11

Marthe-Marie blickte nach Norden, wo sich im fahlen Abendlicht die Wehr- und Wachtürme der freien Reichsstadt Offenburg abzeichneten. Morgen würde die Truppe dort mit ihrem Gastspiel beginnen, morgen würde sie durch diese Stadt gehen und herausfinden, wo ihr Vater wohnte. Und sich dann von den Gauklern verabschieden.

Es war Ende April. Viel länger, als sie je gedacht hätte, war sie nun schon mit den Fahrenden unterwegs. Vor allem von Marusch würde ihr der Abschied schwer fallen, aber auch von Diego und Jonas, wenn sie ehrlich zu sich selbst war. Selbst von Leonhard Sonntag, von der alten Mettel, von den beiden Artisten. Über allem schwebte die Angst vor dem Augenblick, in dem sie Benedikt Hofer zum ersten Mal gegenüberstehen würde.

Marusch hatte angeboten, sie zu begleiten.

«Ich stehe bei den Aufführungen ohnehin nur dumm herum, weil Leo mich nicht spielen lässt – von meiner albernen Tanzeinlage abgesehen.» Sie zwinkerte ihr zu. «Vielleicht wird sich das ja eines Tages auch einmal ändern. An den Höfen Italiens werden die weiblichen Rollen längst von Frauen gespielt. Schon vor dreißig Jahren gab es dort eine berühmte Schauspielerin namens Isabella Andreini.» Sie seufzte. «Da stehe ich und schwatze, und du siehst ganz elend aus. Aber glaub mir: So wie es kommt, so kommt es, da beißt die Maus keinen Faden ab. Uns bleibt nur, das Beste aus allem zu machen.»

Doch Marthe-Marie war entschlossen, allein zu gehen.

«Ich nehme Agnes mit mir, das wird mir Mut machen. Und jetzt muss ich an die Arbeit.»

Sie rief die Kinder zum Holzsammeln und schärfte ihnen ein, nicht zu nah an das Ufer zu kommen, denn die Kinzig führte von der Schneeschmelze im Schwarzwald hohes Wasser. Anschließend stellte sie mit Mettel die Gestänge für die Wasserkessel auf.

Die Alte schien zu bemerken, dass sie nicht bei der Sache war.

«Du denkst daran, dass heute dein letzter Abend ist, nicht wahr?»

Marthe-Marie nickte.

Mettel warf die frischen Karotten in die Suppe, die sie wie immer unterwegs vom Feld geklaut hatte. «Wirklich schade, dass du uns verlässt. Aus deinen zwei linken Händen sind eine linke und eine rechte geworden. Und überhaupt: Du hättest eine von uns werden können, das Zeug dazu hast du.»

An diesem Abend war die Stimmung gedrückt. Caspar, der älteste der Komödianten, war noch schweigsamer als sonst, der gutmütige Lambert und seine Frau Anna unterhielten sich nur im Flüsterton, der Prinzipal kaute lustlos an seinem Brot, und Jonas starrte, ohne zu essen, vor sich hin. Selbst die Kinder wagten nicht zu toben.

Marthe-Marie sah hinüber zu Diego, dessen Blick sie gespürt hatte. Er begann zu lächeln, aber seine grünen Augen blieben ernst. Sie stand auf und räusperte sich.

«Das ist mein letzter Abend bei euch, und ich möchte mich bei euch allen bedanken. Nur weiß ich nicht, wie ich meinen Dank ausdrücken soll. Worte sagen so wenig.»

«Dann lass es.» Der Prinzipal stand ebenfalls auf und nahm sie in seine fleischigen Arme. Nacheinander kamen alle aus der Truppe und umarmten Marthe-Marie, zuletzt Diego.

«Wem soll ich denn jetzt meine Geschichten erzählen?»

«Falls ich bei meinem Vater bleibe, besuche ich jede eurer Aufführungen. Dann sehen wir uns, solange ihr in Offenburg seid.»

Diegos Gesicht war ernst. «Das ist kein guter Einfall. Verabschiede dich von uns oder bleib mit uns zusammen. Eins von beiden.» Dann verließ er die Feuerstelle in Richtung Fluss.

Blieb noch Jonas. Ihr Beschützer und ihr Lebensretter. Seit dem Fest vor zwei Tagen hatten sie nicht mehr über das, was in Freiburg vorgefallen war, gesprochen. In jener Nacht hatte Jonas tatsächlich durchgesetzt, dass der Prinzipal Wachen aufstellen ließ, auch für die folgende Nacht. Fast schien Jonas besorgter als sie selbst, denn Marthe-Marie redete sich mit Erfolg ein, dass die nächtliche Gestalt vielleicht gar nichts mit ihr zu tun hatte. Dass sie den Fremden beim ersten Mal hatte hinken sehen, wie einst Hartmann Siferlin, schrieb sie nun ihrer Phantasie zu. Marusch sah das ebenso.

«Dass wir abends oder nachts belauert werden, gibt es immer wieder. Da ist Gesindel unterwegs, das uns sogar das wenige, das wir besitzen, nehmen will. Manchmal sind es auch nur halb verrückte Gaffer, die meinen, wir würden nachts irgendwelchen magischen Beschwörungen nachgehen, uns alle miteinander wollüstig im Gras wälzen oder gestohlene Kinder schlachten.»

Aber es war nicht nur Besorgnis, die sie in Jonas’ Gesicht lesen konnte. Es war auch Verlegenheit, wann immer sie sich allein begegneten. Lag es an dem Kuss? Sie war selbst ein wenig erschrocken gewesen, in jenem Augenblick. Weniger allerdings über den schüchternen Kuss als über ihr Bedauern, dass dieser flüchtige Moment der Zärtlichkeit so schnell vorüber war. Sie zwang sich, daran zu denken, wie jung Jonas war, ein Student noch, und dass er dieser Magdalena die Ehe versprochen hatte.

Wie ein schlaksiger großer Junge hockte er nun auf dem Boden und riss Grashalme aus. Fast konnte sie nicht glauben, dass er in Momenten der Gefahr wenn nicht die Kraft eines Bären, so doch den Mut eines Löwen bewiesen hatte. Sie fasste sich ein Herz und setzte sich neben ihn.

«Jetzt wirst du bald nach Straßburg zurückkehren.»

«Ja.»

«Freust du dich?»

Er zuckte die Schultern.

«Ich verdanke dir mein Leben, Jonas, auch wenn du nicht darüber reden magst. Ich hoffe, dass ich das eines Tages gutmachen kann. Zumindest würde ich es gern.»

«Es gibt nichts gutzumachen», entgegnete er leise. «Ich habe dich die ganzen Wochen angelogen. Das Einzige, was stimmt, ist, dass Magdalena meine Braut ist. Das Beste wäre, wir würden uns nie wieder sehen.»

Bevor sie diese harten Worte richtig begriffen hatte, hörten sie einen Tumult in der Dunkelheit. Marthe-Marie erkannte Mettels erregte Stimme, dann ein klatschendes Geräusch wie eine Ohrfeige. Kurz darauf erschien sie mit Isabell, der Freundin von Maruschs ältester Tochter Antonia. Mettel hielt das Mädchen fest am Arm gepackt und baute sich vor Leonhard Sonntag auf.

«Diese mannstolle Metze, ich habe es geahnt.»

Isabells linke Wange war gerötet, ihre Lippen trotzig zusammengekniffen.

«Du bist der Prinzipal. Sag mir, was ich mit ihr machen soll. Sie hat Maximus an den Hosenlatz gegrapscht.»

Hilflos blickte Sonntag zu seiner Gefährtin. «Nun ja, ich denke, in so einem Fall hat Marusch zu entscheiden.»

Marusch holte aus und verpasste dem Mädchen eine kräftige Maulschelle auf die andere Wange.

«Damit sollte es gut sein. Aber eins sage ich dir: Wenn du dich nochmal an einen unserer Männer heranmachst, verschwindest du auf Nimmerwiedersehen. Und jetzt ab in deinen Wagen.»

Marthe-Marie sah der Kleinen nach. Isabell zählte dreizehn, höchstens vierzehn Jahre. Sie hatte zwar schon Brüste und schwenkte bei jedem Schritt ihre Hüfte wie eine Kurtisane, aber im Grunde war sie noch ein halbes Kind.

«Zu wem gehört sie eigentlich?», fragte sie Marusch.

«Das ist es ja. Sie ist uns zugelaufen wie ein herrenloses Hündchen, in Basel, wenn ich mich recht erinnere. Eine Häuslerstocher aus dem Schwarzwald, die es in ihrer armseligen Hütte nicht mehr ausgehalten hat. Eine Zeit lang verdingte sie sich in der Stadt als Dienstmädchen, ist dann wohl vom Sohn ihres Dienstherrn belästigt worden oder noch mehr, so genau weiß das niemand. Jedenfalls hatte man sie vor die Tür gesetzt, und sie musste sich mit Betteln durchschlagen. Vielleicht auch noch mit anderen Dingen.»

Sie sah hinüber zu ihren Kindern. «Was mich mehr beunruhigt: Neuerdings ist sie Antonias beste Freundin, und Antonia wird immer bockiger und vorlauter. Wirft mit Ausdrücken um sich wie eine Straßendirne.»

An diesem Abend mochte niemand lange sitzen bleiben. Marusch und Marthe-Marie machten den Anfang.

«Überleg dir bis morgen, ob ich nicht doch mitkommen soll. Ich könnte Lisbeth mitnehmen, dann wird es Agnes nicht langweilig.»

Doch Marthe-Marie hatte sich entschieden. Der Gedanke, dass sie mit Marusch, deren Äußeres so offensichtlich eine Frau aus dem fahrenden Volk verriet, auf ihren unbekannten Vater treffen sollte, schreckte sie. Zugleich schämte sie sich für die Dünkelhaftigkeit dieses Gedankens. Sie fiel in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie jedes Geräusch hochfahren ließ.

Am Morgen erwachte sie vor Sonnenaufgang. Dichter Nebel hing über den Uferwiesen, als sie aus dem Wagen kletterte. Im Lager war alles still. Verschwommen sah sie die Umrisse der Weiden am Fluss, während sie barfuß durch das nasse Gras tappte. Nachdem sie sich erleichtert hatte, ging sie zu einem kleinen Bach, der hier in die Kinzig mündete, und wusch sich die Hände.

«Hexentochter!»

Sie schrie auf, doch da hatte sich schon eine schwielige Hand auf ihren Mund gepresst. Marthe-Marie schnappte nach Luft, wehrte sich verzweifelt gegen den Angreifer, der sie von hinten umklammert hielt, roch seinen fauligen Atem.

Er trat ihr in die Kniekehlen, und sie kippte mit einem erstickten Schmerzenslaut ins Gras. Alles geschah, wie sie es schon einmal erlebt hatte: Sie lag auf dem Rücken zu Boden gepresst, der Unbekannte stöhnend auf ihr. Doch jetzt, im Dämmerlicht des anbrechenden Tages, sah sie ihm zum ersten Mal mitten ins Gesicht. Ein junges Gesicht war es, mit eingefallenen Wangen, rot entzündeten Augen und einer wulstigen Narbe quer über der Oberlippe.

«Ja, glotz mich nur an», flüsterte er. «Mein Gesicht gefällt dir wohl nicht? Es war eine Hure wie du, die mir die Lippe zerschnitten hat.»

Blitzschnell stopfte er ihr einen schmutzigen Lumpen in den Mund.

«Jetzt hört dich keiner mehr. Und deine Bewacher schlafen. Vielleicht träumen sie von dir. Von deinen spitzen Brüsten, von deinen weißen Schenkeln. Lass das Zappeln!»

Er schlug ihr ins Gesicht.

«Es wird mir eine Wonne sein, für ein Weib nicht bezahlen zu müssen. Denn du gehörst mir. Erst dein Leib, dann dein Leben.»

Er griff ihr unter dem dünnen Hemd so hart zwischen die Schenkel, dass sie sich vor Schmerz und Entsetzen aufbäumte.

«Wenn wir damit fertig sind», wieder griff er ihr zwischen die Beine, «wenn dir Hören und Sehen vergangen sind, dann wirst du mir auch verraten, wo du deine Wurzeln hast, in welchem Haus du den Schlauch voller Gold versteckt hältst.»

Der Nebel begann sich zu lichten, funkelnd brachen die Strahlen der Morgensonne durch, und wie eine himmlische Erscheinung sah sie plötzlich hinter ihrem Angreifer Jonas stehen, breitbeinig, einen dicken Ast über dem Kopf erhoben. Dann schlug Jonas zu. Der andere sackte lautlos neben ihr zur Seite.

Jonas löste ihren Knebel und half ihr auf.

«Jonas! Vorsicht!»

Der Unbekannte hatte ihn am Fußknöchel gepackt und riss ihn zu Boden. Die beiden Männer begannen verbissen miteinander zu ringen, während Marthe-Marie sich hilflos nach dem Ast bückte und versuchte, den anderen damit zu treffen, ohne Jonas dabei zu verletzen. Doch es war unmöglich, zu eng hatten sich die beiden aneinander geklammert. Zwei-, dreimal gelang es dem Fremden, seine Faust Jonas ins Gesicht zu schlagen, dann gewann Jonas wieder die Oberhand. Dabei gerieten sie gefährlich nahe an den Rand eines steilen Abhangs, der zum Fluss führte. Jonas, der nun wieder unten lag, rammte mit einem Mal sein Knie in den Unterleib des Gegners. Der Fremde stieß einen gellenden Schmerzenslaut aus, rollte den Hang hinab und stürzte in die reißenden Fluten. Sie sahen noch, wie er unterging, wieder auftauchte wie ein Stück Treibholz und gleich darauf mit dem Kopf heftig gegen einen Felsen prallte. Dann verschwand sein Körper endgültig in den schäumenden Fluten und tauchte nicht wieder auf.

«Er ist weg», murmelte Marthe-Marie. «Du musst zu Ambrosius, deine Nase blutet. Vielleicht ist sie gebrochen.»

Sie ließ sich ins Gras sinken und begann haltlos zu schluchzen.

Jonas nahm sie in die Arme und streichelte ihr Gesicht. Verschwommen nahm sie wahr, wie hinter den Bäumen Diego und Marusch auftauchten, stehen blieben und wieder verschwanden.

«Es ist vorbei, Marthe-Marie. Jetzt musst du nie wieder Angst haben.»

Er wartete, bis sie sich beruhigt hatte, dann fragte er: «Hast du ihn gekannt?»

Sie schüttelte den Kopf. «Ich habe den Mann noch nie gesehen. Ich weiß nicht einmal, warum er mich verfolgt hat, warum er mich so abgrundtief hasst.»

«Du blutest auch.» Vorsichtig wischte er ihr das Blut aus dem Mundwinkel. Dabei sah er sie zärtlich an.

«Ich hab dich auch angelogen, Jonas. Ich weiß gar nicht, ob mein Vater in Offenburg lebt. Ich kenne ihn nicht.»

«Aber du hast doch erzählt, dass dein Vater dich Reiten gelehrt hat, dass er Soldat war.»

«Das ist mein Ziehvater. Es ist noch nicht lange her, da habe ich erfahren, dass meine Eltern nicht meine leiblichen Eltern sind.»

«Und wer ist nun dein Vater?»

«Er war Schlossergeselle, vielleicht ist er jetzt Meister. Vor vielen Jahren ist er von Freiburg weggezogen nach Offenburg.»

«Und deine Mutter?»

«Sie lebte in Freiburg. Catharina Stadellmenin hieß sie. Sie haben sie als Hexe verbrannt, 1599 war das.»

Er wandte den Kopf ab. «Also doch», hörte sie ihn murmeln.

Nachdem er nichts weiter sagte, stand sie auf. «Jetzt bist du entsetzt, nicht wahr?»

«Nein, du denkst das Falsche, es ist nur – ich hatte so etwas geahnt – ich meine –» Er erhob sich ebenfalls. «Was soll’s, ich will dich nicht weiter anlügen, jetzt wo mein Auftrag erfüllt ist.»

«Dein Auftrag?» Marthe-Marie spürte, wie Eiseskälte ihr in die Glieder fuhr.

«Ich sollte dich sicher nach Offenburg bringen und herausfinden, wer dich verfolgt. Und jetzt sind wir am Ziel angekommen, und dein Verfolger ist tot.»

«Wer hat dich beauftragt? Was – was wird da mit mir gespielt?»

«Es ist Dr. Textor. Ich bin sein Hauslehrer, und Magdalena ist seine Tochter.»

Sie stieß ihn von sich und rannte los, rannte quer über die Wiesen, mitten durch den Bach, dass es spritzte, weiter den Hügel hinauf, nur weg vom Lager, weg von Jonas. Alles hätte sie erwartet, nur das nicht.

«Himmel, Marthe-Marie, warte doch. Es ist nicht so, wie du denkst.» Sie hörte seinen keuchenden Atem hinter sich. «Er wollte dich schützen.» Jetzt hatte er sie eingeholt und hielt sie am Arm fest. «Textor wollte dich schützen, als er merkte, in welche Gefahr du geraten bist. Ich glaube, er wollte gutmachen, was er bei deiner Mutter versäumt hat.»

In Marthe-Maries Ohren begann es zu rauschen.

«Gutmachen?», schrie sie. «Wieder gutmachen, dass sie meiner Mutter die Glieder zerschmettert und ihr das Fleisch mit glühendem Eisen verbrannt haben? Dass man ihr vor einer johlenden Menschenmenge den Kopf abgeschlagen und ihren Leib auf den Scheiterhaufen geworfen hat? Das will dein sauberer Schwiegervater gutmachen?»

Sie schüttelte ihn ab. «Fass mich nicht an, du gehörst zu dieser Mörderbrut wie der Wurm zum Kadaver. Dein Dr. Textor und Hartmann Siferlin haben meine Mutter umgebracht.»

«Jetzt hör doch zu – vielleicht war damals alles ganz anders. Vielleicht hat Textor es verhindern wollen, und es war vergebens. Ich kenne ihn doch. Er kann kein Mörder sein.»

Sie starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Ihre Arme und Beine waren eiskalt, aber in ihrem Inneren glühte es.

«Marthe-Marie! Sieh mich nicht so an. Du weißt doch, wie es um mich steht. Ich hab dich lieb.»

«Ha! Gib Acht, was du sagst. Ich bin eine Hexentochter, meine Mutter hat mich alles gelehrt. Ich kann Hagel sieden und auf gesalbten Stecken durch die Lüfte fliegen. Halt dich fern von mir.»

Die Tränen strömten ihr über das Gesicht.

«Geh weg, Jonas Marx. Verschwinde! Ich will dich nie wieder sehen.»

 

Sie näherte sich der Stadtmauer vom Mühlbach her, vorbei an stattlichen Öl- und Papiermühlen, stillen Fischweihern und Waschplätzen, wo kräftige Weiber mit nackten Oberarmen ihrer harten Arbeit nachgingen. Sie spürte wohl, wie aller Blicke an ihr klebten. Dass eine Frau in vornehmem Gewand allein mit einem kleinen Kind an der Hand durch die Wiesen marschierte, sah man nicht oft. Doch Marthe-Marie war das mehr als gleichgültig. Sie fühlte sich leer und erschöpft. Ein zweites Mal war sie um Haaresbreite dem Tod entronnen, ein zweites Mal von Jonas gerettet worden. Aber das, was sie über ihn erfahren hatte, traf sie beinahe härter als der heimtückische Überfall dieses Irren. Der war tot, der konnte ihr nichts mehr anhaben, während sie nun ihr Leben lang in der Schuld von Jonas Marx stehen würde, dessen Familienbande untrennbar mit dem grausamen Ende ihrer Mutter verknüpft waren. Hätte er sie doch nur ihrem Schicksal überlassen, damals schon in Freiburg.

Es war später Morgen, sie hatte das Lager der Gaukler mitten im Aufbruch verlassen. Ihre wenigen Besitztümer lagen gepackt in der Reisekiste, die sie im Laufe des Tages holen würde, wenn die Truppe in der Stadt war. Auf diese Weise hatte sie den Abschied von Marusch noch einmal aufschieben können.

Als sie das Kinzigtor passierte, würdigte der Torwächter sie keines Blickes. Sie war überrascht von der Größe der Freien Reichsstadt Offenburg und der Vielzahl der prachtvollen Bauten, die die breite Straße vor ihr säumten. Zwischen den Marktständen und Lauben wimmelte es von Menschen, Karren und Fuhrwerken. Die Straße war ordentlich gepflastert, keine Löcher und Schlammrinnen, keine herrenlosen Hunde und umherstreunenden Schweine störten diese wohlgefällige Ansicht.

Linker Hand entdeckte sie ein stattliches Gasthaus. «Sonne» prangte in vergoldeten Lettern über dem Eingang. Davor wartete ein vornehmer Zweispänner. Hier würde sie sicher Auskunft erhalten.

Ein Bär von einem Mann stand hinter dem Tresen und spülte Krüge aus. Marthe-Marie grüßte höflich und fragte ihn nach dem Zunfthaus der Schlosser und Schmiede.

«Leicht zu finden.» Er zwinkerte Agnes freundlich zu. «Am besten geht Ihr zurück zum Kinzigtor, dort links in die Gerbergasse und gleich wieder die erste Gasse rechts. Das Zunfthaus könnt Ihr nicht verfehlen, es ist das größte Haus im Quartier. Ihr seid von auswärts, nicht wahr?» Neugierig musterte er erst Marthe-Marias dunkelgrünes Seidenkleid und dann Agnes in ihren alten Holzpantinen und dem zerschlissenen Kittel. Da ihre Kleidchen aus Konstanz längst zu klein geworden waren, trug sie die Sachen der anderen Kinder auf. Marthe-Marie stieg die Röte ins Gesicht, als sie den Blick des Wirts bemerkte. Hätte sie sich doch nur rechtzeitig um ein neues Kleid für Agnes gekümmert. Was mochte der Mann von ihr denken?

Sie bedankte sich hastig und wollte zur Tür.

«Wartet mal, junge Frau. Wen sucht Ihr denn im Zunfthaus?»

Die Frage hatte nichts Bedrohliches, und so antwortete sie freimütig: «Einen Schlosser namens Benedikt Hofer.»

Der Wirt legte die Stirn in Falten. «Benedikt Hofer? Nie gehört. Dabei hat die Schmiedezunft seit Jahren ihren Stammtisch bei mir. Vielleicht fragt Ihr mal den Zunftmeister persönlich.»

«Recht vielen Dank und behüte Euch Gott!»

«Nur werdet Ihr den Meister im Zunfthaus jetzt nicht finden. Bis zum Ave-Läuten ist er im Rathaus, er gehört nämlich zum Jungen Rat. Bleibt doch so lange hier mit dem Kind.»

Sie schüttelte den Kopf. Womöglich würde der Wirt sie als Nächstes fragen, woher sie die blauen Flecken im Gesicht habe oder ob sie allein reise.

Als sie wieder auf die Straße trat, begann Agnes zu maulen.

«Lisbeth spielen!» Zornig stampfte sie mit dem Fuß auf.

«Das geht jetzt nicht!» Marthe-Marie versprach ihr einen Weißwecken und fragte sich nach der Brotlaube durch. Hier am Fischmarkt war es angenehm schattig, auch wenn der Gestank von den Ständen kaum auszuhalten war. Die Händler räumten bereits ihre Schragentische zusammen, denn es ging auf Mittag zu, und es war bei hoher Strafe verboten, danach noch rohen Fisch zu verkaufen.

Agnes kletterte auf den Rand eines Brunnens, kaute auf ihrem Wecken und betrachtete versonnen den steinernen Löwen mit dem aufgerissenen Maul, während Marthe-Marie ihren Gedanken nachhing. Sie, die als Mädchen niemanden und nichts gefürchtet hatte, wünschte sich plötzlich nichts sehnlicher als jemanden, der sie bei der Hand nehmen und alle Entscheidungen für sie treffen würde. Was hatte sie nur in diese Lage gebracht? Warum war sie plötzlich zur Beute eines Besessenen, zum Schützling eines ihr bislang völlig Unbekannten geworden? Und wieso wollte sie nun einem wildfremden Menschen offenbaren, sie sei seine Tochter und Agnes sein Enkelkind? Hatte sie selbst das entschieden oder waren es Fügungen, die Gott ihr auferlegt hatte? Sie wusste nur eines: Zurück zu Jonas und den Gauklern konnte sie nicht.

Das Glockengeläut der Heiligkreuzkirche schreckte sie aus ihren Grübeleien. Rasch wusch sie Agnes’ Gesicht und Hände am Brunnen, strich ihr mit den Fingern durch das dichte Haar. Den dunklen Fleck am Saum des Kleidchens rieb sie, so gut es ging, mit Spucke und Wasser aus, dann machte sie sich auf den Weg ins Quartier der Schmiede und Schlosser.

Ein Lehrbub führte sie in die weitläufige holzgetäfelte Diele des Zunfthauses. «Wartet bitte, Meister Stöcklin müsste jeden Augenblick hier sein.»

Sie spürte, wie unter ihren Achseln der Schweiß stand, während sie wartete.

Endlich traf der Zunftmeister ein, geführt von dem Lehrbuben, der mit einem kurzen Nicken in ihre Richtung wies und sie dann allein ließ. Stöcklin trug die schwarze, respektheischende Amtstracht der Ratsherren: hüftlange Schaube, Barett und über der Weste schwere silberne Ketten.

«Wilhelm Stöcklin, Zunftmeister der Schmiede», stellte er sich vor, ohne ihr die Hand zu reichen. «Was führt Euch zu mir?»

«Ich suche einen Mann, der als junger Schlossergeselle einst von Freiburg hierher gekommen ist. Möglicherweise ist er jetzt Meister.»

«Sein Name?»

«Benedikt Hofer.»

«Kenne ich nicht. Wann soll er nach Offenburg gekommen sein?»

Stöcklin wirkte streng, seine Fragen hatten nichts von der freundlichen Neugier des Wirtes.

«An die dreißig Jahre wird es wohl her sein.»

Der Zunftmeister lachte trocken.

«Das hättet Ihr gleich sagen können. Damals war ich keine zehn Jahre alt. Wahrscheinlich ist er bald weitergezogen, weil er hier kein Auskommen gefunden hat. Tut mir Leid, aber ich kann Euch nicht weiterhelfen.»

Er deutete eine Verbeugung an und ließ sie stehen.

Und nun? Wohin sollte sie sich wenden? Einen Fuhrmann ausfindig machen, der sie für ihre spärlichen Spargroschen nach Konstanz mitnehmen würde?

Agnes riss an ihrer Hand. «Trinken.»

Marthe-Marie sah sie an. Sie fühlte sich mutterseelenallein.

«Gut, gehen wir noch einmal ins Gasthaus. Vielleicht hat ja der freundliche Wirt einen Becher Wasser für uns.»

Der Sonnenwirt schien sich tatsächlich zu freuen über ihre Wiederkehr.

«Da hat der Herrgott meine Bitte also erhört», lachte er und reichte ihnen einen Krug kalten Wassers. «Hattet Ihr Erfolg?»

«Nein. Der Zunftmeister kennt keinen Benedikt Hofer.»

«Dann ist es doppelt gut, dass Ihr nochmals gekommen seid. Da hinten sitzt der alte Semmelwein, er ist schon über siebzig, dabei heller im Kopf als die meisten von den Jungen. Ich hätte gleich an ihn denken sollen. Er kennt jeden hier, weil er Schulmeister war bis ins hohe Alter.»

Sie trat an den kleinen Ecktisch, wo ein hagerer Alter vor einer Pfanne mit gebackenen Eiern saß.

«Verzeiht, Gevatter, wenn ich Euch bei der Mahlzeit störe, ich habe eine Frage an Euch.»

«Nur zu.» Der Greis wies auf die leere Bank zu seiner Rechten und verzog den Mund zu einem zahnlosen Lächeln. «Hast du Hunger, Kleine?»

Agnes schnappte ohne Scheu nach dem Löffel voll Ei, den der Alte ihr vor den Mund hielt. «Und ob du Hunger hast! Das habe ich dir doch an der Nasenspitze angesehen.»

Er zog sie neben sich und fütterte sie bedächtig.

Marthe-Marie protestierte. «Das geht doch nicht. Euer ganzes Mittagsmahl.»

Semmelwein winkte ab. «In meinem Alter braucht man nicht mehr viel, und Kinder müssen wachsen. Wie heißt die Kleine?»

«Agnes.»

«Agnes. Ein schöner Name. Aber nun zu Euch: Was wolltet Ihr mich fragen?»

«Kennt Ihr den Schlossergesellen Benedikt Hofer? Er ist wohl vor etwa dreißig Jahren nach Offenburg gekommen.»

Der Alte schloss die Augen und saß einen langen Augenblick regungslos da. Dann ging ein Leuchten über sein faltiges Gesicht.

«Der Benedikt.» Er schüttelte den Kopf. «Fast hätte ich ihn vergessen – Gott möge mir verzeihen. Es ist eben schon so lange her. Seid Ihr verwandt mit ihm?»

«Nun ja – er ist mein Oheim.» Marthe-Marie klopfte das Herz bis zum Hals.

«Der Benedikt mit seinem blauen Auge und seinem braunen Auge.» Wieder schüttelte er den Kopf. «Er war ein lieber Kerl.»

«War? Ist er – ist er tot?»

«Um Himmels willen, ich wollte Euch nicht erschrecken.» Semmelwein legte ihr die fleckige Hand auf den Arm. «Er ist nicht lange hier geblieben, zwei, drei Jahre vielleicht. Er hatte erfolgreich sein Mutjahr absolviert, doch dann lief vieles anders, als er erhofft hatte. Ihr wisst ja vielleicht, dass ein fremder Geselle erst ein Jahr bei einem zünftigen Meister arbeiten muss, bevor er das Bürgerrecht erkaufen und seine Meisterprüfung machen darf. Das Bürger- und Meistergeld hatte er sich vom Munde abgespart, doch als es dann so weit war, hat irgendwer verhindert, dass er sich in die Zunft einkaufen konnte.» Er seufzte. «Tja, Neider und Ränkeschmiede gibt es überall, auch unter den ehrenwerten Bürgern dieser Stadt.»

Marthe-Marie hatte ihm atemlos zugehört.

«Und wo ist er jetzt?»

«Ich weiß es nicht. Er hat immer von einer Reise ans Schwäbische Meer geträumt. Vielleicht lebt er jetzt am Bodensee – er ist ja um einiges jünger als ich», fügte er hinzu, wie um ihr Hoffnung zu machen.

Fast schmerzhaft spürte sie die Enttäuschung in sich aufsteigen.

«Ihr müsst wissen», der Alte begann krampfhaft zu husten, das viele Reden schien ihn anzustrengen, «Ihr müsst wissen, dass Benedikt recht verschlossen sein konnte. Er war geradlinig, hatte das Herz am rechten Fleck, aber irgendetwas schien ihn zu bedrücken. Wir saßen oft zusammen. Damals war ich noch Schulmeister und Organist in der Heiligkreuzkirche, wo Benedikt im Chor sang. Ein begnadeter Sänger. Wir hatten uns bald angefreundet und pflegten jeden Sonntag nach der Kirche unseren Schoppen drüben in der Kesselgasse einzunehmen. Was ich schon damals nicht verstanden habe: Er war ein gut aussehender Bursche, an jedem Finger hätte er zehn Mädchen haben können, doch er wollte von keiner etwas wissen.»

«Hat er Euch gesagt, warum er von Freiburg weg ist?»

«Nein. Aber ich vermute, wegen einer Frau.»

«Und – warum kam er gerade hierher, nach Offenburg?»

«Seine Ahn mütterlicherseits lebte hier. Er hat sie sehr verehrt. Sie hieß übrigens auch Agnes, wie Eure Tochter. Als sie starb, war das wohl Anlass genug für ihn, der Stadt den Rücken zu kehren.»

Agnes war an seiner Schulter eingeschlafen, satt und zufrieden. Marthe-Marie starrte vor sich hin. Ihr Weg nach Offenburg war also umsonst gewesen. Plötzlich hallte in ihren Ohren die unsinnige Frage des Irren wider: Wo hast du deine Wurzeln, wo hast du das Gold versteckt? Sie besaß weder das eine noch das andere. Geboren war sie im elsässischen Ensisheim, gelebt hatte sie in Innsbruck, in Wien, in Konstanz. Ihre Mutter hatte man in Freiburg als Hexe verbrannt, ihr Vater war spurlos verschwunden. Nein, sie hatte keine Wurzeln. Sie war schlechter gestellt als jeder Hintersasse, jeder Lernknecht, der um seinen festen Platz in dieser undurchschaubaren Welt wusste. In nichts unterschied sie sich vom Volk der Fahrenden und Gaukler. Sie war eine Heimatlose.