16

Marthe-Marie atmete auf. Bislang war alles gut gegangen bei ihrem ersten Auftritt. Zwar war bei dem Kunststück mit den Eierbechern Diego das Küken entwischt und auf Nimmerwiedersehen in der Zuschauermenge verschwunden, und einmal hatte sie sich in der ersten Aufregung heftig verrechnet, doch bis auf Diego schien das niemand bemerkt zu haben. Jetzt allerdings stand der entscheidende Moment bevor: die Verwandlung. Hier musste jeder Handgriff sitzen, alle Beteiligten mussten sich blitzschnell aufeinander abstimmen.

Ihr Herz klopfte schneller, als Diego dem Publikum verkündete, nun folge eine Sensation, die ihm erst nach jahrelanger Lehrzeit bei den berühmtesten Meistern der weißen Magie gelungen sei: die Verwandlung des Rechenkünstlers Doctor Adam Ries in eine Frau. Sie warf einen verstohlenen Blick auf Quirin, der unterhalb der Bühne mit seinen Körnchen und Pülverchen in einem Bretterverschlag kauerte. Zähneknirschend hatte er eingewilligt, mit seinen Feuerkünsten zu der Verwandlung beizutragen, und auch jetzt war ihm der Unmut über diese Handlangertätigkeit deutlich anzusehen.

Die Zuschauer sperrten Mund und Augen auf, als Diego vor den Rechenkünstler trat, mit beiden Armen seinen Umhang hochriss und im selben Moment zischend eine dichte Rauchwolke aufstieg. Nur wenige Augenblicke später verzog sich der Qualm, Diego trat mit ergeben gesenktem Kopf zur Seite, und auf der Bühne stand eine wunderschöne Frau in engem dunkelblauen Seidengewand, mit roten Lippen und strahlenden Augen.

Marthe-Marie nahm den aufbrandenden Applaus und die Begeisterungsrufe mit gemischten Gefühlen entgegen. Natürlich war sie stolz darauf, dass sie die gewaltige Hürde ihres Auftritts mit Bravour gemeistert hatte und damit nun wohl endgültig zu Sonntags Truppe gehörte. Aber sie musste doch gegen die Empfindung ankämpfen, etwas Unehrenhaftes zu tun. Was Jonas wohl denken würde, wenn er sie hier oben auf der Bühne sehen könnte? Sie hatte diesen Menschen, die hier vor dem Haslacher Rathaus standen, etwas vorgegaukelt, hatte bloßen Schein für Wirklichkeit ausgegeben, um den Menschen Geld aus der Börse zu ziehen. Ihr fiel das Gespräch ein, das sie vor einigen Tagen mit Diego geführt hatte. Auf ihre Frage, warum die Spielleute eigentlich zum Stand der Unehrlichen gehörten, hatte er ihr erklärt: «Es gibt mehrere Antworten. Ein Ratsherr oder Pfaffe würde dir sagen, dass wir Gaukler uns für Geld zu Eigen geben, uns also selbst verkaufen wie jeder gemeine unfreie Knecht. Eine Dienstmagd hingegen würde schimpfen, dass wir klauen wie die Raben und weder Sitte noch Anstand kennen. Der wahre Grund aber ist, dass wir, wie die Schäfer oder Henker und Abdecker, vom städtischen Wehr- und Wachdienst befreit sind. Du kennst ja den Spruch: ‹Schäfer, Spielleut und Schinder sind Geschwisterkinder.› Und bei den Deutschen ist halt alles unehrlich, was nicht im Heer- oder Bürgerbann mitkämpft.»

Obwohl der Beifall nicht enden wollte, zog sich Marthe-Marie irgendwann mit huldvollem Gruß hinter den Vorhang zurück, wo ihre Freundin mit Doktorhut und Talar im Arm auf sie wartete. Neben ihr stand Sonntag mit undurchdringlicher Miene.

«Du warst großartig.» Marusch ließ die Kleidungsstücke einfach auf den Boden fallen und umarmte Marthe-Marie, dass ihr die Luft wegblieb. «Als ob du dein Leben lang nichts anderes getan hättest, als auf der Bühne zu stehen. Das müssen wir feiern.»

«Ich weiß nicht recht – mir ist, als wäre ich gar nicht mehr Marthe-Marie.»

«Daran wirst du dich gewöhnen.» Diego strahlte über das ganze Gesicht. Er war bereits umgezogen für seinen Auftritt als heimlicher Liebhaber. «Rechenmeisterin, ich liebe dich!»

Sonntag hatte die ganze Zeit über keine Regung gezeigt. Jetzt murmelte er: «Na denn, meinetwegen behalten wir euren Auftritt im Programm.»

Diego drückte ihr einen Kuss auf die Wange. «Siehst du, selbst unser Prinzipal kann sich vor Begeisterung kaum halten. Wie der Schwabe sagt: Net g’schimpft isch gelobt genug.»

Marusch nahm sie beim Arm.

«Komm, zieh dich schnell um, und dann gehen wir zurück ins Lager. Der Rest der Vorstellung wird auch ohne uns über die Bühne gehen.»

Als sie die Wiese am Mühlenbach erreichten, hatten Mettel und Antonia bereits die Feuerstellen für den Abend vorbereitet.

«Na, Frau Doctor, habt Ihr fleißig gerechnet?»

«Ach Mettel, mir brummt der Kopf. Wie angenehm war da doch die Arbeit mit dir.»

«Wem sagst du das? Ohne deine Hilfe muss ich mich wieder plagen wie ein Häftling im Raspelhaus.»

«Dann trink erst mal einen Krug Bier mit uns.»

Die Frauen genossen die Ruhe im Lager, denn auch die Kinder waren in der Stadt. Marthe-Marie spürte, wie nach und nach alle Anspannung von ihr abfiel.

Marusch schenkte ihr ein. «Der Einfall mit der Schweinehaut war fabelhaft. Niemals hättest du sonst so schnell dein Altmännergesicht in das einer Frau verwandeln können. Und deine Stimme klingt darunter ganz fremdartig.»

«Aber das Gefühl, diese Schweinehaut auf dem eigenen Gesicht kleben zu haben, ist wirklich widerlich. Und es stinkt wie beim Abdecker.» Zwischenzeitlich hatte sie den Einfall sehr bereut, Bart und Augenbrauen auf eine gebleichte Schweinehaut zu kleben, die sie wie eine Maske über das Gesicht spannen und blitzschnell herunterreißen konnte.

«Wenn ich nur daran denke, dass ich dieses ekelhafte Ding jetzt zehn Tage lang jeden Nachmittag aufsetzen muss.»

«Denk lieber an die vielen Münzen, die uns in den Beutel fallen. Haslach ist eine reiche Stadt, hier holen sie das Silber in Mengen aus den Bergen. Und glaub nur nicht, dass du danach wieder Mettel zur Hand gehen darfst. Diese Zeiten sind vorbei.»

 

«Ich hoffe, du wirst es nicht halten wie unser Maestro Ballini und uns bei der erstbesten Gelegenheit verlassen.» Marusch sah ihre Freundin aufmerksam an.

«Wohin soll ich schon gehen?», antwortete Marthe-Maria und grinste schief.

Sie fuhr wieder bei Marusch mit, denn nun, wo ihr der Auftritt als Rechenmeister mit jedem Male überzeugender gelang, sah sie keinen Anlass mehr, weiterhin tagsüber neben Diego auf dem Kutschbock zu sitzen. Er hatte darüber nur die Achseln gezuckt, und einmal mehr hatte sich Marthe-Marie gefragt, was an seinen Aufmerksamkeiten ihr gegenüber überhaupt ernst gemeint war.

«Das ist nicht die Antwort auf meine Frage.» Marusch spielte an ihrem goldenen Ohrring. «Gehörst du nun zu uns, oder bist du immer noch auf der Suche nach einer Familie, nach deinem Vater vielleicht?»

«Ich habe keine andere Familie als euch. Es ist fast so, als würde ich seit Jahr und Tag mit euch von einem Ort zum anderen ziehen. Und was meinen Vater betrifft: Das wäre die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Die einzige Spur, die es gab, hat sich im Nichts verloren.» Marthe-Marie schloss die Augen und hielt ihr Gesicht in die Sonne. «Eigentlich führt ihr Spielleute, und wenn ihr zehnmal zu den Unehrlichen gehört, ein gutes Leben. Ihr haltet zusammen, müsst nicht am Hungertuch nagen und seid frei. Ihr lebt besser als die Tagelöhner in den Städten. Ich hatte mir dieses Leben härter vorgestellt.»

«Es ist ein Auf und Ab. Und vergiss nicht: Wir sind nicht frei, sondern vogelfrei. Nicht anders als die Zigeuner. Wir haben keine Rechte, und wenn irgendwo ein Sack gebraucht wird, auf den man dreschen kann, dann wird uns diese Ehre zuteil. Seitdem du bei uns bist, haben wir viel Glück gehabt und gutes Geld eingenommen. Aber falls du dich entscheiden solltest, bei uns zu bleiben, wirst du auch schlimme Zeiten erleben. Allein der Winter. Ich würde es dir niemals übel nehmen, wenn du uns im Winter wieder verlässt.»

«Warum sollte ich das tun?»

«Du wirst frieren und hungern, Husten und Fieber werden dich quälen, du wirst tagelang in der Enge des Wagens hocken müssen, weil es nicht aufhört zu regnen oder zu stürmen.»

Marthe-Marie lachte. «Wie kannst du an so einem Tag an den Winter denken! Sieh dir doch die Schwalben an, da oben im blauen Himmel. Oder die Wiesen: Blumen und Schmetterlinge überall. Wer will da schon an Frost und Kälte denken.»

«Ja, wer will das schon», gab Marusch nachdenklich zurück. «Geht dir Jonas manchmal noch durch den Kopf?»

«Nein. Wie kommst du darauf?»

«Nur so. Du hast die letzten Nächte im Schlaf seinen Namen genannt.»

Marthe-Marie begann mechanisch am Saum ihres Ärmels zu zupfen.

«Hab ich das?» Sie verschwieg, dass sie nicht nur im Schlaf an ihn dachte und dass sie seine Nachricht immer bei sich trug.

Marusch nickte. «Wie ich dich und Jonas an dem Schreckensmorgen damals am Flussufer sitzen sah, wie er dich da fest umschlungen hielt und du deinen Kopf an seine Schulter lehntest, da hab ich gedacht, dass ihr beiden zusammengehört.»

«Was redest du da? Jonas Marx ist der künftige Schwiegersohn dieses ach so verdienstvollen Gelehrten.»

«Aber er ist doch noch gar nicht verheiratet mit dieser Magdalena. Trägst du ihm seine Verbindung zum Haus Textor nach? Hat Jonas, bevor er dir hinterher geschickt wurde, irgendetwas über dich oder deine Mutter gewusst? Natürlich nicht! Völlig ahnungslos ist er auf dich getroffen, und du wirfst ihm jetzt Dinge vor, auf die er niemals Einfluss gehabt hat.»

Marthe-Marie starrte auf den Pferderücken vor ihr. Warum musste ihr Marusch mit ihrer Fragerei so die Laune verderben?

«Wir kannten uns kaum.»

«Wie auch. So heftig, wie du ihn abgewiesen hast, blieb ihm ja nichts anderes übrig als der Rückzug. Obwohl – ich an seiner Stelle hätte nicht so schnell die Flinte ins Korn geworfen. Er mochte dich sehr, das hat jeder erkannt außer dir. Und ihr hättet gut zusammengepasst.»

«Er ist zu jung für mich.» Sie biss sich auf die Lippen. «Was hältst du übrigens davon: Diego hat mich vor kurzem gefragt, ob ich ihn heiraten möchte.»

«Dann tu das. Der meint es genauso ernst.»

«Der meint nie etwas ernst.»

«Du kennst ihn nicht. Also kannst du auch nicht unterscheiden, was er ernst meint und was nicht.»

«Na, dann schätz dich glücklich, dass wenigstens du es weißt. Als ob es nichts Wichtigeres auf der Welt gäbe.» Beleidigt verschränkte Marthe-Marie die Arme und rückte von Marusch ab, so weit es ging. Beiderseits des Tales erhoben sich zwei mächtige Bergmassive, talaufwärts lagen verstreute Höfe und eine kleine Stadt im Schutz einer mächtigen Burg. Über einer Herde Schwarzwälder Füchse mit langen blonden Mähnen und Schweifen zog ein Wanderfalke seine Kreise. Wie belehrend Marusch sein kann, dachte Marthe-Marie, sie führt sich manchmal auf wie eine alte Gevatterin.

Sie hörte, wie Marusch leise vor sich hin summte. Als sie sich ihr zuwandte, brach sie wider Willen in Lachen aus. Ihre Freundin hatte sich eine Hanswurstmaske mit riesiger roter Nase aufgesetzt.

«Um Himmels willen, wie siehst du denn aus?»

«Mein Narrengesicht. Das setze ich auf, wenn ich gegen eine Maruschkasche Regel verstoßen habe, deren wichtigste lautet: Streite nie mit einer Freundin über Fliegenschiss.»

Eine Lumpensammlerin mit Handkarren und prall gefülltem Korb auf dem Rücken kam ihnen entgegen. Was sie am Leib trug, sah noch elender aus als die Lumpenfracht, die sie mit sich schleppte. Als die Alte die maskierte Gestalt auf dem Kutschbock erblickte, schrak sie zusammen. Rasch senkte sie den Kopf und wollte an ihnen vorübereilen, doch Marthe-Marie hielt sie auf.

«Wartet, gute Frau. Ist die Stadt dort vorn bereits Wolfach?»

«Nein, Hausach.» Die Lumpensammlerin hustete bellend, dann zog sie laut hörbar Schleim im Hals hoch und spuckte in hohem Bogen aus. Ihre Hände und Unterarme waren von der Krätze gezeichnet. «An Eurer Stelle würde ich einen großen Bogen um Hausach machen. Leute wie Ihr sind dort nicht gern gesehen.»

«Wie meint Ihr das?»

«So wie ich es sage.»

Marusch nahm die Maske ab, und die Frau blickte ein wenig freundlicher.

«Will sagen, hier mag man keine Fremden.» Sie spuckte erneut aus. «Zu oft sind wir gebrandschatzt und geplündert worden, und wenn hier im Tal eine Seuche ausbricht, dann jedes Mal zuerst bei uns.»

«Aber die fürstenbergischen Städte sind doch reich?», wandte Marusch ein.

«Die Geldsäcke sitzen in Haslach und Wolfach. Hausach ist das Armenspital. Habt Ihr Lumpen übrig? Für die Papiermühlen?»

Marusch schüttelte den Kopf. «Leider nein.»

«Schade. Ach ja, noch etwas.» Sie wies auf ein steinernes Haus von respektabler Größe, das allein auf einer Brachfläche neben der Straße stand und merkwürdig verlassen wirkte. «Dort wohnt Meister Hämmerlin, der für die fürstenbergischen Lande seine blutigen Dienste verrichtet. Meidet also den Schatten des Hauses.» Sie bekreuzigte sich flüchtig, dann grinste sie. «Ich hätte übrigens Henkerstricke zu verkaufen, nur zwei Pfennige die Faser. Ihr wisst ja, eine davon im Beutel, und das Geld geht Euch niemals aus. Und schützt obendrein vor Ungeziefer.»

«Wenn das so ist», sagte Marusch lachend, «dann gebt schnell zwei Fasern her.»

Sie tauschten Ware und Geld, dann verabschiedete sich die Frau mit einem freundlichen «So behüte euch Gott».

«Desgleichen», gab Marusch zurück. Und leiser zu Marthe-Marie, die erschreckt auf das Anwesen vor ihnen starrte: «Was braucht ein Henker in dieser ärmlichen Stadt so ein prachtvolles Haus. Pfui!»

Sie stieß in ihr Horn und brachte den Tross zum Stehen. «Diese Nachricht wird Leo nicht gefallen. Morgen ist Pfingsten, und nach Flurumzug und Gottesdienst finden überall hier in der Gegend große Feste statt, mit Tanz, Wettlauf und Pfingstochsen. Wenn wenigstens unsere Musikanten aufspielen dürften.»

Sie sprang vom Wagen, um sich mit Sonntag zu besprechen, der wieder, wie es dem Rang eines Prinzipals gebührte, an der Spitze des Zuges fuhr. Kurz darauf kehrte sie zurück.

«Diego wird trotzdem in die Stadt reiten und um Spielerlaubnis bitten. Er lässt fragen, ob du ihn begleiten willst.»

«Nein.»

«Gut. Dann lass uns in der Nähe einen Lagerplatz suchen, die Sonne steht schon tief.»

Am Pfingstmorgen machten sie sich auf den Weg zur Pfarrkirche, die sich, wie es im Kinzigtal üblich war, etwas abseits der Stadt befand und für Dorf- und Stadtbewohner gleichermaßen offen stand. Da Diego, ganz wie es die Lumpenfrau prophezeit hatte, keine Lizenz hatte erwirken können, trieb nichts sie zur Eile. Der Tag stand ihnen für Müßiggang und Ablenkung offen.

Die Kirche war sehr alt und wirkte, wie alle Bauten hier, wenig gepflegt. Das Relief der Kreuzigungsgruppe über der kleinen Eingangstür war an vielen Stellen abgeschlagen, der Putz bröckelte in dicken Placken von den Mauern. Doch der Vorplatz war mit bunten Blumen und Maienzweigen liebevoll geschmückt, und die Bürger hatten sich festlich herausgeputzt.

«Sieh mal», sagte Marthe-Marie zu Diego, der neben ihr stand. «Diese riesigen perlenverzierten Kugeln, die die Frauen hier auf dem Kopf tragen. Wunderschön, wie wertvolle Kronen.»

«Und sieh mal, die vielen Bettler auf dem Kirchhof», gab er ungerührt zurück. «Nicht einen Kreuzer haben sie in ihren Bechern. Wenn ich die Blicke dieser ehrwürdigen Kirchgänger sehe, wundert mich nicht, dass man uns den Einlass in die Stadt verwehrt. Am liebsten würden sie uns wohl auch den Zutritt zur Kirche versperren.»

Sie musste ihm Recht geben. Die Menschen um sie herum starrten argwöhnisch herüber, einige begannen zu tuscheln. Sie war froh, als die Kirchenglocke zum Gottesdienst rief.

Das Gestühl vor dem Altar war bis auf den letzten Platz besetzt, dahinter herrschte dichtes Gedränge. Sonntag und seine Leute stellten sich nach hinten unter die Empore. Marthe-Marie versuchte sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal das Fest des Heiligen Geistes in einer Kirche gefeiert hatte, denn was nun folgte, erschien ihr höchst fremdartig. Aus dem Deckengewölbe fielen plötzlich glimmendes Werg und glühender Flachs herab, Kinder weinten, einige Frauen kreischten auf, als die Glut auf ihre Kleider schwebte, doch im nächsten Moment schon wurde von der Kanzel herab Wasser versprüht, was das Geschrei nur noch lauter machte.

«Der Heilige Geist komme über uns», murmelte Diego spöttisch und zertrat ein qualmendes Strohbüschel. «Offenbar sind wir hier nicht die einzigen Gaukler.» Da hob mit donnernder Stimme der Pfarrer zu predigen an, während von der Decke eine hölzerne Taube herabschwebte. Aus dem Augenwinkel nahm Marthe-Marie wahr, wie sich zwei zerlumpte Bettler hereinschlichen und die Kirchgänger um Almosen baten. Der Mann humpelte auf einem Holzbein durch die Menschenmenge, die Frau schob ihren dicken Bauch als sichtbares Zeichen ihrer baldigen Niederkunft vor sich her. Nur wenige Augenblicke später stellte sich ihnen der Kirchendiener in den Weg und versuchte, sie gewaltsam aus dem Gotteshaus zu drängen. Als sich die Frau wehrte, schlug er ihr mehrmals hart gegen die Schulter, dann geschah das Ungeheuerliche: Die Frau schlug mit geballter Faust zurück. Es kam zu einem Tumult, an dem sich etliche Kirchgänger beteiligten. Die Worte des Pfarrers waren kaum noch zu verstehen, heftige Schläge wurden ausgeteilt. Dann sah Marthe-Marie mittendrin Marusch, die sich schützend vor die schwangere Frau stellte. Aber der Kirchendiener stieß sie zur Seite und zerrte die Bettlerin an den Haaren, ihren Kumpan am Hosenbund zum Kirchenportal hinaus.

Marthe-Marie eilte hinterher, hinaus auf den Kirchplatz.

«Ihr verlaustes Hudelvolk!», brüllte der Kirchendiener gerade. «In den Turm werde ich euch stecken, ehe ihr überhaupt Amen sagen könnt.» Er versetzte der Schwangeren einen Tritt. In diesem Moment konnte sich der Bettler mit dem Holzbein losreißen und rannte erstaunlich flink zwischen den Grabstätten davon. Die Frau kauerte auf dem Boden und hielt sich stöhnend den Leib.

«Lasst sofort die Frau in Ruhe. Seht Ihr nicht, dass sie ein Kind erwartet?» Maruschs Augen blitzten vor Zorn. «Ihr solltet Euch schämen, im Hause des Herrn eine Schwangere zu prügeln.»

«Geht das Euch was an? Verschwindet.»

«Nur zusammen mit dieser Frau. Niemand wird sie in den Turm stecken.»

Inzwischen hatten sich auch die anderen Gaukler vor die Bettlerin gestellt. Der Kirchendiener blickte von einem zum anderen, stieß einen Fluch aus und schlurfte zurück in die Kirche.

«Wie heißt du?» Marusch half der Frau auf die Beine. Jetzt erst erkannte Marthe-Marie, dass sie noch sehr jung war.

«Apollonia.»

«Und wo sind deine Freunde?»

Von den Bettlern war kein einziger mehr zu sehen.

«Freunde? Feige Hosenscheißer sind das.»

«Sollen wir dich irgendwohin begleiten?»

«Nein, ich komme schon zurecht.» Die Bettlerin sprach in dem kehligen Dialekt der Ortenauer und war kaum zu verstehen. Haare und Gesicht starrten vor Dreck, ihre Stirn war blutverkrustet. Und sie stank erbärmlich. Mit zusammengepressten Lippen wandte sie sich ab und schwankte los, doch Marusch hielt sie am Arm fest.

«Warte. Wir sind Fahrende und haben unser Lager noch bis morgen hier am Ort. Gleich bei St. Sixt. Du kannst mit uns kommen.»

«Weiß nicht.» Die Frau schüttelte Maruschs Arm ab und ging davon.

Marthe-Marie sah ihr nach.

«Ist das dein Ernst? Du willst dieses Weib mitnehmen?»

«Warum nicht? Ich habe den Eindruck, dass sie noch nicht lange bei den Bettlern ist und ziemlich allein in der Welt steht. Sie könnte Mettel zur Hand gehen.»

Marthe-Marie spürte Unbehagen und Widerwillen in sich aufsteigen. In den Augen der Stadtbürger, ja selbst der Dorfbewohner mochten die Fahrenden ein zweifelhaftes Volk sein, doch jeder von ihnen, das war ihr längst deutlich geworden, verrichtete seine Aufgaben und seine Arbeit, ohne jemandem ein Leid zu tun. Was hatte da diese verwahrloste Bettlerin bei ihnen zu suchen?

«Jetzt schau mich nicht so entsetzt an», sagte Marusch. «Hast du vergessen, wie viele von uns früher vom Betteln gelebt haben? Entweder fügt sie sich unseren Regeln, oder sie muss wieder gehen. Falls sie sich überhaupt blicken lässt.»

Am späten Nachmittag tauchte die Bettlerin tatsächlich wieder auf. Wenigstens das Gesicht hätte sie sich waschen können, dachte Marthe-Marie, als Apollonia den Hügel zu ihrem Lager heruntergetrottet kam. Dann stutzte sie: Die Frau war so wenig guter Hoffnung wie sie selbst.

«Sie hat uns alle zum Narren gehalten. Sie erwartet gar kein Kind.»

Marusch lachte.

«Wenn sie jemanden zum Narren gehalten hat, dann die Kirchgänger. Ich habe auf den ersten Blick gesehen, dass die Schwangerschaft nur vorgetäuscht war.» Sie winkte Apollonia heran.

«Hast du es dir überlegt?»

Apollonia nickte. Jetzt erst sah Marthe-Marie, wie mager sie trotz ihres runden Gesichts war, und wie jung. Sie mochte kaum älter sein als Isabell.

«Gut.» Marusch zeigte auf Mettel. «Das ist Mettel, die Köchin. Ihr wirst du zur Hand gehen. Schlafen kannst du unter der Plane neben unserem Wagen, ich gebe dir später noch eine Decke.»

Beim Abendessen setzte sich Apollonia abseits der Gruppe.

«Besonders gesellig scheint unsere neue Freundin nicht zu sein», meinte Diego zu Marthe-Marie. «Mit ihr wird es wohl eng auf eurem Wagen; du könntest eigentlich wieder bei mir mitfahren.»

«Maruschs Gesellschaft ist mir lieber. Da bin ich vor Überraschungen sicher.»

«Du bist ganz schön nachtragend, weißt du das?»

«Nein. Ich weiß nur gern, woran ich bin.»

Er sah sie an und nahm, ohne Scheu vor den anderen, ihre Hand. «Wir beide», flüsterte er ihr ins Ohr, «gehören zusammen. Vielleicht bin ich in deinen Augen ein Narr und ein Tunichtgut, aber es ist mir ernst, und ich möchte, dass du mir das glaubst.»

Dann stand er auf und ging zu seinem Wagen.

Am nächsten Morgen war Apollonia verschwunden, und mit ihr ein prall gefüllter Münzbeutel aus Maruschs Kiste.

 

Die Tage wurden spürbar wärmer und die Abende länger. In Wolfach hatte die Truppe ein einträgliches Geschäft gemacht: Sieben Tage hintereinander hatten sie auf dem Vorplatz des mächtigen fürstenbergischen Schlosses gespielt, sieben Tage lang waren Hunderte von neugierigen und begeisterten Zuschauern zusammengeströmt, um die Attraktionen der Gaukler zu sehen, allen voran den Auftritt des Rechenmeisters, die Künste des Feuerschluckers und Pantaleons Kamel Schirokko. Und vor allem: Die Wolfacher gaben großzügig ihre Pfennige und Schillinge aus der Hand.

Woher der Reichtum dieser Stadt rührte, hatten sie täglich vor Augen: Ein Floß nach dem anderen, zusammengebunden aus gewaltigen Tannenstämmen, trieb die Kinzig in Richtung Rhein hinunter. Kräftige Männer manövrierten die Hölzer nur mit Stangen und unglaublichem Geschick durch Felsengen und Windungen, durch Geröllbarrieren und Stromschnellen. Von den Holzhauern, selbstbewussten, rauen Burschen, erfuhren sie, dass die Flöße nach Holland gingen – «Nicht nur die holländische Flotte, ganz Amsterdam ist aus unserem Schwarzwälder Holz gebaut.» –, dass unten am Rhein riesige Verbände zusammenkamen und mit Schindeln und Brettern, Holzkohle und Erz und mit den Waren der rheinischen Händler beladen wurden. Sie sahen, wie Narben an den Bergflanken, die tiefen Rinnen im Wald, in denen das Langholz talwärts zur Kinzig geriest wurde, wo die Floßknechte sie in den Einbindestuben zu Gestören banden.

Doch nicht nur für den Holzhandel wusste man in Wolfach den Überfluss an Wald und Wasser Gewinn bringend zu nutzen. Sie kamen an Ansiedlungen mit zahllosen Hütten, Lagerhäusern und rauchenden Öfen vorbei, wo Pechsieder und Teerschweler, Aschenbrenner und Schürknechte ihre schweißtreibende Arbeit verrichteten und die Glasbläser aus glühend-flüssiger Masse ihre Kugeln und Zylinder bliesen. Auf den kleineren Lichtungen waren qualmende Meiler aufgesetzt, in denen Buchenholz zu der begehrten Holzkohle verschwelte, um anschließend auf Maultieren oder in Buckelkraxen zu den Schmelzöfen der Glasbläser und Eisenhütten gebracht zu werden. Je weiter sie flussaufwärts kamen, desto häufiger trafen sie auf verwüstete Brachflächen mit niedergebrannten Meilern und zerstörten Hütten, in deren Umkreis weit und breit kein Baum, kein Strauch mehr wurzelte. Hier hatten die Menschen so gründlich ihre hässlichen Spuren hinterlassen, dass ihnen nichts übrig blieb, als weiterzuziehen, um an anderer Stelle von der Natur ihren Tribut zu fordern. Und als ob das nicht Raubbaus genug sei, entdeckten sie am Wegesrand immer wieder Fichten und Kiefern mit klaffenden Wunden: Am Stamm waren handbreite Kerben herausgeschlagen, an deren unterem Ende kleine Tonhäfen hingen, um das herausquellende Harz aufzufangen, diesen begehrten Rohstoff für die Pechhütten. Andere Bäume waren bereits vollkommen abgeschält: Löchrig, schwarz und zerfressen wie ein fauliger Zahn der Stamm, kahl das Geäst, wartete dieses tote Holz nur noch auf den nächsten Sturm, um zu Boden geschmettert zu werden.

In der württembergischen Grenzstadt Schiltach, die wie Wolfach von Flößerei und Holzhandel geprägt war, baten Leonhard Sonntag und Diego vergebens um eine Konzession. Vielleicht lag es daran, dass den Schiltachern der Sinn nicht nach Possen und Klamauk stand, war doch ihre zwischen Bergflanke und Kinzig eingezwängte Stadt in den letzten Jahrzehnten gleich dreimal abgebrannt und unter unendlichen Mühen und Kosten wieder aufgebaut worden, wie ihnen ein redseliger Holzknecht erzählte. Für einen der Brände habe man die Schuldige ausfindig machen können: eine Dienstmagd, die mit dem Teufel im Bunde stand und vom Dach des Salmenwirts einen Topf Flammen über die Stadt gegossen habe. Nachdem sie ihre Verbrechen endlich gestanden habe, sei sie zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt worden.

Angesichts dieser Geschichte war Marthe-Marie froh, in Schiltach nicht auftreten zu müssen. Diego hingegen schien enttäuscht. Hatte ihn doch das viergeteilte Hauswappen der Württemberger, das am Zollhaus prangte, einmal mehr zu begeisterten Vorträgen über Herzog Friedrich hingerissen, den seiner Ansicht nach einzigen Herrscher von Verstand und Weitsicht in dieser Zeit.

«Die Hirschstangen», hatte er Marthe-Marie erklärt, «stellen das ursprüngliche württembergische Grafenwappen dar. Die Rauten stehen für das Herzogtum Teck, die zwei Barben für die Grafschaft Mömpelgard im fernen Frankreich und die Reichssturmfahne für das hohe Privileg, in Reichskriegen an der Spitze streiten zu dürfen.» Er grinste. «Jedes Mal, wenn ich dieses Wappenschild irgendwo sehe, ist mir, als käme ich nach Hause.»

«Ich wusste gar nicht, dass du so gefühlsselig sein kannst.»

«Doch, das weißt du. Du willst es nur nicht wahrhaben.»

Marusch kam heran. «Auf, auf, ihr beiden Täubchen, es geht weiter. Ohne Rast bis Alpirsbach.»

Dass sie nun im protestantischen Württemberg waren, konnte man nicht übersehen. Marthe-Marie fiel auf, dass die zahlreichen Hof- und Feldkreuze, die sie bisher auf ihrer Reise begleitet hatten, verschwunden waren, ebenso die Dachreiter mit ihren Glöckchen, die dreimal am Tag zum Angelus-Gebet riefen. Und statt der Kapellen mit den hübschen Votivbildern, mit den Bitten und Danksagungen der Hirten an Sankt Wendelin, der Bauern an Sankt Antonius, fanden sie nunmehr deren zertrümmerte Reste.

Nachdem sie die Schenkenburg passiert hatten, wurde das Tal noch enger, und es ging spürbar bergan. Sie mussten häufiger eine Rast einlegen, um die Tiere zu schonen. Die prächtigen Höfe rund um Wolfach mit ihren großen Viehherden und üppigen Weiden waren längst den heruntergekommenen Hütten armer Granatschleifer oder Bergbauern gewichen, die noch in den dunkelsten Tälern, an den steilsten Hängen ihr Auskommen suchten. Die Böden waren steinig und karg, und im Frühjahr, so erzählte ein Hirtenbub Marthe-Marie bei einer Rast, musste die abgeschwemmte Erde in Körben wieder den Hang hinaufgeschleppt werden.

Es war bereits später Nachmittag, als vor ihnen der Kirchturm des alten Benediktinerklosters Alpirsbach auftauchte. Glasbläserhütten, Lohmühlen und stattliche Waldbauernhöfe mit riesigen Speichern kündeten vom Reichtum der Abtei.

Zum ersten Mal in diesem Juni war der Tag sommerlich heiß gewesen. Müde und verschwitzt schlugen sie ihr Lager etwas abseits der Fahrstraße auf einer großen Lichtung auf und führten die Tiere zum Tränken an einen Bach. Marthe-Marie setzte sich auf einen Stein und kühlte ihre Füße, während Agnes mit ihren Freunden an einer flachen Stelle planschte, bis sie alle von oben bis unten nass waren.

Valentin und Severin machten den Anfang, als sie sich splitternackt auszogen und ins Wasser sprangen. Nach und nach folgten die anderen Männer ihrem Beispiel. Selbst Mettel, Marusch und Lamberts Frau Anna zogen sich bis auf ein kurzes Leibchen aus. Sie spritzten, kreischten und tobten im Wasser nicht weniger ausgelassen als die Kinder, während die restlichen Frauen am Ufer standen und lachten.

«Man könnte meinen, die sind aus dem Tollhaus ausgebrochen», brummte Sonntag, der sich als Einziger seiner Truppe vornehm abseits hielt.

«Los, mein Löwe, zieh dich aus.» Marusch spritzte ihn nass. «Oder hast du Angst, dein schöner Bauch könnte Schaden nehmen?»

Diego tauchte prustend vor Marthe-Marie auf. Wassertropfen glitzerten wie Perlen auf seinen muskulösen Schultern und Armen. «Was ist mit dir?»

«Ich kann nicht schwimmen.»

«Ich auch nicht. Schau, es ist nicht tief, das Wasser reicht nur bis zur Hüfte.»

Er wandte sich um und durchschritt mit ausgestreckten Armen und auf wackligen Beinen den aufgestauten Bach. Da entdeckte Marthe-Marie zum ersten Mal die tiefe Narbe an seinem Rücken. Sie wirkte noch frisch.

«Und? Was ist?» Er winkte ihr zu, glitt aus und fiel bäuchlings ins Wasser.

«Siehst du», rief sie zurück, «deshalb bleibe ich lieber am sicheren Ufer.» In Wirklichkeit hätte sie um nichts in der Welt vor allen Leuten ihre Kleider abgelegt. Dass die Kinder oder auch Männer sich zum Baden nackt auszogen – gut. Für eine erwachsene Frau jedoch ziemte sich das ihrer Meinung nach nicht, mochten die Fahrenden auch anders darüber denken.

Inzwischen war Diego neben ihr aus dem Wasser geklettert und schüttelte seine Haare aus. Verstohlen betrachtete Marthe-Marie seinen gut gebauten, kräftigen Körper.

«Was ist das für eine Narbe?», fragte sie, als er sich sein Hemd überstreifte.

«Von einem Dolch.»

«Von einem Dolch? Erzählst du mir jetzt wieder eine deiner Räubergeschichten?»

»Nein.» Er verzog das Gesicht. «Das waren keine Räuber; das waren falsche Freunde, die glaubten, sie hätten mit mir noch eine Rechnung offen. Aber ich habe ihnen so zugesetzt, dass sie sich hoffentlich nie wieder blicken lassen.»

«Weißt du, was ich denke, Diego? Eine Frau wäre verraten und verkauft, wenn sie sich in deine Obhut begäbe. Mit dir würde sie ständig in Gefahr geraten.»

«Warum? Ich lebe doch noch.»

Sie schüttelte den Kopf. «Allein das wenige, was ich von dir weiß, macht mir Sorgen.»

Er strahlte sie an. «Das ist schön! Wenigstens sorgst du dich um mich.»

«Ach, hör auf. Nichts und niemanden nimmst du ernst.»

«Das ist nicht wahr.» Er zog die dunklen Augenbrauen zusammen. «Du etwa, du bedeutest mir mehr, als ich dir zeigen kann. Ich bin nicht der ewige Spaßmacher und Draufgänger. In mir drinnen sieht es ganz anders aus, ich – ich bin zum Beispiel ein ganz feiger Lump, wenn es um wirklich wichtige Dinge geht. Wie oft schon hätte ich dich am liebsten in den Arm genommen und geküsst – ich meine, nicht im Scherz oder als Komödiant, sondern als Mann, der eine wunderschöne Frau verehrt.»

Als Marthe-Marie schwieg, zog er sie in den Schatten einer Weide. Zärtlich strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und küsste sie unerwartet sanft auf den Mund. Sie ließ es geschehen, und schließlich erwiderte sie seinen Kuss.