SIEBENUNDZWANZIG
»HI«, SAGTE PHIL.
Die Tür des Reviers fiel krachend ins Schloss. Susan stampfte herein, ein Rucksack voller Schulbücher zerrte an ihrem Arm.
»Soll ich dir tragen helfen?«
»Nein.« Sie ließ den Ballast zu Boden donnern und machte sich für die Arbeit bereit.
»Wie war dein Kurs heute Abend?«
Susan sah ihn missbilligend an. Sie ging nicht auf den flüchtigen Smalltalk ein, aber Phil hatte auch nicht wirklich damit gerechnet.
»Was machst du hier?«, fragte sie.
»Habe mit dem Chief geredet.« Er scharrte mit den Füßen und blickte zu Boden. Er fühlte sich wie ein kleiner Schuljunge, der zum Direktor gerufen wurde. »Hinterher kam mir die Idee, noch einen Moment hierzubleiben und auf dich zu warten.«
»Warum?«, schnappte Susan und warf einen Blick auf den Einsatzplan und die aktuellsten Fahndungsmeldungen aus dem County.
»Nun, ich denke, wir sollten miteinander reden.«
»Worüber?«
Phil starrte wieder nach unten. Diese Schlacht kann ich gar nicht gewinnen. Himmel – Frauen verzeihen einem nie etwas. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Doch im selben Moment traf ihn ein klarer Gedanke. Verzeihen? Warte mal, Phil – jetzt sei kein Idiot. Wofür müsstest du um Verzeihung bitten? Du hast schließlich nichts FALSCH gemacht!
Wider besseres Wissen ließ er seine angestaute Wut heraus: »Ich habe nichts Falsches getan!«, schrie er.
Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sein Ausbruch wirkungslos an ihr abprallte.
»Nur zu, schneide deine Grimassen«, schrie er weiter. »Zeig mir die kalte Schulter! Behandle mich wie Hundescheiße! Mach, was du willst, Süße, aber eins musst du mir verraten: Was habe ich falsch gemacht?«
»Du hast gar nichts falsch gemacht«, erwiderte Susan ruhig und blätterte durch ihre Codeliste. »Dies ist ein freies Land. Du kannst tun und lassen, was du willst. Du hast mir gegenüber keine Verpflichtungen, nur weil wir miteinander ins Bett gegangen sind. Das bedeutet schließlich nicht, dass wir zusammen sind.«
»Oh, entschuldige, falls sich das dumm anhört, aber ich dachte irgendwie schon, wir wären zusammen.«
»Du dachtest, wir wären zusammen?« Sie sah ihn erstaunt an. »Nun, ich schätze, dann haben wir beide ausgesprochen unterschiedliche Vorstellungen diesbezüglich.«
»Was soll das denn jetzt heißen?«
Wieder der erstaunte Blick. Phil mochte es nicht, wenn sie ihn so ansah.
»Gehört zu einer Beziehung nicht auch Monogamie?«, fragte sie.
»Ich habe dich nicht betrogen!«
»Oh, na klar. Ich höre einen Schrei aus deiner Wohnung, also komme ich runter, um nach dir zu sehen, und was krieg ich zu Gesicht? Den monogamen Phil, wie er sich nur mit einem Handtuch um die Hüften über eine Nutte beugt.«
»Ich habe nicht mit ihr geschlafen!«, schrie Phil.
»Oh, was habt ihr denn dann gemacht? Sag mir, Phil, was tun Männer mit Handtüchern um die Hüften denn sonst so mit Nutten? Schachspielen? Die Sunday Post lesen? Über die Unwägbarkeiten quasi-existenzieller Dynamiken philosophieren?«
»Ich hatte keinen Sex mit ihr«, knurrte Phil beinahe.
»Okay, gut. Du hattest keinen Sex mit ihr. Aber du kannst Sex haben, mit wem du willst, Phil. Darum geht’s nicht.«
Phil fühlte sich wie ein Dampfkessel kurz vor dem Platzen. »Worum geht es dann?«, fragte er und zwang sich zur Ruhe.
»Darum, dass du mich belogen hast.«
Stille.
»Wann habe ich dich belogen?«
Wenn Blicke töten könnten, wäre Phil in diesem Moment mausetot gewesen. Ihre Augen bohrten sich regelrecht in ihn hinein. »Bevor du und ich auch nur irgendwas getan haben, hab ich dich gefragt, oder nicht? Ich habe dich gefragt, ob du noch was mit Vicki hast, und du hast Nein gesagt.«
»Und das war die Wahrheit!«, schrie er.
»Was hat sie dann in deiner Wohnung gemacht, während du mit nichts weiter als einem Handtuch vor ihr gestanden hast?«
»Sie hatte Probleme«, sagte er. »Jemand hat sie zusammengeschlagen und sie brauchte einen Platz zum Schlafen.«
»Und da dachtest du, dein Bett wäre genau das Richtige?«
»Sie hat auf der Couch geschlafen! Ich hab sie nicht angerührt! Ich hab es dir gerade schon gesagt – ich hatte keinen Sex mit ihr!«
Mehr Stille, doch es war keine nachdenkliche Art von Stille, sondern eine spöttische. »Du behauptest also«, vergewisserte sich Susan, »dass du nicht mit ihr geschlafen hast, seit du nach Crick City zurückgekehrt bist?«
»Ich …«, begann Phil. Wenn es eines gab, dass er nicht tun konnte, dann war es, sie jetzt anzulügen. Wenn er das tat, wäre er der größte Heuchler der Welt.
»Gut«, gab er zu. »Einmal. Aber nicht heute. Das war schon letzte Woche – bevor wir überhaupt miteinander ausgegangen sind.«
Ein dumpfer Schatten schien sich auf sie zu legen, hervorgerufen von ihrer eigenen Wut und Enttäuschung. Er ließ ihre blauen Augen zu glanzlosen Steinen verkommen, ihre hellblonden Haare matt wirken. Ihre Stimme klang ebenso matt. »Ich müsste schon den Verstand verloren haben, um dir so einen Haufen Mist abzukaufen.«
»Susan, du verstehst das völlig falsch …«
Sie sah spöttisch auf die Uhr und dann zu ihm. »Oh, du bist noch da?«
Phil drehte sich um und ging durch Mullins’ Büro zur Hintertür hinaus. Warum darauf herumreiten? Sie wird mir nie wieder vertrauen, nicht in einer Million Jahren, erkannte er. Ich hab’s total versaut – saubere Arbeit, Phil. Ich frag mich, was du heute noch alles kaputt kriegst. Er konnte sich so lange selbst verachten, wie er wollte, aber das würde nichts an der simplen Tatsache ändern, dass es nichts mehr gab, was er noch tun konnte.
Klonk!
Draußen auf dem Hinterhof sah sich Phil nach links um. Die Tür zu dem alten Gefängnis, das Mullins zu einem Lagerraum umfunktioniert hatte, stand offen. Er muss gerade da drin sein, schloss Phil, als er sowohl den Streifenwagen als auch Mullins’ eigenen Wagen auf dem Grundstück parken sah. Holt sich wahrscheinlich neuen Kaffee und Red Man. Phil machte sich zu seinem eigenen Wagen auf. Es ging zurück ins Sallee’s, noch mal alles auf Anfang. Der tief stehende Mond lugte in einem käsigen Gelb über das Dach des Reviers. Das stetige Zirpen der Grillen erfüllte die Luft.
Phil drehte sich wieder um, schneller diesmal, als ein weiteres Geräusch aus dem alten Gefängnis ertönte.
Der Klang von zerbrechendem Glas.
Es hatte vermutlich nichts zu bedeuten – der Chief hat wahrscheinlich bloß eine Kaffeekanne fallen lassen – doch Phil hielt es für angebracht, trotzdem nachzusehen. Was, wenn es nicht Mullins war? Was, wenn tatsächlich jemand einbrach? Klar, die Rednecks hier sind bescheuert genug, sogar in eine Polizeistation einzubrechen, zog Phil in Erwägung.
Das Gebäude war nichts weiter als ein graubraunes Backsteinhäuschen mit den Abmessungen eines typischen Wohnwagens. Phil trat vorsichtig ins Innere. Eine einzelne, schwache Glühbirne erleuchtete den staubigen Flur. Am anderen Ende stand eine weitere Tür offen. Phil entschied sich gegen ein Rufen. Sollte wirklich jemand eingebrochen sein, würde die Überraschung auf seiner Seite sein.
Er schlich leise zum nächsten Durchgang, spähte hinein, und –
Was zur Hölle ist das?
– sah sofort, dass er keinen Lagerraum vor sich hatte. Sondern genau das, was es schon immer gewesen war. Ein Gefängnis.
Drei vergitterte Zellen reihten sich an der Rückwand aneinander. Die ersten beiden waren leer. Mullins bückte sich gerade vor der dritten und sammelte Glasscherben vom Boden auf.
»Du blödes, verdammtes Arschloch. Du hast ein Glas zerdeppert, das noch völlig in Ordnung war«, schimpfte Mullins.
Aber mit wem schimpfte er?
»Hey Chief!«, rief Phil. »Was ist los?«
Mullins schoss in die Höhe, das dicke, runde Gesicht puterrot. »Was zum Teufel machst du hier?«, blaffte er.
Dann sah Phil, warum sein Chief so schuldbewusst tat. In der dritten Zelle, die laut Mullins seit Jahren leer stand, saß ein unrasierter, übergewichtiger junger Mann.
Ein Gefangener, dachte Phil. Mullins hatte die ganze Zeit einen Gefangenen hier drin, ohne mir was zu sagen …
»Verdammt noch mal! Ich hätte es dir schon irgendwann erzählt!«, beteuerte Mullins.
»Klar, genauso, wie Sie mir sagen wollten, dass Sie die letzten sechs Monate überall in der verdammten Stadt verstümmelte Leichen gefunden haben!« Phil war so wütend, dass er zitterte. »Ja, Chief, Sie wollten es mir erzählen, nur haben Sie es nicht getan! Herrgott, Sie hätten es mir nie verraten, wenn ich es nicht durch einen blöden Zufall selbst herausgefunden hätte!«
»Phil, zieh keine voreiligen Schlüsse. Lass mich …«
»Gottverdammt, Chief! Alles, was Sie mir erzählen, ist ein Haufen Scheiße! Und jetzt das hier …« Phil deutete mit der Hand auf die dritte Zelle. »Sie sagten, Sie würden den Bunker hier nur noch als Lager benutzen, und jetzt komm ich rein und sehe, dass Sie die ganze Zeit einen Gefangenen hier drin hatten! Was zur Hölle soll das?«
»Hey, wenn du nur für einen Moment deine Klappe halten würdest und mich verdammt noch mal ausreden lässt …«
Zum wiederholten Mal konnte Phil nicht anders, als sich von seinem Boss hintergangen zu fühlen. Das war jetzt schon das dritte oder vierte Mal, dass Mullins ihm unter merkwürdigen Umständen wichtige Informationen vorenthielt. Mit zorngerötetem Gesicht warf er einen Blick in die Zelle. »Wer zur Hölle ist der Kerl überhaupt?«
»Sein Name ist Wanst Clydes«, sagte Mullins. »Nur ein weiterer örtlicher Penner, der Drogen verkauft und Ärger macht. Kam eines Nachts hier rein, völlig wirr und aufgedreht, und faselte irgendwas davon, dass ihn eine Horde Creeker angefallen hätte.«
»Creeker?«, fragte Phil, ebenso erstaunt wie wütend. »Der verdammte Kerl wird von Creekern angegriffen und Sie lassen mich nicht mit ihm reden?«
»Er behauptete, er wär von Creekern angefallen worden«, korrigierte Mullins. »Ich glaub ihm kein verdammtes Wort – der Wichser hat halluziniert, konnte kaum laufen, so high war er.«
»Nein, war ich nich’!«, rief der Typ in der Zelle. »Und es stimmt, das war’n Creeker, die uns da fertiggemacht haben. Und das war’n Creeker, die mein’ Kumpel gekillt ham!«
»Halt’s Maul, Arschloch«, versetzte Mullins, »bevor ich dich direkt ins Countygefängnis trete. Was ich vermutlich längst hätte tun sollen.«
»Was legen Sie ihm zur Last?«, fragte Phil.
»Nichts. Ich lass ihn hier nur ’ne Weile runterkommen.«
Phil verdrehte theatralisch die Augen. »Chief, Sie können den Kerl nicht einfach ohne Anklage oder Anmeldung beim Bezirksstaatsanwalt für einen Gerichtstermin einsperren.«
»Natürlich kann ich das. Das hier ist ’ne persönliche Sache. Ich klag den Jungen nicht an, weil sein Daddy ’n Freund von mir ist. Ich dachte, ich lass ihn ’ne Weile hier schmoren, damit der fette Penner seine Lektion bekommt. Außerdem will er gar nicht hier raus – wenn du’s nicht glaubst, frag ihn selbst. Und ich hab’s mir verkniffen, es dir zu sagen, weil ich dachte, ich warte besser, bis er wieder klarer im Kopf ist, bevor ich dich auf ihn loslasse. Scheiße, eine Woche lang hat er nichts außer dem größten Haufen Blödsinn von sich gegeben, den du je gehört hast, und es ist nicht viel besser geworden.«
Nichts davon klang schlüssig, doch es dämmerte Phil allmählich, dass nichts aus Mullins’ Mund jemals schlüssig klang. Es stimmte, bei chronischen PCP-Junkies dauerte es oft Tage oder gar Wochen, bis das Gift so weit aus ihrem Körper verschwunden war, dass sie wieder halbwegs klar im Kopf wurden. Es stimmte auch, dass sie häufig halluzinierten. Doch in diesem Moment spielte das keine große Rolle.
»Du glaubst, ich verarsche dich, oder?«, fragte Mullins. Seine stählernen Augen bohrten sich in Phil förmlich hinein.
»Ja«, sagte Phil, »ich denke, das tue ich.«
»Warum sollte ich das machen?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nicht mehr, was ich noch glauben soll.«
»Nun gut«, grummelte Mullins. »Der Wichser ist durchgeknallter als ’ne verfickte Beutelratte in ’nem Scheißhaus, aber du musst mir ja nicht glauben. Was weiß ich schon, ich bin ja nur seit 30 verdammten Jahren der beschissene Chief hier. Nur zu! Horch ihn aus! Danach kannst du mir alles über die wertvollen, verlässlichen Informationen erzählen, die du aus dem Kerl rausgekitzelt hast. Nur zu, nur zu, verschwende deine Zeit – mir soll’s egal sein.« Mit diesen Worten schnaufte Mullins nach draußen.
Phil schaltete eine weitere Lampe an und starrte forschend in die Zelle, um ihren Bewohner genauer in Augenschein zu nehmen. Der Bursche hockte zusammengesunken auf seiner Pritsche, neben ihm ein Metallwaschbecken und ein primitives Klo. Jeans, Turnschuhe, ein sackartiges T-Shirt und ein Wanst, der Mullins Konkurrenz machte. Langes, strähniges Haar hing ihm auf die Schultern und offensichtlich war er kein Anhänger regelmäßiger Rasuren. Nur ein weiterer fetter, nichtsnutziger Redneck, vermutete Phil. Doch sein Spitzname, Wanst, ließ Phil aufhorchen – er war einer von Sullivans Leuten an der Front, einer der ›Ersatzmänner‹, wie er beim Gespräch im Knast erfahren hatte.
»Also, Wanst, dann lass mal hören. Wie lange schmorst du schon hier drin?«
»’n Monat, schätz ich. Is’ nich’ so schlecht. Chief Mullins, der bringt mir dreimal am Tag was zu essen, gutes Zeug vom Qwik-Stop oder von Burger King, und ab und zu hat er mich auch duschen lassen.«
Qwik-Stop und Burger King, dachte Phil. All die Vitamine, die ein Heranwachsender braucht. »Stimmt es, dass du hier gar nicht weg willst?«
»Nun, ja, das is’ richtig.«
»Warum das? Was will ein Junge in deinem Alter im Knast?«
Wanst fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht und starrte auf einen imaginären Punkt zwischen seinen Füßen. »Ich denke, wenn ich lang genug hier drin bleib, dann vergessen die mich.«
»Wer denn, Wanst? Die Creeker?«
»Ja.« Der Junge schluckte beim Klang des Wortes. »Die Creeker.«
Phil nahm auf einer Sitzbank gegenüber der Zelle Platz. Typisch. Drogeninduzierte Paranoia. Ein häufiges Symptom bei chronischen PCP-Junkies. »Wie war das mit deinem Kumpel, den sie umgebracht haben? Meinst du Scotty-Boy?«
Wanst sah vom Boden auf. »Woher wissen Sie das denn?«
»Ich weiß eine ganze Menge, Wanst«, antwortete Phil. »Ich weiß, dass du Lieferungen für ein neues Dust-Labor gefahren hast, das von einem Geldgeber aus Florida finanziert wird. Ich weiß, dass ihr Jungs versucht habt, dem Dealer vor Ort das Geschäft kaputtzumachen. Und ich weiß, dass du mit Eagle Peters, Paul Sullivan, Jake Rhodes und Blackjack zusammengearbeitet hast.«
»Scheiße, Mann. Wer hat mich verpetzt?«
»Mach dir deswegen keine Sorgen. Diese Typen? Die sind entweder tot oder verschwunden. Eure Konkurrenz hat sie alle aus dem Weg geräumt, und zwar verdammt effektiv. Du hättest Peters und Rhodes sehen sollen. Hat Sullivan dir jemals erklärt, warum er dich und Scotty-Boy das Zeug fahren ließ?«
»Nee. Warum denn?«
»Weil alle, die den Job vorher erledigt haben, spurlos verschwunden sind. Und ich weiß noch etwas, Wanst. Ich weiß, dass Natter und seine Creeker dahinterstecken. Er benutzt das Sallee’s als Umschlagplatz. Ich will, dass du mir sagst, wo sein Labor ist.«
Wanst sah plötzlich völlig perplex aus, vielleicht war es auch einfach nur Einfältigkeit. »Natter? Ich weiß überhaupt gar nichts von Natter. Paul hat mir nie genau gesagt, mit wem wir’s da zu tun hatten.«
Herrje, nicht schon wieder diese Leier!, dachte Phil. »Komm schon, Wanst, verarsch mich nicht. Hier drin ist es warm und sicher, aber ich glaube kaum, dass dir das Countygefängnis gefallen würde. Schon mal den Begriff ›Boyfotze‹ gehört? Oder ›Gefängnisschlampe‹?«
»Ich schwör’s, Mann! Ich weiß gar nichts drüber, dass Natter mit Flake dealt. Ich weiß nur, dass er die Creeker auf Scotty-Boy angesetzt hat.«
»Du hast gesehen, wie Natter deinen Kumpel umgebracht hat?«
»Er war da. Ich weiß, dass er’s war, weil ich hab ihn mit mein’ eigenen Augen gesehn. Zuerst war ich nich’ sicher, weil ich ja so ’ne Scheißangst hatte. Doch als ich da weg war und mich bei Chief Mullins hier gestellt hab, wurd’ mir klar, wer’s war. Dieser Cody Natter.«
Phil atmete tief durch, um die Erregung, die von ihm Besitz ergriffen hatte, in Zaum zu halten. Das war zu einfach. Vor fünf Minuten noch hatte ich keinen Fall mehr und jetzt habe ich einen Augenzeugen, der gesehen haben will, wie Cody Natter einen Mord in Verbindung mit einem Drogendelikt begangen hat. Schätze, ich bin heute doch mit dem richtigen Fuß zuerst aufgestanden.
»Aber das war nicht wegen dem Flake, dass uns die Creeker fertiggemacht haben«, fuhr Wanst in seiner Erzählung fort und stierte ihm aus der Dunkelheit seiner Zelle entgegen. »Das war wegen Scotty-Boy, verstehen Sie? Wir hatten so ’n Mädel als Anhalter mitgenommen – Scotty-Boy wollt sie durchnehm’, wir wollten so ’n bisschen Action. Aber das Mädchen war ’n Creeker. Scotty-Boy, also, der hat sie im Truck und will’s ihr gerad’ besorgen, da sind plötzlich Creeker überall, und die zieh’n ihn aus ’m Truck und schlitzen ihn mitten im Dreck auf. Das war wie so ’ne Opferung oder so was.«
Phil entgleisten die Gesichtszüge, als er Wanst durch das Gitter ansah. Wovon zur Hölle redet er da? »Wanst, willst du mir erzählen, die Creeker hätten Scotty-Boy als Teil eines Rituals umgebracht?«
»Ja«, antwortete der Junge, ohne zu zögern – und, so schien es, ohne den geringsten Zweifel. »Cody Natter, wissen Sie, der is’ das pure Böse.«
»Das pure Böse?«
»Genau, der böseste Mann, den ich je gesehen hab. Diese Creeker, die beten zu so ’nem Dämon und dem opfern sie Leute.«
Phil schüttelte den Kopf. »Woher weißt du das alles, Wanst?«
»Ich weiß das, weil Natter, wissen Sie, der kam hier rein und hat mir das erzählt.«
»Moment mal, Moment, Wanst«, bremste Phil. »Du willst mir sagen, dass Cody Natter eines Nachts in dieses Gefängnis gekommen ist und dir dieses Zeug von Opfern und Dämonen erzählt hat?«
»Nun, ja, es war nich’ so, dass der hier für-si-kalisch da war.« Wanst legte sich einen Finger an die Schläfe. »Er war in mein’ Kopf, versteh’n Sie? Fast jede Nacht. Manchmal, wenn ich schlafe, und manchmal auch, wenn nich’. Und er flüstert mit mir und zeigt mir Sachen in mein’ Kopf. Er zeigt mir diesen Dämon und er zeigt mir die Hölle. Sagt, er hat da ’n besondern Ort für mich, wenn er mich kriegt.«
Um Gottes willen, dachte Phil angewidert. Mein Augenzeuge löst sich gerade in Luft auf. Ich seh ihn direkt vor mir im Zeugenstand, die Hand auf der Bibel, und dann erzählt er dem Richter, wie Cody Natter nachts in seinem Kopf auftaucht und ihm seine Dämonensammlung zeigt. Niedergeschlagen legte Phil die Hände vors Gesicht und rieb sich die Augen. »Weißt du, Wanst, diese Scheiße, die du nimmst, macht einem wirklich den Verstand kaputt.«
»Was für ’n Scheiß mein’ Sie?«
»Dust, Wanst. Flake. PCP. Das ist verdammtes Pferdebetäubungsmittel gepanscht mit Farbverdünner und industriellen Lösungsmitteln. Es verursacht irreparable Schäden an den Hirnrezeptoren.«
»Nee, aber da liegen Sie falsch. Ich hab im Leben kein Flake geraucht, außer vielleicht ein-oder zweimal, und das is’ Jahre her. Hat mir nich’ gefallen, also hab ich’s nich’ mehr genomm’.«
Aber sicher, und der Papst kackt in den Wald.
»Ich sag ja nich’, dass wir’s nich’ gefahren haben. Was ich und Scotty-Boy gemacht haben … wir haben immer nachts hinter Bars gewartet und Typen wegen der Scheine überfallen. Scotty-Boy, der hatte so ’n Schlagring, damit hat er die stärksten Typen umgehauen. Das haben wir immer so gemacht, wenn’s was zu holen gab, aber wissen Sie, wir haben schneller Kohle gemacht, wenn wir für Eagle und Sullivan Lieferungen fuhren. Die Leute kaufen den Scheiß wie blöd in jeder Stadt von hier bis Lockwood. Da kann man mächtig absahnen. Klar, ich weiß, die Sachen, die wir gemacht haben, aufreißen oder für Sullivan arbeiten, waren nich’ gut. Und ich weiß auch, dass mich Natter darum holen will. Er will mich in die Hölle schicken, damit ich für meine Sünden bezahl’. Seh’n Sie, sein Plan is’, mich zu schnappen, wenn ich hier rauskomm’, dann bringt er mich zum Dämon.«
Phil ächzte. Warum passiert so eine Scheiße immer mir? Warum erwisch ich immer die Durchgeknallten? Bisher passte nichts zusammen. Jedes Mal, wenn er sich der Aufklärung des Falls näherte, entpuppten sich seine Spuren als Luftnummern. Es war beinahe so, als habe dieser Fall ihn mit einem Fluch belegt.
»Das is’ Teil von ihrer Religion«, sagte Wanst.
Phils Gedanken stockten einen Moment. Religion. Was hatte Sullivan ihm noch im Countygefängnis erzählt?
Etwas über die Religion der Creeker …
Doch das war lächerlich. Er musste Mullins beipflichten: Wanst litt offenbar unter einer durch PCP-Missbrauch hervorgerufenen Psychose. Verrückter als ein Opossum in einem Scheißhaus, kein Witz, Chief. Nichts von dem, was der Kerl sagte, konnte man als verlässlich bezeichnen. Er taugte nichts als Zeuge und würde es niemals tun.
»Danke für deine Zeit, Wanst«, sagte Phil und stand auf. »Sicher, dass ich dich nicht hier rauslassen soll?«
Wanst zuckte in einem plötzlichen Anfall von Panik zusammen. Sein Bauch wabbelte. »Nein, Mann, bitte! Ich bin sonst nirgendwo sicher. Bitte zwingen Sie mich nich’ zu gehen!«
»Alles klar, Wanst. Wenn du noch ein paar Tage hierbleiben und einen klaren Kopf bekommen willst, hab ich kein Problem damit.«
»An mein’ Kopf is’ alles in Ordnung. Ich weiß, es klingt verrückt, aber es is’ alles wahr.«
»Sicher, Wanst. Bis dann.«
»Und Sie passen besser auf, Mann. Legen Sie sich nich’ mit Natter und sein’ Creekern an, oder die machen das Gleiche mit Ihn’ wie mit Scotty-Boy. Die wer’n Sie diesem Dämon dort opfern.«
»Ich weiß deine Sorge zu schätzen, Wanst, und du kannst dir sicher sein, dass ich’s im Hinterkopf behalten werde.« Herrgott, genau was ich gebraucht habe, noch so ein Irrer, dachte Phil. Gibt es nicht schon genügend Verrückte auf der Welt?
Phil ging zum Ausgang, doch kurz bevor er den Flur erreichte, erklang hinter ihm ein vertrautes Wort:
»Fres-hauter.«
Er hielt inne und stand kurz wie erstarrt. Das Wort hatte ihn regelrecht festgenagelt. Er ging zu Wanst in seiner Zelle zurück.
»Was bedeutet dieses Wort?«, fragte er sehr langsam.
»So nenn’ die ihren Dämon«, sagte Wanst. »Ich glaub, das is’ wie ’n Spitzname, denn er hat noch ’n ander’n Namen.«
»Welchen denn?«
»Ona«, verriet Wanst.