„Oh menno, Oma! Wieso müssen wir immer durch die Wälder wandern?“ Mürrisch trottete Jenke hinter seiner Oma her.
„Weil man im Wald viel lernen kann!“ Lisa lächelte weise und wartete, bis Jenke sie erreichte, und strich ihrem Enkel über das strohblonde störrische Haar. „Ich find das aber langweilig!“ Bockig trat er gegen gefällte Bäume, die übereinander gestapelt und rot gekennzeichnet waren.
Lisa war beeindruckt von der Durchsetzungskraft ihrer eigenen Natur. In ihrer Tochter hatte sie sich schon oft wiedergefunden – und nun auch noch in ihrem Enkelsohn. Unglaublich!
„Guck mal, nur noch ein Stück. Da vorn ist doch schon die Wiese, auf der wir ein Picknick machen wollen!“
Mit etwas mehr Elan, da das Wandern so gar nicht nach seinem Geschmack ist und ihm keine Freude bereitet, lief der Junge vor und stellte sich als Erster auf die Wiese. Hier ist ja gar nichts, Oma. Nur grünes Gras!“, brummte er enttäuscht.
Lisa seufzte und dachte bei sich: Typisch Stadtkind und Computerheld.
„Was soll das für ’ne Wiese sein?“
„Das hier“, Lisa zeigte mit ausgestrecktem Arm über die ganze Weite der Wiese, „ist die Echowiese!“
„Hmm, und was kann die Echowiese?“ Lisa schüttelte die Picknickdecke auf und holte allerlei Plastikgefäße aus ihrem Rucksack und deckte ihnen ein leckeres Pausenbrot auf.
„Willst du das wirklich wissen? Ich will dich ja nicht noch mehr langweilen, Jenke!“ Lisa grinste sich eins ins Fäustchen.
Jenke hockte sich auf die Decke und rupfte Grashalme büschelweise raus und meinte altklug: „Na ja. Ich weiß ja nicht, ob das, was du zu sagen hast, genauso langweilig ist wie diese Wiese hier!“
Lisa überlegte kurz, wie sie es anfangen sollte, ihren Enkelsohn aus dem besitzergreifenden Gefühl der Zeitverschwendung zu holen. „Du musst dir die Wiese als Plattform zu einem neuen Level vorstellen. Ein Sprungbrett in eine Zauberwelt voller Magie, mit Wesen, die gefürchtet werden, weil sie grausam, gemein und hinterhältig sind, aber auch mit liebreizenden Geschöpfen. Hier tummelt sich alles auf dieser großen weiträumigen Fläche.“
Ihr Enkelsohn war nun neugierig geworden. „Aha, du meinst, die kämpfen richtig? Mit Schwertern und Zauberstäben und so?“
Lisa nickte spannend. „Siehst du dahinten mitten auf der Wiese die hohle Eiche?“
Jenke stierte zur Mitte der Wiese und sah einen uralten Baum, der völlig ausgehöhlt und knotig dastand. „Hm, ja, sehe ich!“
„Der wird zu einer Tribüne und die Wiese zu einem Schauplatz, auf dem sich Gut und Böse begegnen.“ Lisa huschte eine Schauer über die Arme und ließ ihr die Haare zu Berge stehen. Verängstigt und leise gab sie ihrem Enkelsohn einen warnenden Hinweis. „Aber nicht alle, die kommen, sind auch gute Wesen.“
„Und was wollen die hier? Auf der Wiese ist doch nichts! Hier ist es öde und langweilig!“, maulte Jenke über den ruhigen Platz. „Außerdem ist die Wiese voll hässlicher Pilze.“
Lisa musterte den Jungen und folgte seinen Augen über die vielen Pilze, die über den Grashalmen herausragten und aussahen wie blaue Ostereier. Sie schimpfte innerlich über das breite Angebot von Computerspielen, die den Kindern jegliche Fantasie raubten und nur die Schnelligkeit der Daumen trainierte!
Mit verschlagenem Blick und geheimnisvoller Stimme klärte Lisa das Kind auf: „Das sind Hexenpilze! Diese harmlos wirkende Wiese hier ist nämlich in ganz normalen Vollmondnächten ein Ritualplatz. Ein dunkler verfluchter Ort, so was wie eine Gerichtsstätte des Bösen und Ungerechten. Die hohle Eiche …“ Lisa kam in ihr Element und verstrickte sich in eine abenteuerliche Geschichte: „… ist sozusagen die Kanzel des Unheils.“ Sie machte eine kleine Pause und beobachtete ihren Enkel, der noch nicht ganz überzeugt seiner Oma zuhörte. „Und in der Nacht zum blauen Mond verwandelt sich die Wiese in einen nicht auszudenkenden grausamen Ort. Alles weicht der Dunkelheit und dem Schatten und wiegt sich in einer mystischen kalten Aura. Sie verändert sich und wird ein Labyrinth, das von gnadenlosen Hexen für bittere Spiele genutzt wird. Wenn die Hexen dann auch noch einen Hexer nachweisen können, dann wird es noch grausamer. Und der hohle Baum dort verwandelt sich in der Nacht des blauen Mondes zum Ursprung des Bösen, was genährt werden wird von dem Buch der Schatten …“
Aufgeregt unterbrach Jenke seine Oma, die nun doch sein Interesse geweckt zu haben schien. „Was ist das denn für ein Echo der Wiese? Und was ist das Buch der Schatten?“
„Es ist ein Kreischen, Flüstern und Lachen von Hexen, die dich in den Wahnsinn treiben wollen. Es hallt hier auf der unscheinbaren Wiese unaufhörlich immer ein und dasselbe!“ Lisa beobachtete die wachsende Neugier ihres Enkels und führte mit leisem, rauchigem Ton weiter aus: „Die Opfer, besser gesagt die Gefangenen der bösen Hexen, müssen in der Nacht zum blauen Mond schwierige listige Aufgaben lösen, die grausame hinterhältige Frauen aus dem dunklen Reich der Schatten ausgeheckt haben.“ Jenke schluckte schwer, als er sich das vorstellte. Seine Oma aber lächelte heimlich. Wieder einmal hat sie es geschafft, den Samen der Fantasie in einem Ungläubigen zu säen. Geheimnisvoll flüsterte sie weiter: „Hinzu kommt, dass sie unter gruseligen Visionen leiden müssen und somit in ein großes unaufhaltsames Unglück rennen, weil sie Dinge sehen, die eigentlich nicht da sind …!“
Nun atmete Jenke vor Aufregung schneller und platzte förmlich aus seinem imaginären Computerspiel. „Cool. Vielleicht sind sie ja doch da!“ Er überlegte kurz und sah mit funkelnden Augen über die Fläche der Echowiese. „Und die nächste Stufe? Ich meine, was passiert dann im zweiten Level?“
Lisa musste nun einsehen, dass bei ihrem Enkelsohn Hopfen und Malz verloren war. Null Abenteuerlust, null Eifer Geschichten auszumalen, die hätten wahr sein können. Bei dem Jungen läuft alles über die visuelle Computerwelt. Sie musste sich zur Geduld zwingen, seine Mutter Maxima lachte auch einst über sie, bis zu dem Tag, an dem sie ihre Liebe zu den Gartenzwergen entdeckte. Woher dieser plötzliche Wandel kam, ist Lisa bis heute schleierhaft. Aber von diesem Tag an waren Sagen und Mythen im Hause Lindner zur Tagesordnung geworden. Sie sah ihrem Enkelsohn, der auf eine Antwort wartete, tief in die Augen und wisperte fast lautlos, um die Waldbewohner nicht aufzuschrecken: „Möchtest du noch wissen, was es mit dem Buch der Schatten auf sich hat?“
Jenke wiegte seinen Kopf hin und her. „Wenn’s sein muss!“
Lisa seufzte innerlich. Sie ahnte, dass es einen langen Weg braucht, um ihn von den Sagen im Harz zu überzeugen. Mit zusammengekniffenen Augen und bitterem Ernst erzählte sie weiter: „In der nächsten kommenden Nacht zum blauen Mond soll das magische Buch der Schatten geöffnet werden. Doch das ist vor vielen Jahren verschwunden. Keiner weiß, wo es abgeblieben ist. Doch die dunkle Seite der Schatten setzt die ganze Hölle in Bewegung, um das Zauberbuch zu finden. Nur mit dem Buch können sie noch mehr die Macht des blauen Mondes nutzen.“ Lisa kroch wiederum ein Schauer über den Rücken, als ihr eine komische Ahnung ein ungutes Gefühl gab, dass sie die Geschichte nicht unbedingt gerade erfunden hatte, um ihren Enkel zu locken. Nein, in Lisa stieg das Empfinden einer Ohnmacht hoch. Erschreckt schaute sie auf den stockfinsteren Waldrand, aus dem eine unangenehme Kälte kroch und sie zu beobachten schien.
Jenke holte sie aus ihren brütenden Gedanken zurück. „Wozu brauchen sie dann Opfer und Gefangene?“ Jenke stopfte sich fast ein ganzes Ei in den Mund und sah mit dicken Backen seine Oma erwartungsvoll an.
„Die Gefangenen sollen dann, um es beim Namen zu nennen, Versuchskaninchen für die bösen schwarzen Zaubersprüche sein, die einst eine Hexe beschwor, um sich das Böse anzueignen und den Harz in Angst und Schrecken zu halten!“ Den letzten Satz erwähnte Lisa schon sehr ungehalten.
Jenke war erst ganz leise, bis er lauthals losprustete und sich den Bauch vor Lachen festhielt. „Oma. Das ist der größte Quatsch, den ich je von dir gehört habe.“
Lisa fasste Jenke fast schon schroff am Arm. Ernst sah sie ihren Enkelsohn an und warnte ihn. „Jenke. Das ist kein Spiel! Man ist hier im Harz schneller in Geheimnisse und bodenlose Gefahren verstrickt, als du deine PSP anschaltest …!“