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Emanuel Legge kehrte ins Bloomsbury Hotel zurück, wo er logierte. Kein Brief war für ihn da, kein Besucher hatte nach ihm gefragt. Sieben Uhr. Ob Jeff seine Ungeduld gemeistert hatte? Er mußte ihn warnen. Jonny Gray war tot oder lag in einem Krankenhaus, kam jedenfalls nicht mehr in Betracht, und Peter Kane konnte im Augenblick schwerlich etwas ausrichten. Mr. J. G. Reeder beschäftigte Emanuels Gedanken weit mehr. Dieser langweilige Geheimagent mit der kläglichen Stimme, seine überraschenden Sachkenntnisse und unaufhörlichen Anspielungen auf Jeffrey, machten ihn sehr unruhig. Jeff mußte England verlassen, solange es noch Zeit war. Wenn er nicht so ein Narr gewesen wäre, hätte er schon an diesem Abend die Reise antreten können. Jetzt war es unmöglich.
Peter war nicht im Carlton gewesen, sonst hätten die dort aufgestellten Beobachter etwas von sich hören lassen. Wenn Emanuel nicht die beunruhigende Unterhaltung mit Reeder gehabt hätte, wäre er Peters wegen besorgter gewesen, denn Peter Kane war dann am gefährlichsten, wenn er zu zögern schien.
Um acht Uhr abends brachte ein Knabe einen Brief ins Hotel. ›E. Legge‹ stand auf dem schmutzigen, abgegriffenen Umschlag. Emanuel nahm den Brief mit in sein Zimmer hinauf und schloß erst die Tür ab, bevor er ihn öffnete. Er kam von einem in alles eingeweihten Gehilfen Jeffs, dem ersten Adjutanten des ›großen Druckers‹, einem unbedingt zuverlässigen, aber ungebildeten Mann. Sechs eng beschriebene Seiten, voll von Fehlern und Tintenklecksen - Emanuel las den Brief ein paarmal und war sehr bestürzt.
Jonny Gray ist glücklich aus dem Tunnel heraus und will zu Reeder, um zu pfeifen‹, begann die Botschaft dramatisch, doch das war nur der Anfang.
Emanuel begab sich an diesem Abend in einen Klub im Westend von London, in dessen Listen sein Name auch über all die Jahre hin geführt worden war, als er kaum Gelegenheit gehabt hätte, seine Mitgliedschaft auszuüben. Der Klub befand sich im dritten und vierten Stock eines Gebäudes, dessen untere zwei Stockwerke an einen italienischen Restaurateur vermietet waren. Verschiedene Eigentümlichkeiten zeichneten sowohl den Highlowklub als auch das Gebäude, in dem er sich befand, aus. Zum Beispiel existierte keine Treppe zu den Klubräumen hinauf. Von der Straße aus traten die Mitglieder in einen engen, separaten Korridor, der neben dem Restauranteingang lag, und von dort fuhr sie ein Lift direkt in den dritten Stock hinauf. Die Behörden hatten beim Erteilen der Baubewilligung darauf bestanden, daß an der Hauswand nach dem Hof hinaus eine stabile Rettungsleiter, die bei Feuergefahr Sicherheit bieten sollte, angebracht wurde. Den Mitgliedern paßte diese Vorschrift recht gut. Viele von ihnen pflegten die Klubräume überhaupt nur auf letzterem Wege zu betreten. Zu diesem Zweck stand meist ein Fenster offen.
Auf dem flachen Dach des Hauses gab es noch einen kleinen Oberbau, der von den Mitgliedern nicht benützt werden konnte. Ebenfalls nicht allgemein zugänglich war das ganze Erdgeschoß.
Als Emanuel Legge aus dem Lift in den breiten, mit Teppichen belegten Gang des Klubs hinaustrat, wurde er von dem livrierten Portier, der von seinem Sitz aus den Aufzug und die Räumlichkeiten überwachte, ehrerbietig begrüßt. Daß Emanuel im Highlowklub Hochachtung genoß, hatte seinen guten Grund. In Wirklichkeit war er der Besitzer des Klubs. In den Jahren, als er im Gefängnis saß, hatte sein Sohn den Betrieb überwacht.
Der Portier, ein ehemaliger Boxer und eine imposante Erscheinung, der gerade darum auf diesen Posten gesetzt worden war, kam eilig hinter seinem Pult hervor.
»Jemand da?« fragte ihn Legge.
Stevens nannte einige Namen.
Der Highlowklub besaß seltsamerweise kein gemeinschaftliches Gastzimmer. Die beiden Stockwerke umfaßten vierzehn einzelne, getrennte Speisezimmer und einen großen, elegant möblierten Spielsaal. Die Mahlzeiten wurden vom italienischen Restaurant geliefert und in einem besonderen Aufzug ins Anrichtezimmer des Klubs befördert. Eine eigentliche Geselligkeit gab es unter den Mitgliedern nicht, und die wenigsten von ihnen kümmerten sich um die internen Geheimnisse des Klubs. Weder wußten sie, daß Emanuel Legge das Unternehmen dirigierte, noch daß er während seiner fünfzehnjährigen, unfreiwilligen Abwesenheit durch seinen Sohn vertreten worden war. Letzteres war nicht einmal Peter Kane, dem einstigen Spießgesellen, bekannt.
»Ich möchte das Klubbuch sehen«, sagte Legge.
Der Portier holte aus seinem Pult einen roten Band, in dem Emanuel zu blättern begann. Sein Zeigefinger lief schnell die Seiten hinab und machte plötzlich halt.
»Ach ja ...« Er schloß das Buch und gab es zurück.
»Erwarten Sie jemand, Mr. Legge?« fragte Stevens.
»Nein, ich erwarte niemand.«
»Wie ich hörte, hat Mr. Jeffrey heute geheiratet, Sir? Das ganze Personal wünscht ihm Glück .«
Das ganze Personal wünschte keineswegs Glück. Weder beim Personal noch bei den Mitgliedern waren die beiden Legges, sofern man sie überhaupt kannte, sonderlich beliebt.
»Das ist sehr nett von Ihnen, wirklich nett«, brummte Emanuel.
»Essen Sie hier, Sir?«
»Nein, nein, ich esse nicht hier. Ich wollte nur einmal hereinschauen, weiter nichts.«
Er öffnete die Lifttüre, und erleichtert sah ihn Stevens hinunterfahren.
Es war halb neun, und die Lichter begannen zu funkeln, als Emanuel auf die Shaftesbury Avenue zuging. Glücklicherweise befand er sich gerade an der Ecke einer Seitenstraße, sonst wäre er Peter Kane direkt in die Arme gelaufen. Er konnte schnell in einer Toreinfahrt in Deckung gehen und beobachten, wie Kane, in Gedanken versunken, die Augen auf den Boden geheftet, vorbeiging. Unter dem leichten Überzieher trug er noch immer den Frack. Dem Klub gegenüber blieb er stehen, schaute eine Weile hinauf und ging dann weiter.
Legge, der ihm heimlich folgte, lachte still vor sich hin. Der Klub konnte an diesem Abend keine angenehmen Erinnerungen in Peter Kane wachrufen. Im Highlow hatte er ›Major Floyd‹, einen jungen Kanadier von angenehmem Äußeren, zum erstenmal getroffen. Dort war Peter in die Falle gegangen. Jeff Legges Auftritt als Major Floyd war mit großem Geschick bewerkstelligt worden, und da Peter nur selten in den Klub kam, mußte er erst auf unauffällige Weise hingelockt werden. An dem vorgesehenen Abend hatte Peter den, wie er meinte, ahnungslosen jungen Mann in den Händen einer Falschspielerbande angetroffen und ihn aus so gefährlicher Umgebung ›gerettet‹. Aus großer Dankbarkeit hatte ihm dann der ›Major‹ bei der ersten Gelegenheit einen Besuch abgestattet. So außerordentlich einfach war es gewesen, Peter zu fangen. Es würde, dachte Emanuel, für Peter weit schwieriger sein, ihn zu fangen.
Er wartete, bis die Gestalt im abendlichen Gewühl verschwand und wandte sich wieder der Avenue zu. Nach diesem eher unterhaltsamen Zwischenspiel kehrte das Bewußtsein der ernsten Gefahren und Möglichkeiten zurück, deren drohendste Überführung des ›großen Druckers‹ hieß. Reeder, Gray, Kane - sie alle arbeiteten darauf hin, wenn auch von verschiedenen Punkten aus. In dieser Nacht noch mußte eine Entscheidung fallen - Sieg oder Niederlage. Noch hatten sie ein Pfand von unschätzbarem Wert in Händen - Kanes Tochter mit Leib und Seele.
Bald nachdem er Peter aus den Augen verloren hatte, tauchte eine andere bekannte Person auf. Mit eiligen Schritten kam ein Mädchen die Straße entlang und verschwand im Klubeingang. Trotz der Bedenken des Liftführers bestand sie darauf, hinaufgefahren zu werden. Der Portier hörte die Warnglocke und wartete, bis die Lifttüre aufging. »Wo ist Emanuel?« fragte Lila.
»Soeben weggegangen«, sagte der Portier.
»Das ist eine Lüge. Wenn er eben erst weggegangen wäre, müßte ich ihn gesehen haben.«
Sie befand sich offensichtlich in großer Erregung. Stevens, der den Grund erriet, versuchte zu scherzen:
»Es hat heute eine Hochzeit gegeben, wie? Aber was hat es für einen Zweck, Lila, Skandal zu machen? Sie wissen doch, daß Sie nicht herkommen dürfen. Mr. Legge hat befohlen, Sie nicht einzulassen, solange Sie bei Kane in Stellung sind.«
»Wo ist Emanuel?« wiederholte sie.
»Ich sage Ihnen, er ist weggegangen - so glauben Sie es doch endlich!« »Ist er in sein Hotel gegangen?«
»Jawohl, so ist es. Nehmen Sie jetzt Vernunft an, liebes Kind! Es kann jemand kommen. Jonny, Gray war gestern abend hier, und er ist ein Freund von Peter.«
»Jonny weiß alles über mich«, widersprach sie ungeduldig.
»Außerdem habe ich Peters Haus verlassen.«
Sie machte kehrt. Vor dem offenen Lift zögerte sie noch einen Moment, dann trat sie rasch hinein.
Bis halb zehn hatte der Portier zu tun. Die Gäste kamen einzeln oder in kleinen Gruppen und wurden nach dem Buch kontrolliert und eingetragen. Stevens sah auf die Uhr.
»Fünf Minuten nach halb zehn«, sagte er und drückte auf einen Klingelknopf.
Ein Kellner erschien.
»Eine Flasche Wein nach Nummer dreizehn«, trug ihm Stevens auf.
Der Kellner blickte ihn überrascht an.
»Nummer dreizehn?« wiederholte er, als traute er seinen Ohren nicht.
»Ja, ganz richtig.«