13. Kapitel


Vor dem Haus des Weißen Bundes parkten Autos mit fremden Kennzeichen. Jenny war aufgeregt und gespannt. Sie war sich sicher, dass das Außerordentliche der Ratssitzung ihre Wenigkeit betraf. Natürlich durften an der Sitzung nur die Ratsmitglieder teilnehmen, aber danach wurden auch die Mitglieder über die Beschlüsse informiert, und auch wenn sie keines war, würde sie vielleicht etwas davon mitbekommen. Unter Jennys Schritten knarzte der Schnee. Noch einmal atmete sie tief durch, stieg die Stufen hinauf und läutete an der Haustür.

Diesmal war es Samuel, der erwartungsvoll die Tür aufriss.

« Jenny! Endlich! Ich dachte schon du kommst nicht mehr. »

« Jenny, wie schön! », rief Ruth, schob Samuel sanft zur Seite und zog Jenny am Ärmel herein.

Noch ehe sie protestieren konnte, streifte Samuel ihr die Jacke ab und hängte sie an die Garderobe. Als Ruth sie in die Eingangshalle drängte, wurde Jenny flau. Eine kleine Ansammlung fremder Menschen starrte sie teils neugierig, teils ungläubig an. Ihre Blicke erinnerten sie an ihre erste Begegnung mit Konrad. Auch wenn sie nicht die Intensität erreichten, gruben sie sich doch weit in die Tiefe. Es waren vier Leute, die Jenny nicht kannte. Die zwei Krieger unter ihnen waren leicht zu erkennen, denn Cynthia, Arthur und Benedict fielen neben ihnen kaum auf. Eine der beiden Frauen vorne war gerade mal so groß wie Eva und in eine Art indisches Tuch gewickelt. Die andere war betörend schön und nicht viel größer als Jenny, aber mit einer Figur, von der diese nur träumen konnte. Ihr langes, schwarzes Haar fiel in Wellen über die Schultern und umrahmte fast ebenso dunkle, warme Augen. Die vollen Lippen leuchteten in natürlich schönem Rot. Sie hatte eine beruhigende, ausgeglichene Ausstrahlung und Jenny entspannte sich ein wenig. Arthur, Benedict, Konrad, Eva und Cynthia schenkten Jenny ein aufmunterndes Lächeln. Was die Fremden wohl in ihr sahen? Sie selbst konnte nicht mal ihr rosafarbenes Licht sehen. « Dieses Mädchen soll die Prophezeiung erfüllen? », konnte sie in ihren Gesichtern lesen. Keiner sagte ein Wort. Ruth stand ebenso reglos neben ihr wie Samuel. Dann sah Jenny aus dem Esszimmer ein weißes, gleisendes Licht heraus scheinen. So hell, als würde der Mond nur drei Meter vor ihr aufgehen. Wie eine Kuppel wölbte es sich über die Leute und kam näher. Schließlich teilte sich die Menge und hindurch trat eine Gestalt, die umgeben war von diesem unsagbar hellen und vollkommen reinen, weißen Licht. Jenny musste blinzeln. Sie wollte hinsehen, konnte der Helligkeit aber nicht begegnen. Es war ein alter Mann, etwa einen Kopf größer als Jenny. Sie schätzte ihn auf neunzig, wenn nicht sogar noch älter. Jenny spürte es, auch wenn er vollkommen aufrecht ging und keinerlei sichtbare körperliche Gebrechen aufwies. Scheinbar trug er eine Art Gewand. Genau konnte sie es mit halb zugekniffenen Augen nicht erkennen. Sie hielt sich geblendet die Hand vor die Augen und schloss sie schließlich ganz.

« Oh entschuldige, liebe Jenny », sagte der Mann. Langsam wurde es wieder dunkler und Jenny öffnete neugierig die Augen. « Ich vergaß, dass es für dich sehr hell sein muss. »

Jenny sah, dass sein Licht bis auf einen halben Meter um ihn herum geschrumpft war. Sie war sich sicher, dass es kein Versehen, sondern ein Test gewesen war. Eine Art Vergewissern, dass sie eine Fähigkeit besaß, von der er vermutet hatte, dass sie sie besaß. Jenny fand, er hätte sie auch einfach fragen können. Das war also Aaron, der Weise. Ebenso weise, wie er war, so weiß war auch sein Licht. Aaron strahlte Jenny an. Er hatte sie erkannt, und sie hatte ihn erkannt.

Ich bin unsagbar glücklich dich bei mir zu haben, Jenny. Endlich! Hörte Jenny ihn in ihren Gedanken. Du bist so tapfer und mutig. Und meine Liebe für dich ist unendlich. Trete näher und lass dich umarmen!

Es klang verrückt, aber zweifelsfrei war er es, den Jenny in ihren Gedanken vernahm. Erwartungsvoll sahen die Umstehenden abwechselnd von Aaron zu Jenny. Keiner konnte wissen, was zwischen ihnen vorging. Außer Cynthia natürlich. Aber ob sie sich das traute? Die Gedanken Aarons abzufangen? Jenny bezweifelte es. Angezogen wie von einem Sog ging sie zwei Schritte auf Aaron zu. Er breitete seine Arme aus und umschlang sie. Es war ein unbeschreiblich schöner Moment. Jenny fand sich in einem weißen Licht wieder, das unendlich ausgedehnt schien. Was sie spürte, war bedingungslose Liebe und Wärme, Einigkeit und Vertrauen. Aaron ließ sie wieder los und Jenny fühlte sich einen Moment lang wie in einer Eiswüste ausgesetzt. Dann hörte sie, wie alle wirr durcheinanderredeten. Fremde Hände klopften ihr auf die Schulter und erleichtertes Lachen zog einen Kreis um sie. Sie fing sich wieder.

« Nun kennst du Aaron », sagte Ruth ergriffen.

Sie nahm Jenny beim Arm und führte sie herum.

« Das hier ist Jael. » Sie zeigte auf die bewundernswert schöne Frau. «Sie ist aus Argentinien angereist, spricht aber wie alle fließend unsere Sprache.»

Jaels Lächeln war ebenso übermenschlich wie ihre Erscheinung. Als sie Jenny die Hand reichte, begann sie in einem wunderschönen, fliederfarbenen Licht zu leuchten. So als habe sie extra dafür ihre Energie aktiviert.

« Das hier ist Kehna », sagte Ruth, als sie vor der kleinen, indisch aussehenden Frau stehen geblieben waren. « Sie kommt aus Indien. »

Kehna war etwa in Ruths Alter und hatte eine starke, charaktervolle Ausstrahlung. Ihre tiefbraunen Augen wirkten ein wenig traurig und wissend. Eine leicht gebückte Haltung, und raue Gesichtshaut waren das Zeugnis schwerer, körperlicher Arbeit. Dieser Frau konnte man nichts vormachen. Jenny fand, dass sie nach frischen Schnittblumen duftete und ihr Licht zeigte sich in klarem Türkis, durchzogen von sandgelben Streifen.

« Der hier, der so schelmisch grinst, ist Ludwig. Er kommt aus dem Haus des Westens und wird möglicherweise bald eine ganze Weile bei uns sein. »

Vor Jenny stand ein etwa zwanzigjähriger Mann von Konrads Größe und Statur. Er hatte dunkles Haar, dunkle Augen, dicke Augenbrauen und wirkte wie ein südländischer Gigolo. Er zwinkerte Jenny zu und machte einen leichten Knicks.

« Freut mich dich kennenzulernen », sagte er mit einem frechen Aufreißer-Grinsen.

Das hat mir gerade noch gefehlt!

Hinter sich hörte sie Cynthia auflachen.

« Lass das Cynthia! », sagte sie ernst.

« Cynthia, du sollst sie nicht belauschen! », schimpfte Ruth.

Cynthia machte ein gespielt, beschämtes Gesicht und sah zu Boden. Sofort zogen Arthur, Benedict und Konrad einen Kreis um sie. Cynthia flüsterte etwas und alle drei lachten herzhaft. Jennys Blick konnte sie nicht bremsen. Ludwig schien es als Anerkennung zu interpretieren, so als hätte er bei Jenny einen Volltreffer gelandet.

Du blickst aber auch gar nichts!

Wieder lachte Cynthia.

« Cynthia! », riefen Ruth und Jenny gleichzeitig.

« Ja, ja, ich bin schon weg », sagte die und lief in den Keller.

Ruth schob Jenny weiter. « Und das hier ist Konstantin. Er wohnt wie Ludwig im Haus des Westens, nicht weit von unserem entfernt. »

Jenny musste einen Schritt zurücktreten, um so weit nach oben schauen zu können. Er war mindestens nochmal zehn Zentimeter größer als Arthur und Benedict. Sein Gesicht hatte einige Falten, jede Menge Narben und Schrammen. Es war klar, dass er ein Krieger war. Sein Haar war dunkelbraun und nicht ganz kurzgeschnitten. Er hatte es mit einer Art Gel nach hinten gekämmt. Seine Augen erinnerten Jenny an Ruth. Sie waren auch eine Mischung aus Grau-grün, wirkten aber eher kühl und reserviert. Sein Licht flammte einen Moment lang in einem feurigen Rot auf, umgeben von einer gelben Kontur und Jenny spürte, dass er schon viel Schlimmes erlebt hatte. Sie schätzte ihn auf etwa fünfundvierzig. Möglicherweise wirkte er aber auch nur älter als er war. Zur Begrüßung lächelte er Jenny steif zu. An seinem Händedruck, der fast über Jennys ganzen Unterarm ging, spürte sie, dass er noch immer an ihr zweifelte. Andererseits konnte es auch sein, dass sich ihre eigenen Zweifel auf ihn übertrugen. Neben Konstantin stand eine Person von Cynthias Größe. Auf den ersten Blick hatte Jenny sie für einen Mann gehalten. Aber es war eine Kriegerin. Sie hatte kurzes hellblondes Haar und blaue Augen. Ihre Lippen waren dünn wie ein Strich, wodurch sie zunächst ernst wirkte. Bis sie Jenny freundlich anlächelte.

« Und das ist Agnetha. Sie kommt aus Schweden », sagte Ruth.

Kräftig schüttelte Agnetha Jenny die Hand.

« Freut mich », sagten beide wie aus einem Mund und lachten darüber.

« So meine Liebe, nun kennst du den Rat des Weißen Bundes. Bis auf Ludwig, Arthur, Eva und Konrad sind sie alle Ratsmitglieder », sagte Ruth und schob Jenny zu Konrad, sodass die beiden fast Arm in Arm dastanden.

Als sie es bemerkten, machten beide einen Schritt zurück und sahen sich irritiert an.

« Konrad, nimm Jenny mit runter! Damit wir anfangen können », wies Ruth ihn an, dann breitete sie die Arme aus und dirigierte die Ratsmitglieder wie eine Herde Schafe ins Esszimmer. « Und schicke Cynthia rauf! »


Jenny saß auf der Bank am Rand des Trainingraums. Konrad und Arthur übten sich konzentriert im Schwertkampf. Ihre Fragmente dehnten sich aus und bildeten Ausläufer, die in die Schwerter flossen und die Hiebe beschleunigten. Eva stieß ihr Fragment gegen den Boden aus, sodass sie in die Höhe schoss. Dann sammelte sich ein Teil ihres pinkfarbenen Lichts im Bein und ließ es gegen Ludwig schnellen. Der antwortete auf Evas pinkfarbene Stoßwellen mit energiegestützten Arm- und Beinhieben, während er durch die Luft flog. Es glich einer Art Kung-Fu für Fortgeschrittene Seelenträger. Jenny schüttelte ungläubig den Kopf über Evas Stärke und Wendigkeit. Ludwig wirkte wie ein plumper Riese gegen sie und Jenny musste unweigerlich an die Comicfiguren Tom und Jerry denken. Obwohl Ludwig ausgiebig von Eva gefordert wurde, konnte er es nicht lassen, immer wieder zu Jenny rüberzuschielen. Sie vermutete, dass er sie beeindrucken wollte, denn während des Trainings bediente er sich besonderem Imponiergehabe. Er blähte sein Fragment bei jeder Gelegenheit angeberisch auf. Jenny versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass es ihr auffiel. Selbst wenn sie Interesse daran gehabt hätte, Ludwig genauer zu beobachten als nur aus den Augenwinkeln, hätte sie überhaupt keine Ressourcen dafür übrig gehabt. Eine Hälfte ihrer Blicke ruhte nämlich auf Konrad und die andere auf Arthur. Wobei sie mit den Mengenangaben sich selbst gegenüber nicht ganz ehrlich war: Es waren eher drei Viertel ihrer Blicke, die an Konrad hafteten und ein Viertel, die für Arthur blieben. Die beiden Männer waren in ihren Kampf vertieft und beachteten sie nicht weiter. Zum ersten Mal sah Jenny Arthurs Licht in Kampfbereitschaft. Es war ein kräftiges Dunkelblau, durchzogen von tiefvioletten Streifen. Jenny war sich sicher, dass die Tiefe der Farben für seine Erfahrung und sein Können sprach. Konrads helles Blau wies an einigen Stellen Kleckse von dunklerem Blau auf, die sich mit seinen Bewegungen wie kleine Schmetterlingsraupen ausdehnten und zusammenzogen. Für einen kurzen Moment glaubte sie, eine rosafarbene Kontur um sein Licht zu erkennen. Ein Rosa, wie es ihr von ihrem eigenen Fragment vertraut war. Vielleicht irrte sie sich aber auch, denn die Farben verschwammen alsbald ineinander und sie konnte sie nicht mehr zuordnen. Sie fokussierte ihre Augen, damit sie die Fragmente nicht gestreut, sondern als dünnen Film um die Körper wahrnahm. Es strengte sie auf Dauer zu sehr an, die volle Entfaltung der Energien wahrzunehmen. Kurz schloss sie die Augen, um sie zu entspannen. Es war zwar faszinierend, wie ein Humānimus kämpfte, aber im Moment interessierte sie viel mehr, was gerade ein Stockwerk über ihr in der Ratssitzung besprochen wurde. Es war ein dummer, ungezogener Gedanke, aber er kam Jenny trotzdem.

Vielleicht kann mein Seelenkörper nach oben ins Esszimmer wandern. Da wär ich jetzt gern! Ich entspann mich einfach.

Natürlich war es nicht erlaubt an der Sitzung teilzunehmen, ohne Ratsmitglied zu sein, doch vielleicht bemerkte niemand sie. Angespannt kaute Jenny auf ihrer Unterlippe. Cynthia war ihre größte Hürde. Wenn sie sich aber weit genug von ihr entfernt aufhalten würde, würde Cynthia ihre Energie vielleicht nicht sofort wahrnehmen. Wie weit flog so ein Gedanke eigentlich? Dann gab es noch Aaron und die anderen, die sie erst kennengelernt hatte. Sie wusste noch nichts von ihren Fähigkeiten. Vor allem Aaron schien kein Problem damit zu haben Energien zu lesen. Er war ein Weiser und Jenny war sich sicher, dass er sich mit jeder Energie verbinden konnte, mit der er wollte. Jenny wog weiter ab und spürte plötzlich eine leichte Übelkeit in ihr aufsteigen. Kurz sah sie die vertraute Farbensuppe vor ihren geschlossenen Augen und plötzlich das Esszimmer mit allen Ratsmitgliedern.

Ups!

Am Tischende, mit dem Rücken zur Tür, saß Aaron. Er hatte sich in seinen Stuhl zurückgelehnt, die Ellenbogen auf die Stuhllehnen platziert und die Fingerspitzen beider Hände wie zu einem Dreieck vor der Brust zusammengelegt. Aufmerksam hörte er den anderen zu. Jennys Energie befand sich am gegenüberliegenden Ende des Zimmers in der Ecke neben dem Fenster zum Garten. Cynthia saß neben Aaron, sodass sie von Jenny ebenso weit weg war wie er. Jenny wusste, dass es klug gewesen wäre, sich wieder zurück in den Keller zu wünschen, aber genauso gut hätte man sie vor einen riesengroßen Schokoladenbrunnen mit Waffeln setzen und verbieten können, davon zu naschen.

« Die Frage ist doch, warum sie Angriffe starten mit einem einzigen Treiber, Sammler oder Krieger. Was glauben sie damit gegen unsere Besten ausrichten zu können? », fragte Samuel in die Runde.

Als Jael zum Sprechen ansetzte, erntete sie ehrfürchtige Blicke.

« Aber mein lieber Samuel, sie sind schlau. Sie wollen uns zermürben. Und sie wollen testen, wie weit Jennys Fähigkeiten reichen und ob sie vielleicht die Auserwählte ist. Sie müssen es schon alleine deshalb vermuten, weil sie so gut geschützt wird. »

Jaels Stimme war ruhig und ungewöhnlich tief für eine Frau.

« Das ist allerdings richtig », antwortete Samuel. « Wir hatten noch nie so viele », stockend suchte er nach dem passenden Wort, « Ein … sätze, wie in den letzten Monaten. Unsere Krieger kommen kaum mehr zur Ruhe. »

« Dann müssen wir eben noch welche zusammenrufen. Die Prophezeiung hat für uns alle Priorität. Bei uns im Westen ist es gerade ruhig », bot Konstantin sich an.

« Bleibt nur noch die Frage, welcher Sauger überhaupt so stark ist, dass er sich zutraut, sich ihrer Energie zu bemächtigen. Das ist doch Wahnsinn », gab Ruth zu bedenken.

«Es gibt einige Assugos, über die wir nichts wissen. Sonst wäre es ihnen ja nicht gelungen zu saugen», schlussfolgerte Agnetha logisch.

Jenny konnte sich nicht losreißen. Zumal Benedict gerade das Wort ergriff.

«Es wird immer schwerer für Konrad. Es wäre vernünftiger, wenn wir ihn ersetzen würden.»

Nein!

Jenny erschrak. Konrad ersetzen? Als ihren Wächter? Was hatte er falsch gemacht? Gerade gewöhnte sie sich doch an ihn! Diese Neuigkeit traf Jenny härter, als sie es sich hätte vorstellen können. Hatte er sich bei Benedict beklagt? Hatte er genug von ihr? Mit den paar Ausreißversuchen, die sie unternommen hatte und der kleinen Schlacht am Straßenrand musste ein Typ wie er doch fertig werden!

Verräter!

Konstantin mischte sich ein. «Ich denke, ich muss nicht extra erwähnen, dass Ludwig darauf brennt, diesen Part zu übernehmen. Ich halte ihn für stark genug.»

«Darum ist er auch heute hier», entgegnete Agnetha.

«Moment!», meldete sich Cynthia zu Wort und hob ihre flache Hand zu einer stoppenden Geste, «ich verstehe eure Bedenken. Aber Konrad hat mehr als einmal bewiesen, dass er der Herausforderung gewachsen ist. Meine persönliche Überzeugung ist, dass keiner, und ich meine wirklich keiner, eben gerade aufgrund der gegebenen Besonderheiten, in der Lage sein wird, Jenny so gut zu schützen wie Konrad.»

Ruth nickte zustimmend.

Benedict senkte niedergeschlagen den Kopf. Er schien selbst nicht ganz von seinem Einwand überzeugt zu sein.

Die Blicke aller Anwesenden ruhten nun auf Aaron. Eindeutig war er es, der das letzte Wort haben sollte. Aber er rührte sich nicht. Wie ein Vakuum schien er alles Gesagte in sich aufgesogen zu haben und es nun zu überprüfen. Nach einer Weile atmete er tief ein und sagte:

«Und es wird die Zeit sein, etwa zehn Jahre nach der Jahrtausendwende, da ein weiblicher Humānimus, einst ein Teil von zweien, des Sehens und der Zeit mächtig, in der Lage sein wird, einer Seite zur Übermacht zu verhelfen. Und es wird sein dieser Humānimus und sein anderer Teil, der allen Widrigkeiten zum Trotz, Vorrang gebieten wird, dem weißen Licht der Erde.»

Aarons Worte tönten wie ein Gesang lieblicher Geistwesen, ein melodisches Zitat, nicht von dieser Welt. Wie ein wärmender Balsam legte es sich auf Jenny nieder und wirkte bis in die Tiefe. Ehrfürchtiges Schweigen erfüllte den Raum. Ruths Augen glänzten vor Rührung. Cynthia schien ebenso ergriffen und nickte bestätigend.

Benedict fuhr sich hilflos mit der Hand übers Gesicht.

«Aaron», flehte er, «ich weiß, es ist verdammt lange her, dass du jung warst. Aber in Konrads Alter spielen noch ganz andere Dinge mit, die den Verstand vernebeln. Es ist die Hölle für ihn. Anders als es für einen vernarrten Ludwig sein könnte.»

«Du sagst es, weißer Bruder. Ich kann es gut verstehen», rief Konstantin und warf beide Hände in die Luft.

Agnetha warf Konstantin einen biestigen Blick zu und wandte sich schließlich ab.

Jenny verstand nur Bahnhof. Was hatte es zu bedeuten, was Aaron gesagt hatte? Es musste die Prophezeiung sein, die er zitiert hatte. Ein Stück kam Jenny bekannt vor: weiblicher Humānimus, Sehen, Zeit-Dingens, soweit klar. Aber mit dem Rest konnte sie nichts anfangen. Was für ein Licht der Erde? Sollte das so etwas heißen wie: die Welt retten? Das war nun wirklich zu viel für sie. Wenn sie nur noch mal zurückspulen und sich alles noch einmal anhören konnte. Was hatte Aaron genau gesagt? Jenny schwirrten die Worte im Kopf umher und unbemerkt dehnte sie ihre Energie weiter aus.

Aaron wollte gerade das Wort ergreifen, als Cynthia erneut die Hand hob. «Pscht!», sagte sie. Einen kurzen Moment hielt sie inne. Dann sprang sie auf, riss die Tür auf und rannte wie von der Tarantel gestochen die Kellertreppe hinunter.

Jenny erschrak und ihr Fragment streute kurz wie eine Splitterbombe in alle Richtungen, ehe es in ihren Körper zurückgezogen wurde. Plötzlich drehte sich alles um Jenny und ihre Übelkeit erreichte einen Höhepunkt. Kräftige Hände umfassten ihre Schultern und schüttelten sie. Als Jenny die Augen öffnete, sah sie in Cynthias erbostes Gesicht. Ihre Augen waren wütend zu Schlitzen verengt und das Grün der Augäpfel blitzte wie zwei Giftfrösche dahinter hervor.

«Mach das nie wieder!», zischte sie Jenny zu und schüttelte sie nochmals. «Hörst du? Nie wieder!»

Jenny starrte Cynthia ängstlich wie ein Küken an. «I … ich …», stammelte sie unbeholfen.

Sie kippte fast zur Seite so schwach fühlte sie sich auf einmal. Hinter Cynthia hatten sich Arthur, Konrad, Eva und Ludwig versammelt.

Konrad legte seine Hand auf Cynthias Schulter. «Es reicht, Cynthia. Krieg dich wieder ein!»

«Sie hat sich in die Ratssitzung gestohlen und uns belauscht! Weißt du eigentlich, was es für ein Privileg ist, dass du hier sein kannst? Genügt es denn nicht, dass die Ratsmitglieder sich dir gegenüber enttarnt haben?», schnaubte sie wütend.

«Ich … ich wollte …», weiter kam Jenny nicht.

Ihr war als würde sie gleich von der Bank kippen. Das Sprechen fiel ihr schwer und glich eher einem Lallen.

«Dummkopf!», beteuerte Cynthia zischend, drehte sich um und polterte wieder die Treppe hinauf.

Jenny war zum Heulen zumute. Nicht im Traum hätte sie gedacht, dass einer der weißen Seelenträger jemals so mit ihr reden würde. Außer Konrad vielleicht. Langsam kam sie wieder zu Kräften, schaute in erwartungsvolle Gesichter.

Eva kniete vor ihr, damit sie ihr direkt ins Gesicht sehen konnte.

«Und?», fragte sie.

«Ich hab mir nur vorgestellt, was die wohl da oben reden und schwupps war ich dort. Und dann wusste ich nicht mehr, wie ich zurückkomme», jammerte Jenny nicht ganz aufrichtig.

«Was sie geredet haben, will ich wissen!», sagte Eva ungeduldig.

«Eva!» Konrad und Arthur protestierten.

Ludwig nicht.

Trotzig schoss Jenny von der Bank hoch und wankte.

«Woher soll ich das wissen? Cynthia hat mich doch sofort bemerkt», log sie.

Was es auch immer zu bedeuten hatte, was dort oben gesprochen wurde, Jenny würde es nicht verraten. Sie wusste, dass sie das nicht hätte hören sollen und inzwischen wünschte sie sich, es nie gehört zu haben. Auf einmal überschwemmte es sie wie eine Schlammlawine: Sie sollte die Welt retten? Das war nun wirklich zu viel. Sie war ein ganz normales Mädchen. Nein, sie war ein ganz normaler Freak und keine Erfüllung von irgendwas. Und wie Cynthia sie angeschrien hatte. Wie kam sie dazu sich auf Menschen zu verlassen, die sie nicht leiden konnten? Doch am meisten schmerzte Jenny Konrad. Er musste sich über sie beklagt haben und sollte gegen den schmierig, lüsternen Ludwig ersetzt werden. Er ließ sie im Stich. Waren sie denn alle vollkommen durchgedreht?

«Ich muss mal», sagte sie schließlich.

Von der anstrengenden Seelenwanderung noch immer geschwächt, eierte sie durch den Trainingsraum und stieg die Treppe hinauf. Die Tür zum Esszimmer war wieder verschlossen.

Eine laute Diskussion drang bruchstückhaft hindurch. «Ungehalten … nicht förderlich … Gefahr … abschrecken … entschuldigen ...»

Jenny ging zur Garderobe, zog ihre Jacke über und verließ das Haus. Leise zog sie die Türe hinter sich zu. Sie wollte nach Hause, zurück in den Teil ihres Lebens, der sich den Hauch von Normalität bewahrt hatte. Sie hatte vorerst genug von Bündnissen und übersinnlichen Kräften.