FÜNFUNDZWANZIG
»SEH-ES, SEH-ES«, drängte Dawnie. Sie kauerte hinter ihm und drückte gegen seine Schultern.
Phils zehnjähriges Auge weitete sich über dem ersten Schlüsselloch. Zuerst nahm er nur ein grelles, weißes Leuchten wahr. Nach der heißen Finsternis des Korridors im ersten Stock musste sich sein Auge erst einmal an dieses strahlende Weiß gewöhnen. Doch schließlich wurde sein Sichtfeld klarer und er konnte sehen.
Er konnte sehen, was sich in dem Zimmer befand …
Es kam ihm wie ein Loch in den Mauern der Hölle vor.
In dem Zimmer stand ein von der Sonne beschienenes Bett. Es war groß und weiß. Auf der Schlafstätte bewegte sich ein merkwürdiges Objekt, das Phil zunächst nicht identifizieren konnte.
Formen.
Hautfarbene Gestalten.
In einer der Gestalten erkannte er einen bärtigen Mann mit einem dicken, kräftig behaarten Bauch. Er war splitternackt.
»Suzie, Suzie«, stöhnte er.
Dann bemerkte Phil die andere Gestalt auf dem Bett. Eine Frau –
»Suzie, Suzie …«
Das Haar auf ihrem Kopf war schwärzer als der Kamin von Phils Tante. Ihre Haut schien hingegen weißer als ihre Auffahrt letztes Jahr nach dem ersten Schnee.
Dann sah Phil, was sie mit dem fetten, bärtigen Mann anstellte.
Heilige Maria!
Ihr Kopf lag zwischen den Beinen des Mannes. Er bewegte sich in schnellem Rhythmus auf und ab, und sie war damit beschäftigt –
Großer heiliger Jesus!
– das Ding des fetten Manns zu lutschen. Ihr Mund rutschte daran hin und her, erst langsam, dann schneller, dann richtig schnell.
Genau wie Eagle es gesagt hatte. Sie will seinen Babysaft auslutschen!
Weitere Details der Szene rückten in seinen Fokus und Phil übergab sich beinahe, als ihm schlagartig etwas bewusst wurde …
Die Frau hatte einen Hintern und Haare und Brüste wie die meisten anderen Frauen auch. Doch was sie nicht hatte, traf Phil wie eine Faust mitten ins Gesicht.
Sie hat keine Arme und Beine!
An der Stelle, wo sich normalerweise die Gliedmaßen befanden, besaß sie lediglich Stummel, das war alles. Die Stummel endeten dort, wo man eigentlich die Ellbogen und Knie vermutet hätte.
»Suzie, Suzie …« Phil riss sein Gesicht vom Schlüsselloch los.
»Toll-e, was?«, sagte Dawnie.
Es war nicht toll. Es war ekelhaft.
Doch alles passte zusammen. Es war exakt so, wie Onkel Frank es ihnen an dem Abend erzählt hatte, als er und Eagle sich kurz vor Mitternacht noch die Krimiserie mit Alfred Hitchcock angesehen hatten. Die Folge, in der diese Frau ihren Mann mit einer gefrorenen Lammkeule erschlagen und diese dann den Polizisten zum Abendessen aufgetischt hatte.
Er befand sich in einem Hurenhaus.
Einem Creeker-Hurenhaus, in dem die Männer dafür bezahlten, es mit Creekermädchen zu treiben, die ganz verdreht waren, weil ihre Väter es mit ihren Schwestern und die Mütter es mit ihren Brüdern trieben und so ein Zeug.
Es brachte ihre Gene durcheinander.
Dawnie zupfte an seinem Green-Hornet-Shirt und zog ihn weiter zur nächsten Tür. Phil wollte nicht mehr von diesen unappetitlichen Dingen sehen, doch etwas ließ ihn trotzdem das Auge gegen das nächste Schlüsselloch drücken. Er konnte nichts dagegen tun. Es war, als habe ein Geist seinen Hinterkopf gepackt und zwinge ihn zum Zusehen.
Ein großer, nackter Mann fesselte gerade ein Mädchen, das ausgestreckt auf dem Bett lag. Dann drosch er mit einer Lederpeitsche auf ihren Bauch und ihre Beine ein.
Klatsch! Klatsch! Klatsch! machte die Peitsche.
Sie zog grellrote Striemen über ihre Haut. Fast so, als würde sie bluten …
Sie weinte und zitterte.
Dann wurde das Ding von dem Mann steif …
Als das Mädchen den Kopf hob, um ihn anzusehen, fiel Phil auf, dass er riesig war. Ungefähr so groß wie eine Wassermelone!
»Hia, hi-a«, sagte Dawnie. Sie zog ihn zu einer Tür auf der anderen Seite des Ganges.
»Nicht, Dawnie. Ich will nichts mehr sehen«, bettelte Phil.
Doch Dawnie schienen Phils Widerworte nicht zu interessieren, und sie war stark, stärker als die meisten Mädchen. Sie zog ihn über den Flur und warf ihn vor der Tür auf die Knie.
»Seh-es.«
Phils Kopf tat schrecklich weh und er schwitzte so stark, dass sein T-Shirt völlig durchnässt war, doch ihm war immer noch kalt und er zitterte. Auch sein Magen schmerzte, viel schlimmer als beim letzten Mal, als er die gefüllten Paprikaschoten seiner Tante gegessen hatte. Sein Kopf fühlte sich leichter an als ein Luftballon.
»Seh-es …«
In diesem Zimmer hatte ein Mann seinen Kopf zwischen die Beine eines Mädchens versenkt. Sie hatte einen großen Busch schwarzer Haare dort. Der Mann schien daran zu lecken. Phil verstand nicht, warum jemand seinen Mund dahin legen sollte, wo die Leute pinkelten, doch dieser Mann tat es und machte dabei mehr Lärm als schmatzende junge Kühe. Die weißen Beine des Mädchens ragten in die Luft. Phil konnte ihre Füße sehen. Es sah aus, als hätte sie zehn Zehen an jedem! Ihre Hände waren genauso krass, mehr Finger als zwei Leute zusammen, und sie fuhr damit durch das krause Haar des Mannes.
Dann bemerkte Phil ihre Beine …
Er konnte nur gaffen.
Ein Bein war sicherlich 30 Zentimeter kürzer als das andere und ihm fehlte die Kniescheibe. Das längere Bein machte dagegen den Eindruck, als winde es sich in der Luft, und Phil erkannte bald, woran das lag.
Die Natur machte hier wett, was sie auf der anderen Seite versäumt hatte. Das längere Bein besaß drei Knie.
Das Mädchen lachte. Es schien ihr zu gefallen, dass der Mann seinen Mund dahin tat, wo sie pinkelte.
Dann hob der Mann seinen Kopf.
Phil blickte in das Gewirr ihrer Schamhaare …
»Sie hat zwei Babylöcher!«, kreischte er.
»Ssst! Ssst!« Dawnie wurde panisch. »Ich werd prügelt wenn-se wissen wir gucken! Nanc wird ihn das Gleiche mit-e mir machen lass’n, wenn-se weiß ich gesehen!«
Doch es war bereits zu spät. Phils Gesicht bebte vor Angst, doch sein Auge schwebte weiter über dem Schlüsselloch.
»Was war das?«, fragte der nackte Mann und drehte ruckartig den Kopf in Richtung der Tür.
»Ooh, Dawnie muss-e uns zugucken«, sagte das Mädchen auf dem Bett. Sie grinste und beugte sich nach vorne, um direkt auf das Schlüsselloch zu schauen.
Als sie sich aufsetzte, nahm Phil ein weiteres Detail wahr.
Er konnte nicht anders …
»Dawnie! Sie hat sechs Brüste!«
Das hatte sie, so sicher wie Hundekacke stinkt. Sechs davon, drei auf jeder Seite, und jede Brust trumpfte mit einem großen Nippel vom Durchmesser einer Dose Bohnen auf. Mit dem Unterschied, dass sie spitz aufragten und ganz pink waren. Oh Mann! Sie hat sechs Brüste!, wiederholte er in Gedanken.
Doch als er zu Dawnie hinaufschaute, schien es ihr gar nicht gut zu gehen. Sie sah mit einem Mal völlig verängstigt aus und Phil bemerkte, dass ihr knittriges Kleid sich an der Vorderseite dunkel verfärbte.
Sie hat sich nass gemacht.
Und Phil wusste, dass die Leute sich nur nass machten, wenn sie verdammt große Angst hatten …
Die Tür schwang auf.
Phil schrie auf und Dawnie heulte Rotz und Wasser und wich zurück.
Phil konnte sich nicht rühren.
»Was haben wir denn da, he?«, fragte der nackte Mann. Er packte Phil bei den Haaren und zog ihn lachend hoch. »Gehörst du zu der Nummer dazu, Junge?«
Phil plärrte los.
»Willst zu mir und Nanc reinkommen?«
Der Atem des Mannes roch wie der seiner Tante, wenn sie getrunken hatte, und sein Bauch wabbelte, wenn er lachte.
»Ein kleiner Arschfick wird dich vielleicht lehren, die Leute nich’ zu beglotzen!«
Phil wollte sich losreißen, doch er schaffte es nicht. Der nackte Mann packte seine Haare nur noch fester und lachte grölend.
Es war ein Moment absoluten Wahnsinns. Der nackte Fettwanst lachte boshaft, Phil schrie und Dawnie heulte und schniefte und bepinkelte sich.
Phil hatte das Geräusch der Bettfedern kaum gehört.
Dann noch ein Geräusch:
ba-BUMM, ba-BUMM, ba-BUMM …
Es war das Hurenmädchen.
Sie war aus dem Bett gestiegen und –
Phils Magen verkrampfte sich.
– ging auf die Tür zu.
Nur ging sie nicht wirklich. Es war mehr ein schlurfendes Hüpfen. Der Fuß an ihrem kürzeren Bein schleifte über den Boden, während der an ihrem längeren Bein mit den drei Knien sich ruckartig hob, nach vorne schnellte und – BUMM – auf dem Boden landete. Ihr schwarzes Haar schwang in Strähnen, ihr Kopf wippte. Phil sah ihre leuchtenden roten Augen heller werden, während sie sich ihnen näherte.
Ba-BUMM, ba-BUMM, ba-BUMM …
Ihre Schultern rollten vor und zurück und bei jedem weiteren verkrüppelten Schritt hüpften ihre sechs Brüste mit einer heftigen Bewegung auf und ab.
Der nackte Mann lachte. Das Hurenmädchen stampfte vorwärts.
Dann machte auch Phil sich nass.
Ihre roten Augen bohrten sich wie Nadeln in Phils Gesicht. »Hey-a, Junge. Was machst dich ’n nass, hä? Angst?«
Phil wollte schreien, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. »Ja, er-eh hat Angst, hatt-er nich’ Eddie?«
»Aber sicher. Der kleine Bursche pisst wie ’n richtiges Rennpferd«, wieherte der nackte Mann, der Phil immer noch an den Haaren festhielt, sein Gesicht hatte sich vor lauter Vergnügen knallrot verfärbt.
Dann lachte auch das Hurenmädchen. Es war noch schlimmer als das Lachen des Mannes. Es klang wie das Schnattern eines Schwarms großer Aasvögel, die an einem toten Opossum auf der Straße herumpickten.
»Ah-ja, un’ du bis’ echt süß, Kleiner. Willse reinkomm’ und Nanc dein Ding lutschen lassen? Würd’ dir das gefallen, Kleiner?«
Phil zitterte am ganzen Leib, als stünde er splitternackt im Schnee. Dann streckte das Mädchen langsam seine zehnfingerige Hand nach ihm aus –
»Nein!«, schrie Phil, schüttelte heftig den Kopf und kniff die Augen zusammen.
– und strich mit den Fingern über sein Gesicht. Es kitzelte, als ob ein Schwarm großer Käfer seine Wange hinunterkrabbelte.
Phil glaubte in diesem Moment, er müsste sterben …
Doch dann drehte das Hurenmädchen sich blitzschnell um und humpelte in den Flur.
Auf Dawnie zu.
Ba-BUMM, ba-BUMM, ba-BUMM …
»Nei-en, Nanc, bitte!«, schrie Dawnie.
»Was-e bringst du Jungs hie-er!«, schrie das Mädchen sie an. Ihre Hand schoss hoch und –
klatsch!
– schlug Dawnie so hart ins Gesicht, dass sie stürzte. Die Hand des Mädchens sauste auf und ab, prügelte Dawnies Kopf hin und her wie einen Ball an einer Schnur.
»Nie-mals, nie-mals! Du so dumm, Mädchen! Nie-mals bring wen hie-er!«
Klatsch, Klatsch, Klatsch!
»Dein Papa wird di-ech so schlimm schlagen, aber wi-erd nich’ viel über sein, wenn ich fertig bin …«
Es war grauenvoll. Das Mädchen ohrfeigte Dawnie nicht mehr bloß, sondern hockte auf ihrem Bauch, trommelte mit der Faust gegen ihre Brust und würgte sie.
»Brings Jungs hie-er – bis’ verrückt? Wette, du ficks ihn, ja? Mädchen, tus das?«
»Hör auf! Lass sie in Ruhe!«, schrie Phil. »Sie hat doch gar nichts getan!«
Dann machte Phil sich noch weiter nass, pinkelte, bis seine Blase völlig leer war.
Andere Creekermädchen, die den Lärm gehört haben mussten, öffneten ihre Türen und spähten in den Flur hinein. Ein Mädchen hatte mehrere Bauchnäbel, ein anderes einen Buckel und Arme, die fast bis auf den Boden reichten, ein drittes musste ohne Hals und Lippen durchs Leben gehen. Auch die Mädchen, die er durch die Schlüssellöcher beobachtet hatte, ließen sich blicken: das mit dem riesigen Melonenkopf und den Peitschenspuren auf Bauch und Schenkeln, das andere mit den Stümpfen statt Armen und Beinen. Es kroch auf allen vier Stummeln in den Gang hinaus und plapperte vor sich hin …
Mit einem Mal erfüllte tosender Lärm den Flur: unverständliche Worte, Schnattern, Gackern und Lachen, bellende Hunde.
Der Krach schien gegen Phils Schädel zu drücken. Er hatte in seinem Leben noch nie solche Angst gehabt …
Das Hurenmädchen stieg von Dawnie herunter und hinkte auf Phil zu. Die zehnfingrige Hand schoss vor und packte den Jungen am Kragen seines Green-Hornet-Shirts.
»Hau-e ab hie-er, Junge«, sagte sie.
Dann bleckte sie für einen Sekundenbruchteil ihre Zähne.
Ihn begrüßte eine Reihe großer, gekrümmter Reißzähne wie bei einem Hund.
Phil stieß einen schrillen, lauten Schrei aus, riss sich so heftig los, dass sein T-Shirt zerfetzte, und rannte zur Treppe. Er rannte, wie er noch nie zuvor in seinem Leben gerannt war …