EINS

LIEUTENANT PHILIP STRAKER prüfte erneut den Zylinder seiner Smith & Wesson Modell 65. Paranoid, Phil?, fragte er sich. Was denn, meinst du, die Kugeln machen sich von selbst aus dem Staub? Dass die kleinen Kobolde sie stibitzen, während du nicht hinguckst? Der mit Munition gefüllte Edelstahlzylinder einer 38er Special +P von Remington glänzte. Er schnappte mit einem gut geölten Klicken zu. Immerhin, ein höherer Rang hatte seine Vorzüge. Alle anderen mussten sich mit schnöden Glock-Pistolen begnügen.

Phil badete in seiner kugelsicheren Second-Chance-Weste aus Kevlar regelrecht in Schweiß, aber man musste schon verrückt sein, bei einer Drogenrazzia keine Schutzkleidung zu tragen. Rote Nachtsichtlampen durchfluteten das Innere des Einsatzfahrzeugs – im Revier liebevoll »Kriegswagen« genannt. Auf der einen Seite lagerte die Ausrüstung für Kommunikation und Funkortung, auf der anderen waren die Waffen deponiert: AR-15-Gewehre, ein Scharfschützengewehr mit Nachtfernrohr, MP-5er und genügend Pistolen, um damit ein eigenes Depot ins Leben zu rufen.

Zwei Jungs vom Sonderkommando warteten mit ihm gemeinsam: Eliot, einer der Teamführer, und der »Schütze«, irgendein junger Ex-Marine mit dem unwahrscheinlichen Namen Cap, der stoisch wie eine geschnitzte Holzfigur dasaß und eine OA-15A2 im Arm hielt. Phil hatte gehört, dass dieser Bursche Kirschen auf 800 Meter Distanz vom Baum schießen konnte – das beruhigte ihn heute Nacht auf eine sehr brutale Art und Weise, denn Phil war sich vollkommen im Klaren darüber, dass es wahrscheinlich zu einer Schießerei kommen würde. Die gab es immer, wenn man eine Drogenküche hochnahm. Die Mistkerle wissen, dass es vorbei ist, aber sie kämpfen trotzdem. Wenn du auf das Einsatzkommando schießt, bist du tot, aber die Wichser scheint es nicht mal zu kümmern. Es war, als ob ein VW Käfer mit einem D8-Bulldozer Schisshase spielte. Der Käfer verlor immer …

»Kommunikationscheck, Bob«, wies Phil Eliot an. »Was macht Dignazio eigentlich die ganze Zeit …?«

»Holt sich vielleicht einen runter, Sir«, schlug Cap, der junge Scharfschütze, vor. »Oder er hat noch eine dringende Unterredung mit Mister Johnny Walker.«

»Wenn er weiter trödelt, verpasse ich noch das Spiel der Yankees.«

Eliot prüfte die Funkverbindungen der Einheit. Dignazios Team sollte zuerst reingehen, um die Ausgänge zu blockieren, die sie auf den Gebäudeplänen lokalisiert hatten. Dann würde Phil mit seinen Leuten vorne rein und ein paar Ärsche eintreten. Dignazio war ihm schon immer auf den Keks gegangen. Lässt uns wohl absichtlich warten, damit ich noch ein bisschen länger in meiner Weste schwitzen darf, schoss es Phil durch den Kopf.

Phil Straker, 35 Jahre alt, würde im nächsten Monat zum Captain befördert werden. Es galt als ausgemachte Sache, dass er spätestens mit 40 als Stellvertretender Polizeichef seine Kröten verdiente. Er hatte drei Tapferkeitsmedaillen verliehen bekommen, außerdem eine Auszeichnung für herausragenden Einsatz im Dienst, ganz zu schweigen von einem halben Dutzend Empfehlungsschreiben des Bürgermeisters. Eisernes Büffeln für seinen Bachelor in Kriminologie hatte ihn aus dem miesen Hinterwäldlerkaff herausgeholt, in dem er aufgewachsen war, und ihm seinen Traumjob in einem der großen Polizeidepartments verschafft. Von da an war es steil bergauf gegangen. Phil hatte die Karriereleiter schneller erklommen als jeder andere in der Geschichte des Departments und parallel sogar noch seinen Master gemacht. Anschließend riss er sich monatelang den Arsch auf, um zur Drogenfahndung versetzt zu werden, und nun gab er hier die Anweisungen.

Phil hasste Drogen.

Fünf Jahre Streife im Dritten Bezirk hatten ihm die Augen geöffnet. Die Drahtzieher, die auf alles und jeden schissen. Straßengangs, die verdammte Anwälte von den größten Firmen des Landes anheuerten. Polizeispitzel endeten kopfüber aufgehängt und ausgeweidet wie Jagdwild an einem Baum und die Schmuggelringe brachten Sechsjährige auf den Herointrip. Phil hatte in seinem gesamten früheren Leben nicht so viele Abgründe zu Gesicht bekommen wie hier innerhalb weniger Wochen …

»Alles klar mit dem Com-System, Sir«, verkündete Eliot auf seinem Stuhl in dem rot beleuchteten Wagen. »Sergeant Dignazio meint, noch fünf Minuten, dann stemmen sie die Tür auf.«

»Er lässt uns nur zappeln, Sir«, warf der Junge ein.

»Ich weiß«, sagte Phil. »Ist wegen mir. Der alte Sack hat mich auf der Abschussliste, seit wir uns das erste Mal begegnet sind. Ich wäre vermutlich auch etwas angefressen, wenn ich 19 Jahre gebraucht hätte, um Sergeant zu werden.«

»Man erzählt sich, Sir«, sagte Eliot, »dass Dignazio davon überzeugt ist, dass er Ihren Job viel eher verdient hätte.«

Phil lachte und steckte seine Waffe in das Holster zurück. »Erzählen Sie mir noch was, das ich nicht weiß. Wie wäre es mit der Enthüllung, dass Gorillas Fell haben?«

Es juckte ihn nicht. Hätte Dignazio die Beförderung zum Lieutenant wirklich verdient gehabt, wäre er damals nicht übergangen worden. Ich werd wegen dem blöden Sack keine Träne vergießen. Wenn er weniger Zeit aufs Saufen verschwenden und sich mehr den Arsch für seinen Job aufreißen würde, nähme ich vielleicht jetzt umgekehrt seine Befehle entgegen.

»Grünes Licht«, unterbrach Eliot seinen Gedankengang und setzte die Kopfhörer ab.

Sie sprangen aus der Hintertür des Lieferwagens. »Die Jungs von der Technik haben bereits das Schloss aufgebohrt. Wir gehen rein, unauffällig und blitzsauber«, wies Phil seine Männer an. »Achtet auf eure Zielerfassung und passt auf, dass ihr nicht ins Kreuzfeuer geratet. Und seid um Himmels willen vorsichtig, falls irgendwo Kinder im Spiel sind.«

Die U-Street-Crew setzte wie nahezu alle Drogenbanden Halbwüchsige als Wachposten und Dealer ein, weil ihre Aussagen vor Gericht nicht anerkannt wurden und sie nur eingeschränkt strafmündig waren. Ein paar Jahre im Jugendknast und sie waren wieder draußen auf der Straße. Sie mussten also aufpassen.

»Was, wenn irgendein Elfjähriger seine Knarre auf mich richtet?«, fragte Cap.

»Sie sind ein ehemaliger Marine-Scharfschütze, Cap, kein Weichei«, entgegnete Phil. Die Frage regte ihn auf. »Haben Sie Angst vor Kindern?«

»Nein, Sir.«

»Dann feuern Sie über ihre Köpfe. Zielen Sie auf Hüfte oder Schulter, wenn Sie müssen, aber erschießen Sie keine Kinder, solange ich für dieses Team verantwortlich bin. Scheiße, Cap, Sie tragen eine Schutzweste mit Titaniumplatte, die ein 7,6-Millimeter-Geschoss aufhalten kann, und Sie hatten im Golfkrieg Abschüsse auf eine halbe Meile Entfernung. Gibt keine Ausrede, jetzt Kinder umzulegen. Haben Sie ein Problem damit, Cap?«

»Nein, Sir.«

»Gut.«

Eliot, der gerade seine Heckler & Koch MP-5 lud, sagte: »Diese U-Street-Arschlöcher tragen alle Uzis und MACs und allen möglichen anderen Scheiß mit sich herum. Was ist mit Erwachsenen?«

Phil starrte ihn an. »Das ist ein PCP-Labor, Bob. Diese Wichser vernichten Leben schneller als Dignazio eine Magnumflasche Scotch. Hört zu, ihr beiden! Jedem Erwachsenen, der auch nur so aussieht, als würde er eine Waffe auf euch richten, pustet ihr ohne zu zögern das Hirn weg.«

Cap nickte.

»Verstanden, Sir«, sagte Eliot.

Dann flitzten sie durch die Tür.

Der Gestank nach Kohlenwasserstoff traf Phil wie ein Tritt ins Gesicht. Die Jungs von der Aufklärung hatten richtig gelegen. Es sei denn, die Typen besaßen eine Lizenz, Äther in einem geschlossenen Lagerhaus herzustellen, dachte Phil. Die Anzeichen waren eindeutig. Hier handelte es sich um ein Labor.

Finsterer als die Hölle.

»Leise«, flüsterte Phil. Er hatte seine 65er im Anschlag. »Und scharrt nicht mit den Füßen. Wir wollen uns ja nicht per Türklingel ankündigen, oder? Und, Cap, halte deinen Ziellaser unten, bis die Kacke so richtig zu dampfen beginnt.«

Es war beinahe zu einfach. Den Hauptkorridor runter, dann einmal links, einmal rechts, genau wie es aus den Gebäudeplänen der Aufklärung hervorging. Schon standen sie auf einer drei Meter hohen Plattform über dem größten PCP-Labor, das Phil je zu Gesicht bekommen hatte. Etwa ein Dutzend Arschgesichter plagte sich unter Batterien von Neonröhren bei der Arbeit ab. »Nicht schießen, falls sie flüchten«, flüsterte Phil. »Nur, wenn sie selbst einen Schusswechsel eröffnen. Dignazios Team hat alle Ausgänge unter Kontrolle.«

Phils Zwei-Mann-Sturmtruppe nickte stumm und nahm geschützte Feuerpositionen hinter den Dachstreben und Aufhängungen der Plattform ein. Wird Zeit, dass euch ein paar Eier wachsen, dachte Phil bei sich. Er stand aufrecht in der Mitte der Plattform, hob sein Megafon und verkündete seelenruhig: »KEINE BEWEGUNG DA UNTEN. MEIN NAME IST LIEUTENANT PHIL STRAKER VON DER DROGENFAHNDUNG DER METRO-POLICE. ES FREUT MICH UNGEMEIN, SIE ZU INFORMIEREN, DASS SIE ALLE VERHAFTET SIND. ICH HABE 50 SPEZIALKRÄFTE, DIE DAS GEBÄUDE UMSTELLEN, UND AN JEDEM AUSGANG ZWEI MANN, DENEN ES IN DEN FINGERN JUCKT, JEMANDEN ABZUKNALLEN. HEBEN SIE DIE HÄNDE UND BLEIBEN SIE RUHIG. JEDER, DER AUCH NUR DARAN DENKT, SICH ZU RÜHREN, LANDET IN NULL KOMMA NICHTS IN EINEM LEICHENSACK.« Und dann dachte er: Diese Jungs werden weich mit dem Alter. Jedes einzelne Arschgesicht schaute hoch, gaffte und hob die Hände hoch. Niemand rührte sich. Nicht eine einzige Waffe wurde abgefeuert.

Es war, als habe jemand das Bild eingefroren. Dann verpasse ich das Yankees-Match ja doch nicht, freute sich Phil. Ein paar Sekunden später tauchte die Eingreiftruppe auf und gab den Kollegen von der Streife Deckung. Niemand bewegte sich und niemand griff nach einer Waffe. Es waren nicht einmal welche zu sehen.

»Scheiße, Sir«, kommentierte Eliot. »Wir werden hier rechtzeitig raus sein, um alle zehn Tänzer bei Camelot zu sehen.«

»Schätze, du hast recht, Bob. Und ich zahle. Gib mir nur ’ne Minute, um Dignazio zu finden. Wir überlassen ihm den Papierkram und verschwinden.«

Mehr Laborausrüstung als in einem Chemiekurs am College, bemerkte Phil, als er die Stufen hinunterstieg und durch die Gänge zwischen den Labortischen schritt. Die Streifenjungs vom Sechsten Bezirk legten den Abschaum so routiniert und flott in Handschellen, dass sie es fast zu einer Kunstform erhoben. Sind vermutlich auch Yankees-Fans. Dignazio stand flankiert von zwei Gorillas mit MP-5ern hinten vor dem Tor zur Laderampe.

»Hey, Dig«, sagte Phil und bemühte sich wenigstens, höflich zu sein. »Sieht aus, als hätten wir das wie am Schnürchen durchgezogen.«

»Meine Jungs haben das durchgezogen. Alles, was du gemacht hast, war reinzumarschieren und Scheiße zu labern.«

Phil lächelte abfällig. Typisch. »Schön, Dig. Kümmere dich ums Aufräumen. Haben deine Jungs alle Hallen gecheckt?«

»Du erzählst mir nicht, wie ich meinen Job zu machen habe, Straker.« Dignazio starrte ihn böse an, sein Gesicht wirkte zugleich aufgeplustert und drahtig. Es hatte mehr Falten und Risse als das Original der Mona Lisa. Dann stapfte der Sergeant in Begleitung seiner zwei Revolvermänner davon.

Es folgte:

Ein Klappern.

Phil riss den Kopf herum.

Er starrte angestrengt den Gang zur Warenannahme entlang und meinte, etwas vorbeihuschen zu sehen. Ein Schatten? Nein …

Ein Glitzern?

Was zur Hölle ist das?

Kein Dutzend Schritte den Gang hinunter erkannte Phil, dass es kein Was, sondern ein Wer war.

Ein kleiner Schatten schien von einer Tür zur anderen zu sausen.

Ein Späher, dachte er. Ein Kind.

Phil zog seine Taschenlampe aus dem Gürtel und begann, den staubigen Linoleumgang abzuschreiten. Der Strahl der Lampe wanderte umher. Dann –

»Jesus!«

Der Junge kam aus einem der Lagerräume gerannt und spurtete auf das erloschene NOTAUSGANG-Schild zu. Seine Füße scharrten panisch.

Die Technikeinheit hatte die Tür bereits von außen blockiert.

»Komm schon, Junge. Auf diesem Weg kommst du nicht raus. Lass uns einfach reden, du und ich, okay? Ich werde dir nichts tun, versprochen.«

Es war traurig, wie die Drogengangs diese Kinder in ihr Geschäft einbanden. Natürlich wuchsen sie zu Kriminellen heran – es war alles, was sie kannten. Und wie alt war dieser hier? Zehn? Zwölf? Jesus, dachte Phil betrübt. Der Junge prallte gegen die Tür, merkte, dass sie sich nicht öffnen ließ, und drehte sich herum, die Augen weit aufgerissen vor Angst.

Der Junge wirkte wie sieben oder acht.

»Keine Sorge, ich werd dir nicht wehtun«, versicherte Phil ihm. »Aber du musst da jetzt rauskommen, damit wir dich in Sicherheit bringen können.«

Das Gesicht des Jungen wirkte im Schein von Phils Taschenlampe wie ein schwarzer Totenschädel. Tränen glitzerten auf schmalen, dunklen Wangen. Er ist zu Tode verängstigt, natürlich, erkannte Phil. Das Schlimmste war, dass das Bezirksgericht ihn einfach in ein Waisenhaus stecken würde. Und in neun von zehn Fällen büxten die Kinder bei der erstbesten Gelegenheit aus und landeten wieder auf der Straße.

»Du wirst mit mir mitkommen müssen«, sagte Phil.

Er sah es nicht kommen – nahm nicht einmal die Waffe wahr. Mit einem Mal dröhnte der vertraute Klang einer Kleinkaliberpistole in seinen Ohren.

Bam! Bam! Bam!

Der Moment war das reinste Chaos. Grelle kleine Lichter blitzen in seine Augen. Phil konnte sich lediglich instinktiv hinter eine leere Abfalltonne werfen. Seine Taschenlampe kullerte über den Zementboden, als eine weitere Kugel in die Tonne einschlug.

»Gottverdammt, Junge! Bist du wahnsinnig?«

Dann feuerte er einen Schuss über den Kopf des Jungen ab.

Der Junge hörte auf zu schießen.

Wie konnte ich nur so blöd sein? Zu beschäftigt damit, mir über die gottverdammten Yankees Gedanken zu machen. Eine Sekunde später richteten zwei Männer von der Spezialeinheit ihre Zielscheinwerfer in den Gang. »Nicht schießen!«, brüllte Phil. »Es ist nur ein Junge!«

Weitere Cops kamen in den Flur gerannt. »Alles in Ordnung, Lieutenant?«, fragte Eliot und half ihm hoch.

»Mir geht’s gut«, antwortete Phil. »Aber ich bin nicht sicher, ob man das auch von meiner Unterhose behaupten kann.«

»Was ist passiert?«

»Nur ein verängstigter Junge. Ich hab einen Warnschuss abgegeben.«

Doch Eliot quittierte seine Worte mit einem schiefen Blick, dann glaubte Phil zu hören, wie jemand am Ende des Gangs nach einem Notarzt rief.

Nein, nein, dachte Phil und rannte selbst den Korridor entlang. »Ich schwöre bei Gott, ich hab über seinen Kopf geschossen!«

Noch mehr Polizisten beleuchteten den Gang mit auf und ab tanzenden Taschenlampen.

»Über seinen Kopf geschossen, was?« Dignazio kam lautstark von hinten angestiefelt. »Saubere Arbeit, Straker. Der stellvertretende Commissioner wird sich freuen.«

Die Worte heulten durch seinen Kopf wie Wind durch ein altes Haus. Grundgütiger allmächtiger Gott

Der Junge lag am Fuß der abgeriegelten Tür; Blut sprudelte aus dem Einschussloch in seiner rechten Brust. Er war tot, bevor sie ihn auch nur auf die Bahre legen konnten.

Phil forschte in seinen Erinnerungen. Vor sechs Monaten war ich ein Lieutenant der Polizei, der kurz vor der Beförderung zum Captain stand. Jetzt bin ich ein Nachtwächter, der 7,50 Dollar pro Stunde verdient. Der Tod des Jungen war von der Dienstaufsicht als Notwehr eingestuft worden, auch wenn Phil Stein und Bein geschworen hatte, weit über den Kopf des Jungen gezielt zu haben. »Nicht weit genug«, versetzte der leitende Ermittler trocken. Aber deswegen hatte er den Dienst nicht quittiert …

Dignazio, dachte er.

Es musste Dignazio gewesen sein.

Der leitende Ermittler der Dienstaufsicht war ein penibles Steingesicht namens Noyle. »Lieutenant, welche Dienstwaffe trugen Sie in der fraglichen Nacht bei sich?«

»Eine 38er Special +P+«, antwortete Phil, verblüfft über die unangebrachte Frage.

»38er +P+. Hmm. Und welche Art von Munition hat das Department normalerweise für den Gebrauch in dieser Waffe autorisiert?«

»Neun Millimeter Hardball und 38er–«

»38er +P+?«

»Ja.«

»Und autorisiert das Department die Benutzung irgendeiner anderen Art von Dienstmunition für Feuerwaffen?«

Worauf zum Teufel will er hinaus?, fragte sich Phil. Warum diese ganzen irrelevanten Fragen? »Nur für Angehörige einer Spezialeinheit«, antwortete er, »aber lediglich in Fällen, in denen es ausdrücklich vom Stellvertretenden Commissioner der Abteilung für Spezialeinsätze genehmigt wurde.«

»Sind Sie ein Beamter dieser Abteilung, Lieutenant?«

»Nein«, sagte Phil. »Ich bin bei der Drogenfahndung.«

»Und wurden Sie in der fraglichen Nacht aus irgendeinem Grund vom Stellvertretenden Commissioner dieser Abteilung dazu ermächtigt, andere Munition als 38er +P+ zu verwenden?«

Phil musste sich beherrschen, um nicht das Gesicht zu verziehen. »Nein.«

Noyle lehnte sich in seinem Stuhl am Kopfende des langen Konferenztisches zurück wie ein billiger Cäsar-Imitator, links und rechts flankiert von Cassius und Brutus. Seine stählernen Augen blinzelten nie. »Lieutenant, wissen Sie, was ein Quad-Geschoss ist?«

Warum fragt er mich nach Quads? Die Sache begann ihn aufzuregen. »Ja«, antwortete er, ein wenig genervt vielleicht. »Ein Quad-Geschoss ist eine besondere Art von Kugel.«

»Und inwiefern ist sie ›besonders‹?«

»Sie besteht aus vier zylindrischen Projektilen anstatt eines einzelnen, festen Projektils.«

»Und was genau bewirkt das?«, erkundigte sich Noyle.

»Erhöhte Stoppwirkung. Beim Aufprall bricht das Geschoss im Körper des Ziels auf und zersplittert. Mit anderen Worten, Quad-Geschosse richten deutlich mehr Schaden an als Standardprojektile.«

»Ein Dumdum-Geschoss, sozusagen.«

»Ja«, antwortete Phil. »Ein fabrikmäßig hergestelltes Dumdum, so könnte man es wohl nennen … Aber, Sir, wenn die Nachfrage erlaubt ist, weshalb erkundigen sie sich danach? Wenn Sie etwas über taktische Munition wissen wollen, sollten Sie besser mit dem Aufseher des Schießstandes oder dem Waffenmeister der Spezialeinheit reden.«

Noyle ignorierte Phils Einwurf vollständig. »Lieutenant, sind Ihnen irgendwelche Fälle bekannt, in denen Quads von dieser Abteilung autorisiert wurden oder autorisiert werden könnten?«

»Nein«, sagte Phil.

»Nein, Lieutenant?«

Es entstand eine Pause, dann unterhielt sich Noyle im Flüsterton mit seinen Kollegen. Phil nutze die Gelegenheit, um in ihren Gesichtern zu lesen. Sie sahen alle fast gleich aus: ähnliche farblose Anzüge, dieselben ausdruckslosen Mienen. Sie sahen aus wie Inquisitoren und Phil fühlte sich wie ein Hexer, den man wegen Häresie angeklagt hatte. Was in Gottes Namen war hier los?

Noyles Nagetieraugen richteten sich wieder auf Phil. »Lieutenant, Sie haben soeben gegenüber mir und den anderen anwesenden Beamten zugegeben, dass Quads in dieser Abteilung nicht autorisiert sind.«

»Richtig«, sagte Phil. Er fühlte sich aufgekratzt und ihm war heiß.

»Warum haben Sie sie dann benutzt?«, fragte Noyle.

Die Frage traf ihn wie eine einstürzende Mauer. In ihm begann es zu kochen. Er knetete seine Hände im Schoß.

»Ich habe keine Quads benutzt«, versicherte er langsam. Wenn er nicht langsam sprach, würde er wütend werden und er wollte mit Sicherheit keinen Wutanfall bekommen, nicht vor drei Ermittlern der internen Dienstaufsicht. Diese drei Steingesichter waren die Eierabschneider des Departments. Stattdessen atmete er einmal tief durch und wiederholte: »Ich habe keine Quads benutzt. Ich habe niemals Quads geladen, weder im Dienst noch außerhalb. Und wenn ich ehrlich sein soll, bin ich gerade ausgesprochen verwirrt. Ich erkenne keinen Sinn in diesen Fragen.«

»Genauso wenig können wir einen Sinn in Ihrer heutigen Aussage erkennen, Lieutenant Straker«, warf Noyle ein. »Es scheint, dass Sie uns anlügen.«

Phil beugte sich über den Konferenztisch. »Wie bitte?«

»Lieutenant, ist es nicht üblich, dass ein Beamter nach einem Schusswechsel vorläufig vom Dienst freigestellt wird?«

»Sicher«, antwortete Phil, »genauso wie ich auch nach dieser Schießerei vom Dienst freigestellt wurde.«

»Und was haben Sie noch gemacht? Ist es nicht auch üblich, dass ein Beamter nach einem solchen Vorfall seine Dienstwaffe aushändigt?«

»Ja, und zwar dem nächststehenden Dienstgrad vor Ort. Auch das habe ich getan. Unverzüglich. Und wenn Sie glauben, dass ich in der Nacht der Schießerei Quads geladen hatte, dann überprüfen Sie meinen Dienstrevolver. Er ist in der Asservatenkammer eingeschlossen. Holen Sie ihn und sehen Sie hinein, überprüfen Sie die Munition.«

Noyle räusperte sich – aus reiner Formalität, nicht weil er musste. »Genau das haben wir getan, Lieutenant, und wir fanden die erste Kammer leer vor. Die Kammern zwei bis sechs waren mit 38er-Kaliber Quads geladen.

»Das ist Bullshit«, brüllte Phil und sprang auf.

»Nein, Lieutenant, das sind Beweise«, informierte Noyle ihn. »Ebenso wie der Autopsiebericht, den der zuständige Mediziner des Bezirksgerichts vorgelegt hat.«

»Wovon zur Hölle reden Sie?«, fragte Phil. Jedes Wort fühlte sich an, als würde er einen Stein aus seinem Hals würgen.

»Dieser Junge, den Sie erschossen haben …« Noyle unterbrach sich für einen Moment, um seine Krawatte zu richten. »Laut Autopsiebericht wurde ihm in den oberen Brustbereich geschossen, direkt über der rechten Lunge. Beim Aufprall zerfiel das Projektil in – Moment, ich zitiere – ›vier 38er-Fragmente‹, von denen zwei in hoher rechter Position vorne aus dem Körper austraten. Ein drittes Fragment wanderte auf der Rückseite der Wirbelsäule nach unten und blieb im linken Nierenkelch stecken. Das vierte Fragment durchbohrte die Aorta.« Noyle räusperte sich erneut und sah dann wieder Phil an. »Der Waffenmeister der Spezialeinheit identifizierte die besagten Fragmente als ›zersplitterte Geschosstrümmer‹ einer unautorisierten Munitionsart, bekannt als Quad-Geschosse, Lieutenant. Der Erkennungsdienst bestätigte, dass es sich bei der Waffe, aus der diese Munition abgefeuert wurde, um Ihre eigene handelte. Und der Gerichtsmediziner kam zu dem Ergebnis, dass der Tod des Opfers direkt den Eigenschaften der verwendeten Munition zugeschrieben werden kann. Mit anderen Worten, Lieutenant: Hätten Sie in jener Nacht reguläre, vom Department autorisierte Munition verwendet, wäre dieser achtjährige Junge vermutlich noch am Leben …«

Noch am Leben … Noyles abschließende Worte hallten einige Monate nach dem Vorfall durch Phils Kopf. Zunächst hatte er versucht, die Ergebnisse der internen Untersuchung anzufechten, aber er sah keine Chance auf Erfolg. Phil wusste, dass Dignazio ihn irgendwie hereingelegt hatte, doch wie sollte er das beweisen? Eine Woche später stand Phil vor dem Commissioner persönlich, der ihm sagte: »Sie haben zwei Möglichkeiten, Straker. Sie können bei Ihrer lächerlichen Geschichte, man habe Sie hereingelegt, bleiben. In diesem Fall wird das Büro des Bezirksstaatsanwalts wegen Fahrlässigkeit, vorsätzlichen Gebrauchs von gefährlicher und unautorisierter Munition und mindestens Totschlags zweiten Grades Anklage gegen Sie erheben.«

»Was ist die zweite Möglichkeit?«, fragte Phil düster.

»Sie können den Dienst quittieren. Der Vorfall wird natürlich in Ihre Akte aufgenommen, aber Ihnen bleiben juristische Schritte erspart. Benutzen Sie Ihren Verstand, Junge. Reichen Sie Ihre Papiere ein.«

Was Phil auch tat. Der Commissioner hatte recht – ihm blieb keine andere Wahl. Hätte er die Anschuldigungen weiter angefochten, wäre er formell angeklagt und vor Gericht gestellt worden. Und da er keine handfesten Beweise vorlegen konnte, dass Dignazio ihn hereingelegt hatte, wäre er schuldig gesprochen worden. Das bedeutete mindestens ein Jahr Knast – und wenn er eins wusste, dann, dass Cops im Knast selten mehr als einen Monat durchhielten.

Hier stehe ich also, dachte er sich, mitten in einer Textilfabrik um zwei Uhr morgens. Ausgestoßen. Gestrandet. Keine Polizeibehörde des Landes würde ihn auch nur mit der Kneifzange anfassen, nicht mit dieser Scheiße in seiner Akte bei der Metro Police. Er war 35 und seine glänzende Karriere als Verbrechensbekämpfer bereits beendet, sein Abschluss nutzlos und mehr als zehn Jahre harter Arbeit zu einem kleinen Häufchen Asche verpufft.

Beinahe musste er lachen. Schön, meine Karriere als Bulle ist vorbei. Dafür habe ich jetzt eine neue Karriere als Wachmann in der Mitternacht-bis-acht-Uhr-Schicht. Und ich verdiene immerhin 7,50 Dollar die Stunde. Mehr als im Knast …

Der Job selbst setzte keine besonders große Intelligenz voraus; ein gut dressierter Schimpanse hätte ihn vermutlich genauso gut erledigt. Aber eine Arbeit im Sicherheitsdienst war so ziemlich das Einzige gewesen, das halbwegs zu seiner Ausbildung und seinen Interessen passte, und Preventive Security Inc. war die einzige Firma im Bundesstaat, die ihm trotz seiner Reputation bei der Metro eine Stellung angeboten hatte. Die Arbeit war simpel: Einmal pro Stunde steckte er seine Karte in die Stechuhr am Eingang der Fabrik. Die restliche Zeit hockte er in seinem Büro, trank Diet Coke und las Romane. »Ist ein Kinderspiel«, hatte sein neuer Boss versprochen. »Wir hatten seit 20 Jahren keinen Einbruch mehr hier.«

Ein spannender Job.

Dann ging der Alarm los.

»Soviel zum 20-jährigen Rekord, Boss«, murmelte Phil zu sich selbst. Wahrscheinlich eine Fehlfunktion. Er prüfte die Anzeigen am Alarmsystem von Sparrow/Jeffries. ZONE ZWEI signalisierte das blinkende Licht. UNBEFUGTES EINDRINGEN.

Ich glaub’s nicht! Da bricht tatsächlich jemand ein! Er schaltete die Büroleuchte aus und schraubte das Rotlicht auf seine Taschenlampe. Dann schnappte er sich das Pfefferspray – Preventive Security arbeitete unbewaffnet, Waffenscheine gab es nicht – und schlüpfte hinaus in eine der seitlichen Produktionsstraßen. Er hielt sein Licht nach unten gerichtet; er wollte niemanden verscheuchen, sondern den Eindringling auf frischer Tat ertappen, selbst wenn es nur dazu diente, der Langeweile zu entgehen. Doch durch die dunkle Fabrik zu schleichen machte ihn nervös. Was, wenn die Einbrecher bewaffnet waren? Sei einfach vorsichtig, Blödmann. Nach zahlreichen Kolonnen von Maschinen, deren Einsatzzweck er nicht hätte benennen können, erreichte er den Fertigungsbereich. Er sah, dass die Tür am anderen Ende des Gebäudes (ZONE ZWEI genannt) offenstand.

Jemand ist hier drin, tatsächlich, erkannte er. Aber wer würde in eine verdammte Textilfabrik einbrechen? Was gab’s denn hier zu klauen? Garnrollen vielleicht?

Als er den Gang hinunterlief und um eine weitere Ecke bog, hatte er seine Antwort. Wie dumm können Gauner eigentlich sein?, fragte er sich. Jemand hatte die Beleuchtung im Pausenraum eingeschaltet, und im selben Moment konnte Phil sehen, wie sich ein Schatten über einen der Verkaufsautomaten beugte. Ein Kleingelddieb, so viel schien klar. Wozu arbeiten gehen, wenn man sich seinen Lebensunterhalt auch mit dem Aufbrechen von Automaten verdienen konnte?

Bei der Metro wäre das eine simple Festnahme gewesen, doch Phils Boss hatte sehr klare Vorstellungen, was einen tatsächlichen Einbruch anging. »Vergiss nicht, Phil, du bist nicht mehr John Law, du bist nur ein Wachmann. Wenn du merkst, dass hier tatsächlich jemand eindringt, ruf die Bullen und mach dich aus dem Staub. Spiel nicht den Helden. Himmel, wenn ein Wachmann in diesem Staat einen Gauner verletzt, klagt der und gewinnt. Ich kann keine Schadenersatzklagen oder so einen Mist gebrauchen.« Phil sah das ein, nachdem er mittlerweile weder eine Waffe noch irgendeine amtliche Befugnis besaß – doch das hieß nicht, dass er vorher nicht noch ein bisschen Spaß haben konnte.

»Stehen bleiben! Polizei!«, brüllte Phil. »Keine Bewegung oder ich schieße!«

»Womit denn? Mit Büroklammern und Gummiband?«, erwiderte der ›Einbrecher‹ und wandte sich seelenruhig von dem Getränkeautomaten ab. Dann lächelte er. »Wie geht’s denn so, Phil? Ist ’ne Weile her, dass ich Crick Citys besten Sprössling zu Gesicht bekommen habe. Schätze, du hast kein großes Interesse daran, dich mal bei uns zu melden, was?«

Phil konnte es nicht glauben. Der Mann vor ihm war untersetzt und fett. Sein Glatzkopf schimmerte im surrenden, fluoreszierenden Licht der Automaten und sein Schnurrbart saß wie eine dicke Raupe auf seiner Oberlippe. Dieses Gesicht, zusammen mit der ordentlich gebügelten und gestärkten Uniform der Landpolizei, war alles, was Phil brauchte, um sein Gegenüber zu identifizieren.

»Lawrence Mullins«, sagte Phil. »Polizeichef von Crick City. Würden Sie mir freundlicherweise erklären, was zur Hölle Sie hier machen?«

»Wonach sieht’s denn aus? Ich hol mir ’nen Kaffee«, antwortete Mullins seelenruhig und hielt einen dampfenden Pappbecher in die Höhe.

Phil schloss die Augen und holte tief Luft. Beruhige dich, dachte er. Nicht in die Luft gehen. Dann, wie meistens eigentlich in solchen Situationen, flippte er aus.

»Sie sind in meine Fabrik eingebrochen, nur um sich einen gottverdammten Kaffee zu holen?!«

Mullins kicherte wohlwollend. »Immer noch das alte Temperament, wie ich sehe. Schön, schön. Und, damit du’s weißt, ihr habt hier ein paar ganz schön billige Schlösser an den Türen. Scheiße, ich hatte die Tür fast schneller offen als mit Schlüssel. Ach, und wie wär’s, wenn du dieses 44er-Magnum-Pfefferspray mal wegpackst? Oder gibt’s hier etwa gefährliche Hunde?«

Phil seufzte. »Bitte, Chief. Verarschen Sie mich nicht. Ich hatte einen Scheißtag – genau genommen sogar ein echtes Scheißjahr

»Hab davon gehört. Drüben in der Heimat haben wir alle von der Schießerei gehört, als du noch bei der Metro warst. Aber darüber können wir später reden. War ein kluger Schachzug, dass du freiwillig abgetreten bist, anstatt dich mit denen anzulegen. Leg dich mit der Dienstaufsicht in ’ner Großstadt an und die reißen dir den Arsch auf. Dann wärst du wirklich am Ende gewesen. Scheiße, ein Ex-Cop mit Vorstrafe … Du hättest nicht mal mehr ’nen Job als Tellerwäscher in Chuck’s Diner gekriegt.«

Phil wäre alles lieber gewesen, als erneut an diese Sache erinnert zu werden. Was er ebenso wenig gebrauchen konnte, war ein Haufen schlauer Sprüche. »Schauen Sie, Chief, schön Sie zu sehen und so, aber wollen Sie mir verraten, warum Sie hier sind, oder wollen Sie mir nur auf den Sack gehen, während Sie Ihren Kaffee schlürfen?«

Mullins nahm noch einen kleinen Schluck und schenkte ihm durch den Dampf hindurch ein dünnes Lächeln. »Ach, das ist es, was du wissen willst? Warum ich hier bin?«

»Ja, Chief, genau das.«

»Nun, wir sind Freunde, oder? Seit langer Zeit? Scheiße, ich hab dich praktisch mit eigenen Händen aufgezogen. Und als ich von der Sache bei der Metro hörte und dass du diesen beschissenen Security-Job angenommen hast … Nun, ich war ein wenig besorgt, das ist alles. Ich meine, ist ja nicht so, als hättest du mal in deiner alten Heimat vorbeischauen wollen, weißt du, mal ein paar Leuten Hallo gesagt, mit denen du aufgewachsen bist. Aber ich schätze, du warst zu beschäftigt in den letzten zehn Jahren mit deinem hochtrabenden Job bei der Metro Police. Lieutenant bei der Drogenfahndung, so war’s doch, oder?«

War, dachte Phil langsam. Ganz genau. Nicht mehr. »Chief, wollen Sie mir ein schlechtes Gewissen machen? Okay, ich habe nichts von mir hören lassen. Tut mir leid. Aber Sie haben mir immer noch nicht gesagt, warum Sie in meine Fabrik eingebrochen sind.«

Mullins lachte. »Nun, ich wollte schauen, ob du immer noch auf Draht bist, jetzt, wo du nicht länger als Cop arbeitest.« Der fette Mann grinste in Richtung der offenen Tür. »Ziemlich geschmeidige Arbeit mit dem Schloss, was?«

»Chief!«

Mullins hatte einen Heidenspaß an der Sache. »Okay, Phil, ich will ehrlich sein. Der Grund, warum ich in diese beschissene Garnfabrik gekommen bin, ist, nun … dass ich mit dir reden will.«

Mullins’ Spielchen wurden schnell langweilig. Phil sah ihn zum ersten Mal seit gut zehn Jahren und hatte die Schnauze bereits gestrichen voll. Manche Typen ändern sich nie, dachte er müde. »Schön, Sie wollen mit mir reden. Worüber? Bitte, Chief, sagen Sie’s mir, bevor mich vor lauter Spannung der Schlag trifft.«

Mullins leerte seinen Kaffee und warf den Becher in den Mülleimer. Dann holte er sich ein Milky Way aus dem nächsten Automaten.

Dann sagte er: »Ich will dir ’nen Job in meiner Truppe anbieten.«

Und mehr hatte Mullins nicht preisgegeben, was ziemlich typisch für ihn war. Mullins’ ausweichende Art und sein schräger Sinn für Humor waren Teil seiner ganz speziellen Psychologie – er kam stets in Form kleiner, subtiler Vorstöße auf den Punkt. Phil war in Crick City geboren und aufgewachsen. Sein Vater hatte sich eine Woche nach seiner Geburt davongemacht und seine Mutter war etwa ein Jahr später gestorben, als der Waschsalon, in dem sie arbeitete, komplett ausbrannte. Also wurde Phil von einer Tante aufgezogen, die vom Staat einen Zuschuss erhielt. Der einzige, der sich für Phil zu einer Art Vaterfigur entwickelt hatte, war Mullins, der schon so lange als Polizeichef von Crick City arbeitete, dass sich kein Bewohner des Orts mehr an seinen Vorgänger erinnern konnte. Er musste inzwischen fast 60 sein, doch für Phil sah er immer noch genau wie damals aus, als Phil noch auf die Junior High ging und nach der Schule auf der Wache rumhing.

Mullins war ein anständiger Kerl, zumindest so anständig, wie es ein kleiner Polizeichef im Hinterland sein konnte. Crick City mit noch nicht einmal 2.000 Einwohnern war nicht gerade Los Angeles, was seine Anforderungen an die Staatsgewalt betraf, und weil sich dort so gut wie nie ein ernsthaftes Verbrechen ereignete, hatte der Stadtrat nie einen Grund gehabt, einen neuen Chief zu ernennen.

Phil empfand eine Art von verwirrter Zuneigung für den Mann. Während seiner Kindheit war es immer Mullins gewesen, der ihn, wenn auch manchmal sehr ruppig, wieder aufgebaut hatte, wenn es Phil schlecht ging, und es war Mullins, der ihn vor Ärger bewahrte. Mullins hatte auf ihn aufgepasst, als niemand anderes es tat, und Mullins hatte auch sein Interesse an der Polizeiarbeit geweckt.

Auf der anderen Seite …

Es war die Stadt selbst, die Phil immer gestört hatte, und Mullins war eine ständige Erinnerung daran. Crick City war ein rückständiges, abgewirtschaftetes Drecksloch von einer Stadt – eine Falle. Niemand schien dort jemals irgendetwas zu erreichen und niemand schien jemals die Stadt zu verlassen. Es war das typische Klischee: schlecht bezahlte Jobs, hohe Arbeitslosigkeit und die meisten Schulabbrecher im Staat.

Abgehalfterte Pick-up-Trucks regierten die von Schlaglöchern übersäten Straßen, sofern sie nicht gerade auf Blöcken vor den zahllosen Saltbox-Häusern aufgebockt waren. Diese Bauten, die zur Straße hin zwei, zum Hof hin jedoch nur ein Stockwerk besaßen, waren eine typische Erscheinung dieser Region. Die einzigen Verbrechen, die hier in schöner Regelmäßigkeit aktenkundig wurden, waren öffentliche Trunkenheit und natürlich die übliche Visitenkarte: häusliche Gewalt. Alles in allem lag Crick City da wie ein sich nie änderndes Geflecht. Ein Niemandsland bewohnt von Niemanden.

Phil wollte keiner dieser Niemande sein.

Aber eines wollte er sein –

Ein Cop.

Und nun stand da Mullins wie ein zehn Jahre alter Geist vor ihm und bot ihm den Job an, den Dignazio und sein Kommando von Eierabschneidern ihm weggenommen hatten.

Natürlich war die Polizeiarbeit in Crick City nicht zu vergleichen mit seiner Arbeit bei der Drogenfahndung. Bei der Metro hatte er einen gewissen Status besessen, Respekt und Glaubwürdigkeit, er hatte Ziele verfolgt und einen Job gehabt, der jeden Aspekt seiner Ausbildung ständig auf den Prüfstand stellte und seinen Ehrgeiz weckte. Von der Metro nach Crick City zu wechseln, entsprach in etwa dem Umstieg von einem Lamborghini auf einen Lada. Hör auf zu jammern, schimpfte er mit sich selbst. Es ist allemal besser, als in einer verdammten Stofffabrik stempeln zu gehen. Zumindest würde er wieder in dem Job arbeiten, den er gelernt hatte.

Er würde zumindest wieder ein Cop sein.

Einem geschenkten Gaul sollte man nicht ins Maul schauen, dachte er, selbst wenn er die Uniform des Chiefs trägt.

Mullins hatte die Fabrik kurze Zeit später wieder verlassen und Phil genügend Denkanstöße gegeben, um ihn für den Rest seiner Schicht zu beschäftigen.

»Schau morgen Nachmittag mal auf der Wache vorbei«, hatte der Dicke ihn eingeladen. »Dann reden wir weiter.«

»Werde ich machen, Chief. Danke.«

»Oh, und pass auf Einbrecher auf. Man weiß nie, wann die Kerle mal auf einen Kaffee vorbeikommen.«

»Sie sind ein wahrer Komiker, Chief. Bis morgen dann.«

Und nun, Stunden nachdem er seine Schicht in der Textilfabrik beendet hatte, kroch Phil in seinem ziegelroten 76er Dodge Malibu durch die morgendliche Rushhour. Er hatte ihn für 300 Dollar bei Melvin’s Motors gekauft. Nachdem er nicht mehr das Gehalt eines Lieutenants bezog, war das alles, was sein Geldbeutel hergab. Die frühe Sommersonne flirrte grell zwischen den hohen Gebäuden und die Luft stank nach Abgasen.

Während er sich auf den Heimweg machte, konnte er nicht aufhören, über Mullins’ unerwartetes Auftauchen in der Fabrik und sein überraschendes Jobangebot nachzudenken. Wie würde es sein, jetzt dorthin zurückzukehren? Crick City, dachte er. Verdammt, sogar der Name klingt nach Hinterwäldlern. Hatte die Stadt sich verändert? Gehörte Chuck’s Diner immer noch Chuck? Veranstalteten die Dumpfbacken immer noch jeden Samstagabend ihr Truckrennen auf der Landstraße, nachdem sie sich im Krazee Sallee’s, dem örtlichen Stripclub, abgefüllt hatten? War der Kaffee im Qwik-Stop immer noch ungenießbar? Wer ist noch da, den ich kenne?, fragte er sich. Dann, trübsinniger:

Wer ist gestorben, seitdem ich weggezogen bin?

Ja, die Aussicht, in seine Heimatstadt zurückzukehren, warf eine Menge Fragen auf.

Und … Vicki? Was ist mit Vicki? Seine High-School-Liebe, seine allererste Freundin. Sie hätte auch die Biege machen können, hatte sich aber stattdessen entschlossen, als einzige Frau in der Truppe für Mullins zu arbeiten.

Ich frag mich, ob sie immer noch da ist …

Doch dann drehte sich Phil der Magen um, als er den Malibu auf dem zugemüllten Parkplatz seines Apartmentblocks abstellte. Denn da gab es noch eine Frage – oder nicht? Sich an die Stadt und ihre Bewohner zu erinnern, veranlasste ihn, sich an noch etwas zu erinnern …

Die Stimmen und –

Das Haus, dachte er.

Es gab keinen Namen dafür, nur –

Das Haus.

War es noch da?

War es jemals dort gewesen?

Wenige Stunden, nachdem er dort herumgestreunt hatte, war er sehr krank geworden. Der Arzt hatte gesagt, dass ein derart starkes Fieber oft Halluzinationen oder ein Delirium auslöste. Seine Tante musste gedacht haben, er sei verrückt geworden. Nur ein verrückter, zehnjähriger kleiner Junge …

Vielleicht war ich verrückt, dachte er rückblickend, während er die Stufen zu seiner Wohnung hinaufstapfte. Allmächtiger Jesus, ich hoffe, ich war verrückt …

Denn ob es nun Halluzination oder Realität gewesen war, Phil Straker würde es niemals in seinem Leben vergessen können.

Das Haus, dachte er wieder.

Und erinnerte sich an die schrecklichen Dinge, die er dort gesehen hatte.