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»Hallo, Jonny! Du machst wohl ein Trostrennen?«

Gray lachte.

»Du meinst das Mädchen? Sie ist recht nett, nicht wahr?«

»Sehr nett.«

Hatte er etwas gehört? Das war die bange Frage, die Jonny sich stellte. Die Marmorbank war kaum, drei Schritte von dem Busch entfernt, hinter dem Peter stand. Falls er schon eine Weile da gestanden hatte ...

»Hast du mich gesucht? Bist du schon lange da?«

»Nein, ich sah gerade, wie Lila wegging - ein sehr nettes Mädchen, Jonny, ein ungewöhnlich nettes Mädchen. Ich erinnere mich nicht, ein netteres gesehen zu haben. Worüber habt ihr denn gesprochen?«

»Über das Wetter und die wahre Liebe.«

»Alles unbeständige Dinge, wie?« Peter nahm Jonny am Arm und führte ihn über den Rasenplatz. »Komm und iß, mein Junge. Diese Leute gehen bald weg. Marney zieht sich eben um. Was hältst du von meinem neuen Schwiegersohn?«

Er war unverändert guter Laune. Als sie in den Empfangssalon kamen, und Peter den Arm um die Schulter seines Schwiegersohns legte, atmete Jonny erleichtert auf. Gott sei Dank, er wußte nichts! Die Vorstellung, was geschehen wäre, wenn Peter die Wahrheit entdeckt hätte, peinigte ihn noch eine ganze Weile.

Sechsunddreißig Personen nahmen im Eßzimmer an der Tafel Platz. Ganz oben saß Marney. Entgegen dem allgemeinen Brauch trug sie ein Reisekleid. Links von ihr saß Peter, neben ihm der Geistliche, der die Trauung vollzogen hatte. Dann kam eine Freundin der Braut und danach ein Mann mit ledernem Gesicht, neben dem Jonny sogleich Platz nahm, nachdem er ihn erkannt hatte.

»Fort gewesen, Jonny?« Kriminalinspektor Craig stellte diese Frage mit so geschickt abgedämpfter Stimme, daß niemand sonst sie hören konnte.

Das ständige Summen der Unterhaltungen und das rauschende Lachen an der Hochzeitstafel trugen dazu bei, daß auch ihr weiteres Gespräch ungestört blieb.

Barney reichte eine Schüssel herum. Craig warf seinem Nachbar einen Seitenblick zu.

»Peter hat noch den alten Barney. War nie ein schlechter Kerl. Ich glaube, er hat nur einmal gesessen, und auch das wäre ihm nicht passiert, wenn er Peters Begabung gehabt hätte.«

»Peters Begabung?« fragte Jonny.

»Ich rede nicht von seiner jetzigen Begabung, ich denke daran, was er vor vierzehn, fünfzehn Jahren war. Wie glänzend entwarf er seinen Schlachtzug, wie meisterhaft bereitete er seinen Rückzug vor! Seine großartigen Alibis - wenn wir ihn geschnappt hätten, wäre er nicht nur freigesprochen, sondern auch noch aus der Armenkasse honoriert worden! Es war der Ehrgeiz jedes jungen Beamten, ihn zu fangen, einen Fehler, eine Lücke in seinem Plan zu finden. Doch er hatte weder von Klugen noch von Dummen etwas zu fürchten.«

»Er würde rot werden, wenn er Sie hören könnte!« »Aber es ist so, Jonny. Allein die schlauen Briefe, die er schrieb, um uns zu täuschen! Mit Briefen hat er Kolossales geleistet. Er brachte Menschen zusammen, lockte sie an Orte, wo er sie haben wollte, und wo ihre Anwesenheit am nützlichsten für ihn war. Ich erinnere mich, wie er meinen Chef genau zehn Minuten nach neun nach Charing Cross unter die Uhr kommen ließ, sich ihm zu erkennen gab und ihn zwang, den Beweis für sein Alibi zu liefern!«

Als Craig bewundernd vor sich hin lächelte, fragte Gray:

»Ist es nicht ein wenig auffallend, daß Sie und er so gute Freunde sind?«

»Nicht nur auffallend, sondern höchst verdächtig!« Er langte nach einer Flasche. »Ein Glas Wein gefällig?«

»Nein, danke, ich trinke selten. In unserem Beruf brauchen wir einen klaren Kopf. Wir können uns nicht erlauben zu träumen.«

»Hm, wir können nur das«, meinte Craig. »Aber warum reden Sie von ›unserem Berufe‹, alter Freund? Sie haben es doch hinter sich?«

Jonny fing einen Blick der Braut auf. Es war nur ein kurzes Aufblitzen, aber er glaubte alles darin bestätigt zu sehen, was er befürchtete - Schrecken, Bestürzung und Hilflosigkeit. Er biß die Zähne zusammen und wandte sich rasch dem Inspektor zu.

»Wie steht es mit Ihrem Geschäft?« fragte er ihn.

»Still.«

»Das tut mir leid. Aber es ist überall so, nicht wahr?«

»Wie ist es Ihnen - auf dem Lande ergangen?« fragte Craig.

»Wunderbar! In meinem Schlafzimmer fehlten zwar Tapeten, aber die Bedienung war recht gut.«

Craig stieß einen Seufzer aus.

»Ja, ja, solange man lebt, lernt man. Es hat mir sehr, sehr leid getan, Jonny. Ein Mißgeschick, aber was nützt es, darüber zu klagen? Sie waren einer von denen, die Unglück hatten. Wenn alle, die Gefängnis verdienten, auch drin säßen - nun, es gäbe keine Wohnungsfrage mehr. Es waren eine ganze Reihe Stars da, wie ich hörte? Harry Becker und der junge Lew Storing, na, der alte Legge muß zu Ihrer Zeit auch dort gewesen sein, und jener andere Bursche, der Name fällt mir nicht ein, der Notenfälscher -ach ja, Carper. Haben Sie ihn mal gesehen?«

»Ja, wir haben einmal am gleichen Karren gezogen.«

»Ah! Ich wette, Sie haben einiges gehört. Hat er mit Ihnen gesprochen?«

»Jawohl.«

Crag neigte sich vor, und seine Stimme wurde leiser.

»Angenommen, der Mann, der Sie damals los sein wollte, und der Mann, den ich brauche, wären ein und derselbe - und ich habe Grund zu der Annahme, daß es sich so verhält -, könnten wir unter diesen Umständen nicht Geheimnisse miteinander austauschen?«

»Ja, natürlich könnten wir zusammen plaudern, es würde ein hübsches Duo abgeben. Aber es wird nicht geschehen. Offen gestanden, Craig, ich kann Ihnen über den ›großen Drucker‹ nichts sagen. Reeder müßte eigentlich alles wissen!«

»Reeder!« grollte Craig verächtlich. »Ein Dilettant! Das ganze Getue um diese Leute vom Geheimdienst ist mir zuwider. Wenn die Sache der Polizei überlassen worden wäre, hätten wir den ›großen Drucker‹ längst in unserer Hand. Haben Sie ihn mal gesehen, Jonny?«

»Nein«, log Jonny.

»Aber Reeder, wie? Früher hatten sie einen Beamten dort namens Golden, einen alten Kerl, der glaubte, die Fälscher fangen zu können, indem er in seinem Büro saß und scharf nachdachte. Reeder taugt auf jeden Fall nicht viel mehr. Ich hab' ihn nur einmal gesehen - eine Karikatur auf der Schwelle des Greisenalters!« Craig seufzte wieder tief, und während er einen bekümmerten Blick über die frohe Tafelrunde schweifen ließ, sagte er leise: »Ganz im Vertrauen, Jonny, ich wüßte, wie Sie sich leicht fünfhundert Pfund verdienen könnten.«

»Nichts zu machen, Craig!«

»Sind wir beide nicht Männer der guten Gesellschaft?«

»Ja, sicher, aber nicht der gleichen Gesellschaft.«

Der Inspektor machte noch einen letzten Versuch.

»Die Bank von England zahlt für eine Auskunft sogar tausend Pfund!«

»Wer könnte es sich besser leisten!« bemerkte Jonny mit Überzeugung. »Aber schweigen Sie jetzt still, Craig, jemand will eine Rede halten!«

Der Geistliche, der das junge Paar getraut hatte, hielt eine salbungsvolle, erbauliche Ansprache. Craig hörte bis zu den stereotypen Schlußworten interessiert zu. Als er sich wieder seinem Nachbar zuwenden wollte, war dieser verschwunden. Er schaute sich um und bemerkte, daß Gray sich über Peters Stuhl beugte. Der Hausherr nickte eifrig, und Jonny verließ das Zimmer.

Ein anderer hatte den Vorfall gleichfalls beobachtet. Der junge Ehemann sah Jonny hinausgehen; er spielte mit seinem Weinglas, wechselte einen Blick mit dem hübschen Stubenmädchen und blickte bedeutungsvoll nach der Tür. Auf dieses Zeichen hin verließ auch Lila das Zimmer. In der Vorhalle war Gray nicht, sie ging auf die Straße hinaus, fand aber auch dort keine Spur von ihm. Aber der alte Legge stand an der Ecke und winkte sie heran. Seine Brillengläser funkelten ihr entgegen.

»Sagen Sie Jeff, daß ich ihn sprechen muß, bevor er auf seine Hochzeitsreise geht. Er hat mit dem Mädchen gesprochen - ich hab's ihrem Gesicht angesehen. Was hat er ihr gesagt?«

»Wie soll ich das wissen?« fuhr sie auf. »Sie und Ihr Jeff! Ich wollte, ich hätte mich nie in diese Sache eingelassen. Und was ist jetzt? Dieser schlaue Gauner weiß alles!«

»Wer -? Jonny Gray? Ist er hier? Er ist also hergekommen! Was soll das heißen - er weiß alles?«

»Er kennt Jeff - hat ihn auf den ersten Blick erkannt.«

Emanuel Legge stieß einen Pfiff aus.

»Haben Sie Jeff gesagt, daß er erkannt worden ist?«

»Nichts habe ich ihm gesagt, Warum fragen Sie mich? Das Mädchen nimmt ihn ja völlig in Anspruch.«

»Denken Sie nicht daran.« Legge machte eine wegwerfende Handbewegung. »Erzählen Sie mir jetzt, was Gray gesagt hat.«

»Er sagte, er würde mich erwürgen, und wenn ich schwatze, werde auch er ... Es hat keinen Zweck, mir zu drohen, Emanuel. Ich kann Ihnen nicht mehr sagen. Er kennt Jeff, er muß ihn gesehen haben, bevor er ›über die Alpen‹ ging.«

Der Alte stand mit gerunzelter Stirn und verkniffenen Lippen da und dachte nach.

»Wenn er die Sache durchschaut, steht es schlimm. Er ist in das Mädchen verliebt, und das bringt Unheil. Rufen Sie Jeff heraus, schnell!«

»Hier kann Sie Peter sehen«, warnte sie. »Gehen Sie die Straße hinunter, und biegen Sie in den Privatweg ein. Ich schicke Jeff in den Garten.«

Es dauerte einige Zeit, bis sie Gelegenheit hatte, Jeff ein Zeichen mit den Augen zu geben. Er folgte ihr auf den Rasenplatz.

»Der Alte wartet unten im Garten«, sagte sie leise.

»Was ist los?«

»Er wird es dir sagen.«

Jeff sah sich nach allen Seiten um und verschwand durch die Hecke in den unteren Garten teil.

»Jeff, Gray hat uns erkannt -!«

»Wen? Mich? Er hat nicht mit der Wimper gezuckt, als wir uns trafen.«

»Ja, der Kerl ist verdammt kaltblütig, der abgefeimteste Schurke - ich war mit ihm in der Hölle und kenne seinen Ruf. Er fürchtete sich vor nichts. Wenn er es Peter sagt -schieß zuerst! Peter handelt schnell. Deinen Rückzug decke ich. Draußen stehen zwei Burschen, die auf meinen Wink warten. Und Jonny ...«

Jeff kaute gedankenvoll an seinen Fingernägeln.

»Was soll ich tun?«

»Schaff das Mädchen weg. Bring sie ins Carlton Hotel. Ihr wolltet eine Woche dort bleiben - mach einen Tag daraus. Fahr morgen in die Schweiz, laß sie nicht schreiben. Peter übernehme ich. Er wird zahlen.«

»Wofür?«

»Um seine Tochter wiederzukriegen. Vierzigtausend -vielleicht mehr.«

»Von der Seite hab' ich die Sache noch nicht angesehen. Eine neue Art Erpressung?«

»Nenn es, wie du willst! Du steckst zur Hälfte im Geschäft und sollst deinen Anteil haben. Peter wird zahlen.«

»Aber Lila ...«, begann Jeff zögernd.

»Lila!« höhnte der Alte. »Lila! Die Lumpendirne und ein Mann wie du! Willst du ein Asyl für gefallene Mädchen gründen? Los!«

»Was geschieht mit Gray?«

»Überlaß ihn mir.«