22. Kapitel
Seit Tagen brannten Jennys Hände. Alles, was sie anfasste, glaubte sie zischen zu hören. Konrad lachte nur darüber.
«Ist doch toll, dann kann’s jetzt richtig losgehen mit dem Training. Als Nächstes steht die Fortpflanzung, äh, Fortbewegung auf dem Plan», sagte er übermütig.
Aus irgendeinem Grund war Jennys Energie so stark und lebendig, wie sie es bei der Aktivierung gewesen war. Sogar noch stärker, denn im Gegensatz zu damals setzte sie ihre Energie täglich ein, sodass sie sich nicht staute. Inzwischen war es ihr schon gelungen die Blechdose mit einem andauernden Energiestrahl wieder auf der Fensterbank zu platzieren, obwohl das sehr anstrengend war. Sie musste den Strahl bilden und dauerhaft halten, indem sie die Energieausstoßung nicht unterbrach. Dazu musste sie ihn geschickt lenken und führen. Hinterher fühlte sie sich wie die Größte.
«Wir sind schon gespannt, was da noch für eine Fähigkeit hervorkommt. Offensichtlich hat eine weitere Aktivierung stattgefunden», wusste Samuel.
Es fiel Jenny sehr schwer, ihre Energie abzuschirmen. Meist lief sie herum wie ein aufgeblähter, rosafarbener Luftballon und wunderte sich, dass nicht alle es sehen konnten.
«Na, wie gefällt dir das?», fragte Konrad mit dem Lächeln eines kleinen Jungen.
Jenny quietschte vor Vergnügen. «Das ist so cool!» Sie sah zur Seite auf den Boden hinunter, während Konrad sie fest umschlungen hielt. Jenny hatte ihre Füße auf seinen Schuhen abgestellt, die Arme um ihn gelegt und ihre Daumen in seinen Gürtelschlaufen verhakt. Je weiter sie nach oben stiegen, umso fester krallte sie sich.
«Keine Angst, ich lass dich nicht los. Jedenfalls nicht mehr so bald», versprach er. «Und selbst wenn ich es tun würde, du könntest es auch. Du bist jetzt stark genug. Es ist nur noch eine Frage der Technik.»
«Ist das cool!», krisch Jenny. «Zeig mir wie!» Unter sich sah sie eine dicke Wolke von Konrads hellblauer Energie, die sich zur Mitte hin verdichtete und die beiden weiter nach oben steigen ließ.
«Es ist ganz einfach. Du lenkst deine Kraft in die Beine wie beim Kampf. Nur dass du sie dort noch nicht verdichtest, sondern sie nach unten austreten lässt. Erst wenig, dann mehr. Und erst dann verdichtest du sie von oben nach unten.»
Es klang wirklich einfach. Nur in der Durchführung erwies es sich als schwierig. Zunächst drückte Jenny ihre Energie nach unten in die Beine, wie sie es im Kampftraining gelernt hatte. Dann versuchte sie sie aus den Fußsohlen austreten zu lassen, was ihr zunächst auch gelang.
«Nicht mit dem Boden verbinden. Du musst sie zusammenhalten. Nicht abgeben. Halte sie zusammen!», rief Konrad ihr von der Decke her zu.
«Na, du hast gut reden. Du bist ja schon oben», giftete sie ein wenig.
Konrad lachte, während er mit verschränkten Armen zu ihr herabsah. Der Strahl, der ihn oben nahe der Raumdecke hielt, war inzwischen so dünn wie ein Wollfaden. Erst unter seinen Schuhsohlen verbreiterte er sich zu der Form eines Tablettes.
«Ah … ah … ich glaub … ich glaub … nein, doch nicht.»
Für einen Moment dachte sie, abzuheben. Aber es hatte nur an den Füßen gekribbelt und ein leichtes Taubheitsgefühl darum gestrichen.
«Schau nicht so verkrampft!», wies Konrad sie an.
Langsam kam er zu ihr herunter. Der hellblaue Strahl unter ihm zog sich wie ein ausziehbares Metermaß, in ihn zurück.
«Schließ die Augen und spüre es. Ich weiß, dass es anstrengend ist, aber versuche es.»
Erst jetzt merkte Jenny, dass sie mit aufgerissenen Augen auf ihre Füße starrte und ihre Zunge zwischen Unterlippe und Zahnreihe gedrückt hatte. Es musste ziemlich dämlich aussehen.
«Aber es hilft mir, wenn ich drauf gucke. Auf mein Licht, verstehst du? Ich sehe dann gleich, ob und wie es sich verändert.»
«Schon klar, aber versuch es einfach mal anders. Versuche die Veränderung zu fühlen. Spüre es! Es ist ganz toll.»
Konrad stellte sich vor Jenny und nahm ihre Hand, als wollte er sie führen. Wie versprochen brachte er ihr das Fliegen bei.
Jenny betete ihn an. Dennoch blieb sie dabei: Konrad war ein seltsamer Typ. Er konnte so sanft und liebevoll sein wie im Moment. Dann wieder strotzte er vor kaltem und berechnendem Verstand und Sachlichkeit. Sich selbst hingegen fand sie immer gleich. Sie war laut, meist vorlaut, ärgerte sich immer über die gleichen Dinge, fand immer das Gleiche toll, wollte alles wissen, über alles sprechen und man wusste genau womit man sie treffen konnte. Dann ging sie hoch wie eine Rakete, tobte und wenn sie wieder runterkam, war mit einem einzigen, netten Wort alles vergeben und vergessen. Ein ganz gleichmäßiger Ablauf: Einleitung, Hauptteil, Höhepunkt und Schluss, immer. Konrad aber war ein ewiges Rätsel. Sanft wie ein Kätzchen, beschützerisch wie ein Bruder, stürmisch wie ein Orkan. Wurde er aber durch etwas getroffen, machte er zu wie eine Ventildichtung und ließ sich schwerer wieder knacken als ein Schildkrötenpanzer.
Jenny tat, was Konrad sagte, und schloss die Augen. Hinter ihren Augenlidern waberten die Farben ihrer Energie wild umher. Sie spürte, wie ihre Hände sich erhitzten. Auch Konrad merkte es, denn er ließ ihre Handfläche los und hielt sie locker an den Fingern weiter fest. Jennys Energie floss warm durch ihren Köper und sie baute den Druck in ihrem Bauch auf, den sie benötigte, um die Energie in die Beine umzuleiten. Dann löste sie den Hitzeball hinter dem Bauchnabel nach unten hin auf. Warm floss ihr ausgedehntes Fragment in die Beine und schließlich in die Füße. Dort kitzelte es und ein Taubheitsgefühl breitete sich unter den Sohlen aus. Jenny versuchte die Energie unter den Füßen wieder zusammenzuballen und nach unten hin zu strecken, damit sie abhob.
Ludwig schaut sie mit einem anstößigen Grinsen an. In der einen Hand hält er sein Schwert.
«Na Konny, wie findest du sie?», fragt er sie.
Jenny schaut an sich herab. Sie trägt Konrads Schuhe, seine Hosen, hält sein Schwert in seiner Hand.
«Also ich find sie zum Anbeißen. Was meinst du, hab ich Chancen bei ihr?» Ludwig lacht schallend, dann zuckt er zusammen und zieht sein Schwert quer vor die Brust.
Konrads Schwert knallt senkrecht auf seins. In Ludwigs Gesicht breitet sich ein spöttisches Grinsen aus.
«Also ich schätze, ich werd die nächste Gelegenheit nutzen und es bei ihr versuchen. Oder was denkst du, Konny?»
Wieder wehrt Ludwig einen Schlag von Konrads Schwert ab, amüsiert sich königlich. «Ein Glück, dass ich nicht ihr Wächter bin. Ich meine, wegen der Gewissenskonflikte, du verstehst?»
Jenny wird wütend, sehr wütend. Sie spürt, wie die Energie sie durchströmt. Aber sie ist stärker und brennender, als sie es gewohnt ist, vertraut und doch fremd, Konrads Energie.
«Ich mag ihren Hintern», sagt Ludwig, «und nicht nur den. Stell dir nur mal vor: die Auserwählte in meiner Sammlung!»
Jenny platzt auf, eine hellblaue Fragmentflut explodiert nach vorn und reißt Ludwig von den Füßen. Sein Lachen schwindet ruckartig. Das Schwert gleitet ihm aus der Hand. Nur leicht von seiner eigenen Energie abgebremst schlägt er gegen die Wand, rutscht mit dem Rücken daran hinunter und kommt auf dem Boden zum Sitzen. Auf seiner Nase liegt die Spitze von Konrads Schwert. Schielend schaut er darauf.
«Hey Konny, ich mach doch nur Spaß. Gib doch einfach zu, dass du selbst auf sie abfährst. Ist doch nichts dabei. Ich verrat es auch keinem.»
«Weißt du, warum du keine Chance bei ihr hast?», faucht es aus ihr heraus, «weil du stinkst wie ein Waschbär!»
Jenny öffnete die Augen und lachte.
Konrad hielt noch immer ihre Hand und lächelte sie stolz an. Er hatte Ludwig ganz schön zugesetzt.
«Von wegen, ihr habt keinen Streit gehabt», wollte Jenny gerade sagen, als sie merkte, dass Konrad den Kopf geduckt hielt.
Die Raumdecke grenzte direkt an sein Haar an. Zögerlich schaute sie nach unten.
«Huch!», kam es ihr gerade noch so über die Lippen, als mit einem Schlag ihr Fragment, das sie unbemerkt nach oben gehievt hatte, in sie zurückflutschte. Sofort fiel sie und klammerte sich reflexartig an Konrads Arme. Doch der hatte sie schon um die Hüften gepackt und abgebremst.
«Siehst du, geht doch!», sagte er. «Mein Mädchen!»
Unkontrolliert lachte Jenny, schaute immer wieder nach unten und dann zu Konrad.
«Ich bin geflogen! Wie geil ist das denn?»
Ungläubig fiel sie ihm um den Hals.
«Sehr geil!», antwortete er und stimmte mit ein.
Den einen Arm um Jennys Rücken schob er den anderen unter ihre Knie. Dann ließ er sich mit Jenny, zurück zum Boden gleiten. Unten angekommen nahm er ihr Gesicht in seine Hände und presste ihr seine Lippen zärtlich auf den Mund.
«Du bist ein Naturtalent!»
Langsam ließ er seine Hände über ihren Po gleiten.
«Konrad!» Jenny nahm Konrads Hände und schob sie weiter nach oben.
Auf ihren Lippen spürte sie, wie sich sein Mund zu einem lausbübischen Grinsen verzog.
Wieder küsste er sie. Dann riss er sich unvermittelt los und trat einen großen Schritt zurück.
«Unsere Lektion ist noch nicht beendet, meine Liebe», sagte er gespielt lehrerhaft.
Er legte seine Hände hinter dem Rücken ineinander und ging im Stechschritt vor ihr auf und ab.
«Es gibt noch viel zu lernen. Wie das hier zum Beispiel.»
Konrad nahm zwei Schritte Anlauf und setzte zum Sprung an. Unter dem Bein, das als letztes abhob, bildete sich ein Energiehaufen, der sich stoßartig zu einem Strahl formierte und Konrad nach vorn katapultierte. Gestartet an der einen Wand des Raumes kam er an der anderen zum Stehen.
Jenny klatschte.
«Jaaaaaa, das will ich auch können!»
Für einen Nicht-Sehenden sah es aus wie ein Zehnmeter-Sprung aus dem Stand heraus.
«Oder das hier!», rief Konrad und drehte sich zur Wand hin, lief auf sie zu und stieß seine Energie die Rückseite entlang gegen den Boden, sodass er die Wand hochging.
Oben zog er die Beine an und machte eine Rückwärtsrolle durch die Luft. Kurz bevor seine Füße den Boden erreichten, stieß er ein Fragmentpolster zum Abbremsen aus und kam schließlich sanft in Siegerpose zur Landung.
Jenny lachte und sprang auf und ab. «Jaaaaaa, das auch!»
«Und wie ist es damit?», sagte Konrad, lässig die Hände in den Jeanstaschen.
Nur einen Zentimeter vom Boden abgehoben, schwebte er auf sie zu und pfiff ein unbedeutendes Lied. Dann, als er vor ihr war, hielt er an, zwinkerte ihr zu und schoss, wie ein Korken auf einer Wasserfontäne, in die Höhe. Kurz vor der Raumdecke drehte er sich um neunzig Grad und lag mit dem Rücken an die Decke gedrückt auf einem Strahl seiner Energie, der ihn trug. Beide Arme ausgestreckt, sah er von oben auf Jenny herab wie ein Adler, der in der Luft kreiste.
Jenny applaudierte anerkennend.
«Das will ich auch können. Jetzt sofort!»
«Du solltest nicht so viel Energie verschwenden, sonst bist du kaputt, wenn’s drauf ankommt, Angeber.» Hinter ihr stand Benedict in der Tür.
Mit einem plopp kam Konrad neben Jenny zum Stehen. Er tat so, als blicke er verlegen zu Boden. Dann raste er mit einem Sprung auf Benedict zu, der blitzschnell sein Schild ausstieß und ihm halbherzig die Arme entgegen hielt. Beide wirbelten, wie zu einem Tanz umschlungen, einmal durch die Luft, flogen gegen die Wand und kamen schließlich ineinander verknotet auf dem Boden zu liegen. Dort wälzten sie sich spielerisch hin und her, während sie sich abwechselnd kleine Energiestöße in die Seiten gaben. Jenny kicherte.
«Was soll das gewesen sein? Du weißt doch, dass ich nicht kitzlig bin», lachte Benedict gedämpft in Konrads Schulter.
«Oh Scheiße!», entfuhr es Jenny aus heiterem Himmel.
Es war nur eine Millisekunde, in der eine ihrer Erinnerungen zurückkehrte. Konrads beeindruckende Luftakrobatik hatte sie darauf gebracht. Sie musste bleich geworden sein, denn Konrad stand vom Boden auf, kam zu ihr und hielt sie am Arm.
«Was ist mit dir, Süße?»
Benedict stand inzwischen zu Jennys Rechten, beugte sich nach unten, suchte den Augenkontakt zu ihr. «Alles klar?»
«Ich bin so eine dumme Kuh!», sagte sie schließlich und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.
Benedict und Konrad sahen sie erwartungsvoll an.
«Warum ist mir das nicht früher eingefallen? Der Luftsprung! Der vorhin, als du abgehoben bist», sagte sie zu Konrad, «ich hab ihn schon mal gesehen. Bei dem Dunklen in der Gartenanlage, der die Frau überfallen hat.»
«Ja und? So ziemlich alle Seelenträger können das», sagte Benedict.
«Ja, aber das mein ich nicht. Ich hatte ihn schon total vergessen. Den Sauger! Bisher sind wir doch immer von einem Assugo ausgegangen. Arthur wurde von dem überfallen, den ich in der Vision um Justin gesehen habe. Aber der in der Gartenanlage war ein anderer. Wenn ich genauer darüber nachdenke: Er hatte ein ganz anderes Licht und seine Statur war auch viel breiter. Ich konnte ihn zwar genauso wenig erkennen, weil ich als Fragment unterwegs war, und sein Licht nicht eindämmen konnte. Aber das war ein ganz anderes.» Es sprudelte geradezu aus ihr heraus.
«Ja», sagte Benedict, «die Geschichte in der Gartenanlage haben wir etwas vernachlässigt. Es war ja alles gut gegangen. Aber es ist auch nicht von großer Bedeutung. Sauger gibt es immer, nur zu mächtig dürfen sie nicht werden.»
«Und was machen wir jetzt?», fragte Jenny.
«Weiter wie bisher», antwortete Benedict. «Der Mächtigere ist der, der sich an Arthur rangemacht hat. Der ist es, um den wir uns kümmern müssen.»
«Woher weißt du das so genau?», fragte Jenny.
«Ganz einfach: Er hat sich die schwerere Beute ausgesucht. Justin ist ein Seelenträger, Arthur einer der mächtigsten Weißen. Die Frau im Park allerdings war nur eine einfach Beseelte. Mit ihr hätte sich der Mächtige gar nicht erst abgegeben.»
Das leuchtete Jenny ein. Genau so dachte ein Animus.