Das Unglück begann, als im Kindergarten ein Knabe namens Doron verkündete:
»Ich hab’ die Piccoli gesehen.«
Natürlich kann man von einem Kind nicht verlangen, daß es komplett und korrekt »Teatro dei Piccoli« sagt und vielleicht noch hinzufügt, daß es sich um die berühmte italienische Marionettenbühne handelt. »Piccoli« genügt ihm.
Es genügte auch den Umstehenden. Aus ihrem Kreis löste sich eine Zuhörerin, jung an Jahren, aber für ihr Alter erstaunlich intelligent und außerdem schön wie ein Engel, kam zu ihrem Vater gelaufen und rief:
»Ich will Piccoli haben!«
»Du bist noch zu klein, um ins Theater zu gehen«, antwortete der Vater mit fester Stimme. »Das kommt nicht in Frage, verstanden? Und damit Schluß.«
Am nächsten Abend besuchten Vater und Tochter – mit anderen Worten: der Verfasser dieses Berichts und seine zauberhafte kleine Renana – eine Vorstellung des »Teatro dei Piccoli«, das gerade in Tel Aviv gastierte.
Schon unterwegs konnte ich feststellen, daß Renana eine sehr intensive Beziehung zum Theater besaß, eine Art Naturbegabung, die sie zur Bühne hinzog. Sie sagte es selbst:
»Wenn ich groß bin, will ich Theater spielen.«
»Und was willst du spielen?«
»Schnurspringen.«
Vielleicht lag es an ihrer mangelnden Vertrautheit mit den Gebräuchen des Metiers, daß sie ein wenig erschrak, als der Zuschauerraum sich verdunkelte.
»Papi«, flüsterte sie ängstlich, »warum wird’s finster?«
»Im Theater wird’s immer finster.«
»Warum?«
»Weil jetzt die Vorstellung beginnt.«
»Aber warum im Finstern?«
Wenn man mit Renana einmal auf die »Warum«-Einbahn gerät, kommt man nicht so bald wieder heraus, es sei denn, man führt ein neues, überraschendes Element in die Konversation ein, etwa: »Schau, Liebling, Papi steht auf dem Kopf!« oder: »Will irgend jemand Kaugummi haben?« Kindererziehung ist eine schwierige, komplizierte Angelegenheit. Wie soll man einem unmündigen Kind erklären, daß es im Theater dunkel sein muß, weil die visuelle Aufnahmefähigkeit der Netzhaut in einem direkt proportionalen Verhältnis zur Konzentration des Beschauers steht, und weil andernfalls…
»Renana«, sagte ich streng, »sei still oder wie gehen.«
Zum Glück hob sich in diesem Augenblick der Vorhang, und die Bühne war alsbald von einer Menge kunstvoll bewegter Marionetten bevölkert. Renana betrachtete sie mit aufgerissenen Augen.
»Papi, warum tanzen die dummen Puppen?«
»Sie freuen sich, daß Renana ihnen zuschaut.«
»Dann sollen sie’s sagen, aber nicht tanzen. Genug getanzt, dumme Puppen!« rief sie zur Bühne hinauf. »Aufhören!«
»Pst! Schrei nicht!«
»Aber warum tanzen sie?«
»Es ist ihr Beruf. Papi schreibt, Renana ruiniert Möbel, und Schauspieler tanzen.«
Auf diese lichtvolle Auskunft hin begann Renana das Lied von den drei kleinen weißen Mäusen zu singen, und zwar ziemlich laut. Unter unseren Sitznachbarn machte sich Unmut bemerkbar. Einige verstiegen sich zu taktlosen Bemerkungen über idiotische Eltern, die ihre zurückgebliebenen Kinder ins Theater mitnehmen. Da Renana auf diese Beweise von Feindseligkeit mit Tränen zu reagieren drohte, versuchte ich sie eilends abzulenken:
»Siehst du, wie hoch die Puppe dort springt?«
»Keine Puppe«, widersprach Renana. »Schauspielmann.«
»Das ist kein Schauspieler, Liebling. Das ist eine Marionette. Eine Puppe aus Holz und an Fäden.«
»Mann«, beharrte Renana.
»Aber du siehst doch, daß sie aus Holz geschnitzt ist.«
»Holz? Wie ein Baum?«
»Nein. Wie ein Tisch.«
»Und die Fäden? Warum Fäden?«
»Alle diese Puppen werden an Fäden gezogen.«
»Nicht Puppen. Schauspielmänner.«
Da sich Renana von mir allein nicht überzeugen ließ, rief ich den Platzanweiser zu Hilfe:
»Sagen Sie bitte, lieber Herr Oberbilleteur – sind das dort oben Schauspieler oder nur Puppen?«
»Selbstverständlich Schauspieler«, antwortete der livrierte Schwachkopf und zwinkerte mir zu. »Echte, lebendige Schauspieler.«
»Siehst du«, sagte Renana. Sie hat ohnehin keine sehr hohe Meinung von väterlicher Autorität. Und jetzt wollte ich ihr gar noch einreden, daß Puppen tanzen und singen können…
»Warum hab ich keine Fäden?« begehrte sie zu wissen.
»Weil du keine Puppe bist.«
»Doch, ich bin eine. Mami hat schon oft Puppe zu mir gesagt.« Und sie begann zu weinen.
»Du bist eine Puppe, du bist eine kleine, süße Puppe«, beruhigte ich sie. Aber ihre Tränen versiegten erst, als auf der Bühne eine größere Anzahl von Tieren erschien.
»Wauwau«, machte Renana. »Mia! Kikeriki! Was ist das dort, Papi?«
Sie deutete auf ein hölzernes Unding, das wie die Kreuzung eines Eichhörnchens mit einem Kalb aussah.
»Ein schönes Tier, nicht wahr, Renana?«
»Ja. Aber was für eines?«
»Ein Gnu«, sagte ich verzweifelt.
»Warum?« fragte Renana.
Ich verließ das Theater abgemagert und um mindestens ein Jahr gealtert. Renana hingegen hatte nichts von ihrer Vitalität eingebüßt.
»Mein Papi sagt«, erklärte sie der mit uns hinausströmenden Menge, »daß die Schauspielmänner mit Fäden angebunden sind, damit sie nicht davonlaufen können.«
Die Menge maß mich mit verächtlichen Blicken, die ungefähr besagten: Es ist doch unglaublich, welchen Blödsinn manche Väter ihren Kindern einpflanzen. Und die Polizei steht daneben und tut nichts.
»Papi«, ließ sich Renana vernehmen, und es klang wie ein Fazit, »ich will nicht Theater spielen.«
Selbst wenn das Gastspiel der »Piccoli« nichts anderes erreicht haben sollte, hat es einem guten Zweck gedient.