt sicher: Sie würde in Ravensburg bleiben.

Neben ihr begann Marusch jetzt leise zu schnarchen, und aus der Ecke hörte sie Lisbeth im Schlaf sprechen. Sie dachte an Agnes und musste lächeln: Ihre Kleine lag sicher mit vollem Bauch in Johannas Bett und träumte vom Schlaraffenland. Marthe-Marie wusste nicht, was Gott mit ihrem Leben noch vorhatte, doch eines war gewiss: Ihre Reise mit den Gauklern ging zu Ende. Fast hatte sie ein schlechtes Gewissen gegenüber Marusch und den anderen, die auch heute wieder mit knurrendem Magen zu Bett gegangen waren. Aber sie wusste inzwischen, wie stark ihre Freunde waren. Auch ihnen stünden wieder bessere Zeiten bevor, und für kein Bürgerhaus, für keine noch so reich gedeckte Tafel würden sie ihre Freiheit hergeben. Mochte Leonhard Sonntag im Moment auch noch so viel von Sesshaftigkeit träumen.

Sie drehte sich zur Seite und schloss die Augen. Doch dann geschah das, was sie seit Stunden vermieden hatte: Sie dachte an Jonas, sah sein schmales, bartloses Gesicht mit dem jungenhaften Grübchen im Kinn, das hellbraune Haar, das ihm in leichten Wellen fast bis zur Schulter reichte, den warmen Blick seiner Augen. Sah ihn, wie er plötzlich auf der Landstraße vor ihr stand, aufgetaucht aus dem Nichts. Wie hätte sie ihm verständlich machen sollen, dass sie mit jedem anderen eher als mit ihm leben könnte? Ja, warum eigentlich? Es war nicht nur die Scham gewesen über ihr Äußeres, die sie bei ihrer unerwarteten Begegnung gepackt hatte wie ein Fieber. Sie hatte auch plötzlich daran denken müssen, wie der Henkerssohn im Steinbruch über sie hergefallen war, sie mit Gewalt zu nehmen versucht hatte. Als Jonas vor ihr stand, war ihr jenes Erlebnis wieder mit grausamer Klarheit ins Bewusstsein getreten, in einem schier unerträglichen Gefühl des Ekels und Abscheus. Plötzlich waren Jonas und diese Bestie Wulfhart unauflöslich miteinander verbunden gewesen. Wenn sie sich noch jemals auf einen Mann einlassen würde, hatte sie in jenem Moment gedacht, dann auf einen, mit dem sie einen neuen Anfang setzen konnte. Lag ihre Abwehr also darin begründet, dass Jonas zu viel von ihr wusste? Dass ihr Leben, ihre Vergangenheit wie ein offenes Buch vor ihm lag?

Sie erkannte plötzlich, dass sie ihn immer noch liebte. Das allein war der Grund.

Am nächsten Morgen fand sie auf dem Absatz der Wohnwagentür ein Päckchen mit einem Zettel. Sie öffnete die kleine Schachtel, auf der ihr Name stand, und fand darin einen schmalen Armreif aus Elfenbein, in den winzige Ornamente eingraviert waren und die Buchstaben ihres Namens. Der Reif war wunderschön. Dann faltete sie den Zettel auseinander.

Liebste Marthe-Marie! Diesen Armreif habe ich bereits in Ulm gekauft, da ich niemals die Hoffnung aufgeben wollte, dich wieder zu sehen. Elfenbein steht für Reinheit – so wie die Reinheit meiner Empfindungen, die nicht von Mitleid, nicht von Schuldgefühlen bestimmt sind, sondern allein von Liebe zu dir.

Dein Jonas.