NEUN
TRAUM. Der Gedanke pochte trocken in seinem Kopf.
Phil tauchte wie aus einem dunklen Abgrund auf und starrte an die Decke seines Zimmers. Vereinzelte Sonnenstrahlen stachen durch die Lücken der Jalousie und wiesen die falsche Nacht, die er sich aufgrund seiner Arbeitszeiten verschaffen wollte, in ihre Schranken. Trotz der bulligen Hitze im Raum fühlte er sich wie in kalten Schlamm getaucht.
Ein Traum …
Weniger ein Traum als vielmehr eine Wiederholung, ein geistiges Abschleppseil, das ihn zu jenem Tag vor 25 Jahren zurückgezogen hatte. Die in seiner Erinnerung aufgefrischten Bilder ließen es wie gestern erscheinen …
Die feuchten Wälder. Summende Insekten. Das kleine Creekermädchen. Der lange Pfad, der sich den Hügel hinaufwand, den er bis zu diesem Tag noch nie gesehen hatte. Und …
Das Haus, erinnerte er sich.
Und das war alles, an das er sich zu erinnern wagte – das Haus. Nicht die Dinge, die er dort gesehen hatte oder gesehen zu haben glaubte. Gott sei Dank war er aufgewacht, bevor der Traum auch diese Fragmente seiner Erinnerung hervorgeholt hatte …
Er stöhnte, schwang sich aus dem Bett und verzog grimmig das Gesicht, als er die Jalousien öffnete. Nachts zu arbeiten, hieß natürlich, tagsüber zu schlafen. Er hatte sich daran gewöhnt, abgesehen von dieser ersten groben Attacke der Sonne. Es war ein seltsames Gefühl, um 15 oder 16 Uhr nachmittags aufzustehen, während der Rest der Welt den Tag am Morgen begann. Immerhin, sagte er sich, muss ich mich nicht mit dem Berufsverkehr herumschlagen.
Das winzige Apartment mit Schlafzimmer, das er von Old Mother Crane mietete, war nicht gerade ein Penthouse in den Trump Towers, aber der Preis stimmte. Es war alles, was er im Moment brauchte. Der einzige Nachteil war die fehlende Klimaanlage; ein Umstand, der sich an heißen Tagen besonders unangenehm bemerkbar machte. Er schaltete den riesigen Fensterventilator an, schnappte sich ein Handtuch und ging ins Badezimmer. Er hielt kurz vor dem Spiegel an, lange genug, um sich selbst zu verspotten. Siehst gut aus, Phil. Hübsch gebräunt auch. Er fand, dass er für seine 35 Jahre gut in Form war, doch zehn Jahre Polizeiarbeit – ganz zu schweigen von seinem Job als Wachmann auf Nachtschicht – hatten ihn blass wie einen Fischbauch werden lassen. Sein Anblick im Spiegel ließ ihn auflachen: bleich und nackt, Bartstoppeln im Gesicht, sein dunkelblondes Haar völlig durcheinander nach sechs Stunden schweißgetränktem Schlaf. So kommst du nicht aufs Cover von GQ, dachte er. Selbst seine sonst so klaren haselnussbraunen Augen wiesen dunkle Ringe auf. Der Traum hatte ihn erschöpft, all diese schrecklichen Erinnerungen …
Die kalte Dusche fühlte sich bei der Hitze lauwarm an. Kaum hatte er sich abgetrocknet, begann er bereits wieder zu schwitzen. Er hatte noch mehrere Stunden Zeit, bevor seine Schicht begann, wusste aber nicht recht, was er damit anfangen sollte. An der Feuerwache rumhängen? Eine gemütliche Spazierfahrt durch die schöne Altstadt von Crick City unternehmen? Himmel … Er wusste, dass er sich ablenken musste, sonst würde er wieder über den Traum nachdenken oder die Sache mit Vicki Steele. Er musste aufhören, sich solche Gedanken zu machen, aber wie sollte er das anstellen, jetzt, wo er zurück in der Stadt war und ständig die vertrauten Menschen und Örtlichkeiten um sich herum hatte? Fang mit Rasieren an. Er schäumte sich das Gesicht ein und ließ dann beinahe die Rasierklinge fallen, als jemand an der Tür klopfte.
Wer zum … Meine Miete ist noch nicht fällig, oder? Ich wohne erst seit drei Tagen hier. Ist es vielleicht der Mann von der Lotterie, der mir meine 15 Millionen Dollar bringt? Er musste unwillkürlich grinsen, wickelte sich ein Handtuch um und ging zur Wohnungstür.
»Ich habe schon im Büro gespendet«, sagte er, als er sah, wer es war.
Das hübsche Gesicht schenkte ihm ein schneidendes Lächeln. Die blonde Eishexe, erkannte er. Susan, unsere liebenswerte, gut gelaunte Leitzentrale.
»Hübsches Handtuch«, bemerkte sie.
»Hätte ich gewusst, dass Sie vorbeikommen, hätte ich mir eine Krawatte umgebunden. Okay, was kosten die Pfadfinderinnen-Kekse?«
»Sie sind wirklich furchtbar sarkastisch«, antwortete Susan Ryder.
Phil konnte sich vorstellen, wie albern er aussehen musste. Grünlicher Rasierschaum trocknete auf seinem Gesicht und alles, was seine Blöße bedeckte, war ein mickriges Handtuch. »Also gut, lassen Sie es mich anders formulieren. Was zur Hölle wollen Sie?«
»Nun, ich bereue es zwar schon, aber ich dachte, ich lade Sie zum Abendessen ein.«
Abendessen?, dachte Phil schwammig. Die Frau hasst mich. Sie glaubt, ich erschieße Gettokinder. Und jetzt will sie mich zum Essen einladen?
»Oder vielleicht sollte ich sagen«, korrigierte sie, »wie immer wir Nachtschichtler die erste Mahlzeit des Tages auch nennen. Ich schätze, es ist unser Frühstück.« Mit einem Mal wirkte sie zittrig und nervös. »Sozusagen als Friedensangebot, verstehen Sie?«
»Friedensangebot?«, bemerkte Phil etwas dümmlich.
»Sind Sie so ein Holzkopf?«, fauchte sie plötzlich. »Ich versuche, mich zu entschuldigen! Großer Gott!«
»Entschuldigen?« Phil stand weiter auf dem Schlauch. Der Rasierschaum trocknete ungeduldig vor sich hin. »Ähm … für was entschuldigen?«
Ihre hübschen blauen Augen verengten sich in Verärgerung oder Zorn. »Dafür, dass ich Sie heute Morgen so mies behandelt habe. Aber wenn Sie sich wie ein Arschloch aufführen wollen, vergessen Sie’s.«
»Oh. Ah«, kam Phils eloquente Antwort. Das Ganze hatte ihn auf dem falschen Fuß erwischt. »Gut, in diesem Fall nehme ich Ihre Entschuldigung und die Einladung an. Kann ich mich noch umziehen oder soll ich so gehen?«
»Sie können so rausgehen, wenn Sie wollen«, sagte sie lächelnd. »Aber wenn dieses Handtuch runterfällt, müssen Sie sich selbst wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaften.«
»Oder ungesetzlicher öffentlicher Zurschaustellung von Rasierschaum«, antwortete er und fand allmählich seine Schlagfertigkeit wieder. »Kommen Sie rein, ich brauch nur eine Minute. Das Zimmermädchen hat heute frei, verzeihen Sie also den aktuellen Zustand meiner Behausung.«
Susan Ryder trat ein und wandte sich sofort dem Bücherregal in seiner Besenkammer von Wohnung zu. Hauptsächlich Fachtexte über Rechtswissenschaften und Kriminologie aus der Zeit seines Masterstudiums. »Meine Thomas von Aquins und Jungs sind noch im Karton«, sagte er, »aber ich habe alles von Jack Ketchum, was je veröffentlicht wurde.« Er schnappte sich ein paar Klamotten und schlüpfte ins Bad. Er rasierte sich hektisch und bemerkte seine Nervosität, als er sich um ein Haar Raumspray unter die Achseln gesprüht hätte. Warum sollte ich nervös sein?, witzelte er. Ich habe ständig hübsche Blondinen zu Besuch.
Sie war definitiv attraktiv. Vielleicht hatte er das bei ihrer ersten Begegnung angesichts der Umstände nicht wirklich zur Kenntnis nehmen wollen. Er ließ die Badezimmertür einen Spaltbreit offen stehen. Im Spiegel konnte er sehen, wie sie sich über sein Bücherregal aus Sperrholz beugte, schlicht gekleidet in Jeans, Turnschuhen und einer gebleichten, lindgrünen Bluse. Ja, sie ist wirklich hübsch, erkannte er, während er sich mit einer Hand die Zähne putzte und mit der anderen seine Jeans überstreifte. Unbehandeltes, weißblondes Haar leuchtete auf ihren Schultern. Netter Hintern auch, du Machoschwein, kommentierte er die Art, wie ihre Haltung ihr wohlgeformtes Gesäß zur Geltung brachte. Doch er wusste, was es wirklich war – nicht ihr gutes Aussehen, sondern die ganze Sache mit der Entschuldigung. Entschuldigungen schienen absolut nicht ihr Ding zu sein, doch –
Er kannte sie nicht wirklich, oder? Wie konnte er also ein solches Urteil über sie fällen, wo er sie heute Morgen noch wegen ihrer Voreingenommenheit angefahren hatte? Wer vorverurteilt hier wen?, musste er sich ehrlich fragen, den Mund voller Zahnpasta.
»Oh«, rief sie vom Schlafzimmer herüber, »wussten Sie, dass Sie im Schlaf reden?«
Phil spuckte Zahnpasta ins Waschbecken. »Was?«
»Sie reden im Schlaf«, wiederholte sie, immer noch über sein Bücherregal gebeugt. »Sie sind eine regelrechte Quasselstrippe.«
Phil starrte in den Spiegel. Zahnpasta war auf seinen Lippen verschmiert wie die weiße Schminke eines betrunkenen Clowns. Er wusste natürlich, dass er gelegentlich im Schlaf sprach – die Frauen in seinem Leben hatten es stets kommentiert – doch wie zum Teufel konnte Susan das wissen?
»Sie haben entweder übersinnliche Kräfte oder aber eine Wanze in meinem Zimmer versteckt.«
»Weder noch.« Im Spiegel beobachtete er, wie sie den Stapel von Mitgliedsmagazinen der Law Enforcement Alliance of America in einer Kiste durchblätterte. »Ich wohne im Zimmer direkt über Ihnen.«
Phil hätte beinahe erneut Zahnpasta gegen den Spiegel geschleudert. »Sie wohnen hier?«
»Ja. Ist Mrs. Crane nicht großartig? Wie auch immer, Sie werden bald feststellen, dass die Heizungsrohre ein hervorragendes Kommunikationssystem abgeben. Sie sollten sich also besser knebeln, bevor Sie ins Bett gehen, wenn ich nicht all Ihre Geheimnisse erfahren soll.«
Na toll, dachte Phil und zog sich sein Highpoint-College-Shirt an, während er nach einer schlagfertigen Antwort suchte.
»Die Heizungsrohre, ja? Daher also dieses laute, vibrierende Geräusch, das ich jeden Tag von oben höre.« Er bereute den Witz sofort. Er kannte sie nicht besonders gut, und ganz bestimmt nicht gut genug, um solche Sprüche zu klopfen.
»Wenn Sie es unbedingt wissen müssen«, kam die schnelle Antwort, »ich benutze Orgasmuskugeln und keinen Vibrator.«
Jesses. Er vermutete, dass sie einen Witz machte. Hoffte es wenigstens. Er kam aus dem Bad und wollte etwas sagen, als sie sich zu ihm umdrehte. Er zögerte. Die Pause währte nur eine Sekunde, doch es schien ihm, als wären es Minuten. Großer Gott, sie ist wirklich schön, schoss ihm durch den Kopf. Kein Make-up, nur ein einfaches, hübsches Landmädchen-Gesicht, ein schlanker, trotzdem angenehm gerundeter Körper und hohe Brüste, Körbchengröße B, die prall wie Äpfel wirkten. Für einen Augenblick wirkte ihr Gesicht in seinem Rahmen aus rein blondem Haar wie von einem Scheinwerfer angestrahlt. Ihre Augen, von einem wunderschönen Meeresblau, funkelten wie Edelsteine.
»Sie können mich zum Abendessen oder Frühstück ausführen, oder wie immer wir Nachtschichtler auch die erste Mahlzeit des Tages nennen«, erklärte er. »Ich werde mein bestes Sportsakko anziehen, wenn es ein teures Restaurant wird.«
»Ist Ihnen Chuck’s Diner nobel genug?«
Phil hielt ihr die Tür auf und folgte ihr nach draußen. »Chuck’s Diner? Ich schätze, ich ziehe besser meinen Frack an.«
Sie nahmen ihren Wagen, einen netten kleinen Mazda-Zweitürer, wofür Phil dankbar war. Er schämte sich zwar nicht für seinen verbeulten, rostigen, ziegelroten 76er Malibu, aber … es war womöglich etwas mehr als Scham. So unreif es auch schien, kein richtiger Mann wollte eine attraktive Frau in so einer Karre irgendwo hinfahren. Susans Wagen war sauber und ohne überflüssigen Schnickschnack, genau wie sie. Er betrachtete ihr im Fahrtwind flatterndes Haar. »Kein Einparkservice?«, scherzte er, als sie auf dem Parkplatz vor Chuck’s hielten.
»Nur am Wochenende«, antwortete sie. Sie entschieden sich für eine Sitznische im hinteren Bereich des Restaurants. Noch so eine Begegnung mit der Vergangenheit, überlegte Phil. Er war vor mehr als zehn Jahren das letzte Mal hier gewesen. Chuck’s Diner war ein typisches Lokal für den kleinen Geldbeutel, wenn auch sauberer als die meisten anderen Vertreter seiner Art. Eine Kellnerin mittleren Alters mit Schürze und Häubchen nahm ihre Bestellung entgegen.
»Also, was tragen Sie?«, fragte Susan.
»Tragen?«
Susan runzelte die Stirn und fragte erneut. »Welche Art von Waffe tragen Sie außerhalb des Dienstes?«
»Oh, das meinen Sie.« Aber was für eine seltsame Frage. »Eine Beretta Kaliber 25.«
»Das ist ja ’ne Erbsenpistole!«, rief sie. Die Kellnerin brachte das Essen. Dann fuhr Susan fort. »Was wollen Sie denn mit einer 25er erschießen? Schnaken?«
Phil beäugte seinen Hackbraten mit Eiern. »Eigentlich habe ich nicht vor, etwas zu erschießen, außer vielleicht die Kellnerin, wenn sie mir nicht ganz schnell Salz und Pfeffer bringt.«
»Polizisten sollten rund um die Uhr auf Ärger vorbereitet sein. Was, wenn irgendein zugedröhnter Spinner Sie abknallen will?«
»In Chuck’s Diner? Schön, wenn jemand meinen Hackbraten haben will, dann soll er ihn haben.«
»Ich würde mich mit nichts Kleinerem als einer aufgemotzten Neun-Millimeter erwischen lassen«, sagte sie und biss lässig in ihren Cheeseburger. »Im Moment habe ich eine 45er SIG dabei.«
»Sie tragen eine Waffe?«, fragte Phil erstaunt.
»Natürlich. Mullins hat mir einen Waffenschein besorgt. Meinte, ansonsten könnte ich nicht für ihn arbeiten. Es ist eine verrückte Welt, an jeder Ecke lauert ein Irrer.«
Phil nickte. »Eher zwei an jeder Ecke.« Und er war ihnen bei der Metro überall begegnet. Ihm war danach, ein paar Anekdoten zu erzählen, doch bevor er dazu kam, sagte Susan: »Schauen Sie mal!« Dann öffnete sie ihre Handtasche, um die große, klobige Automatikwaffe daraus hervorzukramen.
»Stecken Sie die weg«, sagte Phil. »Das ist ein Restaurant, keine Asservatenkammer.«
Sie zuckte mit den Achseln und verstaute die Waffe wieder in ihrer Tasche. »Ich denke drüber nach, mir eine von diesen Maschinenpistolen von Heckler & Koch oder eine gebrauchte Bren-10 zuzulegen.«
Was sagt man dazu?, dachte Phil. Dirty Harry hat eine Schwester. »Wenn Sie meine Meinung hören wollen, bleiben Sie bei einfachen Schießeisen.«
Sie funkelte ihn über den Tisch hinweg an, als habe er sie tödlich beleidigt. »Oh, weil ich eine Frau bin? Können Frauen mit großen Kalibern etwa nicht umgehen?«
Phil stieß ein frustriertes Seufzen aus. »Beruhigen Sie sich, Annie Oakley. Warten Sie ab, bis Sie mal eines Nachts in eine Schießerei verwickelt werden und ihrer geliebten Automatik ’ne Kugel im Lauf stecken bleibt. Sie würden ihre Seele für einen Colt verkaufen.«
Sie zuckte erneut mit den Achseln, als könnte sie sich nicht so recht entscheiden, ob sie zustimmen sollte oder nicht.
»Wie fühlt es sich an, zurück zu sein?«
»In Ordnung, schätze ich. Ein Job ist ein Job.«
Sie spielte mit einer Fritte, den Blick gesenkt. »Noch einmal, ich möchte mich wirklich dafür entschuldigen, wie ich Sie heute Morgen behandelt habe. Ich hatte kein Recht, so mit Ihnen zu reden.«
»Machen Sie sich keinen Kopf«, antwortete Phil. Eigentlich fand er es inzwischen ganz witzig. Vor ein paar Stunden hat sie mich praktisch des Mordes bezichtigt und jetzt lädt sie mich zum Hackbraten ein. »Ich schätze, wir erwischen alle mal einen schlechten Tag.« Doch er wechselte lieber schnell das Thema. »Was hat es mit den Büchern auf sich, die Sie immer lesen? Gehen Sie aufs College?«
Sie nickte. »Ja. Es geht langsam, aber beständig voran. Mein Hauptfach ist Kriminologie, mein Nebenfach Geschichte. Ich bin jetzt im letzten Semester, Gott sei Dank. Ein paar Abendkurse jede Woche.«
»Das ist großartig«, sagte Phil anerkennend. »Was wollen Sie danach machen? Weiter für Mullins arbeiten?«
»Nicht in diesem Leben. Ich will zur Drogenfahndung oder vielleicht auch zum Zoll. Und es gibt immer noch die County-Abteilungen im Norden. Das Letzte, das ich sein will, ist ein Cop in Crick City …« Sie unterbrach sich und hielt sich erschrocken eine Hand vor den Mund. »Entschuldigung. Es war nicht böse gemeint.«
»Schon in Ordnung«, lachte Phil. »Es ist auch das Letzte, das ich sein wollte, aber ich habe im Moment keine große Auswahl.«
Ihr Blick schweifte abwesend zum Fenster. »Es ist diese Stadt, wissen Sie? Sie ist so langsam, so verzweifelt und rückständig. Es ist deprimierend. In derselben Minute, in der ich einen vernünftigen Job gefunden habe, bin ich hier weg.«
»Ich weiß genau, wovon Sie reden, glauben Sie mir«, sagte Phil und er spürte, wie ihm die Kehle trocken wurde. Das Gleiche hatte er zu Vicki gesagt, oder nicht? Niemals würde er in einem solchen Niemandsland arbeiten. Er war zu gut für Crick City. Und nun war Vicki eine Nutte und Phil war –
Er musste den Gedanken nicht mal zu Ende denken.
»Wie lange arbeiten Sie schon für Mullins?«
»Etwas unter einem Jahr«, antwortete sie. »Er ist ein anständiger Kerl, wenn auch etwas grantig, und er hat mir den Job in der Leitstelle angeboten, als er hörte, dass ich was suche, um mir die Abendschule zu finanzieren. Er kannte meine Eltern, als sie noch lebten.«
Frag besser nicht nach, befand Phil, obwohl er die Gemeinsamkeit registrierte. »Sie sind also auch hier aufgewachsen?«
»Ja«, antwortete sie bedrückt. »Mein Vater wurde nach seiner Schussverletzung in Vietnam arbeitsunfähig. Meine Mutter übernahm verschiedene Aushilfsjobs, um uns durchzubringen, doch je mehr sie schuftete, desto schwieriger schien es zu werden.«
Die Geschichte spielte sich so oder ähnlich bei praktisch jeder Familie in dieser Gegend ab. Arme Leute, die sich abmühten, nur um irgendwie über die Runden zu kommen, es aber doch nie ganz schafften. Phil war zu jung gewesen, um sich wirklich an seine Eltern erinnern zu können, aber bei ihnen war es fast genauso gelaufen. Er konnte sehen, dass das Thema Susan zu schaffen machte. Das Strahlen war aus ihrem Gesicht verschwunden, die leuchtend blauen Augen nicht mehr ganz so hell. Er forschte angestrengt nach optimistischerem Gesprächsstoff, doch ihm fiel auf die Schnelle nichts ein. Dann erinnerte er sich, dass sie begeistert von Waffen und Polizeiarbeit im Allgemeinen war.
»Was wissen Sie über Cody Natter?«, fragte er.
Sie schob ihren Teller zur Seite. Die Fritten hatte sie kaum angerührt. »Nicht viel. Der einzige Ort, an dem man ihn halbwegs regelmäßig sieht, ist das Sallee’s. Der Laden gehört ihm jetzt, wie Sie sicher wissen.«
»Ja, Mullins erwähnte das. Halten Sie das nicht für seltsam?«
»Natürlich ist das seltsam. Ein Typ wie Natter? Kein erkennbares Einkommen, nicht mal ein eigenes Bankkonto. Ich glaube nicht, dass der Kaufpreis für Sallee’s besonders hoch war, aber trotzdem fragt man sich, wie er das notwendige Geld zusammengekratzt hat.«
»Ich frage mich noch mehr, warum er das Ding überhaupt gekauft hat.«
»Ich stimme Mullins zu«, meinte Susan. »Ein abgelegener Stripclub wie dieser ist der perfekte Treffpunkt, wenn man Drogen unters Volk bringen will. Letztes Jahr hat Mullins die Rechnungsprüfer auf ihn angesetzt, doch seine Bücher waren astrein. Keine Chance, ihn wegen der Steuern dranzukriegen. Ich hab keine Ahnung, wie er das angestellt hat.«
Phil war das egal. »Ich will ihn nicht wegen Steuerhinterziehung oder unrechtmäßiger Bereicherung festnageln. Ich will den Kerl wegen Herstellung und Verkauf von Drogen hochnehmen.«
»Dann brauchen Sie eindeutige Beweise, die ihn mit seiner Drogenküche in Verbindung bringen, und das dürfte schwierig werden«, erinnerte Susan ihn. »Das Labor selbst zu finden, dürfte ohnehin so gut wie unmöglich sein.«
»Wieso?«
»Natter ist ein Creeker. Sein Labor muss irgendwo oben in den Hügeln sein. Sind Sie schon mal dort gewesen? Es ist ein einziges Labyrinth. Wir reden hier von 3.000, vielleicht sogar 4.000 Quadratkilometern unerforschtem Waldgebiet. Es gibt Straßen da draußen, die Sie nicht mal auf dem Kartengitter des County finden. Natters Drogenküche aufzuspüren wäre so was wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Na ja, sagen wir eher in zehn Heuhaufen.«
Das war ein stichhaltiges Argument, dem sich Phil nicht verschließen konnte. »Sicher, aber vielleicht packt einer seiner Leute aus.«
»Vergessen Sie’s. Natters Leute sind Creeker. Die werden niemals reden; erstens, weil sie Angst vor Natter haben – er ist so was wie ihr Gott – und ein weiterer Grund ist, dass die meisten schlicht nicht sprechen können. Nehmen wir mal an, Sie erwischen einen beim Dealen. Kein Richter dieser Welt wird seine Aussage akzeptieren. Warum? Nun, juristisch gesehen sind sie allesamt geistig Zurückgebliebene, die das Gesetz als nicht zurechnungsfähig einstuft.«
Phil verzog das Gesicht. Sie hatte schon wieder recht. »Aber was ist mit Natter selbst?«, führte er ins Feld. »Haben Sie je mit dem Kerl geredet? Der ist clever wie ein Fuchs. Er ist klug, belesen, er ist eloquent. Ich würde kaum behaupten, dass er geistig unzurechnungsfähig ist.«
»Phil, bleiben Sie realistisch. Der Typ ist ein Creeker; gegen ihn sieht Frankensteins Monster wie Tom Cruise aus. Wenn sie ihn ohne hieb-und stichfeste Beweise vor Gericht bringen, muss er sich nur dumm stellen und der Richter schleudert die ganzen Prozessakten in hohem Bogen zum Fenster raus. Der einzige Weg, Natter dranzukriegen, ist, ein paar seiner Frontmänner oder Verteiler zu erwischen – Leute, die keine Creeker sind – und die zum Reden zu bringen. Sie müssen eine eindeutige Verbindung zwischen Natter und auf frischer Tat ertappten Drogendealern herstellen. Zumindest hat Mullins Sie auf die richtige Idee gebracht. Das Sallee’s eine Weile zu observieren, um sich einen Eindruck von Natters auswärtigen Kontakten zu verschaffen – nur so werden Sie Natter etwas anhängen können, das haften bleibt.«
Phil verzichtete darauf, sie aufzuklären, dass das sein Einfall gewesen war und nicht der von Mullins. Aber sie lag mit allem, was sie sagte, goldrichtig. Dies würde mindestens genauso kompliziert werden wie jeder seiner PCP-Fälle in der Großstadt, wenn nicht angesichts der atypischen Umstände sogar deutlich komplizierter. »Trotzdem will ich dieses Labor finden«, murmelte er mehr zu sich selbst. »Kein Richter wird sich vor klaren fotografischen Beweisen verschließen.«
Susan machte ein amüsiertes Gesicht. »Was, Sie glauben wirklich, Sie können ein Foto von Natter in seinem Labor schießen?«
»Warum nicht? Es wäre ein wasserdichter Fall.«
»Keine Chance, Phil. Natter ist viel zu clever für so etwas. Er hat womöglich noch nie selbst einen Fuß in das Labor gesetzt. Darauf wette ich.«
Phil grummelte. Schon wieder hatte sie recht. Ja, das ist mit Sicherheit nicht die große weite Welt, dachte er. Bei der Metro Police war er einer der besten Drogenfahnder gewesen, doch all seine Erfahrung schien ihm nun völlig nutzlos zu sein. Hier liefen die Dinge völlig anders und es galten gänzlich unterschiedliche Regeln.
»Phil!«, flüsterte Susan plötzlich. »Sehen Sie nur!«
Er sah von den Überresten seines Hackbratens auf. Susan starrte gebannt aus dem Fenster. Zwei Teenager, ein Junge und ein Mädchen, kamen auf dem Seitenstreifen die Landstraße herunter. Beide trugen kaum mehr als Lumpen am Körper. Ihre Köpfe waren von struppigem schwarzem Haar bedeckt und sie gingen unsicher. Windschief, fand er eine passende Formulierung. Der Junge trug in Auflösung begriffene Arbeitsschuhe, das Mädchen lief ungeachtet der spitzen Kiesel am Straßenrand barfuß. In der hellen, heißen Nachmittagssonne wirkten die beiden wie bizarre Gespenster.
»Creeker«, murmelte Phil leise.
»Gott, sie tun mir leid«, sagte Susan, während sie nach draußen sah. »Wo man schon vom Teufel spricht … die haben wirklich nichts zu lachen.«
Phil schluckte. Ihre Bemerkung verursachte ein Schuldgefühl in ihm. Bei all seinen eigenen Problemen, hier waren zwei Kinder mit echten. Sie waren zu weit entfernt, sodass er ihre Gestalt nur undeutlich erkennen konnte, aber das war schon mehr als genug. Der Hals des Jungen wirkte doppelt so lang, wie er sein sollte, und sein übergroßer Kopf hing dadurch zu einer Seite. Das Mädchen hingegen schien überhaupt keinen Kiefer zu haben. Während ihr linker Arm normal aussah, wirkte ihr rechter traurig verkümmert. Die Hand ragte aus dem Ellbogen.
»Ich frage mich, wie viele von denen es gibt«, warf Phil in den Raum.
Susans Blick wich nicht von ihnen, bis sie winzig klein hinter der nächsten Kurve verschwunden waren.
»Wer weiß?«, antwortete sie.