16. Kapitel
Es ist blendend hell um Jenny. Und kuschelig warm. Sie badet in einem dichten Nebel aus goldenem Licht. Schwebend bewegt sie sich darin fort. Liebe und Vertrauen umhüllen, trösten sie. Sie war traurig, als sie hineinging. Doch nun ist sie glücklich, unsagbar glücklich. Sie wird hinein gesogen in das goldene Meer von Licht, hindurchbalanciert. Sie lässt sich treiben. Wo auch immer es sie hinführt, genau dort soll sie sein. Sie spürt es, sie hört es, sie weiß es. Sie schwebt aus dem Licht, hinaus aus Wärme, Liebe und Vertrauen. Wird ausgespuckt wie das Neugeborene aus dem vertrauten Schoß der Mutter.
Jetzt ist es dunkel, kalt und windig. Langsam schwebt Jenny wie ein Blatt im Wind über dem kleinen Waldstück am Rande eines Dorfes. Eine Landstraße führt daran vorbei. Jenny nähert sich den dichten Baumkronen und beobachtet, wie sie verspielt aneinanderstoßen. Es ist herrlich zu fliegen. Sie weiß nicht, was es ist, aber sie folgt dem Gefühl hinabzugleiten und findet sich wieder auf einem Parkplatz direkt am Wald. Es gefällt ihr nicht hier. Etwas stimmt nicht. Es hängt wie ein stinkender Geruch in der Luft. Sie schaut sich zu allen Seiten um, schwebt über den Parkplatz, betrachtet das Innere der Autos. Dann sieht sie eine große Gestalt vom Dorf her unter einer Straßenlaterne hervortreten und auf den Parkplatz zukommen. Sie kann sein dunkelblau-violettes Licht sehen. Und noch ehe sie den Mann erkennt, erkennt sie sein Licht.
Arthur!
Sie eilt ihm entgegen, will ihn freudig umarmen, aber er sieht sie nicht. Sie ist ein rosafarbener Hauch. Fröhlich pfeifend geht er an ihr vorbei, holt einen Schlüsselbund aus der Hosentasche und steuert auf einen dunkelblauen Wagen zu. Dann bleibt er stehen, überlegt kurz, steckt den Schlüsselbund zurück in die Hose, geht in den Wald hinein. Noch einmal schaut er sich um. Jenny folgt ihm. Er stellt sich hinter einen Baum und macht Anstalten seinen Hosenschlitz zu öffnen. Doch da hält Arthur inne, lauscht in die Stille, als habe er ein Geräusch vernommen.
Ich bin’s nur, Jenny!
Ihr Energiekörper beginnt zu vibrieren. Schlagartig bläht sich Arthurs Lichtgestalt auf und blitzschnell schleudert er zu Jenny herum, schaut durch sie hindurch. Und ohne sich umzudrehen, sieht sie, was er sieht. Eine riesige, rot-braune Lichtkuppel umgibt eine menschliche Gestalt, kracht zwischen den Baumkronen herab. Jenny erkennt das Licht. Es ist der mächtige Sauger, der sich Justins Fragment einverleiben wollte. Zwei riesige Humānimi, eingehüllt in verschiedenfarbige Lichtkegel, kommen links und rechts von Arthur zum Stehen. Ein dritter Begleiter bleibt bei dem Mächtigsten der Vier - dem Assugo - stehen. Er ist der Gefährlichste, der Stärkste, das Oberhaupt. Sein Lichtkörper ist so dicht, dass Jenny seinen menschlichen Körper kaum sehen kann. Lediglich eine große, dünne Silhouette schimmert hindurch.
«Was wollt ihr?», fragt Arthur gefasst.
Er hat sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet und eine seiner Hände hält den Griff des Jagdmessers im hinteren Teil seines Gürtels fest umschlossen. Sein Lichtkegel wird dichter und fester, eine blau-violette Schutzmauer.
«Die Auserwählte», antwortet der Mächtige ruhig. «Es hat sich bezahlt gemacht, an euch dran zu bleiben. Ich habe gehört, ihr habt sie.»
Arthur lacht laut. «Ihr fallt aber auch auf jedes Gewäsch rein, Dumpfbacken.»
«Ihr habt sie! Und ich will sie!», die Stimme des Mächtigen dröhnt verzerrt durch sein Energieschild.
«Na, dann holt sie euch doch!» Arthur brüllt wie ein Löwe.
Die Dunklen ziehen den Kreis um ihn enger. Jenny ist mitten unter ihnen. Drängt sich automatisch zwischen sie und Arthur. Langsam kommt der Mächtige einen weiteren Schritt in Arthurs Richtung. Beinahe stoßen ihre Schutzschilder in Jenny aufeinander.
«Ich werde einen nach dem anderen von euch eliminieren. Und der Tag wird kommen, da sie ungeschützt ist und sich verrät.» Die Stimme des Mächtigen hallt tief und hohl, als spreche er in einen Blecheimer.
«Versuchen könnt ihr’s ja», antwortet Arthur amüsiert.
Ehe Jenny es registriert, rast das Messer aus Arthurs Gürtel gezielt durch sie hindurch auf den mächtigen Dunklen zu. Dessen nächster Begleiter eilt mit einem blitzschnellen Hechtsprung vor ihn. Sein Schild wird durchschnitten und das Messer streift seinen Arm. Der Mächtige hinter ihm lacht nur darüber. Gleichzeitig hebt Arthur ab, streckt Beine und Arme von sich und dreht eine Luftpirouette, während tentakelartig Energieblitze aus seinen Extremitäten in alle Richtungen spritzen. Die beiden Dunklen neben ihm gehen zu Boden, richten sich wieder auf. Arthur schießt durch die Luft nach vorn auf den Mächtigen zu. Der lacht nicht mehr, lässt aber ebenso unvermittelt einen rot-grauen Blitz mit silberner Spitze auf Arthur zurasen. Jenny, schockartig angespannt, schreit: «Nein!», und die daraus entstehende Vibration entlädt sich als unsichtbare Bombe, die sämtliche Schutzschilder im Umkreis von fünf Metern in kaum zu bändige Schwingung bringt. Die drei Schatten-Helfer gehen zu Boden. Der Mächtige gerät ins Wanken. Arthur wird von der Vibration erfasst und einen Meter weiter nach oben über den Mächtigen geschleudert. Während dieser durch die unerwartete Erschütterung abgelenkt ist, reagiert Arthur sofort und jagt machtvolle Energiespitzen auf ihn herab. Jenny erstarrt in Anbetracht der Wirkung ihres Gegenschlags. Sie muss gezielter vorgehen! Wenn sie es schafft, noch einmal so kraftvoll zu sein und das im Schild des Mächtigen, könnte sie Arthur einen durchschlagenden Vorteil verschaffen. Schnell eilt sie in den Lichtkörper des Mächtigen. Der spürt sie, so wie sie ihn spürt.
«Du?», fragt er überrascht in ihre Richtung.
Sie kann sein Gesicht nicht sehen. Aber er scheint sie zu kennen. Möglicherweise kann er ihr Fragment wahrnehmen. Jenny weiß, sie muss schnell sein, ehe er weiß, was sie weiß, und spürt, was sie vorhat. Arthur jagt mit den Beinen voran auf den Mächtigen herab. Jenny spannt ihren Energiekörper an, als würde sie sich auf Stecknadelkopfgröße komprimieren. Dann schreit sie innerlich ein kraftvolles «Nein!» Ihr Fragment platzt nahezu in alle Richtungen auf. Die Energiekuppel des Mächtigen bebt und reißt ihn von den Füßen. Arthur spritzt unkontrolliert zur Seite und droht auf den Boden aufzuschlagen, als er in letzter Sekunde seine Energie schützend zu einem Polster ausdehnen kann und weich landet. Wie ein Pfeil saust er wieder in die Lüfte, zieht einen Dolch aus seinem rechten Stiefel und jagt erneut auf den Mächtigen zu. Jenny sieht kaum mehr durch das Dickicht der Lichtschwaden hindurch. In ihrer Energiegestalt kann sie das visuelle Wahrnehmen der Lichtkörper nicht kontrollieren. Sie glaubt zu spüren, wie ihre Sinne schwinden. Obwohl sie körperlos ist, hat sie das Gefühl in Ohnmacht zu fallen. Vor ihr flackern farbige Schwaden auf, als hätten ihre Augen einen Wackelkontakt. Sie hat sich übernommen. Sie glaubt, ihre Energie erlöschen zu spüren. Von fern dringen Kampfgeräusche, das Knallen von Energiestößen und schmerzvolles Aufstöhnen an ihr Gehör.
Arthur!
Er ist chancenlos! Sie muss es zu Cynthia schaffen. Und sie hierher bringen. Es kommt Jenny wie eine Ewigkeit vor, bis sie sich neben Cynthias Bett im Haus des Bundes wiederfindet.
«Cynthia“, sagt sie schwach.
Es folgt eine Erschütterung, ähnlich der eines Mückenstichs, kaum stark genug um Cynthia aufzuwecken. Doch Cynthia regt sich. Ihr Schnarchen verstummt.
«Cynthia!», versucht Jenny es noch einmal.
Sie spürt die Vibration selbst kaum.
Cynthia öffnet die Augen, lauscht einen Moment in den Raum. Dann setzt sie sich im Bett auf und knipst das Licht an.
Cynthia!
«Jenny!», platzt Cynthia heraus und sofort steht sie vor dem Bett. «Zeig dich!»
Noch während sie es sagt, reißt sie eine Hose vom Hocker am Fußende des Bettes und springt hinein. Fast gleichzeitig folgt der Pullover. Noch einmal versucht Jenny, ihre Energie zu bündeln. Es gelingt ihr nicht. Sie braucht ihre letzte Kraft, um hier zu bleiben. Wenn sie jetzt aufgibt, wird sie wieder in ihrem Körper landen und keine Kraft mehr haben zurückzukehren. Dann ist Arthur verloren. Cynthia scheint Jennys Schwäche zu spüren. Panisch stürzt sie die Tür hinaus auf die Empore, mühsam gefolgt von Jennys Restenergie.
«Konrad!», brüllt Cynthia und reißt die Tür zu Konrads Zimmer auf.
Da steht er. Komplett angekleidet, er muss schon eher etwas bemerkt haben. Vielleicht mit Jennys Eintreffen in seiner näheren Umgebung. Seine lederne Schwerttasche hat er bereits um die Schultern geworfen. Benedicts Tür fliegt auf und er erscheint mit alarmiertem Energieschild auf der Empore. Mit beiden Händen legt er sich einen Gürtel um, der voll bestückt ist mit Messern, Dolchen und einer Art Meisel.
«Was ist los?», kommt es fast gleichzeitig aus den beiden Männern.
«Pst», antwortet Cynthia, senkt den Kopf und konzentriert sich auf Jennys Vibration.
Arthur!
Mehr schafft Jenny nicht mehr.
Erschrocken blickt Cynthia auf. «Es ist was mit Arthur!», sagt sie. «Wo ist er, Jenny?» Wieder senkt sie den Kopf, schließt die Augen und Jenny spürt, wie Cynthia versucht mit ihrer Energie näher in ihre zu dringen. «Sie ist zu schwach. Gefährlich schwach. Wir verlieren sie!» Cynthias Stimme vibriert und zittert.
«Jenny, das wird sich jetzt komisch anfühlen. Aber es ist unsere einzige Chance euch beiden zu helfen», flüstert Konrads Stimme beruhigend neben ihr.
Ihr ist, als schaue er sie direkt an.
Konrad!
«Konrad!», ruft Benedict ihm warnend zu.
Die Blicke der beiden Brüder treffen sich, haften kurz aneinander, dann gibt Benedict nach und sieht zu Seite. Schließlich nickt er zustimmend. Wenn auch widerwillig.
Was geht hier vor?
Jenny sieht, wie Konrad in sie geht. Sie spürt seine Energie in ihrer, sie riecht, schmeckt und denkt ihn. Es ist anders, als damals mit Cynthia. Sie sieht, was er sieht, weiß, was er weiß, fühlt, was er fühlt. Sie ist überwältigt von der Fülle der Ereignisse, die noch an ihm haften. Sie verliert die Orientierung. Sie ist überwältigt von der Gleichheit ihrer Empfindungen, Gefühle, Gedankengänge. Sie glaubt, stärker zu werden. Seine Stärke geht in ihre über. Dann denkt sie seine Gedanken. Sieht, was er im Moment sieht. Den Parkplatz. Arthur. Den Mächtigen. Ihre Vibrationsbombe. Das fliegende Messer. Der fallende Arthur. Der stürzende Mächtige.
Jenny spürt Konrads Gedanken: Wo genau ist er? Geh zurück an den Anfang!
Jenny sieht das helle Licht, spürt die Wärme, die Liebe, das Vertrauen, den Sog des Glücks und der Zuversicht. Sie schwebt aus dem Licht heraus, spürt den Wind, über den Baumkronen des Waldes, blickt hinab auf das Dorf, auf die Straße, den Parkplatz. Ein Schild: Parken nur für Besucher des Waldspielplatzes. Ein schreckliches Gefühl der Trennung, des Verlassens reißt plötzlich an ihr. Konrad tritt aus ihrer Energie heraus, nimmt seine eigene mit, lässt sie mit ihrem flackernden Rest zurück.
Konrad stolpert gegen die Wand zwischen den Zimmertüren.
«Arthur wird überfallen von vier Dunklen. Ein Treiber, zwei Krieger, ein mächtiger Assugo. Wahrscheinlich der, nach dem wir suchen. Ich denke, Arthur war auf dem Heimweg von Barbara. Es sah aus wie der Parkplatz am Waldspielplatz in ihrer Nähe. Irgendwo zwischen den Bäumen. Er ist noch stark, aber nicht mehr lange. Sie sind zu viele, wenn auch nicht gut genug. Es ist ihre einzige Chance weiterzukommen, wenn sie ihn auslöschen. Beeilt euch!»
Noch während Konrad es spricht springt Cynthia über die Balustrade hinunter ins Erdgeschoss. Benedict nimmt die Treppe, damit er noch Gelegenheit hat Konrad Anweisungen zu geben. Der stößt sich von der Wand ab und will Benedict folgen.
«Du bleibst hier!» Benedict erhebt warnend den Finger gegen Konrad. «Nein, du gehst und polierst Ludwig die Fresse! Wie kann sie fast erlöschen, ohne dass er es merkt? Dieser Versager! Bring Ruth zu ihr und dann bleib bei ihr. Und zwar schnell!», ruft Benedict Konrad zu.
Cynthia ist schon zur Tür hinaus, da bleibt Benedict stehen, dreht sich noch einmal zu Konrad um.
«Und Konrad?», sagt er ruhiger. «Es tut mir leid! Ich hab mich geirrt!» Geräuschvoll zieht er die Tür hinter sich zu.
«Wir müssen sofort zu ihr. Bring mich hin!» Ruth stürzt aus ihrem Zimmer auf Konrad zu.
Samuel steht verschreckt in seiner Zimmertür und versucht ohne Brille das Geschehen vor sich zu erfassen.
Konstantin tritt mit durchwühlten Haaren, aus dem Wohnzimmer in den Flur des Erdgeschosses und schaut zu ihnen die Empore hinauf.
«Was ist passiert?», fragt er, bereits in voller Ausrüstung zum Kampf bereit.
«Du kommst mit uns», weist Konrad ihn knapp an. «Wir müssen zu Jenny!»
«Gu … Gut. D … dann werd ich hier die Stellung halten. Ihr wisst ja: Ich hab’s nicht so mit dem Kämpfen», stottert Samuel überrumpelt.
Flüsternde Stimmen flossen wellenartig um Jennys Ohren.
Unter ihrem Kopf bewegte sich etwas. Zwei Hände hoben ihn vorsichtig an und legten ihn sanft wieder auf das warme Etwas unter ihr. Zärtliche Hände strichen ihr die Haare aus dem Gesicht und streichelten ihren Kopf. Arme umschlangen sie sanft von hinten und drückten ihren Brustkorb zusammen. Sie war in wohlige Wärme gehüllt. Hinter den geschlossenen Augendeckeln sah sie, dass es hell war.
«Arthur!», flüsterte Jenny heiser.
Sie schaffte es nicht, die Augen zu öffnen. Wärme und Glück streichelten ihre Lebensenergie. Sie war wieder zu Kräften gekommen, wollte sich aber nicht regen. Es sollte genau so bleiben, wie es im Moment war: göttlich.
«Arthur ist wieder zu Hause. Alles ist gut», hörte sie Konrads ruhige Stimme.
Sie konnte ihn spüren. Er hielt sie fest, hatte ihren Kopf auf seinen Schoss gebettet. Ihr Verstand erinnerte sie daran, dass sie böse auf ihn war, ihn nie wieder sehen wollte. Doch im Moment liebte sie ihn. Er war ihr zu Hause. Sie konnte später noch böse mit ihm sein, ihn dafür verachten, dass er sie so gedemütigt hatte.
«Alles ist gut, Liebes. Du hast es toll gemacht!» Das war Ruths Stimme, sanft, ruhig und liebevoll.
Was ist passiert?
Sie konnte nicht nachdenken, sie wollte es auch nicht. Sie wollte nur hier liegen bleiben und atmen. Konrads Hände strichen liebevoll ihre Wangen, das Kinn, den Hals. Glitten auf die Schultern, die Oberarme hinunter. Ruths zierliche Hand lag auf Jennys Handrücken. Wärme floss in sie hinein, kraftvolle, stärkende Wärme. Wieder schlief Jenny ein.
Als sie erneut aufwachte, schaute die Morgendämmerung zum Fenster hinein. Jenny erschrak, als sie einen großen Mann auf ihrem Sessel neben dem Fenster sitzen sah. Konstantin! Zum Gruß erhob er die Hand. Ruth hatte sich den Schreibtischstuhl neben Jennys Bett gestellt. Mit der einen Hand hielt sie Jennys Hand, die andere hatte sie auf Konrads Schulter gelegt. Jenny überstreckte den Kopf nach hinten. Dort saß Konrad, angelehnt an die Rücklehne des Bettes, Jennys Kopf auf seinem Schoss. Alle drei waren eingehüllt in eine leuchtende, grün-gelbe Energiehülle, die pulsierende Bewegungen vollführte. Ruths ausgedehnter Seelenkörper, der sie mit Heilenergie versorgte. Jenny fühlte sich gestärkt. Kurz erinnerte sie sich daran, dass alle geglaubt hatten, sie würde erlöschen. Sie hatte jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder löste sie sich aus Konrads liebevoller Umarmung und verwies ihn ihres Zimmers. Oder sie blieb einfach da, wo sie war und verschob den unangenehmen Teil auf später. Viel später. Es fiel ihr leicht, sich für Letzteres zu entscheiden. Als Konrad sich auf dem Flur der Empore mit ihrer Energie verbunden hatte, hatte Jenny genau gespürt, wie sehr er sie liebte und begehrte. Egal was ihn dazu bewogen haben mochte, sich von ihr abzuwenden: Er liebte sie.
«Es ist besser, wenn wir uns auf den Weg machen, eh es hell oder Jennys Familie wach wird. Noch sind keine Leute auf den Straßen.»
Konstantin hatte sich zum Aufbruch im Sessel aufgerichtet.
«Nein, bitte geht noch nicht!» Jenny hielt Ruths Hand fest.
«Liebes, wir sehen uns später, ja?», bat Ruth, stand auf und ging wie Konstantin zum geöffneten Fenster.
Konrad schlang seine Arme von hinten um Jennys Hals und beugte sich zu ihrem Gesicht hinunter.
«Wir sehen uns später in der Schule. Und danach kommst du mit zu uns. Arthur will dich sehen», flüsterte er in ihr Ohr und küsste sie auf die Wange.
Als er sah, dass sie die Augen schloss, nahm er sie unter dem Kinn, überstreckte ihren Kopf zu sich nach hinten und küsste sie zärtlich auf den Mund. Das konnte sie nun wirklich nicht zulassen. Inzwischen war es Wochen her, dass sie Konrad mit Stefanie gesehen und sich entschlossen hatte, doch nicht zum Bund zurückzukehren. Wochen, in denen sie geweint und dafür gekämpft hatte, nicht einzuknicken. Wo war denn ihr Stolz geblieben? Jenny drehte ihren Kopf zur Seite. Unerschrocken küsste Konrad mehrfach ihre Wange und den Hals. Jenny versuchte so zu tun, als würde sie es gar nicht bemerken, dabei flatterte es in ihrem Bauch. Ruth und Konstantin waren durch das Fenster verschwunden.
«Bitte lass uns reden», flehte Konrad leise.
Jenny sagte nichts. Sie wollte nicht streiten. Sie wollte aber auch nicht einfach so nachgeben.
«Stefanie steht unter meiner Bewachung. Nichts weiter», sagte er schließlich.
Jenny sah verwundert zu ihm auf. Sie spürte ihr Misstrauen wiederkehren.
«Sie ist aber kein Humānimus! Sie braucht keinen Wächter!», erwiderte sie angriffslustig und musste aufpassen so leise zu sprechen, dass sie ihre Schwestern und Mutter nicht aufweckte.
«Ich sagte bewachen, nicht beschützen», antwortete er ohne weitere Erklärung.
Er schob Jenny etwas nach vorn, werkelte sich hinter ihr heraus und stand auf.
«Wozu, wenn sie kein Humānimus ist? Sie braucht keinen Schutz und keine Bewachung. Was sollte sie schon Schlimmes tun können, dass du auf sie achten musst?»
«Es ist ein Auftrag des Bundes», antwortete er knapp.
Er ging zum Fenster und schaute prüfend hinaus.
«Und der ist wichtiger als ich?»
«Nein, aber ich vertraue auf ihn. Dafür hab ich meine Gründe. Es ist auch zu deinem Besten, glaub mir!»
«Behauptet der Bund!», stellte sie fest. «Er ist nur eine Organisation!»
Konrad drehte sich zu ihr um und sein Gesichtsausdruck versteinerte vor Entschlossenheit.
«Er ist alles, was ich bin!»
«Nein, ist er nicht! Weder der Bund noch seine Aufträge! Du bist ausgereift! Du kannst ein normales Leben führen, mit mir zusammen sein!» Jenny verstummte und senkte den Kopf.
«Ja», hörte sie ihn leise. Seine Hände glitten in die Taschen seiner Jeanshose. «Und was wird aus den anderen? Den Menschen, die sich täglich fürchten müssen vor Übergriffen der Schattenträger?»
Das traf Jenny.
Ja, sie war egoistisch. Ja, sie wollte ihn für sich haben. Sie hatte Angst! Angst vor dieser neuen Welt, der Fülle an Aufgaben, Verpflichtungen.
«Glaubst du wirklich, dass es ein normales Leben für uns gibt?», fragend zog er die Schultern hoch. «Ich bin Wächter. Das ist alles, was ich kann. Der Bund ist alles, was mir geblieben ist.»
Jenny sah ihn an. «Wieso geblieben?»
Seine Familie!
«Jenny », rasch kam er auf sie zu, beugte sich zu ihr hinunter und stemmte seine Armen zu beiden Seiten ihres Kopfes aufs Bett, blickte ihr eindringlich in die Augen, « dich endlich gefunden zu haben, war das Schönste in meinem Leben. An meiner Liebe zu dir wird sich nichts ändern. Du wirst ausreifen und egal wie du dich entscheidest: Wir werden zusammen sein. Eines Tages. Aber bis dahin muss ich meinen Job machen und Stefanie bewachen.»
«Was ist mit deiner Familie? Wieso hast du nur noch den Bund?»
Konrad stieß seinen Oberkörper mit einem Ruck von der Matratze ab und ging zum Lesesessel.
«Der Bund ist meine Familie! Das ist alles», sagte er und zog seinen Mantel über.
Aus ihm würde sie zu diesem Thema nichts mehr herausbekommen. Jenny legte ihren Kopf zurück aufs Kissen.
Er knöpfte den Mantel zu, kam wieder zu ihr und beugte sich zu ihr hinunter.
«Du musst mir vertrauen, Jenny», flüsterte er in ihr Ohr, rieb seine raue Wange an ihrer und küsste sie zum Abschied auf den Mund. «Wenn die Zeit gekommen ist, wirst du alles erfahren.»
Er hatte recht. Sie musste ihm vertrauen, denn sie konnte sich vertrauen, und wenn sie sich auf seine Energie einließ, spürte sie genau, dass er sie liebte und aufrichtig war. Ohne Vertrauen keine Liebe. Eine einfache Rechnung. Kaum merklich nickte sie.