36

Ende Februar setzte endlich Tauwetter ein. Doch das, worauf die Menschen ihre Hoffnung gesetzt hatten, gereichte ihnen gleichfalls zum Verderben: Binnen zweier Tage wurden die Schneemassen zu matschigem Brei, dazu ergossen sich immer wieder kräftige Schauer aus einem schweren, dunklen Himmel. Der Boden vermochte das Wasser nicht mehr aufzunehmen, Bäche und Flüsse traten über die Ufer und überfluteten an vielen Stellen die Landstraßen. Himmel und Erde schienen sich zu vermischen und eins zu werden in einem schmutzigen, nassen Grau.

Für die Spielleute war an Aufbruch nicht zu denken. Ihre Wiese stand unter Wasser, an manchen Stellen fast kniehoch. Statt ihrer ausgemergelten Maultiere hätte es dreier kräftiger Ochsen bedurft, um die Wagen und Karren aus dem Schlamm zu zerren. Und Leonhard Sonntag, Salome und Lambert kämpften immer noch gegen ihre Fieberanfälle.

Marusch machte sich ernsthafte Sorgen um ihren Mann. Hohlwangig und abgemagert lag er auf seinem Strohlager, die meiste Zeit mit geschlossenen Augen. Das ist nicht mehr der Prinzipal, den ich ihn Freiburg kennen gelernt habe, dachte Marthe-Marie. Wie alt er aussieht, alt und hilflos.

Auch Marusch wirkte verändert. Zwar waren zu ihrer Erleichterung Lisbeth und Antonia wieder auf den Beinen, doch um ihre Mundwinkel hatten sich tiefe Falten eingegraben, die Haut sah grau aus, ihre kräftigen dunkelroten Locken waren plötzlich fahl und strähnig. Und ihr Blick, der immer so viel Lebensfreude und Energie ausgestrahlt hatte, war müde geworden.

Wie sie jetzt ihrem Mann mit einem Schwamm die rissigen Lippen befeuchtete, zitterten Maruschs Hände, und in ihren Augen standen Tränen. In diesem Augenblick erwachte Marthe-Marie aus ihrer Lethargie.

«Er wird wieder gesund», flüsterte sie und erhob sich mühsam, um sich neben ihre Freundin zu setzen. «Ganz bestimmt.»

Marusch schwieg. Von draußen hörten sie Diegos Stimme, der zusammen mit Quirin und den beiden Artisten Graben um Graben zog, damit das Wasser unter den Wagen abfließen konnte. Kurz darauf steckte er den Kopf zur Tür herein.

«Könnte eine von euch vielleicht mithelfen, statt wie die Gräfinnen herumzusitzen? Ein wenig Bewegung an der frischen Luft würde euch gut tun.»

«Geh du», sagte Marthe-Marie. «Wenn er zu sich kommt, rufe ich dich.»

Marusch nickte und ging hinaus.

Diego führte inzwischen das Regiment. Ohne ihn, dachte Marthe-Marie manchmal, wäre hier längst alles aus dem Ruder gelaufen. Sie sah hinüber zu Lisbeth und Agnes, die eng aneinander gekuschelt schliefen. Irgendwann würde sie ihrer Tochter von dem Leben bei den Gauklern erzählen, von den guten und den schlimmen Zeiten im Kreise dieser Menschen. Denn dass sie die Gaukler verlassen würde, sobald dieser Winter vorbei war, wusste Marthe-Marie inzwischen.

In Waldsee kam nach der Schneeschmelze der Alltag der Menschen allmählich wieder in Gang. Die Menschen liefen barfuß, mit geschürztem Rock durch Dreck und Schlamm, Alte und Kranke wurden auf den Rücken genommen. Bald fand wieder regelmäßig Markt statt. Die ersten Bauern und Krämer besuchten mit ihren Waren die Stadt, Fremde wurden eingelassen, die Mühlen und Werkstätten nahmen ihre Arbeit wieder auf.

Antonia entdeckte als Erste, dass auf der Fahrstraße neben ihrer Wiese wieder schwere zwei- und vierspännige Frachtwagen rollten. Sie und Marthe-Marie errichteten gerade auf einer halbwegs trockenen Stelle das Dreigestänge für den großen Kessel – zum ersten Mal seit langer Zeit würde es wieder eine heiße Suppe für alle geben, wenn auch nur dünne Wassersuppe mit Gras und Löwenzahn.

«Sieh mal, die Wagen dort», rief das Mädchen. «Dem Himmel sei Dank, wir können aufbrechen.»

«Erst wenn dein Vater und die anderen wieder gesund sind.»

Antonia lachte. «Die sind schnell auf den Beinen, wenn ich ihnen sage, dass die Straßen wieder befahrbar sind.»

Als ob der Himmel ihre Worte unterstreichen wollte, brach in diesem Moment die Sonne durch das hohe Gewölk. Marthe-Marie empfand ihre Strahlen, diese erste milde Wärme der frühen Märzsonne, wie ein kostbares Geschenk. Zwei Tage später spannten sie ein und verließen die Stadt in Richtung Bodensee.

Einen halben Tagesmarsch weiter, auf einer Anhöhe des Altdorfer Waldes, mussten sie Halt machen, da die Maultiere bereits vollkommen erschöpft waren.

«Bleiben wir erst mal hier», beschied der Prinzipal, der in eine Decke gehüllt wieder seinen Platz auf dem ersten Wagen eingenommen hatte. «Hier ist es hell und sonnig, und nach Ravensburg ist es nicht mehr allzu weit.»

Kurz darauf standen die Wagen im kleinen Kreis um eine flackernde Feuerstelle. Kreuz und quer waren Schnüre gespannt, auf denen Decken, Strohsäcke und Kleider zum Trocknen hingen. Die Frauen machten sich auf die Suche nach ersten frischen Kräutern, die Kinder genossen es, endlich wieder im Freien toben zu können, und die Männer taten schlichtweg nichts: Mit ausgestreckten Gliedern saßen oder lagen sie auf den Wagen und streckten ihre Gesichter der Sonne entgegen.

Als es gegen Abend ging, rief Marusch die anderen mit ihrem Kutscherhorn zum Essen: Eine Kräuterbrühe dampfte im Kessel, mit wilden Beeren als Einlage, die die Vögel halb vertrocknet an den Sträuchern übrig gelassen hatten. Doch niemand mochte über dieses magere Essen murren, denn die Stimmung der Gaukler war mit diesen ersten Sonnentagen wie ausgewechselt. Die warme Jahreszeit lag vor ihnen, alles konnte nur besser werden. Einzig Marthe-Marie vermochte diese freudige Zuversicht nicht zu teilen. Den ganzen Nachmittag schon hatte eine Unruhe sie ergriffen, die sie sich nicht erklären konnte. Ihr war, als ob ein Gewitter in der Luft liege. Doch der blassblaue Märzhimmel versprach eine milde, trockene Nacht. Wahrscheinlich bin ich vollkommen überspannt, dachte sie und behielt ihre Empfindung für sich.

Die Kinder erschienen als Letzte zum Essen. Sie wirkten verängstigt, und Marthe-Marie sah sofort, dass Agnes fehlte. Da wusste sie, dass ihre Vorahnung sie nicht getrogen hatte.

«Wo ist Agnes?» Ihre Stimme zitterte.

«Wir haben sie überall gesucht.» Clara sah zu Boden. Es war ihre Aufgabe, auf die beiden Jüngsten zu achten.

Marusch packte ihre Tochter hart am Arm.

«Warum ist sie nicht bei dir?»

Clara begann zu weinen. «Wir haben Verstecken gespielt, und dann war sie auf einmal weg.»

Marusch holte aus und schlug ihr ins Gesicht.

«Lass sie.» Marthe-Maries Stimme war nur noch ein Flüstern. Ihr war, als habe eine unsichtbare Macht ihr alle Kraft aus den Gliedern gezogen. Diego war mit schnellen Schritten bei ihr, als sie schwankte und zu Boden sank.

«Beruhige dich.» Er strich ihr übers Haar. «Wir gehen sie suchen. Noch ist es hell. Und du bleibst hier, falls sie zurückkommt.»

Sie durchkämmten den Wald in alle Richtungen, schritten die Landstraße ab, ließen immer wieder das Horn ertönen, doch als sie schließlich die Hand vor den Augen nicht mehr sehen konnten, brachen sie die Suche ab.

Marusch brachte ihre Freundin in den Wohnwagen.

«Sie wird sich verlaufen haben. Bestimmt hat sie einen Unterschlupf gefunden. Die Nacht ist ohne Frost, sie wird nicht allzu sehr frieren. Du wirst sehen, morgen früh finden wir sie.»

«Sie wird sich zu Tode fürchten.»

«Nein. Deine Agnes ist eine richtige Gauklertochter. Eine Nacht im Wald hält sie durch.»

Jetzt erst begann Marthe-Marie zu weinen. Ihr ganzer Körper bebte, sie kam gegen das heftige Zittern nicht an, bis Diego sie schließlich festhielt und Marusch ihr einen Trank aus Ambrosius’ Apotheke einflößte. Danach lag sie still da, mit flachem Atem, nur hin und wieder drang ein unterdrücktes Stöhnen über ihre Lippen. Im Dunkel des Wagens tauchte Agnes’ lachendes, vorwitziges Gesicht auf, dann wieder sah sie sie im Unterholz liegen, mit gebrochenem Bein, zerschlagener Stirn, in den Fängen eines Raubtiers.

Sie ließen die ganze Nacht das Feuer brennen. Auch Diego und Marusch blieben wach. Immer wieder gingen sie hinaus, um Holz nachzulegen oder etwas abseits des Lagers in das Kutscherhorn zu blasen.

Irgendwann in der Nacht erschien Salome und legte ihre Hand auf Marthe-Maries eiskalte Stirn.

«Ich habe eben von Agnes geträumt. Sie ist wohlauf.»

Marthe-Marie schreckte hoch. «Wo ist sie?»

«Das konnte ich nicht erkennen. Aber sie ist nicht allein. Nun versuch zu schlafen, sie wird bald wieder bei dir sein.»

 

Bei Sonnenaufgang setzten sie die Suche fort. Diesmal ließ es sich Marthe-Marie nicht nehmen, mitzukommen. Sie schwärmten sternförmig in alle Himmelsrichtungen aus. Bald hatte Marthe-Marie einen schmalen Pfad entdeckt, der zu einem Weiher im Wald führte. Sofort packte sie die Angst, Agnes könne ertrunken sein. Sie sah die glatte dunkelbraune Wasseroberfläche vor sich, und wieder ergriff sie ein heftiges Schwindelgefühl.

Ein Rascheln schreckte sie auf. Nur wenige Schritte vor ihr flatterte ein Auerhahn aus dem Unterholz. Und dann sah sie die Gestalt zwischen den Bäumen stehen.

Er war es, auferstanden von den Toten, aus ihren Albträumen ins Leben getreten. Hatte sie eben geschrien? Für einen Moment setzte ihr Herzschlag aus, dann zog eine unsichtbare Kraft sie vorwärts. Wie unter Zwang setzte sie Schritt vor Schritt, immer dieses bleiche, verzerrte Gesicht vor Augen, das wie ein Totenschädel vor ihr aus dem Laubwerk schimmerte. Ganz nah war sie herangekommen, da hörte sie das Flüstern, erkannte, wie sich die vernarbten Lippen bewegten und Worte formten.

«Sie ist in meiner Gewalt», flüsterte die Stimme. «Hol sie dir im Steinbruch», und: «Kommst du nicht allein, bringe ich sie um.»

Marthe-Marie schloss die Augen. Dann war alles vorbei. Sie hörte Zweige knacken, sah kurz darauf einen Schatten die Böschung zur Landstraße hinaufhuschen, eine Hand legt sich ihr fest auf die Schulter. Mit einem erstickten Schrei fuhr sie herum.

«Himmel, was ist mit dir?» Marusch sah sie besorgt an.

«Es ist nichts», flüsterte sie. «Ich bin nur erschrocken. Ein Auerhahn. Hab ihn wohl aufgescheucht.»

Ihre Augen flackerten.

«Komm.» Marusch nahm sie beim Arm. «Ich bringe dich zurück. Du wartest am besten im Lager.»

Nur das nicht. Nur weg von den anderen, sie musste allein sein. Und den Steinbruch finden. Er hatte ihr Kind entführt und würde es töten, wenn sie nicht käme.

«Nein, lass mich. Geh weitersuchen, bitte.»

Maruschs Blick wurde fragend. «Du siehst aus, als wärest du dem Leibhaftigen persönlich begegnet. Was ist geschehen?»

Marthe-Marie ballte die Fäuste. «Wenn ich es doch sage. Ich habe mich nur erschrocken.» Unruhig sah sie sich um.

Marusch betrachtete sie prüfend, dann ließ sie sie los.

«Wie du meinst. Dann nehme ich den Pfad links vom Weiher.»

Marthe-Marie nickte nur. Ihr Widersacher war rechts des Weihers verschwunden. Sie wartete noch, bis Marusch im Unterholz verschwunden war, dann machte sie sich auf den Weg hinauf zur Straße.

Dort schlug sie, ohne nachzudenken, die Richtung nach Waldsee ein. Es ging leicht bergab. Hinter jeder Biegung vermutete Marthe-Marie ihren Verfolger, die Angst nahm ihr fast den Atem. Doch die Sorge um ihr Kind trieb sie Schritt für Schritt vorwärts, immer näher zu ihm. Womöglich war das das Ende ihrer Reise, das Ende ihres kurzen Lebens. Wenn Agnes nur nicht alleine sterben musste, dann würde sie mit Gott nicht hadern wollen.

Sie hatte kein Gefühl dafür, wie lange sie schon unterwegs war, als sie mitten auf der Straße einen deutlich von Menschenhand zugespitzten Knüppel liegen sah. Seine Spitze zeigte nach links.

Benommen trat sie an die Böschung am Wegesrand und entdeckte einen steinigen Pfad, der zwischen dichtem Strauchwerk nach unten führte. Ihre Füße tasteten sich wie selbständige Wesen voran, in ihrem Kopf hämmerte ein einziges Wort gleich den Schlägen einer Axt: Agnes! Als sie den Steinbruch erreichte, war niemand zu sehen.

«Hier entlang!»

Hinter den zur Seite gebogenen Zweigen eines Haselgebüschs erschien sein Gesicht, lächelnd, von der wulstigen Narbe grotesk entstellt.

«Du bist allein.» Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Er trat auf sie zu, ergriff ihren Arm und zerrte sie hinter den Busch, wo sich eine halbkreisförmige Freifläche vor abgeschlagenen Felsen befand.

«Wo ist meine Tochter?»

«Nicht weit von hier.»

«Ich will sie sehen.»

Er stieß ein kaltes Lachen aus. «Du hast hier keine Bedingungen zu stellen, Hexentochter. Los, dreh dich um.»

Sie gehorchte widerstrebend. Rasch band er ihr die Hände auf dem Rücken zusammen, dann stieß er sie zu Boden und kniete sich neben sie.

«Wenn du auch nur einen Schrei herauslässt», er zog einen Dolch aus seinem Gürtel und legte ihn neben sich, «dann steche ich zuerst dich, dann deine Tochter ab. Hast du das verstanden?»

Sie nickte.

Er griff ihr in die Haare. «Antworte gefälligst, wenn ich mit dir rede. Ob du mich verstanden hast?»

«Ja.»

«Lauter!»

«Ja!»

Er riss ihr Leibchen entzwei und betrachtete ihre nackten Brüste. Seine Lippen begannen zu zittern.

«Gibst du zu, dass du mit Satan buhlst, wie es schon deine Mutter getan hat?»

Sie starrte ihn entsetzt an.

Er spuckte auf ihre Brüste. «Gibst du es zu?»

«Nein.»

«Wie dumm von dir. Für jede Lüge wird sich die Qual deiner Tochter verlängern. Und deine auch.»

Er nahm den Dolch und fuhr damit sanft in die Spalte zwischen ihren Brüsten. Eine Kette feiner roter Blutstropfen trat hervor. «Gestehst du nun, dass du dich Satan in Wollust hingibst?»

«Ja.» Ihre Antwort war nur ein Hauchen. Sie schloss die Augen. Herr, auch wenn du mich aufgibst, um meiner vielen Sünden willen – rette wenigstens meine Tochter. Sie hat niemals etwas Böses getan.

Wie aus weiter Ferne hörte sie seine Stimme. «Ich weiß alles über dich. Meister Siferlin hat mir in den letzten Stunden seines Lebens verraten, dass du keine Mangoltin bist, sondern die Tochter einer Hexe, in sündiger Wollust gezeugt von einem Schlossergesellen namens Benedikt Hofer. Ja, da staunst du, was ich weiß. Dein Leben ist nichts als eine einzige Lüge, aus Dreck und Sünden zusammengebacken, nicht mehr wert als der Auswurf eines Siechen. Hast geglaubt, du könntest dich verstecken bei diesen Landstreichern. Doch mich, Meister Wulfhart, kannst du nicht in die Irre führen.»

«Woher – kennt Ihr meine Mutter? Woher – Siferlin?» Sie konnte kaum Sprechen vor Entsetzen.

«Ich war ja dabei.» Sein Kichern klang nun vollkommen irre. «Ich war dabei, wie mein Vater Catharina Stadellmenin die Daumen zu Brei gequetscht hat. Wie er sie aufgezogen hat, bis ihr die Sehnen gerissen sind. Ich hab ihr sogar eigenhändig die spanischen Stiefel angelegt –»

«Hört auf!!!»

Er schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. «Halt’s Maul und hör zu. Ich bin noch längst nicht fertig. Mein Vater war eine Memme. Er hat es kaum geschafft, sie zum Geständnis zu bringen. Schlappschwänze waren sie alle, wenn es gegen die Hexen ging. Genau wie dieser Textor, der sein Amt als Commissarius niedergelegt hat, weil sie ihm so Leid taten. Wäre ich damals bereits Henker der Stadt gewesen – ich hätte diese Brut mit einem Schlag vernichtet, dann wäre nicht vier Jahre später alles erneut losgegangen. Doch ich durfte ja nur Handlangerarbeit verrichten und musste mit ansehen, wie mein weibischer Vater die Wunden dieser Unholdinnen nach jeder Tortur versorgte wie ein Baderchirurg. Doch danach habe ich mir genommen, was mir zustand. Alle mussten sie ihre Beine breit machen, auch die Stadellmenin, als sie mit zerschmetterten Gliedern am Boden lag. Und weißt du, was mich deine erbärmliche Mutter in ihren letzten Momenten genannt hat? Einen dreckigen Hurensohn.»

Er holte Luft. «Ja, ich bin der Sohn einer Hure und eines Henkers. Das hat Gott mir als Schicksal auferlegt. Doch deine elende Mutter hatte am allerwenigsten das Recht, mir dies zu sagen. Dafür musste sie büßen. Und dafür, dass sie meinen großen Meister und einzigen Freund durch Verrat den Schergen ausgeliefert hatte.»

Seine Stimme wurde plötzlich dumpf. «Weißt du, wie es sich anfühlt, wenn man von der Stunde der Geburt an gemieden wird wie die Pest? Wenn auf der Gasse die anderen Kinder Steine nach dir werfen, du als Erwachsener in der Kirche, in der Schankstube abseits sitzen musst, auf diesem dreibeinigen Stuhl, den sie den Galgenstuhl nennen, und sich dir keiner auf mehr als drei Schritte nähert? Wenn du all die dreckigen Aufgaben übernehmen sollst, für die sich sogar Bettler und Aussätzige zu schade sind? Wenn du schon als Kind stinkende Kadaver abdecken musst oder bis zur Hüfte in Kloakengruben stehen? Wenn dir Abendmahl und kirchliche Trauung verwehrt sind und man dich nach dem Tod auf dem Schindacker verscharrt? Wenn nur gekaufte Frauen dir Lust verschaffen und dabei vor Abscheu das Gesicht verziehen? Nein, das weißt du nicht!

Nur Meister Siferlin fühlte weder Angst noch Ekel in meiner Gegenwart. Er hatte erkannt, dass wir im Inneren rein sind, weil wir uns derselben Mission verschrieben haben: nämlich die vom Teufel und von ihrer Triebhaftigkeit beherrschten Hexenweiber zu vernichten. Bis zu seinem Tod durch die Hand meines Vaters stand ich ihm zur Seite, und ich schloss mit ihm, bevor er aufs Rad geflochten wurde, einen Pakt: Ich gab ihm mein Wort, dich zu finden und zu töten; er versprach mir dafür das Gold, das du von deiner Mutter geerbt hast.»

In Marthe-Maries Gehirn rasten nur noch wirre Gedankenfetzen. Ihr war, als habe sich die Welt in Wahnsinn aufgelöst. «Es gibt kein Erbe.»

«Ich weiß wohl, dass du das Hexengold versteckt hältst, um es nicht mit deinen Gauklerfreunden teilen zu müssen. In deiner unstillbaren Gier läufst du sogar in diesen Lumpen herum und hungerst mit ihnen. Und ich weiß auch, wo du es versteckt hältst. Es ist im Haus deines Vaters. Alles hat Meister Siferlin mir verraten.»

«Glaubt mir, ich weiß nicht einmal, wo mein Vater lebt.»

Wieder schlug er ihr ins Gesicht.

«Lügen, Lügen, Lügen! Ich weiß, dass du auf dem Weg zu ihm bist.» Dann lächelte er. «Du wirst es mir schon verraten. Oder ist dein Balg dir weniger wert als ein Schlauch voller Gold? Aber es eilt ja nicht.» Er löste den Gürtel an seinem Wams. «Zuerst will ich mir den anderen Teil meiner Belohnung holen.»

Er erhob sich, zog Wams und Beinkleider aus und öffnete sein Hemd. Marthe-Marie starrte auf seine unbehaarte schmale Brust und die hoch aufgerichtete Rute, die von einer Länge war, wie sie es noch nie bei einem Mann gesehen hatte. Mit einem unterdrückten Schrei schloss sie die Augen.

«Schau nur hin.» Sein Lachen dröhnte ihr in den Ohren. «Du bist ein Gefäß der Sünde, Weib, aber wenn ich mit dir fertig bin, wird es nicht mehr zu gebrauchen sein!»

Im nächsten Moment spürte sie sein Gewicht auf ihrem Körper. Sie versuchte sich aufzubäumen. Er riss sie an den Haaren zurück, stemmte sich mit seiner ganzen Kraft zwischen ihre Beine. Das Letzte, was sie hörte, waren laute Schreie, dann krachte etwas gegen ihre Schläfe, ihr wurde schwarz vor Augen, und sie fiel in eine endlose finstere Schlucht.

 

Als sie die Augen aufschlug, spürte sie Agnes’ Lockenkopf sich an ihre Wangen schmiegen.

«Agnes!» Sie zog den Umhang weg, mit dem sie zugedeckt war, und umschlang ihre Tochter. So hatte sie es also überstanden. Sie war fast erstaunt, wie leicht der Tod vonstatten gegangen war.

Agnes begann zu weinen. «Der Mann war so böse.»

Erst allmählich verstand Marthe-Marie, dass sie immer noch in der Welt der Lebenden war, und das Grauen überkam sie von neuem. «Hat er dir weh getan?»

«Nein, aber er hat mir nichts zu essen und zu trinken gegeben und die Füße zusammengebunden, damit ich nicht weglaufen konnte.»

«Meine Kleine.» Sie lachte und weinte gleichzeitig. Da erst entdeckte sie ein paar Schritte weiter Marusch, Sonntag, Diego, Lambert und Quirin. In ihren Augen las sie einen stummen Ausdruck des Entsetzens.

«Wo ist er?», stammelte sie, als Marusch sich neben sie auf den Boden kniete. Ihr Kopf dröhnte.

«Im Steinbruch. Gefesselt und geknebelt. Du musst keine Angst mehr haben. Kannst du aufstehen, oder sollen wir eine Trage holen?»

«Nein, es geht schon wieder.»

Sie erhob sich mühsam und griff nach Agnes’ kleiner Hand. Wie warm sie sich anfühlte. Wie lebendig.

«Was ist geschehen?» Sie sah zu Diego. Sein Gesicht war leichenblass. An seiner Stelle antwortete Marusch.

«Nachdem du dich so seltsam benommen hast, bin ich dir heimlich hinterhergelaufen, und dann hab ich dich mit diesem Dreckskerl im Steinbruch gesehen. Ich bin sofort zurück, um Hilfe zu holen, und Gott sei Dank habe ich Diego und die anderen gleich gefunden. Wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen. Wie eine Furie ist Diego über den Kerl hergefallen, die anderen hinterdrein. Dabei hast du dann wohl auch einen Schlag gegen den Kopf abbekommen.»

«Hat er mich –?» Sie biss sich auf die Lippen.

Marusch lächelte. «Mach dir darum keine Sorgen.»

Marthe-Marie trat zu Diego und den anderen Männern, um sich zu bedanken. Aber sie brachte kein Wort heraus und sah nur schweigend von einem zum andern. In diesem Moment der Stille war nichts als der Wind zu hören, der leise in den Blättern rauschte. Sie schaute diese zerlumpten, ausgemergelten Menschen an, und sie spürte ihre Sorge und Liebe wie die wärmenden Strahlen der Sonne.

Ein heiseres Stöhnen drang aus dem Steinbruch, ein Ächzen, das kaum von einem menschlichen Wesen herrühren konnte. Ihr schauderte.

«Wir müssen ihn in die nächste Stadt vor Gericht bringen.»

«Nein.» Der Prinzipal räusperte sich. «Wir haben beschlossen, ihn zu töten.»

«Das könnt ihr nicht machen. Das hieße, Unrecht mit Unrecht zu vergelten.»

«Ihn in die Stadt bringen hieße, Unrecht mit Unrecht zu vergelten. Oder glaubst du, die Obrigkeit würde in solch einem Fall Recht sprechen? Hast du vergessen, wer dieser Wulfhart ist? Er ist der Sohn des Henkers deiner Mutter und inzwischen einer der berühmten Biberacher Scharfrichter. Sie würden ihn sofort freilassen, und Agnes und du ihr würdet niemals Ruhe finden. Womöglich würden dich sogar die Schergen holen und nach Freiburg ausliefern. Nein, Marthe-Marie, es gibt keinen anderen Weg, als das Schwein endgültig von dieser Erde verschwinden zu lassen. Soll seine Seele für ewig in der Hölle schmoren.»

Sie öffnete den Mund zum Protest, aber Marusch sagte schnell: «Denk daran, was er deinem Kind antun wollte!» Marthe-Marie sah von einem zum anderen und wusste, dass niemand die Gaukler von ihrem Entschluss abbringen konnte: Wulfhart würde sterben.

«Marusch bringt dich und Agnes ins Lager zurück», fuhr der Prinzipal fort. «Sagt Valentin, Severin und den Musikanten, sie sollen herkommen. Wir wollen besprechen, was zu tun ist. Ihr Frauen bleibt mit den Kindern im Lager. Wartet, da ist noch etwas. Wir haben den Kerl ein wenig zum Reden gebracht. Ganz offensichtlich war er auch hinter einem Wasserschlauch voll Gold her, dem Hexengold, wie er es nannte. Dieser Hartmann Siferlin hat es ihm als Lohn versprochen und wohl angedeutet, dass sich dieser Schatz in einem Haus befände, in dem du deine Wurzeln hast. Kannst du das erklären?»

«Dann seid ihr jetzt auch hinter dem Gold her?», entfuhr es Marthe-Marie. Doch sofort bereute sie ihre Bemerkung, denn Sonntag schüttelte nur müde den Kopf.

«Nein. Aber du hast Marusch einmal erzählt, dass deine Mutter nicht ohne Vermögen war und dass Siferlin, nachdem er sie auf den Scheiterhaufen gebracht hatte, das gesamte Erbe unterschlagen hat. Es ist dein Erbe, von dem hier die Rede ist, Siferlin scheint alles, was er ergaunert hat, irgendwo gehortet und versteckt zu haben. Was hat das also mit deinen Wurzeln auf sich?»

«Ich weiß es nicht.» In ihrem Kopf geriet alles durcheinander. «Es muss mit meinem leiblichen Vater zusammenhängen – vielleicht ist das Haus gemeint, in dem ich gezeugt wurde, in Freiburg.» Sie begann plötzlich zu weinen. «Ich will damit nichts zu tun haben, das ist doch alles vorbei.»

«Komm.» Marusch legte den Arm um ihre Schulter. «Gehen wir.»

Doch als sie die Fahrstraße erreicht hatten, blieb Marthe-Marie stehen. «Ich muss ihn noch einmal sehen.»

«Das ist nicht dein Ernst.»

«Geh du mit Agnes zurück. Bitte.»

Marusch sah sie besorgt an. «Es wird schmerzhaft für dich sein.»

«Trotzdem.»

Als sie sich dem Steinbruch näherte, hörte sie ein jämmerliches Wimmern. Sie trat hinter die Felsen und sah den gefesselten Wulfhart auf dem Boden kauern, mit dem Rücken zu ihr und nackt bis auf sein Hemd. Fast ratlos standen die Männer um ihn herum. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken, während sie näher trat. Wulfhart hob den Kopf und sah sie verächtlich an.

Das Herz schlug ihr bis zum Halse, doch ihre Stimme war überraschend fest, als sie sagte: «Meine Mutter war keine Hexe. Doch in dir steckt der Teufel.»

«Du dreckiges Satansweib.» In hohem Bogen spuckte er aus.

Das war der Augenblick, in dem die Tatenlosigkeit der Männer in ungebändigte Wut umschlug. Marthe-Marie hätte später nicht sagen können, wer angefangen hatte: Irgendwer trat, irgendwer schlug auf den Gefesselten ein, ein anderer zog ihn an den Haaren in die Höhe. Sie sah nur noch hassverzerrte Gesichter, hörte die dumpfen Schläge von Stöcken, dazwischen gellende Schreie, ein Messer blitzte auf, Blut schoss aus der Stelle, wo sich Wulfharts linkes Ohr befunden hatte, dann stak die Klinge bis zum Schaft in seiner Schulter, im nächsten Moment im Bauch. Alles Unrecht, das die Männer in den letzten Jahren erfahren hatten, schien sich in diesem blindwütigen Schlachtfest, diesem aberwitzigen Blutrausch zu entladen. Wie zäh Wulfhart war, wie er sich wehrte und wand gleich einem Fisch an der Angel. Sein Hemd war längst nur noch ein blutgetränkter Fetzen, Nase und Augen waren zerschlagen, als ihm plötzlich eine schleimige rote Masse aus dem aufgerissenen Mund quoll und seine Schreie in gurgelnden Lauten erstickten. Immer weiter stachen und prügelten die Männer auf ihn ein, auf diesen erbärmlichen Körper, aus dem das Leben nicht weichen wollte.

Entsetzt taumelte Marthe-Marie zurück und sank zu Boden, Hob nicht einmal den Kopf, als es um sie herum still wurde.

«Es ist vorbei», hörte sie neben sich Diego flüstern. Sie stieß ihn weg und sprang auf.

«Was seid ihr für Bestien!»

Dann stolperte sie davon, mitten durch das Strauchwerk, die Böschung hinauf auf die Fahrstraße. Nur fort von diesem Grauen, zu Agnes wollte sie und rannte, so schnell sie konnte.