Ein junges Reis vom alten Stamm

 

 

 

Jede Premiere ist mit Lampenfieber und Aufregungen aller Art verbunden, aber die erste Vorstellung eines Neugeborenen vor der Verwandtschaft, sozusagen seine Uraufführung, stellt alles in den Schatten.

Da die beste Ehefrau von allen darauf bestanden hatte, unsern Sohn Rafi mitten in der Nacht zur Welt zu bringen, konnte ich die elterliche Inspektion erst am folgenden Tag vornehmen. Der Arzt ersuchte mich, unbedingt allein zu kommen – ein sehr vernünftiger Wunsch, dem ich willig Folge leistete. Ich nahm lediglich meine Mutter mit, einfach deshalb, weil sie meine Mutter ist, und außerdem, um Familienzwistigkeiten zu vermeiden, Rafis Großeltern mütterlicherseits. Natürlich mußte man unter den gegebenen Umständen auch Tante Ilka und Onkel Jakob berücksichtigen, aber sonst nur noch die Zieglers, die für den neuen Erdenbürger ein süßes kleines Geschenk vorbereitet hatten, bestehend aus gestrickten Miniaturschuhen in Weiß, einer ebensolchen Kopfbedeckung und einem Paar bezaubernder himmelblauer Höschen.

Übrigens stellten sich auch Tante Ilka und Onkel Jakob mit dem gleichen Geschenk ein, ebenso meine Mutter und eine Anzahl von Freunden und Bekannten. Und der Milchmann. Schade, daß unser Kind mit der Zeit wachsen wird. Es wäre sonst bis ans Lebensende mit Kleidung versorgt gewesen. (Eines ist sicher: Wer mich in Hinkunft zu einer Beschneidungsfeier einlädt, bekommt von mir ein süßes kleines Geschenk.)

Nun verhielt es sich keineswegs so, als hätte ich über dem Neugeborenen etwa seine Mutter vergessen, o nein. Nur zu gut entsann ich mich des feierlichen Versprechens, das ich ihr während der schweren Stunden vor der Geburt gegeben hatte und in dem immer wieder die Worte »Brillantschmuck« und »Nerz« vorgekommen waren. Nach der glücklich vollzogenen Ankunft unseres Rafi begann ich die Lage allerdings etwas ruhiger zu betrachten und fand es lächerlich, jetzt, da der Sommer nahte, einen Pelzmantel zu kaufen. Ich begnügte mich damit, auf dem Weg zur Klinik einen Juwelier aufzusuchen. Mein Blick fiel auf ein diamantenbesetztes goldenes Armband und dann auf den Preis. Damit war die Sache erledigt. So etwas kann meine Frau nicht von mir verlangen. Wofür hält sie mich eigentlich? Für einen zweiten Onassis? Nur weil sie ein Baby zur Welt gebracht hat? Das haben schon andere Frauen vor ihr getan.

Ich erstand also einen wunderschönen, mit Goldfäden zusammengebundenen Strauß roter Nelken und eine Banane für Rafi. Überdies hatte ich meinen besten dunklen Anzug angelegt, solcherart den Respekt bekundend, den ich der Leistung meiner Ehefrau entgegenbrachte. Sie sollte sehen, daß ich ihr die Höllenqualen, die ich in der vorangegangenen Nacht durchlitten hatte, nicht übelnahm. Ich würde ihr gar nichts davon sagen. Meinetwegen brauchte sie sich keine Gewissensbisse zu machen.

Unterwegs schärfte uns meine Mutter ein, dem Baby gegenüber eine Distanz von mindestens anderthalb Metern zu wahren, damit es nicht mit den Viren, Mikroben und Bazillen in Kontakt käme, die wir mitbrächten. Der Ratschlag fand keine übermäßig günstige Aufnahme. Tante Ilka zum Beispiel hielt es für wichtiger, daß dem Baby – besonders von Seiten der Großeltern – jene dümmliche Konversation erspart bliebe, die sich in Redewendungen wie »kutschilimutschili« zu ergehen liebte; dies wäre der erste Schritt zu einer völlig verfehlten Erziehung.

In einigermaßen gereizter Stimmung erreichten wir die Klinik.

Der Portier, der offenbar eine anstrengende Entbindungsnacht hinter sich hatte, gab sich gerade einem kleinen Nickerchen hin, so daß wir mühelos an ihm vorbeikamen. Eine Krankenschwester wies uns den Weg zu Rafis Mutter.

Mit angehaltenem Atem klopften wir an die Türe, traten ein – und standen in einem leeren Zimmer.

Onkel Jakob, der sich auf zwei Semester Pharmakologie berufen kann, klärte uns auf: Wahrscheinlich fände soeben die sogenannte Nachgeburtsuntersuchung statt.

In diesem Augenblick ertönte vom Korridor her der triumphierende Aufschrei Tante Ilkas:

»Hier! Hier!«

Wir stürzten hinaus – und da – auf einer Art Buffetwagen – nach unten ein wenig ausgebuchtet – weiß in weiß –

»Lieber Gott, das Kleine«, flüsterte Großmama mütterlicherseits. »Wie süß es ist. Wie süß…«

Auch meine Mutter brachte nur mühsam ein paar Worte hervor:

»O du mein Herzblättchen… o du mein geliebtes Herzblättchen…«

»Ich kann leider gar nichts sehen«, stellte ich fest.

»Natürlich nicht«, belehrte mich Tante Ilka. »Das Kleine ist ja völlig eingepackt.«

Behutsam zog sie das weiße Laken ein wenig zurück und fiel in Ohnmacht.

Da lag Rafi.

Ich sage nicht zuviel: ein Barockengel. Um sein zartes Köpfchen schwebte es wie ein goldener Heiligenschein.

Großmama brach in Tränen aus:

»Der ganze Oskar. Meinem seligen Bruder Oskar wie aus dem Gesicht geschnitten. Der Mund… und die Nase…«

»Und was ist mit den Ohren?« erkundigte sich Großpapa.

»Die hat er von mir!«

»Unsinn«, widersprach Onkel Jakob. »Wem ein Kind ähnlich sieht, erkennt man am Kinn. Und das Kinn hat er von Viktor. Genauso schiebt Viktor sein Kinn nach vorne, wenn er beim Bridge ein schlechtes Blatt bekommt.«

»Wenn ihr mich fragt«, mischte sich Frau Ziegler ein, »ist er ein genaues Ebenbild seiner Mutter. Ich sehe sie vor mir. Besonders die Augen. Er macht sie genauso auf und zu. Ganz genauso. Auf-zu, auf-zu…«

Ich meinerseits war ein wenig verwirrt. Beim Anblick des Kleinen hatte ich mein Herz laut schlagen gehört und dazu eine innere Stimme, die mir zuraunte: »Das ist kein Spaß, alter Knabe, das ist dein Sohn, dein Sprößling, dein Stammhalter.« Ich liebte Rafi von der ersten Sekunde an, ich liebte ihn leidenschaftlich. Und trotzdem – ich weiß nicht recht, wie ich mich ausdrücken soll –: er sah eigentlich mehr einem alten Börsenmakler ähnlich als irgend jemandem sonst: glatzköpfig, zahnlos, mit tiefen Ringen unter den Augen und mit geröteter Haut… Gewiß, er war ein herziger kleiner Makler, das ließ sich nicht leugnen. Aber die Enttäuschung, daß er bei meinem Anblick nicht sofort »Papi, Papi!« gerufen hatte, nagte an mir.

Jetzt öffnete er den Mund und gähnte sich eins.

»Habt ihr seinen Gaumen gesehen?« stieß Tante Ilka hervor. »Onkel Emil, wie er leibt und lebt!«

Wahrlich, die Natur wirkt Wunder. Oder ist es nicht wunderbar, daß ein so winziges Wesen alle physischen und geistigen Eigenheiten seiner Vorfahren in sich vereinigt? Tief bewegt umstanden wir unseren Nachkommen.

»Entschuldigen Sie«, sagte eine Schwester und schickte sich an, den Buffetwagen wegzuschieben.

»Wo ist Frau Kishon?« fragte ich.

»Was für eine Frau Kishon?«

»Die Mutter. Ist das nicht der Sohn von Frau Kishon?«

»Das Baby hier? Das gehört Frau Sharabi. Außerdem ist es ein Mädchen…«

Und sie schob den häßlichen kleinen Wechselbalg mit sich fort.

Es ist höchste Zeit, daß etwas gegen die anarchischen Zustände in unseren Spitälern unternommen wird.