11. Kapitel


Nina stand im Türrahmen von Jennys Klassenzimmer und winkte sie zu sich.

« Sag mal, was läuft denn da mit dir und Konrad? », fragte sie ungeduldig.

Nun hatte Jenny sich unendlich viele Gedanken um alles Mögliche gemacht. Vor allem um die Leute, die glauben könnten, dass sie Konrad hinterherlief, aber daran, was sie sagen sollte, wenn ihre Freundinnen sie nach ihm fragten, hatte sie keinen Gedanken verschwendet.

« Nichts », war das Einzige, was ihr so schnell einfiel.

« Wie, nichts? Ihr habt doch miteinander geredet. Und Heike hat erzählt, dass ihr gestern zusammen aus der Schule gegangen seid. Warum weiß ich nichts davon? Sind wir keine Freundinnen mehr? »

« Doch natürlich! Aber es ist nichts. Wir kennen uns nur vom Hallo sagen. Wenn wir uns unterhalten haben, dann bloß übers Wetter. Das war’s dann auch schon », haspelte sie.

« Verarschen kann ich mich selbst », sagte Nina sauer, drehte sich um und zog beleidigt ab.

Es würde nichts nützen ihr hinterher zu eilen. Was sollte sie sagen? « Ja weißt du, wir sind beide Humānimi und Konrad ist mein Wächter », so etwas in die Richtung? Sie brauchte dringend Evas Rat. Es schmerzte Jenny, Nina zu belügen. Dabei wollte sie doch jedes Detail mit ihr besprechen und ihre Meinung dazu hören. Aber etwas hielt sie davon ab. Ein tiefes, inneres Wissen. Sie konnte nicht abschätzen, was es für einfach beseelte Menschen bedeutete, von den Seelenträgern zu wissen. Auf einmal war alles so kompliziert geworden.


Mit dem Klingeln zum Schulschluss begann Jennys Herz, schneller zu schlagen. Zum einen, weil Konrad sie vor dem Ausgang erwarten wollte, zum anderen, weil sie bald von Samuel viele weitere Antworten zum Thema Animus-Beseelung erhalten würde. Konrad suchte die herausströmende Schülerschar nach Jenny ab. Als er sie entdeckte, nickte er ihr kurz zu. Sie war gerade vor ihm stehen geblieben, als Konrad jemandem hinter ihr zum Gruße zunickte. Es war Yvonne, die langsam an ihnen vorbeiging.

Schnippisch sagte sie: « Na Konrad, wieder mit deiner kleinen Freundin unterwegs? »

Konrad kümmerte sich nicht weiter darum, lächelte Jenny aufmunternd zu und wies ihr den Vortritt.

Cool!


Ruth freute sich über Jennys zweiten Besuch. Sie ließ es sich nicht nehmen, frischen Tee, Kaffee und Käsekuchen aufzutischen, ehe Jenny von Samuel anderweitig verplant wurde. Konrad war nach ihrer Ankunft die Holztreppe in den ersten Stock hinauf gegangen und wenige Minuten später in Sportklamotten im Keller verschwunden.

« Meine Liebe, ich bin so froh, dass gestern alles gut ausgegangen ist. Was war denn nur los, dass ihr mitten auf der Landstraße aus dem Auto gestiegen seid? Hat dir Samuel denn nicht deutlich genug gemacht, welche Gefahren auf dich lauern, sobald du als Unreifer auffällst? » Ruth sah Jenny mit großen Augen an.

Jenny schämte sich noch immer für ihr kindisches Verhalten und schob die Teetasse verlegen auf dem Unterteller hin und her. Da sie auf diese Frage überhaupt nicht vorbereitet war, umriss sie knapp Evas Beteiligung an dem Vorfall. Aber kaum hatte sie es ausgesprochen, ärgerte sie sich darüber. Es klang wie eine faule Ausrede, in die sie auch noch Eva mit reinzog.

« Wieso ist sie bei dir wegen dem Rucksack eingestiegen? Den hatte ich doch Konrad extra in den Kofferraum gepackt, damit du ihn am nächsten Tag hast. Keine Sorge, normalerweise rücken wir niemandem im Schlaf auf die Pelle. Ausnahmen sind lediglich zum Schutz, oder um den anderen mit Energie zu versorgen, wenn er sehr geschwächt ist. Aber normalerweise machen wir daraus kein Geheimnis und natürlich fragen wir den anderen vorher », nahm Ruth Stellung zu Jennys Vorwurf, der Bund würde sie ausspionieren.

Damit war für Ruth das Thema erledigt. Munter plauderte sie darauf los, wie toll Jenny reagiert habe, indem sie Cynthia mit ihrem Seelenkörper abgeholt hatte.

« Ich dachte wirklich ich hör nicht richtig. Dass du jetzt schon dein Fragment so verdichten kannst und Cynthia transportiert hast!? » Ruth schüttelte ungläubig den Kopf. « Das können nur ganz wenige Seelenträger. In der Regel sind es Wächter oder Weise, aber ein Seher? Es ist ein wahres Geschenk, deine Beseelung, mein Kind. Du wirst Großartiges vollbringen. »

Sicher hatte Ruth keine Ahnung, welche Last sie mit den paar Worten auf Jennys Schultern ablud. Denn die hatte schon genug Angst.

Hätte ich das alles nur nie erfahren!

« Ach ja? », entgegnete Jenny. « So wie Eva und Cynthia es sagten, klang es, als sei es ganz normal. Geh hol Cynthia! Zeig dich! Als wäre das üblich so unter Seelenträgern. »

Ruth lachte: « Nun, Eva hat einfach an dich geglaubt und Cynthia hat ein äußerst gutes Gespür für die Fähigkeiten anderer. Wahrscheinlich hat sie in deiner Energie gelesen, wozu du fähig bist. Sie ist sehr intuitiv, weißt du? » Dann wurde Ruth ernst. « Auch wenn deine Entwicklung nicht so schnell gehen sollte », sagte sie leise und nahm nachdenklich einen Schluck Kaffee aus ihrer Tasse.

« Wie läuft es denn normalerweise ab? », fragte Jenny.

« Ruhiger », antwortete Ruth und begann mit der Handkante nicht vorhandene Brotkrümel auf dem Tisch zusammenzuschieben. « Weißt du, normalerweise ist es so, dass die dunkle Seite Heranwachsende überfällt, die wir noch nicht erkannt haben und die noch nicht beschützt sind. Es ist nicht üblich, sich einem zu bemächtigen, der schon beschützt ist. Du darfst dir das nicht vorstellen wie in einer Fernsehserie, wo von morgens bis abends Gut gegen Böse kämpft. Die Gefahr der Übermacht besteht in der Kontinuität. Ist ein Heranwachsender beschützt, dann sucht man sich eben den nächsten. Bisher eilte es nicht mit der Übermacht. Aber es hat sich verändert. Wir wussten, dass sich mit deiner Reifung vieles verändern würde. Derartige Überfälle zeigen, wie verzweifelt die Schattenträger ihre Macht stärken wollen, eh die Auserwählte auftaucht. »

« Könnte ich mir das Buch von Aaron ausleihen? », fragte Jenny. « Ich würde die Prophezeiung gern selbst lesen. »

Hinter Jenny brach jemand in Gelächter aus. Auch Ruth blickte amüsiert. Samuel stand in der Tür zum Esszimmer.

« So einfach ist das nicht, Jenny », sagte er. « Es ist kein Buch, das man in der Buchhandlung kaufen oder bestellen kann. Es ist das Buch des Weisen Aaron. Ein geheimes Buch. Eines, das nur auserwählte Seelenträger lesen dürfen. Vielleicht wirst du eines Tages zu ihnen gehören? »

« Aber woher kennen die Dunklen dann die Prophezeiung? », fragte Jenny.

Samuel machte ein enttäuschtes Gesicht, kam langsam zu ihnen und setzte sich an den Tisch. « Ich erwähnte bereits, dass es Humānimi gab, die dem weisen Bund angehörten und zur anderen Seite überliefen. Dummerweise wussten sie somit alles, was wir wussten. Es gab Zeiten, da war Aarons Buch hier bei uns im Arbeitszimmer, zwischen all den anderen Büchern aufbewahrt. Erst als wir begriffen, wie wertvoll es ist, haben wir es versteckt. Seitdem ist es nie lange an einem Ort. Es wird unregelmäßig an Gleichgesinnte des Bundes weitergegeben. Wo es ist, wissen nur Aaron und derjenige, der es gerade hat. »

« Ja und wissen die Schattenträger denn, dass ihr mich für die Auserwählte haltet? » Jenny schluckte.

Allein der Gedanke erschreckte sie.

« Dafür haben wir keinen Anhaltspunkt. Aber natürlich erkennen sie dich als Heranwachsende. »

« Und außerdem hast du ihnen ja schon einen Hinweis gegeben, dass du die Auserwählte sein könntest. » Konrads Stimme ertönte vom Flur her.

In der Hand hielt er eine Wasserflasche und nahm einen großen Schluck daraus. Er musste im Keller irgendetwas Anstrengendes gemacht haben, denn er schwitzte. Langsam kam er näher und lehnte sich gegen den Türrahmen des Esszimmers.

« Was? » Jenny starrte ihn entsetzt an.

« Scheinbar », nach Bestätigung suchend sah Konrad zu Samuel und Ruth, « spricht die Prophezeiung, von einem weiblichen Humānimus, der Wahrträume hat. Und falls du dich erinnerst, warst du vorgestern so nett dem Sammler direkt auf die Nase zu binden, dass du diese Fähigkeit hast. »

Scheiße!

Tatsächlich hatte sie so etwas in der Art losgelassen. Aber zu dem Zeitpunkt wusste sie doch noch gar nichts von einer Prophezeiung.

« Deshalb warst du also böse auf mich? », stellte sie fest.

Konrad schüttelte den Kopf: « Nein. Es war dein permanentes Fluchtverhalten, das mir auf den Geist ging », sagte er, drehte sich um und lief wieder die Treppen zum Keller hinunter.

« Liebes, das hat ihm aber nur verraten, dass du eine Seherin bist. Nichts weiter. Das macht dich verdächtig, aber es macht dich noch nicht zur Auserwählten. Deine Zeitsprünge müssen wir aber für uns behalten. » Ruth lächelte kurz. « Außerdem hat er dich zwar gesehen, weiß aber nicht, wer du bist. Es bedeutet für uns nur, dass wir noch vorsichtiger sein müssen. Inzwischen bist du gut informiert und weißt, dass du keinem deine Fähigkeiten offenbaren darfst, bis sie ganz ausgereift sind. » Aufmunternd strich Ruth Jenny über die Arme, als könnte sie alle Zweifel und Ängste damit von ihr wischen.

« Bin ich denn tatsächlich die Einzige mit dieser Zeitsprung-Visionen-Fähigkeit? », wollte Jenny wissen.

Vielleicht gab es doch noch eine Chance, dass sie nicht diejenige welche war.

« Die Einzige, die wir kennen », antwortete Samuel. « In Aarons Buch gibt es einen ganzen Abschnitt über die Theorie von Zeitreisen der Humānimi. Er ist der Überzeugung, dass es aufgrund der energetischen Gegebenheiten der Animus-Beseelung möglich sein muss, Zeitsprünge zu unternehmen. In seinen Augen ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Fähigkeiten der Seelenträger in diese Richtung erweitern. » Samuel nahm sich eine Tasse aus der Vitrine neben dem Durchgang zum Wohnzimmer und goss sich Tee ein. Dann holte er weiter aus. « Die Fähigkeiten der Seelenträger beruhen auf den energetischen Eigenschaften des Animusfragments. Es umfasst solche Dinge, wie sich gegenseitig wahrnehmen. Schließlich stammt man aus einem großen Ganzen. Somit nimmt man auch die Energie wahr, die ein anderer zurückgelassen hat, indem er etwas getan, gesagt, gedacht hat. Es ist wie ein Energiefetzen, der zurückbleibt durch Handlungen, Gedanken, Geschehnisse. Es gibt auch Humānimi, die die Gedanken anderer lesen können, indem sie die Energie der Gedanken abfangen. Zeitreisen sollen demnach möglich sein, indem man einen zurückgebliebenen Energiestrom eines bestimmten Menschen oder eines bestimmten Geschehens aufspürt, und seine Beseelung damit derart verbindet und verdichtet, dass man sich auch körperlich in dem Ursprung dieses Energiestroms wiederfindet. Ein Zeitsprung eben. Zunächst ging Aaron davon aus, dass nur Sprünge in die Vergangenheit möglich wären, denn die zurückgebliebene Energie von wirklich Geschehenem ist stark. Doch auch Gedanken und bildhafte Vorstellungen hinterlassen einen schwachen, energetischen Fußabdruck. Entsprechend muss er mit der passenden Fähigkeit genauso aufgespürt werden können. Also besteht auch die Möglichkeit, sich mit ihm zu verbinden. Vorausgesetzt ist natürlich immer die besondere Fähigkeit der Vereinigung mit Energiespuren. Damit gelangt man zu dem Geschehen, das aus dem Gedanken oder der Vorstellung entstehen wird, wenn keine Änderungen vorgenommen werden. Das ist das, was du kannst. Und das ist einmalig in der Geschichte der Seelenträger. Und wie das so ist mit unbewiesenen Theorien, hatten fast alle daran gezweifelt, bis du uns vom Gegenteil überzeugt hast. Deine Vorausschau des Überfalls auf Justin ist so ein Zeitsprung gewesen. »

Zu ihrer eigenen Überraschung konnte Jenny sich sehr gut vorstellen, wie es funktionierte, da sie die Energie der Humānimi als farbiges Licht wahrnahm. Selbst wenn sie die Energie eines Gedanken nicht sehen konnte, so konnte sie sich doch vorstellen, wie er eine Art Lichtstreifen hinterließ, sobald er gedacht war. Ein anderer Humānimus, der die Fähigkeit besaß, sich damit zu verbinden und das daraus wahrgenommene Wissen in sein menschliches Bewusstsein aufzunehmen, fing diesen energetischen Lichtstreifen auf. Dann verband er sich mit ihm und konnte somit den Gedanken selbst wahrnehmen. Jenny dachte zurück an den Tag in der Stadt, als sie ihren ersten Blackout hatte und sich in der Siedlung ihrer Kindheit wiedergefunden hatte. Das war ein Zeitsprung gewesen. Kurz schilderte sie Samuel und Ruth ihr Erlebnis.

« Ja, genau das war es: ein Zeitsprung! Einer in die Vergangenheit. Es ist ja so, dass deine Erinnerungen auch Energiespuren an dir haften lassen und durch den Geruch des Spiere-Strauches hast du dich mit solch einer wieder verbunden. Das ist fantastisch! » Samuel war fast aufgesprungen so begeistert war er.

Ruth staunte.

« Also mir hat das ganz schön Angst gemacht. Ich dachte, dass ich schwer krank bin, und hab eine Odyssee an Arztbesuchen hinter mich gebracht. Mir ging es sehr schlecht danach. Ich wusste da ja noch nicht, dass die Energie meinen Körper überanstrengt. Dann immer diese schrecklichen Kopfschmerzen und Farbschleier vor Augen. Manchmal sah ich alles nur verschwommen wie durch einen farblosen Wackelpudding. Und diese Hitze. »

« Die Hitze kommt von der aktivierten Energie. Und das Farbensehen … Es gibt ein paar Humānimi die das Fragment sehen können, auch wenn der andere seine Energie gerade nicht einsetzt. Meist sind das Seher. Die restlichen sehen es nur, wenn ein Humānimus seine Energie, mit der Absicht sich sichtbar zu machen, verdichtet. Deshalb konnte Cynthia dich gestern sehen. Normal beseelte Menschen sehen es gar nicht. Möchte sich ein Humānimus tarnen, hält er seine Energie zurück. Man kann ihn dann in der Regel im besten Fall nur noch spüren, aufgrund der Verbundenheit zwischen den Fragmenten. »

« Bald wirst du deine Fähigkeiten und deine Energie kontrollieren und steuern können. Dann fühlst du dich auch nicht mehr schlecht. Ganz im Gegenteil. Es ist herrlich, ein Seelenträger zu sein. » Ruth strahlte.

« Und was ist bis dahin? » Jenny starrte nachdenklich in ihre Tasse. « Was ist mit meiner Familie? Mit meinen Freunden? Was sollte die dunkle Seite darin hindern, mich zu Hause in meinem Zimmer, im Klassenzimmer oder im Schulbus zu überfallen? Konrad kann nicht immer überall sein. Was ist, wenn sie meiner Familie etwas antun, um mich dazu zu bringen, mich ihnen anzuschließen? Was sollte sie davon abhalten? »

Hinter Jenny polterte eine tiefe, laute Stimme los.

« Wir werden immer überall sein. Darauf kannst du einen lassen! », sagte Arthur.

Ebenso wie Konrad wenige Minuten zuvor, stand er schwitzend im Türrahmen und trank aus einer Wasserflasche.

« Hi Arthur. »

Jenny freute sich so sehr ihn zu sehen, dass sie beinahe aufgesprungen wäre, um ihm um den Hals zu fallen. Sie mochte seine schroffe aber ehrliche Art. Wenn sie in seine dunklen Augen blickte, spürte sie, dass sie ihm vertrauen konnte. Er war jetzt schon wie ein enger Freund für sie.

« Hi Jenny. Schön, dass du da bist. Ich würde mich freuen, wenn wir uns nachher im Keller sehen würden. »

Jenny sah ihn fragend an.

Arthur lachte wie ein Donnergrollen. « Keine Angst. Es ist lustig. Bis später! »

Er trank die Wasserflasche mit einem Zug leer und eilte in den Keller.

« Die Jungs trainieren da unten. Und wenn alles läuft, wie wir es uns vorstellen, tust du das auch bald », erklärte Ruth und wurde wieder ernst. « Aber um nochmal auf deine Frage zurückzukommen: Ich denke, es ist wichtig, dass du weißt, dass deine Familie genauso sicher ist wie die anderer Menschen. Seelenträger mögen besondere Fähigkeiten haben, aber sie sind Menschen. Sie fürchten sich ebenso vor dem Gefängnis wie Nicht-Humānimi. Sie werden nicht in einer Masse von Menschen einen Humānimus überfallen. Sie würden sich dadurch verraten und sowohl vom Gesetz als auch von uns verfolgt werden. Außerdem kann auch ein guter Kämpfer von einer großen Überzahl Menschen überwältigt werden. Weißt du, die Einverleibung eines Animusfragments durch einen Sauger braucht seine Zeit. Ich rede von Stunden. Es genügt nicht, dich kurz anzurempeln. Man müsste dich mehrere Stunden lang ruhig halten und das werden wir nie zulassen. Dazu kommt, dass der Sauger so stark sein muss, dass er nicht an deiner Energie zugrunde geht. Alles andere wäre unbedacht, denn noch weiß keiner, wie stark deine Energie eigentlich ist. » Liebevoll strich Ruth Jenny über den Arm. « Und zum Abschluss noch was Wichtiges: Keiner deiner Freunde und Familienmitglieder darf von deinem Animus-Dasein wissen. Es ist das Geheimnis, das unter uns Gleichgesinnten bleiben muss. Es existieren nur ganz selten mehrere Animus-Beseelte in einer Familie. Ich kenne gerade mal eine Handvoll. Es hat mal eine ganze Familie gegeben … es war schrecklich … » Ruth schüttelte abwehrend den Kopf, als wolle sie die Erinnerung daran für immer los werden. « Jedenfalls musst du absolut verschwiegen sein. Es ist lebenswichtig, verstehst du? » Eindringlich sah Ruth Jenny an. Dann meinte sie: « Aber ich würde sagen, dass wir für heute genug Angst verbreitet haben. Wie wär es mit einer Hausführung? Dann schaust du was die Jungs im Keller so treiben und ich gehe meiner Kochleidenschaft nach. » Ruth stand auf und vergewisserte sich, dass Jenny ihr folgte.

Besonders auf Konrads Zimmer war sie gespannt. Im Erdgeschoss kannte sie sich inzwischen aus. Dort lagen das Wohnzimmer, die Küche, das Esszimmer, Samuels Arbeitszimmer, zwei Gästezimmer und ein Gästebad sowie ein kleines Gäste-WC. Im oberen Stockwerk befanden sich die Schlafzimmer der Stammbewohner und zwei große Badezimmer. Zwei Zimmer waren unbewohnt und lediglich funktionell mit Bett, Nachttisch und Bücherregal ausgestattet.

« Hier haben wir noch Raum für Humānimi, die irgendwann auch im Dienst des weißen Bundes stehen und eine Unterkunft benötigen. Die meisten können weiter in ihrem Umfeld bleiben, aber andere eben nicht », sagte Ruth mit einem Seitenblick auf Jenny.

Jeder der Bewohner hatte sein eigenes Zimmer über, das nur er selbst bestimmen durfte. Arthurs Zimmertür stand auf. Es sah genauso aus, wie Jenny es sich vorgestellt hatte. Viele leere Flaschen und Dosen, eine riesige Fernsehanlage, ein ungemachtes Bett. Darauf lag ein plüschiges Felltier, das den Kopf hob, als es die Stimmen vor der Tür hörte. Es war die Katze des Haues namens Lady, wie Jenny erfuhr. Ein schönes, grau-weiß gestreiftes Exemplar, wenn auch zu bequem, um aufzustehen und Jenny zu beschnüffeln. Stattdessen legte es gelangweilt wieder den Kopf in die Federn und schnurrte sich in den Schlaf. An den Wänden über dem Bett hingen Filmplakate von Actionfilmen und Poster von Bands, die laut zu sein schienen. Ruths Schlafzimmer war ein heller kuscheliger Traum. Am Ende und am Anfang der u-förmig herumführenden Empore lag jeweils ein großes Badezimmer. Die Türen der restlichen Mitbewohner, auch das von Konrad, waren verschlossen und blieben es somit zu Jennys Bedauern auch. Der Speicher ein Stockwerk höher war ausgebaut worden und zog sich über die halbe Grundfläche des Hauses, nur durch die Dachschrägen eingeschränkt. Die Hausbewohner hatten unzählige Bücherregale in die Schrägen einpassen lassen und so eine gemütliche Bibliothek daraus gemacht. Unter den vier Dachfenstern stand jeweils ein Sessel verschiedener Ausführung. Zwei hatten einen kleinen Beistelltisch neben sich.

« Wir haben zwei Entspannungsräume. Jeder hat seine Art sich zu entspannen. Hier oben beim Lesen. Unten im Keller bei viel Bewegung. Jedem, wie er‘s mag. » Ruth ging voran nach unten.

Im Keller staunte Jenny nicht schlecht. Sie mussten fast vier lange Treppen hinunter, um ihn zu erreichen. Er bestand aus einem großen Raum, der fast über die gesamte Grundfläche ging, nur vereinzelt mit starken Stützpfeilern bestückt. Die Bezeichnung Trainingsraum war eher untertrieben, denn die Größe und vor allem die enorme Höhe ließ den Keller einer Sporthalle gleichen. Auch das Equipment sprach dafür: An einer Wand hing ein Basketballkorb, auf dem Boden lagen große Turnmatten und auch die Bank am Rand der Trainingsfläche fehlte nicht. Jenny nahm sogleich darauf Platz und Samuel setzte sich neben sie.

« Hier werden gute Krieger gemacht », sagte er stolz. « Arthur ist einer der Besten. Er trainiert auch die Wächter. Er selbst trainiert mehrere Stunden täglich. Genauso wie Cynthia, Benedict und die anderen Krieger, die dem Bund angehören und sich regelmäßig hierher verirren. »

« Was für Fähigkeiten hat Arthur? », fragte Jenny.

Samuels Gesicht wurde ernst.

Er mied Jennys direkten Blick, als er sagte: « Sicher verstehst du, dass ich dir darüber keine genauen Angaben machen darf. Du wirst sie im Laufe der Zeit selbst herausfinden. Noch bist du kein Bundmitglied und gemäß unserer Satzung dürfen wir dir nicht alles offenbaren. Die unzähligen Mitglieder müssen ihre Tarnung beibehalten. Deshalb ist das Haus auch zurzeit so leer. Normalerweise herrscht hier Leben wie auf dem Rummel. Es ist nicht üblich, dass sich ein Heranwachsender hier im Haus aufhält. Daran kannst du sehen, wie wichtig du für uns bist. » Samuel machte eine kurze Pause. « Aber Krieger im Allgemeinen beherrschen den Kampf. Verschiedene Kampftechniken, Waffenkunde, Schnelligkeit, Koordinationsfähigkeit. Sie haben eine entsprechende körperliche Konstitution. Eben alles, was einen guten Krieger ausmacht. Arthur ist besonders gut im Schwertkampf, dafür ist Benedict ein Meister in waffenlosen Kampftechniken. »

« Welche Waffen? » Jenny sah Samuel mit großen Augen an.

« Keine Schusswaffen », antwortete er sofort. « Schusswaffen sind einerseits zu gefährlich, da man leicht Unbeteiligte verletzten kann. Andererseits sind sie im Kampf gegen ein starkes Energieschild nutzlos. Die Kugel wird durch die Energie zu stark ausgebremst. Die gefährlichste Waffe für uns ist das Schwert. Und nicht nur weil es die Geschicklichkeit trainiert. Ein Schwert von einer starken Krieger-Kraft geführt, durchschneidet wenn nötig auch ein energetisches Schutzschild. In großen Schlachten muss man leider auch solche Waffen beherrschen. »

Jenny erinnerte sich an den Angreifer vom Vortag, der irgendwann ein Schwert zog. Und Cynthia, die ebenfalls eines bei sich hatte.

« Ich kann mit meinem Schutzschild eine Kugel abfangen? »

Samuel lachte. « Ja, ganz bestimmt. Aber lass es vorerst bitte nicht darauf ankommen. »