Ida war immer noch nicht aufgewacht. „Schnell, leg sie hier auf das Bett!“, sagte Nympfjet. Kreidebleich und steif wie eine Puppe lag sie nun auf Nympfjets Nachtlager. Das Herz der kleinen Hexe klopfte vor Unsicherheit wild in ihrer Brust. Fürsorglich zogen sie der verletzten Ida die Kleider aus, jetzt erst sahen sie, was die vielen Bisse der Spanischen Fliegen angerichtet hatten. Ihr Körper war übersät und gezeichnet von den Bissen, das Gift, was in Idas Körper steckte, zeigte seine Wirkung. Sie wurde immer blasser und eine tödliche Kälte zog bei ihr ein.

Isis die Schattenhafte

„Lass mich an sie ran“, sagte Isis und schob die verzweifelte Nympfjet zur Seite. In ihrer Hand hielt sie ein braunes Arzneifläschchen.

„Was ist das? Was willst du ihr geben?“ Frowin, dessen Magie bei so viel Gift im Körper nicht mehr ausreichte, sich aber über jedes Mittelchen, was seiner Ida helfen könnte, freute, nahm Isis einfach die Flasche aus der Hand und roch daran.

„Es ist ein Gegengift. Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät dafür.“

„Was ist das genau?“ Frowin ließ nicht locker. Er war schließlich Zauberer der weißen Kräuterheilkunde und besaß im Harz einen guten Ruf als Naturheiler. Doch von solch einem Gegengift hatte er in den ganzen Jahrhunderten noch nichts gehört.

Isis nahm ihm behutsam die Flasche wieder aus der Hand, setzte sich neben Ida aufs Bett und träufelte ihr ein paar Tropfen auf ihre leicht geöffneten Lippen. Und nebenher erklärte sie, aus welcher Pflanze das Gegengift hergestellt wurde. „Der lateinische Gattungsname lautet Kentaureios. Ursprünglich kommt diese Pflanze aus dem östlichen Mittelmeerraum. In der Antike wurden Enziangewächse damit bezeichnet und Linné hat den Namen wohl von den blau blühenden Enzianen auf die Kornblume übertragen. Cyanus steht für eine dunkelblaue Substanz. Der deutsche Artname tauchte im 15. Jahrhundert auf und ist wegen des Vorkommens als Getreideunkraut leicht erklärt.“

Bei normalen Menschen kann es Tage dauern oder sogar Wochen, bis die Substanz vom Körper angenommen wird. Aber bei uns Zauberwesen geht es bekanntlich – wenn kein böser Fluch dahintersteht – in wenigen Minuten. Sie lächelte liebevoll, als sie merkte, dass Ida wieder zur Besinnung kam und ihr Geist zurückkehrte. Auch ihre Hände erwärmten sich wieder. Sie war tatsächlich über den Berg. Aber Isis’ Aufklärung über die Pflanze noch nicht.

„Chiron, der heilkundige Zentaur, Lehrer des griechischen Heilgottes Äskulap und Befreier von Prometheus soll diese Pflanze auf seine Wunde gelegt haben und genesen sein. Diese Wunde entstand durch einen mit Hydras Blut vergifteten Pfeil. Seither gilt die Kornblume als Schlangengegengift.“

Frowin guckte die Hexe entgeistert an und fragte sich, um was für Namen und Heiler es sich handelt, die sie gerade wie nebenbei so lapidar erwähnte. Für ihn, der sich nur in den Wäldern des Harzes aufhielt, taten sich gerade böhmische Dörfer auf. Griechen. Wer, was oder wo ist das? In seinem Kopf verbanden sich elektrisierend seine Synapsen und ließen seine feinen Haare auf- und abstehen. „Das ist ja unglaublich!“

„Nein, eine Pflanze. Ich muss nun dazu sagen, dass es auch ein Gegengift für das Sekret der Spanischen Fliege ist, das herauszufinden, mir gerade gut geglückt ist!“

„Ahhh, aber bei uns hier im Harz ist der gemeine Spitzwegerich ein Wundmittel. Wenn man den im Mund zerkaut und auf die Wunde legt, ist er blutstillend und entzündungshemmend. Und legt man den Brei sofort drauf, kommt erst gar keine Entzündung hoch.“ Frowin wollte bei Isis in der Kräuterkunde mit nichts nachstehen und baute sich etwas vor ihr auf und fing an, um Isis zu buhlen. Isis bemerkte die veränderte Energie, die von Frowin zu ihr herüberstrahlte.

Sie ließ Frowin mit einem Lächeln stehen, der gerade wie ein Zauberschüler, der sich in seine Zauberschullehrerin verliebt hatte, aus den Augen strahlte. Nympfjet rollte amüsiert ihre Augen und hatte Nachsicht mit ihm. Es gab schließlich nicht allzu viele Hexen um ihn herum, in die er sich verlieben konnte. Nun war halt die Hexe Isis dran, weil sie ihm so klug und charmant eine ihm noch unbekannte Pflanze näherbrachte.

Und Isis genoss das Gefühl, von Zauberern und Hexen umgeben zu sein, die sich so ganz anders verhielten. Hier stand nicht die Gewalt im Mittelpunkt, nein, das gegenseitige Verständnis und der liebevolle Respekt voreinander. Hier fanden Freunde zusammen, die sich gerne hatten und füreinander einstanden. Zum ersten Mal in ihrem ganzen Leben fühlte sich die Hexe Isis gemocht und für ihr Wissen geehrt. Ein schönes warmes Gefühl breitete sich in ihrem Herz und in ihrem Bauch aus. Tief durchatmend vor Erleichterung, dass Ida gerettet werden konnte, schloss Isis lächelnd und mit einem unbekannten, aber wunderschönen Gefühl der Zuneigung, das sie einhüllte, die Tür …

Sojana stand vor Fedora-Astarte vom Wurmberg. „Was machst du hier, Sojana? Hast du vergessen, dass du andere Aufgaben hast?“

Sojanas Atem ging noch ganz schnell, als sie sich vor Fedoras Sessel warf. „Unsere Kinder. Alle weg. Vernichtet …“, stammelte sie verwirrt.

Fedora sprang ruckartig auf und traute ihren Ohren nicht. Mit festem Griff krallte sie die Hexe an ihrem schwarzen Kleid und zerrte sie zu sich heran. „Was faselst du da? Wage es nicht zu sagen, dass meinen Mädchen, meiner einzigartigen Armee, etwas zugestoßen ist!“ Sie wurde auf Sojana ärgerlich. „Sie waren noch nicht ausgewachsen und du, ihre Schutzbefohlene, solltest auf sie achten und ihre Magie stärken. Und jetzt kommst du kriechend wie eine Schlange auf ihrem Bauch und berichtest mir, dass meine Babys vernichtet sind!“ Fedora krümmte sich noch tiefer und schrie vor Trauer und Schmerz wie eine verletzte Kojotin. „Wo warst du …?“, heulte Fedora und ihre Augen glühten wütend auf, denn irgendetwas passte nicht zusammen. Alle starben, aber die Hexe Sojana blieb ungeschoren. „Du hast dich feige zurückgezogen, anstatt sie zu unterstützen! Du hast dich in einem dreckigen Loch versteckt und zugesehen, wie meine Armee ausgerottet wurde.“ Fedora bäumte sich auf und atmete puren Rauch aus ihren Nasenlöchern. Mit einem Ruck ihres Handgelenks schlug Fedora Sojana durch die Wand der Hütte nach draußen auf den großen kahlen Platz. Zornig und mit wehenden schwarzen Kleidern schritt sie nach draußen, wo Sojana nach Luft schnappend abwartete. Die Oberhexe war nicht mehr zu halten. Sie prügelte die Feuerhexe über den sandigen Boden des Wurmberges. Ihre Augen und ihr Zauberstab blitzten unentwegt auf, wie bei einem starken Gewitter. Andere Hexen, die sich mit Fedora auf dem Wurmberg befanden, wurden aufgeschreckt von dem schrillen Geschrei der Oberhexe, die sich im unbändigen Blutrausch befand. Sojana konnte man nun langsam nicht mehr erkennen, trotzdem sie selbst eine äußerst gerissene und schnelle Kämpferin war, aber gegen die Oberhexe die Hand zu erheben und sich zur Wehr zu setzen, traute sie sich nicht. Sie erduldete jeden körperlichen Schlag, bis sie der Schmerz nicht mehr traf. Sie flog unentwegt wie eine Puppe in die Luft und wurde schwerer als ein Stein wieder auf den Boden des Wurmberges fallen gelassen, um ihr so auch jeden einzelnen Knochen zu brechen. Von den anwesenden Hexen mischte sich keine ein, so aufgebracht wie die Oberhexe Fedora wütete, war es angebracht, Abstand zu halten. Sie wussten noch nicht, was sie so aus der Fassung geraten ließ, aber sie wussten, dass sie ihre Gründe haben würde, die Feuerhexe so zu bestrafen.

Beijanna schlich in die Nähe von Fedora, sie wollte die Erste sein, die die Oberhexe sah, wenn sie sich an Sojana abreagiert hatte. Die Hexe Beijanna wollte unbedingt die Vertraute der Oberhexe sein! Beijanna sah sich insgeheim schon umjubelt von Fedora. Sie, die Verbündete, der man alle Vorhaben anvertraute. Gnadenlos sah sie Fedora dabei zu, wie sie der Hexe Sojana jeden einzelnen Knochen zermalmte. Kraftlos gab die Feuerhexe mit ihren dürren verkrüppelten Händen ein Zeichen, dass Fedora von ihr ablassen sollte. Doch die Oberhexe nahm das als Schwäche der Hexe an und sprengte unaufhaltsam Flüche gegen sie, die sie durch den staubigen Sand warfen. Beijanna aber sah, dass die verletzte Hexe etwas sagen wollte und witterte in ihren verdorrten alten Knochen eine großartige Neuigkeit. Mit gespaltener Zunge trat sie hinterlistig näher an Fedora ran. „Ich glaube, die Feuerhexe möchte ihren letzten Wunsch äußern!“ Mit einem fiesen arglistigen Lachen zog sie tatsächlich Fedoras Aufmerksamkeit auf sich.

Fedora ließ von ihr ab. „Was ist, Hexe? Was hast du noch zu sagen, bevor du stirbst?“ Fedora musste ganz nah an die geschwächte und geschundene hässliche Hexe herangehen, um das zu verstehen, was sie sagen wollte. Ganz dicht ging sie mit ihrem Ohr an die aufgeplatzten blutenden Lippen der Feuerhexe, die ihr etwas kraftlos zuflüsterte. Die anderen Hexen versuchten mit angehaltenem Atem zu lauschen.

Beijanna hielt ihre lange Nase auf die andere Seite von Sojanas zerschundenem Gesicht, um mitzuhören, was sie noch mit schwacher, kaum hörbarer Stimme zu sagen hatte. „Isis hat sich verbündet. Sie kämpft mit der Hexe Nympfjet gegen die Teufelsbrut …!“ Beijanna waren diese Worte ein innerlicher Genuss. Ihre Augen leuchteten kurzfristig auf.

Fedoras Augen aber wurden erst schwarz vor Zorn, ehe sie mit einem markerschütternden Schrei glühend wie Feuerbälle wurden. Sie tobte wie eine Tollwütige umher, gleichzeitig verbannte sie die feige Hexe Sojana mit einem Handschlag und setzte sie in die Teufelsmauer. Der ganze Wurmberg wirbelte sich zu einem unberechenbaren Sturm auf, es sah aus, als würde nicht ein Staubkorn mehr auf dem Boden des Wurmberges liegen. Alles kreiste und flog um die schreiende Oberhexe herum. Die Hexen wichen weit zurück, um nicht in den Wirbelsturm zu geraten. Sie konnten sich kaum am Boden halten. Sie stemmten sich gegen die Magie der Oberhexe und wollten ängstlich hinter groben Steinfelsen ihr eigenes Leben schützen.

Währenddessen kramte Lisa selbstvergessen in ihrer Kühltruhe und hegte immer noch die Hoffnung, den Zahn der Treue zu finden.

Hinter Lisas Rücken braute sich um die alte Bluteiche erst ein zaghafter Wind zusammen, der binnen kürzester Zeit zu einem Orkan ausartete. Lisa wurde vom Klappern und Bollern der Gartenmöbel, die umherflogen, darauf aufmerksam. Sie drückte den Deckel der Truhe wieder zu und ging ängstlich in ihre Küche an die Hintertür und blickte in den stürmischen Garten und zur alten Eiche.

Die dichte Krone aus roten Blättern wich einer Fratze, einer grimmigen, alten, hässlichen Fratze mit gelben Augen, die mit gruseliger Ruhe jemandem im Haus eine Botschaft übersandte. „Iisssiiisss. Iisssiiisss. Iisssiiisss.“ Sie zog bewusst den Namen der Hexe lang und genussvoll auseinander, um sie zu erschrecken. Hinter jedem Rufen schnalzte sie zur Unterstreichung ihres Unmutes mit ihrer spitzen Zunge. „Iisssiiisss. Du hast mich mehr als hintergangen“, sagte sie auf einmal gefasst und gefährlich ruhig. „Komm aus dem Haus, Isis. Komm …!“

Isis, Frowin und Nympfjet, die erneut am Krankenbett von Ida standen, erschraken leicht, als sie die Stimme hörten. „Es muss dich jemand verraten haben. Wer könnte das sein?“

Frowin blickte fragend in die erstarrten Gesichter der Hexen, die ihre Köpfe schüttelten und unwissend ihre Schultern zuckten.

„Ich habe keine Hexe mehr gesehen“, murmelte Isis mit blassen Lippen.

„Ich auch nicht. Wir waren wohl so sehr auf Ida fixiert, dass uns ein Fehler unterlaufen ist.“

„Komm raus, Hexe!“, schrie Fedora jetzt ungehalten und donnerte ihre ganze innerliche Wut mit diesem Schrei gegen das Haus, das daraufhin wackelte und zusammenzubrechen drohte.

Lisa kauerte sich erschrocken unter den Türrahmen in der Küche zum Flur und nagte nervös an ihren Fingernägeln. Berta schwebte ganz aufgeregt zu den anderen unters Dach und gesellte sich zu der kleinen, etwas eingeschüchterten Gruppe. „Temterem! Was bringt die denn so aus der Fassung? Die sollte mal einen Tee trinken.“ Berta versuchte die Stimmung etwas aufzuheitern, obwohl sie sich selber am liebsten gerade in Luft auflösen würde.

„Ich gehe raus!“ Isis war schon im Gehen.

„Nein, das machst du nicht!“ Nympfjet stellte sich ihr in den Weg und hielt sie davon ab, in ihr Verderben zu laufen! „Die kann nicht ins Haus kommen, Isis. Sie kann rütteln und brüllen, wie sie lustig ist. Solange wir hier unter diesem Dach sind, sind wir gegen Fedora geschützt.“ Die anderen nickten stumm zur Bestätigung.

„Außerdem bist du jetzt eine von uns. Wenn eine geht, gehen alle“, kam es mit dünner Stimme vom Krankenlager. Ida setzte sich noch etwas schwach auf und sah sie dankend an. „Wie ich so im Nebel meiner Sinne mitbekommen habe, verdanke ich dir mein Leben! Ich kann doch eine neu erworbene Hexenschwester nicht in die Arme eines widerlichen Weibsstücks schicken.“ Sie lächelte leicht. Auch jetzt nickten die anderen wieder stumm, um Idas Ansage aus dem Krankenbett zu bekräftigen.

Das Haus schüttelte sich ein weiteres Mal, als wollte es zusammenfallen. „Ich warne dich, Isis. Ich warte nicht mehr lange. Meine Geduld mit dir ist am Ende!“

„Meine jetzt auch.“ Nympfjet wandte sich ab und machte sich auf den Weg in die untere Etage, an der unter dem Türrahmen hockenden Lisa vorbei, riss die Hintertür auf und stand schutzlos im Sturm vor der alten Eiche.

„Na, das ist ja eine Überraschung. Das ist sogar noch besser als erwartet.“

„Freu dich nicht zu früh, Fedora. Ich habe noch einen Termin mit dem Teufel, bei dem werde ich erst einmal einiges klarstellen.“

„Ach wie niedlich!“ Fedora amüsierte sich über so viel Naivität. „Klarstellen!“ Sie lachte gehässig auf. „Du wirst keine Gelegenheit mehr dazu haben. Nimm das …!“ Fedora feuerte ihr die Todgreifer aus dem Hades entgegen. Viele Hände griffen mit wildem quietschendem Jaulen nach Nympfjet, um sie zu ihnen in den Hades zu ziehen. Es war so passend für schwarze Hexen, sich dieses Zaubers zu bedienen. Seelen, die in einer Endlosschleife im hinteren Teil der Hölle nie zur Ruhe kommen dürfen. In Ewigkeit schmoren sie für ihre Sünden, sich mit dem Teufel überhaupt eingelassen zu haben. Für Ruhm, Geld, Machtspiele und vieles mehr verkauften sie für die Gunst des Augenblickes dem Teufel ihre Seelen.

Nympfjet ließ sich nicht einschüchtern. „Fedora, ich habe weder Zeit noch Lust und Geduld, mit dir zu spielen. Deine Zeit kommt noch. Nur nicht jetzt …!“ Die kleine Hexe wurde nun sehr ungehalten darüber, dass die verlassenen Seelen unentwegt nach ihr griffen und gierig nach dem Leben trachteten. Gekonnt wich sie aus und bündelte ihre ganze Energie in ihren Händen zu einer enormen Kugel, die sie in die Baumkrone direkt in das böse lachende Antlitz von Fedora-Astarte vom Wurmberg warf, die sogleich verstummte.

Auf dem Wurmberg selbst aber trat die Oberhexe schnell zur Seite, denn der Baum wurde als Tor genutzt, so gelangte der Feuerball zu Fedora auf den Wurmberg, der einige Hexen traf und überraschend verbrannte. Genau auf solch eine Tat hat Fedora gewartet. Sie freute sich, dass sich die Hexe Nympfjet von ihr reizen ließ und dabei unbewusst auch noch Hexen tötete. Ja, das kam Fedora sehr gelegen. Angewidert ließ sie die verbrannten Hexen, denen man noch ansehen konnte, dass sie Hexen waren, für den Teufel aufbahren. Noch ein paar Stunden und die Herrscherin vom Klobenberg würde vor dem Hexenrat stehen, vor dem sie sich verteidigen musste, da konnte man solche Beweise gut als Anschauungsmaterial gebrauchen, denn die Hexe Nympfjet war einst des Elternmordes angeklagt. Und das würde ihrem Ruf alle Ehre machen, nämlich, dass sie inzwischen eine niederträchtige Hexenmörderin ist! Fedora tat alles dafür, damit diese elende Hexe, die für sie mehr als eine Plage darstellte, ihr Todesurteil erhält, und dass die Trägerin des verhassten Blutes durch die persönliche teuflische Hand des Meisters direkt an Ort und Stelle sterben wird.

Mit einem Siegerlächeln schritt sie an den verkohlten Leichen ihrer Schattenweiber vorbei, ohne sie auch noch einmal eines bedauernden Blickes zu würdigen!

Mit vor lauter Anstrengung geröteten Wangen kam Nympfjet wieder ins Haus. „So, jetzt haben wir erst einmal ein wenig Ruhe und können uns sammeln.“ Sie strich ihr Kleid zur Bestätigung glatt und straffte sich. Zügig wollte sie die Küche durchschreiten, als sie abrupt stehen blieb. Sie drehte ihre Ohren lauschend von einer Seite auf die andere und krauste dabei ihre Stirn. „Was ist das? Hörst du das auch?“

Lisa stützte sich zaghaft unter dem Türrahmen auf. Und in gebückter Schutzhaltung horchte sie nach dem, was Nympfjet wohl hörte. Lisas Leben war so Schlag auf Schlag anders geworden. Und sie verstand erst einmal gar nichts mehr! Vor allen Dingen zwischen dem, was andere so sahen und hörten, klafften Welten auseinander. „Was soll ich hören?“

„Na, das Klopfen.“ Wieder drehten sich die Ohren von Nympfjet in alle Richtungen. Sie ging ganz leise in Lisas Vorratskammer und ortete das unentwegte Klopfen. Sie signalisierte Lisa mit dem Finger an ihren Lippen, leise zu sein, und legte ihren Kopf auf die Truhe. „Da ist jemand drin“, stellte sie verblüfft fest. Fast wie in Zeitlupe ließ sie ihre Hand zum Griff gleiten. Lisa stand dicht hinter Nympfjet und hielt sich die Augen zu. Der Schreck, den die böse Fedora ihr gerade eingeflößt hatte, saß noch ganz tief in Mark und Bein, und das war für Lisas Nerven mehr als genug. Sie wollte kein Tamtam mehr, langsam reichte es ihr. Sie wollte nur noch ihre kleine Familie gesund und munter wieder in die Arme schließen – und das bitte recht bald. Zu wissen, dass die beiden bei der Oberhexe sind und eventuell Grausamkeiten durchstehen müssen, ist bald nicht mehr auszuhalten. „Du denkst zu laut, Lisa!“, wisperte Nympfjet und legte abermals ihren Finger über ihren Mund.

Mit einem Hauruck öffnete die kleine Hexe die Truhe und traute ihren Augen nicht. Dort drin hüpfte, zappelte und sprang ein tiefgefrorener Fisch von einer Seite auf die andere. „Noh endllüsch“, rief der Fisch Nympfjet erfreut mit einem spitzen eingefrorenen Mund zu. Die kleine Hexe zuckte erstaunt mit den Augenbrauen über den Fisch, der richtig erleichtert zu sein schien. „Hassscht duuu ne Aahnunggg, iiee annge isscchh diiscchh on uuufe?“ Nympfjet war perplex. Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit einem eisgekühlten Fisch, der in der Truhe von einer Seite auf die andere springt und sie vorwurfsvoll anmeckert.

„Lisa, hol Sinith und Brokk, schnell, lauf!“ Nympfjet holte ein Tuch und wickelte den Fisch darin ein. Sie zauberte ein Aquarium: „Aqua calida aquarium“, und warf den Fisch zum Auftauen in leicht angewärmtes Wasser. In der Zwischenzeit kamen alle ganz aufgeregt herbei und bestaunten in Lisas Küche den besonderen Fisch, warum auch immer.

Als Brokk den Fisch erkannte, machte er sich mit erhobenen Fäusten am Aquarium hoch. „Du Gauner. Ich erkenne dich …!“

„Papperlapapp“, unterbrach der Fisch den aufgeregten Zwerg. „Mach dich mal nicht größer, wie du bist.“ Und an Nympfjet gewandt, sagte er etwas friedlicher: „Ich grüße dich, Herrscherin vom Klobenberg. Ich habe eine Aufgabe mit höchster Priorität zu erfüllen.“ Mit einem mitleidigen Blick zu den Zwergen neckte er schadenfroh: „Die andere ja leider nicht ausführen konnten.“

Brokk und Sinith wurden sauer und entrüsteten sich. „Ja, weil du ein Dieb bist.“

„Ach Papperlapapp. Ich hatte Hunger. Schließlich bin ich ja auch ein Unterwasserjäger“, verteidigte sich der Fisch elegant mit einer angedeuteten Verbeugung.

„Nein, du bist ein ausgekochter Halunke.“ Brokk stellte sich ganz dicht an die Scheibe vom Aquarium und drückte seine Nase daran platt.

Der Fisch schwamm sich mit ein paar Runden warm und ließ sich von den verärgerten Zwergen gar nicht angreifen! „Erzähl, Fisch, wie kommst du hierher? Und warum suchst du ausgerechnet mich?“ Eine berechtigte Frage von der kleinen Hexe, die sie beantwortet haben wollte.

„Genau, und sag jetzt nichts Falsches, ansonsten brätst du als Filet in der Pfanne!“ Genervt von Sinith verdrehte der Fisch seine Glubschaugen.

„Also, ich fang erst einmal an. Es war ein ganz entspannter Nachmittag. Ich hatte nichts zu tun und langweilte mich auch gerade etwas, da sah ich an der Wasseroberfläche etwas glitzern. Mein Jagdinstinkt wurde geweckt und ich biss beherzt zu. Leider hing an meiner Beute auch noch ein Brocken dran, der mir das Wegschwimmen sehr mühsam machte.“ Mit einem vorwurfsvollen Blick zu Brokk, der kurz davor war, in die Luft zu gehen, erzählte er weiter: „Auf jeden Fall schüttelte ich den an mir hängenden Zwerg ab und schwamm mit meiner Beute im Maul die Bode runter. Forellenschwärme zogen an mir vorbei und plapperten munter drauflos. Plötzlich hörte ich von einem Hecht, der sich den Forellen angeschlossen hatte, die neuesten Gerüchte, die man sich im Harz erzählte.“ Dem Fisch im Aquarium gehörte die ungeteilte Aufmerksamkeit von allen. Es war gerade so leise im Raum, dass man Käfer krabbeln hören könnte.

Die Zwerge Sinith und Brokk aber trauten dem Fisch nicht und ließen ihn nicht aus den Augen, indem sie beide ihre Gesichter an die Scheibe drückten und hineinguckten. Der Fisch ließ sich davon nicht beirren und erzählte seine Geschichte wohlwollend theatralisch weiter: „Sie berichteten, dass zwei Zwerge unterwegs seien mit dem Zahn der Treue! Und sie sagten weiter, dass dieser Zahn der Klobenberg-Herrscherin gebracht werden muss.“ Er seufzte perfekt schwer zu dieser aufregenden Stelle. Die Zwerge merkten, dass er ein Schauspieler war und drohten ihm durch das dicke Glas. Unbeirrt faltete er seine Flossen auseinander und redete weiter: „In mir breitete sich sofort ein ungutes Gefühl aus, und das nicht nur, weil mir das Essen schwer im Magen lag und nicht einfach verdaut werden konnte.“

Lisa brummte dazwischen. „Na klar auch. Keiner kennt den Zahn der Treue, aber ihr Kaulquappen!“

„So ist es auch, Gnädigste! Auf jeden Fall schwamm ich geschwind wieder zurück, um den Zwerg zu finden, der an meiner Beute hing, und um ihn dann zu fragen, ob es sich vielleicht bei meinem Fang wirklich um den Zahn handelt. Aber ich fand den Zwerg nicht mehr, er war spurlos verschwunden …“ Mit dem Anheben seiner Schwimmflossen bedauerte er die Situation.

„Und nun Fisch …? Soll ich dir die Geschichte glauben?“, fragte Nympfjet ungläubig.

„Wieso so misstrauisch?“

„Weil es so weit hergeholt klingt, Fisch. Es kann ja auch sein, dass es gar nicht auf deiner Erfahrung beruht, sondern du wirklich ein ausgekochter Gauner bist und nur die Lorbeeren einsacken möchtest.“

Sinith nickte unaufhörlich. „Genau. Wir werden dich doch in die Pfanne hauen, Fisch.“

Nympfjet mahnte den aufgeregten Zwerg wieder zur Ruhe. „Sag mir, Fisch …!“

„Mein Name ist Lachs. Friedrich von Lachs aus der Luppbode“, stellte sich der Fisch vor, als er Nympfjet frech ins Wort fiel.

„Ja gut, Herr von Lachs. Haben Sie denn noch den Zahn, den Sie Brokk vom Hals weg gestohlen haben?“

„Aber, aber, liebe Herrscherin. Ich habe Ihnen im Angesicht des Todes und bitterer Kälte die Treue geschworen, mich deswegen fangen lassen und dafür gesorgt, dass die junge Frau“, mit einer Flosse auf Lisa zeigend, „also, dass die Menschenfrau mich kauft und ins Haus bringt.“

„Ein bisschen weit hergeholt, finden Sie nicht auch?“

Lisa kreuzte ihre Arme über die Brust und wurde jetzt genauso misstrauisch wie die Zwerge.

„Als ob sich ein Fisch angeln lässt und sich dann auch noch aussuchen darf, in welchem Fischgeschäft er auf Eis gebettet im Tresen landet. – Und zu guter Letzt auch noch selbst den Käufer aussucht …!“

Lisa schüttelte den Kopf. Sie wusste aber gerade nicht mehr genau, ob sie den Kopf schüttelte, weil sie mit einem Fisch sprach oder wegen der unglaublichen Geschichte. Das schien nämlich selbst ihr, der Geschichtenerzählerin über Mythen und Sagen aus dem Harz, eine Spur zu dick aufgetragen.

Sinith und Brokk nickten unaufhörlich dazu. Eigentlich taten sie seit Minuten nichts anderes mehr außer nicken. Sie trauten dem Fisch ebenso wenig über den Weg wie Lisa. Schließlich stahl er den Zahn und war somit ein Dieb in ihren Augen, ein gemeiner Verbrecher, mehr nicht!

Der Fisch schwamm munter noch einige Runden, bis ihm schwindelig und ganz schlimm übel wurde. Er würgte ein paarmal seinen Magen hoch – und plumps – fiel ein nicht gerade kleiner Zahn auf den Aquarienboden.

Nympfjet langte ins Wasser und holte sich das Zauberrelikt. Im Raum warteten alle höchst gespannt und fieberten dem entgegen, was gleich geschehen würde. Sie verharrten angestrengt und trauten sich bald nicht mehr zu atmen.

Nympfjet lächelte über ihre große Neugier. Die beiden Zwerge, Berta, Frowin, Ida, Lisa und selbst die Hexe Isis bestaunten den riesigen glänzenden Zahn, der auf Nympfjets flacher Hand lag und nicht den Anschein erweckte, als könne er etwas bewirken.

Ihre Köpfe steckten schon ganz dicht aneinander, da schrie die kleine Hexe auf einmal auf und alle taumelten erschrocken rückwärts.

„Mann, habe ich mich erschreckt.“ Berta flog geschwind unter die Zimmerdecke, um sich zu erholen, und fächerte sich etwas Luft zu. Lisa standen die Haare fast senkrecht. Ihre Nerven waren dermaßen angespannt, dass der Körper so reagierte.

Und die Hexen griffen instinktiv ihre Zauberstäbe, obwohl sie gerade gar nicht wussten, welcher Zauber der Richtige gewesen wäre. Der Zahnziehzauber vielleicht? Als sie noch überlegten, bemerkten sie, dass sie von der kleinen Hexe nur verkohlt wurden.

„Das glaube ich jetzt nicht!“, polterte Sinith, der unter dem Tisch wieder vorkam, unter dem er sich schnellstens versteckt hatte. Nun kamen auch die anderen zaghaft und mit wackeligen Knien dem Zahn wieder näher, da sie wussten, dass es sich um einen gelungenen Scherz handelte. Allerdings nicht ohne schmerzendes Herzklopfen und einem nahenden Herzinfarkt.

Nympfjet hatte an der Sache wohl auch als Einzige richtig Spaß. „Beruhigt euch. Ich erzähle euch jetzt, welch wunderbares Versprechen sich hinter dem Zahn der Treue verbirgt.“

Sinith trampelte wieder ruhelos von einem Beinchen auf das andere und war schon ganz gespannt. Er liebte Geschichten, Mythen und Sagen. Und wenn eine davon jetzt auch noch von der Klobenberg-Herrscherin persönlich erzählt wird, dann konnte es nur die pure Wahrheit sein. Er war so aufgeregt. Seine Nympfjet wird nun berichten, was wirklich geschah, auch wenn sie die Geschichte für die Zuhörer spannender und spektakulärer ausmalen konnte, weil nur sie die Wahrheit kannte! Alle schenkten ihr die volle Aufmerksamkeit und lauschten mit neugierigen Ohren.

Nympfjet fing leise an zu erzählen. Es schmerzte sie etwas in ihrer Brust, sich nun an unschöne Erlebnisse erinnern zu müssen, darum wählte sie die Erzählweise eines Märchens.

„Es war einmal eine kleine Hexe! Die wurde von ihren Eltern über alles geliebt. Sie wuchs behütet und sorglos bei ihren Eltern auf. Jeder Wunsch wurde der Kleinen von den Augen abgelesen und erfüllt. Der Vater aber hatte eine böse Schwester, die dieser Familie das Glück und die Liebe, die sie zu einander hegten, nicht gönnte. Diese böse Schwester war arglistig, gehässig und verseucht von böser schwarzer Magie. Eines Tages schwor sie sich, dem Glück ihres Bruders ein Ende zu setzen und ihn und sein verhasstes Eheweib zu töten. Sie tüftelte einen gemeinen, hinterhältigen Plan mit einer Freundin aus, die genauso schlecht dachte wie sie. Die beiden kamen zu dem widerwärtigen Entschluss, die ganze Familie zu töten! Einige Tage später brachte die böse Hexe ihrem Bruder und seiner Frau zwei Kelche mit vergiftetem Wein ins Zimmer, die sie freudig und dankend von der Schwester entgegennahmen. Treuherzig und genüsslich setzten sie die Kelche an ihre Lippen und tranken nichts ahnend den vergifteten Wein aus. Die böse Hexe brauchte nicht lange zu warten, bis sich ihr Bruder und dessen Frau an den Hals fassten und jämmerlich vor den Augen der bitterbösen und heimtückischen Schwester erstickten und tot vor ihre Füße hinfielen. Mit den Fußspitzen ihrer Stiefel stupste sie die bewegungslosen Körper noch einmal an, um ja sicherzugehen, dass sie auch wirklich tot waren! Mit ihrem Triumph über den Tod fing sie lauthals und gehässig an zu lachen. Das Schallen ihres ungestümen Gelächters hörte man durch die ganze Burg vom Klobenberg und löste sogar im Himmel knallende Donner und grelle Blitze aus.“

Sinith, der schon ganz in der Geschichte lebte, unterbrach aufgebracht die kleine Hexe. „Du sprichst von der bösen Brunnen-Walpurga vom Klobenberg, nicht wahr?“

Nympfjet nickte. „Ja, Sinith, das stimmt.“ Sie holte noch einmal tief Luft und fuhr mit ihrer Geschichte fort:

„Die böse Brunnen-Walpurga wollte aber nicht als Brudermörderin vor dem Hexenrat angeklagt werden, weil sie ja wusste, dass ihr Bruder der beste Berater und Vertraute des Teufels war. Also musste sie vorsichtig sein …“

Wieder wurde sie von Sinith unterbrochen. „Genau, und so hast du die Schuld gekriegt, nicht wahr?“

Alle im Raum verdrehten die Augen. Brokk knuffte seinen Freund unwirsch an. „Mann, kannst du jetzt einfach mal zuhören? Rede doch nicht ständig dazwischen.“ Wütend setzte er noch einen Klaps nach und zwang seinen Freund, still zu sein.

„So war es, Sinith. Du hast recht“, bestätigte sie.

„Es dauerte nicht lange, da hatte die böse Tante ihre Nichte vor den Hexenrat befohlen, vor dem sie des Elternmordes angeklagt wurde. Die kleine Hexe flehte und weinte herzzerreißend und beteuerte immer und immer wieder vor dem Rat und vor dem Teufel ihre Unschuld. Doch es nützte nichts. Der Plan der hinterhältigen Tante ging auf und die kleine Hexe musste in den berüchtigten Zyklopenwald, um dort zu sterben …“

„Ja, aber da bist du wieder rausgekommen, nicht wahr?“

„Jetzt habe ich genug von deinem Dazwischenrufen. Geh raus, Sinith.“ Mit ausgestrecktem Zeigefinger deutete Brokk seinem Freund an, sofort aus dem Zimmer zu verschwinden. Die anderen sahen sich genervt an und befürworteten, dass der Störenfried von Zwerg den Raum verlässt.

„Lass ihn, Brokk. Ich komme ja jetzt zur Geschichte des Zahnes.“ Nympfjet sah in die gespannten Gesichter ihrer Freunde und redete weiter.

„Als die kleine Hexe ängstlich im Zyklopenwald umherirrte, traf sie auf einen Riesen, der äußerst nervös und durcheinander wirkte. Er trampelte unentwegt vor lauter Unruhe tiefe Wege in den Waldboden. Und in seinem einen Auge sammelten sich Tränen des Schmerzes. Die kleine Hexe war vom Anblick des Riesen erschüttert. Plötzlich spürte sie keine Angst mehr, sondern ging mutig auf ihn zu. Das freundliche Wesen der kleinen Hexe beeindruckte ihn sehr, er kannte schließlich auch andere. Es dauerte nicht lange, da vertraute der Riese mit dem einen Auge der kleinen Hexe seinen Kummer an! Und so erfuhr sie, dass die Frau des Riesen vor einer schweren Geburt stand und wohl die Niederkunft nicht überleben wird. Die kleine Hexe versprach zu helfen. Und tatsächlich erblickte dann auch nach einer wirklich schweren Entbindung der Erbe des Zyklopen das Licht der Welt. Aus Dankbarkeit versprach der Riese, der auch noch der König in diesem Wald war, die kleine Hexe nicht zu töten, sondern schenkte ihr das Leben. Aber eins musste sie ihm versprechen, sollte er noch mal in Schwierigkeiten stecken oder von bösen gefährlichen Hexen bedroht werden, müsse sie ihm sofort zu Hilfe eilen. Die kleine Hexe erklärte sich damit einverstanden und beide überlegten, was für ein Symbol dieses Versprechen verstärkt besiegeln konnte. Sie fanden etwas. Als nämlich die kleine Hexe und der Zyklopenkönig in die Wiege des Erben blickten, lächelte der und es blitzte etwas perlweiß aus seinem Mündchen. Der kleine Erbe des Zyklopenwaldes wurde mit einem Zähnchen geboren, das stach in einem sonst zahnlosen Mund direkt ins Auge. Sie entschlossen sich, dem Kind den Zahn zu ziehen. Deshalb umgab ihn die kleine Hexe mit einem Zauber. Bevor sie dann ging, sagte sie dem König: ‚Der Zahn ist nun ein Tor zu dir. Sende ihn in Not zu mir. Sobald er mich erreicht, wenn du nach mir geschickt hast, werde ich ohne Umschweife neben dir stehen und dir helfen.‘ Der König bedankte sich und entließ die kleine Hexe lebendig aus dem Wald …!“

Als Nympfjet ihre Reise in die Vergangenheit beendete, war es so ruhig und leise in der Küche, dass man den Käfer, der hinter dem Schrank hervorkam, krabbeln hörte.

Sinith fand zuerst seine Sprache wieder. „Aber die kleine Hexe warst doch du. Warum hast du die Geschichte so erzählt, dass man denken könnte, du erzählst die Geschichte von irgendjemand anderem?“

Im Zimmer wurde ein Raunen laut, Augen wurden verdreht. Und Frowin packte Sinith am Kragen und stellte ihn vor die Tür. „Da bleibst du jetzt, bis wir dich wieder reinholen.“

Bei Ida traten Tränen in die Augen und sie schluchzte leise auf. „Ich, deine beste Freundin, wusste nicht einmal etwas davon. Nie hast du mir erzählt, was du wirklich im Wald erlebtest.“

Nympfjet lächelte gerührt, trotzdem überkam sie nun auch ein Hauch von schlechtem Gewissen. „Ach Ida, ich gab dem Zyklopenkönig mein Wort, niemals darüber zu erzählen, bis zu dem Tag, wo er wirkliche Freunde braucht. Und die wirklichen Freunde stehen heute an meiner Seite, oder?“

Ida, Frowin, Berta, Isis, Lisa – alle wie sie um Nympfjet standen, bejahten die Frage feierlich. Herr Friedrich von Lachs aus der Luppbode blubberte vor Aufregung große Luftblasen in seinem Aquarium und freute sich darüber, einen Teil dazu beigetragen zu haben! Auch wenn er seine Version der Geschichte etwas überspannt darstellte, denn es kam schon mal vor, dass in der Heimat von Mythen und Sagen manchmal klitzekleine Unwahrheiten dazu gesponnen wurden.

„Worauf warten wir dann noch, Nympfjet? Lass uns kämpfen!“ Ida, Isis und Frowin hielten ihre leuchtenden Zauberstäbe nach oben. Der Zwerg Brokk zückte seinen Dolch, nur Lisa und Berta stellten sich ohne Waffen einfach dazu, zeigten aber nicht weniger Entschlossenheit.

„Was haben wir für Waffen?“ Brokk kramte in seinen Taschen und legte das Horn der Taubheit und das Unsichtbarkeitsnetz, was in der Zwischenzeit von der alten dicken Berta wieder repariert wurde, in Nympfjets Schoß. Andächtig befühlte die kleine Hexe die Zauberpatrone, als die Tür vorsichtig aufgeschoben wurde.

„Darf ich wieder reinkommen“, flüsterte Sinith fragend in die Küche.

Brokk sah Nympfjet an. „Darf ich ihn umbringen?“

Die kleine Hexe sah in Brokks genervtes Gesicht und fing an zu lachen. Sie klopfte sich ständig dabei auf ihre Beine und kriegte bald keine Luft mehr. „Komm rein, Sinith“, sagte sie schnaufend. „Ich habe wirklich noch nie jemanden kennengelernt, der ein so großes Talent besitzt wie du, einem derartig auf den Geist zu gehen.“ Geehrt von dieser Auszeichnung hüpfte er förmlich mit einem stolzen Lächeln zu den anderen, die ein Stöhnen nicht verkneifen konnten.

Es dauerte eine gute Weile, bis Nympfjet ihr immer wieder aufkommendes Kichern unter Kontrolle hatte. Endlich geschafft, wirkte sie gleich wieder angespannt und ernst. Sie gab Lisa das Netz der Unsichtbarkeit und das Horn der Taubheit. „Lisa, das sind deine Waffen. Versteck dich unter dem Netz, wenn ich dir das befehle. Und halte das Horn in ständiger Bereitschaft. Sobald du in Gefahr bist, blase das Horn, wie der Teufel es tun würde!“

Lisa schien das mit dem Horn nicht ganz geheuer. „Aber wenn ich in das Horn blase, dann seid auch ihr davon betroffen. Ich werde euch mehr schaden als nutzen.“

So unrecht hatte Lisa nicht. Denn Hexen sind nun mal Hexen. „Mach dir keine Sorgen, kleine Lisa.“ Nympfjet wirkte nun mütterlich. „Im Kampf sind wir besonders geschützt. Wir holen unsere Kraft aus dem Universum und von der Mutter Erde. Wir sind zwar Hexen, aber in diesem Fall Botschafter des Friedens.“

Lisa war erleichtert. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn auch Isis, Ida und Nympfjet sowie Frowin durch das Horn zu Schaden kämen!

Die kleine Hexe lief im Zimmer wie ein aufgescheuchtes Huhn auf und ab. Alles an ihr schien sich zu bewegen. Die Ohren drehten sich fast im Kreis. Und ihre Augen suchten alle Himmelsrichtungen ab. „Wo mag nur das Schwert der Weisheit sein?“

Nympfjet grübelte mit wackeligen Ohren weiter und dachte angestrengt nach. „Befände sich das Schwert bereits in den Händen der Wurmberghexe, hätte sie uns angegriffen und wäre nicht nur in der alten Bluteiche erschienen.“

Nympfjet hatte recht. Mit dem magischen Schwert besäße sie alle Macht der Welt, auch um das Haus zu stürmen! Sie hat es auf keinen Fall. Sie überlegte weiter: „Wer besitzt das Schwert?“ Plötzlich kam ihr eine Idee und sie schlussfolgerte: „Sinith, kannst du dich vielleicht noch daran erinnern, was Maxima alles mit sich führte bei ihrem Aufbruch? Und was sie noch trug, als die Hexe nach ihr griff …?“

Nympfjet beugte sich zu dem kleinen Zwerg herunter und legte ihre Hand auf seine Stirn, wie sie das zuvor schon einmal bei Isis tat. „Denk nach, Sinith, ich komme mit dir. Ich kann es leider von hier aus nicht orten!“ Sie verband sich mit Sinith und unternahm mit ihm eine kleine Reise in die Vergangenheit. Nympfjet schmunzelte hin und wieder über das eifrige, spontane und durchaus naive Wesen des Zwerges. Aber sie rechnete ihm auch seinen Stolz und seinen unbegrenzten Mut hoch an. Sie sah alles, was sie sehen musste. Ihre Augen füllten sich mit heißen Tränen, als sie entdeckte, wie der Harz ausblutete und wie die Bäume kraftlos zusammensackten und umfielen. Ihre geliebte Heimat starb einen elenden Tod! Es war viel geschehen. Die kleine Hexe konnte ja nicht ahnen, dass der Teufel die Wälder des Harzes mit dem Feuer der Hölle heimsuchte, nur um sie zu bestrafen. Sie hatte genug gesehen und löste sich langsam wieder aus Siniths Erinnerungen. Mit feuchten Augen, aber trotzdem lächelnd, sagte sie: „Isis, würdest du Sinith noch einmal dorthin fliegen, wo du ihn gefunden hast, als die grausame Hexe Maxima packte? Denn genau dort liegt unter verbranntem und ausgeblutetem Holz ganz versteckt ein weiß-brauner Rucksack. Und in dem ist das magische Schwert verborgen.“ Die Klobenberg-Herrscherin brauchte Isis nicht lange bitten. Sie wurde noch nie so höflich gebeten, etwas auszuführen, wie von der Klobenberg-Herrscherin. Glücklich darüber, dass sich das Schwert nicht in Fedoras Händen befand, packte sie mit einem Lächeln ihren Besen und den Zwerg und flog mit ihm durch den Schornstein in Windeseile davon, um das magische Schwert zu holen.

Als Isis nicht mehr zu sehen war, sagte Nympfjet zu den anderen: „Haltet euch fest, ihr macht jetzt eine schnelle Reise in eine andere Welt.“ Gespannt beobachteten sie, wie die kleine Hexe den Zahn in der Mitte durchbrach. Aus dem Inneren entstand direkt vor Lisas Küchenschränken ein riesiger Feuerkreis mit einem schwarzen Loch in der Mitte. Nympfjet musste nun laut schreien, damit ihre Freunde sie verstanden. Das Rad bündelte Energie und erzeugte fast einen Orkan um sie herum.

„Sobald ihr den Rand des Rades durchschreitet, werdet ihr von einem starken Sog hineingezogen. Ohne Halt werdet ihr mit sehr hoher Geschwindigkeit so lange gezerrt, bis ihr in einem Wald landet. Dort wartet auf mich, ich werde euch als Letzte, wenn wirklich alle durch sind und Isis wieder hier ist, nachfolgen.“

Frowin war der Erste, der sich ans Rad stellte und von dem Sog erfasst wurde – und blitzschnell verschwand. Dann Ida, die noch schnell Lisas nasskalte Hand fasste, damit die gar nicht erst großartig überlegen konnte und einfach mitgezogen wurde. So nach und nach landeten alle in einer anderen Welt und warteten in einem fremden Wald, von dem sie wussten, dass hier Hexen und Hexer nicht willkommen waren und außerdem bis jetzt keiner jemals wieder lebendig herauskam, nur ihre Herrscherin Nympfjet …

In der Stadt Lähis wurde die Hitze unerträglich. Ihre purpurnen und sonnengelben Mäntelchen, die besonderen Markenzeichen der Zwerge, trugen sie schon längst nicht mehr. In der Stadt stand die Luft, sodass sie kaum noch atmen konnten. Die Zwerge durften nicht mehr in ihr Bergwerk einfahren, das Eisen zwischen den einzelnen Felsen und im Berginnern schmolz und tropfte wie von selbst aus dem Gestein. Sie wären in den Tunneln verbrannt!

Mächtig und gewaltig drückten und flossen die Tränen des Harzes schon wie kochende Lava unaufhaltsam über die Brücke.

Nach und nach zogen doch verängstigte Zwergenmütter in die Halle Rahu, um ihre Wickelzwerge zu schützen.

Der große Thronerbe und der kleine König schauten besorgt auf die Brücke, die von der schweren Last zusammenzukrachen drohte. Wenn der Zugang in die Stadt Lähis brach, konnte das erhitzte flüssige Harz ungehindert direkt in die Stadt eindringen und nahm den kleinen Bewohnern binnen Sekunden jegliche Überlebenschance.

Sie tränkten Sandsäcke im Mittelteich und stapelten diese um die Stadt, um sich noch etwas Kühlung zu verschaffen. Aber die Feuchtigkeit verdunstete sofort und ließ Lähis mit einer stickigen Luft in einer Nebelwand stehen.

„Ich weiß nicht, zu welchem Gott ich noch beten soll …!“ Der Zwergenkönig verzweifelte immer mehr. Wenn das in die Geschichte eingeht, war er dann der König, der sein Volk in den Tod führte, weil er zu sehr auf die Hilfe von außen hoffte?

„Gräm dich nicht.“ Sein treuer Freund Sordolax, dem die Flucht aus dem Zyklopenwald geglückt war und nun ständig an seiner Seite weilte, versuchte ihn aufzumuntern. „Noch ist es nicht aussichtslos. Wir haben noch die Schutzhalle, in die wir uns alle zurückziehen können. Hoffen wir einfach mal, dass es Sinith und Brokk geschafft haben, den Zahn der Herrscherin zu übergeben. Dann kommt bald Hilfe.“

Der kleine König versuchte, seine stolze und gerade Haltung, die sein Ansehen widerspiegeln sollte, einzunehmen. Doch es gelang ihm wegen der ganzen Sorge, die auf seinen Schultern lag, nicht. Er seufzte mitleiderregend schwer auf und blieb stumm.

als Isis mit dem Besen so sorglos durch den Schornstein flog, dachte keiner daran, dass immer noch Katzen in der Bluteiche saßen und das Haus ständig beobachteten. Und sofort sonderte sich eine aufmerksame schwarze Katze vom Baum ab und heftete sich an die Fersen der in ihren Augen verräterischen Hexe!

Mit dem Besen waren Sinith und Isis geschwind an der Stelle, wo die Hexe den Zwerg vor Tagen auffischte. Vorsichtig half sie dem Zwerg von ihrem Besen runter. „Der Wald sieht so beängstigend aus.“ Sinith sah sich erschüttert um. „Der Boden wird auch immer heißer, bald kann man keinen Schritt mehr vor den anderen setzen!“ Er hob seine Beine an und stellte fest, dass sich die Ledersohle wie Gummi langzog.

„Lass uns keine Zeit verschwenden und nach dem Rucksack suchen“, drängte Isis.

Sie suchten mit Argusaugen jeden Winkel ab. Sie hoben morsche Äste und Baumrinden auf, unter denen sie etwas vermuteten. Der Anblick des Waldes ließ ihre Herzen weinen. In dem Waldstück lebte nichts mehr, nicht einmal mehr ein winziger Grashalm. Geschweige denn Tiere. Der Wald war nicht nur tot, sondern auch still. Normalerweise zeugt Ruhe von Frieden. Hier aber wütete ein lautloser Schrei nach Vergeltung. Alles zeigte sich ihnen verdorrt und ausgeblutet. Überall drückten sich Schwefelquellen durch die Erde, die einem die Luft zum sorglosen Leben nahmen. Der nebelige, stickige und schwüle Dunst erschwerte den beiden noch zusätzlich das Suchen der Tasche. Die Umgebung offenbarte sich ihnen in einem düsteren Schwarzbraun und erschwerte das Aufspüren des versteckten und farblich angepassten Rucksacks.

Isis wurde von einem verdächtigen Knacken im Hintergrund aufgeschreckt. Auge in Auge stand sie plötzlich der Hexe Beijanna gegenüber. „Ich hätte dich riechen müssen, Beijanna“, sagte Isis unerschrocken. „Du stinkst widerlich nach Verrat!“

Beijanna grinste hämisch. „Ja, genau wie du, Isis. Bloß du ziehst noch den Geruch des Todes hinter dir her.“ Die beiden Hexen umkreisten sich wie kämpferische Katzen. Aus ihren Zauberstäben leuchteten unentwegt mordgierige farbliche Blitze. Ihre Gestalten passten sich der Hässlichkeit und dem Grauen des Waldes an.

Sinith erschrak zutiefst. So grauenvoll buckelig und mit verzerrter Fratze hatte er Isis noch nie gesehen! Ihre Nase wirkte so spitz wie ein Speer, mit dem man etwas aufspießen konnte. Ihre Augen waren rot-gelb und sie versanken in denen der Hexe Beijanna, die gleichfalls zum Fürchten aussah. „Mori miserum.“ Beijanna gab den Befehl, die Hexe Isis zu töten. Der Fluch traf Isis am Bein und sie stürzte. Siegessicher setzte sie flink mehrere Flüche der am Boden kriechenden Isis hinterher. „Caput, thoracem, abdomen, cor …“ Alle Körperteile, die getroffen werden sollten, zählte sie nacheinander zügig auf und ihr Zauberstab gehorchte jedem ihrer finsteren Befehle. Isis drehte und rollte sich mit jedem Feuerball wie eine Schlange, um nicht getroffen zu werden. Baumreste wirbelten auf, die Isis noch zusätzlich trafen und verletzten. „Wehr dich endlich, Hexe. Das macht mir hier keinen Spaß.“ Beijanna war von dem einseitigen Kampf gelangweilt und reagierte fahrlässig. „Ich werde deinen Platz neben Fedora einnehmen, Hexe, und mit ihr so über den Harz herrschen, wie es einer zukünftigen Oberhexe gebührt.“

Isis lachte verbittert auf. „Welche Anerkennung gebührt schon einer schattenhaften und niederträchtigen Hexe, außer dem Platz, der ihr zusteht, nämlich der reservierte Platz neben anderen Schattenweibern in der Teufelsmauer?“

Isis reizte Beijanna mit ihrer Frage bis aufs Blut. „Rex Cobra.“ Vor Isis baute sich eine riesige Königskobra auf, die ihr Schlangenmaul weit öffnete und auf Isis zuschoss. Isis brachte sich hinter einem Baumstumpf in Sicherheit. „Mit deinem ständigen Weglaufen ärgerst du mich, Hexe!“

Isis holte tief Luft und hatte nun Zeit, ihre schwere Wunde am Bein zu heilen. Die Schlange schlich um den kaputten Baum herum und suchte Isis mit ihrer schnellen gespaltenen Zunge. Mit letzter Kraft sprang sie aus ihrem Versteck hervor und schrie: „Case ad cinerem vos bestiam.“ Die Bestie kräuselte sich wie verbrennendes Papier zusammen und zerfiel zu Asche. „Und jetzt zu dir, Beijanna. Nimm das: „Muris.“ Ehe Beijanna sich versah, verwandelte sie sich in eine Feldmaus, die sich piepsend einen Weg ins Unterholz bahnen wollte. Doch Isis wartete schon in Gestalt einer hungrigen Katze vor der Maus. Sie schlug ein paarmal mit ihren Tatzen auf das Tier ein und schlang sie genüsslich runter. „Das war wohl nichts mit der besseren Hälfte von Fedora. Jetzt bist du ein Teil meiner fressenden Magensäure.“ Triumphierend verwandelte sie sich wieder in die Hexe Isis zurück. Jetzt wurde ihr schreckhaft bewusst, dass sie mit der Hexe Beijanna sehr viel Zeit verschwendet hatte. Geschwind hielt sie Ausschau nach dem Zwerg. Doch der war nicht mehr da …

„Sinith.“ Sie lauschte nach irgendwelchen Geräuschen. Nichts. „Zwerg, komm raus. Wir müssen das Schwert suchen!“ Doch von Sinith kam weder ein Laut noch eine Reaktion.

Er konnte auch nicht mehr antworten, denn Siniths Seele wurde längst von Fedora zu sich gerufen, der sich nun in tiefer Trance und wie ein Schlafwandler auf dem Weg zu Fedora auf den Wurmberg befand. Sie hatte wie immer leichtes Spiel. Sein Unterbewusstsein gehörte nun mal ihr. Auch dieses Mal brauchte sie nur mit lieblicher Stimme böse Worte zu singen …

Mein kleiner Freund, ich kann dich sehen,

höre doch mein Flehen.

Komm zu mir,

ich warte hier.

Meinen Namen will ich von dir hören, sagen …

Und alles, was sich mit dir verbindet, erschlagen …

Komm her zu mir,

ich warte hier.

Du bist mein Freund, das sag ich dir.

Dank dir gehört der Harz bald mir.

Ergötzen werde ich mich am Klagen,

wenn ich meinen Namen werde hören, sagen …!

Der Zwerg Sinith blieb verschwunden, keine Spur von ihm. Isis suchte schnell allein wie eine Verrückte krampfhaft nach Maximas Rucksack. „Scrutamini quod volo.“ Aus ihrem Zauberstab bildete sich die Schnauze eines Jagdhundes, der sofort die Fährte nach Maximas Beutel aufnahm. Nach kurzem Schnüffeln hier und da fand die Hundenase das, wonach Isis suchte. Schnell rief sie nach ihrem Besen, stürzte im Flug über das Waldstück und sah von oben noch einmal nach dem Zwerg, den sie immer noch nicht entdecken konnte.

Isis ahnte, wer sich den Zwerg geholt hatte. Sie wusste, dass der kleine Mann im Zwiespalt mit seiner Seele stand. Sorgenvoll, bedrückt und unruhig lenkte sie ihren Besen Richtung Klobenberg, ohne den unbekümmerten Sinith. „Ich werde dich finden und dich aus den Fängen von Fedora befreien, das verspreche ich dir!“

Isis flog auf ihrem Besen zurück. Sie musste sich sputen, denn die Zeit verfloss wie der Schnee in der Sonne. Das Schwert war gerade wichtiger, wenn das auch noch durch einen dummen Zufall in die Hände von Fedora gelangte, dann gab es für alles Lebende und Kriechende keine Gnade mehr. Unbarmherzig würde sie alles dahinraffen.

Für Isis stand es außer Frage, wem sie das Schwert aushändigt. Es gehörte der fairen und liebreizenden Hexe Nympfjet und die soll es auch wieder in ihren Händen halten. Und somit entfernte sich Isis immer mehr von der schwarzen Magie …

Erleichtert atmete Nympfjet auf, als sie Isis auf ihrem Besen kommen sah. Heftig polternd flog Isis direkt in das Haus und neben Nympfjet. Tonlos übergab sie das Schwert der Herrscherin. „Schnell Isis, wir müssen los.“ Nympfjet gab ihr ein Zeichen, sich zu beeilen, da fiel ihr auf, dass Isis alleine war. „Wo ist Sinith?“

Isis’s Kopfschütteln verriet Nympfjet genug. Jetzt waren schon drei in den Klauen der bösen Fedora. Aber darüber konnte sie jetzt nicht Nachsinnen. Jetzt brauchte jemand anderes auch ganz dringend ihre Hilfe. Sie nickte Isis aufmunternd zu, sich in das Rad zu begeben. Sie stieg in den Ring und Nympfjet sprang hinterher, in die Welt der riesigen Zyklopen …

Fedora lachte gemein und gehässig auf, als sie Sinith zu sich auf den Berg leitete. Sinith ging ohne große Mühe der Stimme nach. Wie immer klang sie so bezaubernd weich und lieblich!

Komm immer weiter, Schritt für Schritt …

Du als Träger bringst mir Seelen mit …

Ich will gar nicht viel haben …

Nur den Klang von meinem Namen!

Du warst schon viel zu lang ein böser Zwerg …

Komm und steige hoch auf meinen Hexenberg …

Ich will gar nicht viel haben …

Nur meinen glorreichen Namen hören, sagen …!

Er hatte so lange in sich gekauert und sehnsuchtsvoll gewartet, dass sie ihn zu sich rief. Jetzt war es endlich so weit und die andere jammernde Seite ihn ihm sollte nun verstummen! Nie wieder wollte er auf das Klagen und Stöhnen von ihr hören. Das trennte ihn nur von seiner Liebsten, weil sie eifersüchtig und neidisch darauf reagierte, dass er von der weichen zärtlichen Stimme ausgesucht wurde. Siniths Unterbewusstsein unterdrückte seine gute Seite in ihm, sodass er die Warnungen nicht mehr wahrnahm und auf sie hörte. Er wollte sich nur dem liebreizenden Singsang hingeben und darin baden. Diesem getrennten und beeinflussten Stück Seele, einst ein Teil von Sinith, gelang es nicht mehr, die bösen Worte zu erkennen, die die Hexe sang!

Und so ging er im festen Griff von Fedora-Astarte vom Wurmberg direkt in sein Verderben …

als Nympfjet mit Schwung am Ende des Tores landete, umzingelten schon mehrere Riesen ihre Freunde und richteten spitze Waffen auf sie.

„Du hast uns nicht gesagt, dass unsere Magie hier nicht ausreichend ist“, zischelte Frowin mit erhobenen Händen und etwas angesäuert.

„Wenn sie so stark wäre, würde jede Hexe hier wieder herauskommen. Die Hexen werden hier zertreten wie kriechende Maden. Es bedarf einer besonderen Seite, um hier zaubern zu können“, sagte sie gelassen und stellte sich hochachtungsvoll vor die Riesen und nannte ihre Absicht.

„Ich begrüße euch, ihr Zyklopen. Mein Name ist Nympfjet. Nympfjet vom Klobenberg. Wir sind gekommen, um euch zu helfen. Der König erwartet mich schon längst. Führe uns zu ihm.“

Argwöhnisch wurden die Eindringlinge beäugt, ehe sie sich dann doch stumm auf den Weg machten. Mit stampfenden Schritten gingen die Riesen vor der kleinen Gruppe her. Jeder Schritt der Zyklopen ließ den Boden beben, sodass die Hinteren leicht hüpften. Brokk wurde von Frowin auf die Schultern gesetzt, da er sich durch die Erschütterung der Riesenschritte nicht auf seinen eigenen Füßchen halten konnte.

Sie liefen weit in den Wald hinein, bis sie in das Dorf der Zyklopen kamen, in dem sich riesige Hütten fast aneinanderreihten. Brokk bestaunte die Höhe. So hoch maß noch nicht mal der Mammutbaum zu seiner Heimatstadt Lähis.

Die Riesen stoppten vor einem Haus mit einem großen Tor, an dem urige Schriftzeichen eingeritzt waren. Nympfjet erklärte die Zeichen ehrfürchtig. „Das ist die Urschrift der Zyklopen, die besagt: Wer in Frieden kommt, darf auch in Frieden gehen …!“

Das Tor wurde von den Riesen mit Leichtigkeit geöffnet. Frowin flüsterte zu Brokk: „Ich hätte das Tor nicht einmal in einer Woche zehn Zentimeter weit aufgekriegt!“ Brokk schmunzelte, als er im Kopf kurz rechnete, wie lange er für einen Spalt nur von der Hälfte brauchen würde.

„Setzt euch.“ Einer der Zyklopen verhinderte mit dem Speer, der zuvor auf die kleine Gruppe gerichtet war, das Weitergehen.

Während sie im Innenhof warteten, um zum König vorgelassen zu werden, zuckten sie plötzlich von einem fürchterlichen, kreischenden Lachen über ihnen zusammen. Es klang ohrenbetäubend und zwang sie in die Knie. Es hörte sich an, als hielt sich eine Hundertschaft von bösen Hexen über dem Wald auf.

„Kommt schnell.“ Nympfjet und ihre Freunde wurden von einer netten großen Zyklopenfrau eilig ins Haus gewunken. Als sie im Haus standen und sich die Riesin nach unten beugte, um ihre Gäste zu begrüßen, fiel allen auf, dass sie bezaubernd hübsch aussah. „Mein Name ist Axarnia. Die Frau von Sordolax!“

Nympfjet reichte ihre Hand. „Ich grüße dich, Axarnia. Ich bin Nympfjet!“

Die Riesin öffnete ihre sehr große Hand und die kleine Hexe legte ihre zur Begrüßung hinein, die darin nicht einmal wie eine Brotkrume wirkte. Axarnia lächelte wissend. „Dir hat mein Mann also die niedliche Zahnlücke zu verdanken.“

Nympfjet blickte achselzuckend verschämt umher. „Es war halt die beste Lösung!“

Das letzte Wort klang wie ein Schlagwort und ließ die Riesin auffahren. „Ich bringe euch jetzt zum König. Bitte erschreckt nicht, er ist sehr alt und sehr krank.“

In der Halle ertönte das grässliche Lachen der Hexen wie viele laute Echos von den Wänden. Das spitze Kreischen traf Mark und Bein und verwirrte einen im Kopf. Sie mussten sich die Ohren zuhalten, um nicht angreifbar zu sein.

Mit einem liebevollen Kopfnicken munterte die Riesin Axarnia die kleine Gruppe auf, ihr mutig zu folgen. Es wurde ein großer Fußmarsch durch die Halle, denn für einen Schritt der Riesin mussten Nympfjet und ihre Freunde zwanzig machen. Als sie dann vor einer schweren Eichentür stehen blieb, sagte sie zu Nympfjet: „Geh erst einmal allein zu ihm. Vielleicht möchte er ja später deine Freunde kennenlernen.“

Vorsichtig schob sie Nympfjet in den verdunkelten Raum. Ihre Augen mussten sich an die plötzliche Dunkelheit erst gewöhnen. Unsicher stand sie hinter der schweren Eichentür in einem unbekannten Zimmer, in dem von irgendwoher schweres Atmen zu ihr durchdrang.

„Komm zu mir, Nympfjet!“

„Woher weißt du, dass ich das bin?“

„Ach, meine bezaubernde kleine Hexe. Nie wieder, nachdem du uns verlassen hast, nahm ich den Duft von Lavendel so stark wahr. Du riechst wie eine wunderschöne, sonnenüberflutete Lavendelwiese. Der Duft, der dich umgibt, wird dich immer verraten!“

Schemenhaft erkannten Nympfjets Augen langsam das Zimmer und das Lager, auf dem der alte König gebettet war. Sein müdes Auge blickte zu Nympfjet, die jetzt neben dem kranken König stand, aber zuvor auf eine Fußbank kletterte, um ihn richtig zu sehen.

„Du bist immer noch so schön wie eine weiße Seerose im Frühling. Nicht einen Tag älter geworden.“ Nympfjet, die keine Komplimente kannte, trieb es die Schamesröte ihrer reizenden Schüchternheit ins Gesicht. Als könnte er ihre Verlegenheit sehen, lenkte er lächelnd das Gespräch in eine andere Richtung.

„Ich liege im Sterben, Nympfjet, kann mein Auge jedoch noch nicht schließen, weil mein Sohn und Erbe meinen Königssegen nicht erhalten kann. Er ist ausgezogen mit vielen Kriegern, als wir von bösen Hexen umlagert wurden und Hilfe benötigten. Er machte sich auf den Weg zum Zwergenkönig Brutas, weil unser weißer Magier eine Vision hatte, dass sich die Zwerge Sinith und Brokk über den Hexenstieg zu dir durchkämpfen! Ich befürchtete, dass es die Botschafter nicht rechtzeitig zu dir schaffen würden und somit der Wald verloren wäre, deshalb ging der rechtmäßige König fort aus dem Wald.“ Dem König fiel das Sprechen sichtlich schwer und er gönnte sich eine Pause.

Nympfjet wollte den König nicht mit den Abenteuern der Zwerge belasten, und welche Umwege der Zahn der Treue gehen musste, um endlich bei ihr zu sein. „Ich bin jetzt da, König Thauridax!“

Sein Blick wurde wirr und schwermütig. „Hörst du sie schreien? Tag und Nacht, ohne Unterlass. Viele Monde lang dieses krächzende, keifende und schrille Lachen. Unzählige aus meinem Volk trieb es in den Wahnsinn, die sich dann das Leben nahmen. Das Wissen, dass hier keine Hexe jemals lebend rauskommt, hat ihnen eine andere Methode zugeflüstert, wie sie uns ausrotten können.“

Die kleine Hexe streichelte liebevoll die alte, faltige, kalte Hand des Königs, der vor Sorge um seinen Sohn und sein Volk und der Anstrengung, diese traurigen Sätzen sagen zu müssen, ganz geschafft eingeschlafen war. Nympfjet verließ seufzend still und leise das Zimmer von König Thauridax.

Vor der Tür rührten sich ihre Freunde nicht von der Stelle und warteten ungeduldig und gespannt auf weitere Anweisungen. „Wir müssen Sordolax zum König bringen. Und das unverzüglich. Aber erst müssen wir über dem Wald die Hyänen von den Besen holen, bevor wir alle verrückt werden!“

Nympfjet wandte sich an Lisa: „Du hast das Horn und das Netz. Dich schicken wir als Köder.“

Lisa schluckte, hier kam es immer dicker. Innerlich war sie mit sich am Hadern. Hoffentlich krieg ich aus dem Ding überhaupt einen Ton raus. Und das Netz, ist das nicht viel zu klein für mich? Oh menno, warum muss ich der Köder sein? Weil ich ein Mensch bin? Lisa begutachtete kritisch ihre Utensilien und wurde von Nympfjet ermahnt.

„Lisa, du denkst wieder zu laut.“ Ohne näher darauf einzugehen, gab sie ihre Anordnungen präzise weiter. Es schien auch nicht nötig, jeder wusste inzwischen, dass Nympfjet telepathieren konnte, und so grinsten sie sich über die Zurechtweisung untereinander nur an.

„Berta, du bleibst dicht neben Lisa. Dir kann nichts passieren, außer – sie erstarren dich. Aber das ist nicht weiter schlimm.“

Berta verschränkte brüskiert die Arme über ihrer Brust und sah beleidigt zur Seite. „Aha, schön zu wissen, dass ich nichts wert bin!“

Nympfjet überging auch das mürrische Maulen von der dicken Berta und redete einfach weiter. „Ida, Frowin und unsere neue Freundin, die Hexe Isis, und ich“, Nympfjet lächelte Isis zu, „werden in Lisas Nähe auf den Angriff lauern.“

Lisa streckte zögerlich ihre Hand wie in der Schule nach oben. „Was heißt in der Nähe? Im Radius von einem Kilometer oder näher bis weiter weg?“

Nympfjet beruhigte sie. „Nein, Lisa. Mach dich nicht

verrückt. Wir sind direkt hinter dir!“ Sie sprach jedes

Detail mit ihren Freunden durch. Jeder kannte seine Aufgabe.

Ein weicher Blick ging zu Maximas Rucksack, in dem immer noch das Schwert der Weisheit steckte. Es kam ihr vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass ihre Mutter ihr das Schwert in die Hände legte und sie damit zur Herrscherin vom Klobenberg erhob. Sie nahm das Schwert in die Hand, wie sie es damals von ihrer Mutter bekam, und flüsterte:

„Das Herz vom Schwert ist Eisen schwer,
schick mir nun den Besen her!“

Mit dem Befehl „Monstra te“, gesprochen in der Hexensprache, wurde das Schwert zum Flugbesen. Nympfjet schwang sich auf ihr Gefährt und forderte Lisa auf, hinter ihr Platz zu nehmen und sich an der kleinen Hexe festzuhalten. Ida, Frowin und Isis flogen wie der Wind neben der Herrscherin her. Aus Vorsicht, nicht gesehen zu werden, flogen sie im Zyklopenwald nahe am Waldrand entlang. Dort waren sie noch vor Hexenblicken geschützt, aber nicht vor dem Kreischen der Hexen.

Spitze Schreie ließen das Herz aus dem Takt kommen. Sie fraßen sich durch die Gehörgänge in den Kopf und schallten dort mit lauten Echos weiter. Eigene Gedanken wurden dabei zermalmt und das Gehirn verflüssigte sich. Es musste schnell etwas dagegen unternommen werden, denn lange würden das selbst Nympfjet und ihre Freunde nicht mehr aushalten.

Nympfjet gab ihrem Gefolge ein Zeichen, langsamer zu fliegen. Mit einer weiteren Bewegung zeigte sie an, Lisa, deren Herz schmerzhaft bis zum Hals schlug, an diesem Ort abzusetzen. Mit dem vor ihrem Brustkorb baumelnden Horn und einem Pilzkorb über dem Arm, in dem das Netz der Unsichtbarkeit lag, schickte Nympfjet Lisa auf eine Wiese neben dem belagerten Wald, um so zu tun, als würde sie Pilze sammeln. Lisa war nicht nur blass, nein, kreidebleich, denn in der Zwischenzeit konnte sie sich zu gut daran erinnern, wie die Brunnen-Walpurga vom Klobenberg mit ihr umgegangen war. Den bestialischen Stich in ihre Leber konnte sie heute noch spüren. Und auf schmerzhafte Begegnungen mit übellaunigen Hexen hatte sie überhaupt keinen Bock. Zaghaft ging sie über die Wiese. Um sich von ihrer unsagbaren Angst abzulenken, stimmte sie in ein Kinderlied ein. „Hänschen klein, ging allein in die weite Welt hinein …!“ Sie stockte und blieb vor lauter Aufregung im Text hängen. „Stock steht gut … Hänschen hat doch Mut! Mama schreit, geh nach Haus, dort wartet auch der Klaus …!“

Berta stöhnte hinter einem Baum über Lisas Gestammel und den falschen Text und verdrehte die Augen gen Himmel. Immer noch die kleine Lisa, dachte Berta. Unruhig und viel zu fahrig bückte sich Lisa selbst nach giftigen Pilzen, die sie in den Korb warf. Immer wieder blickte sie hinter sich und war schier erleichtert, dass sich in ihrer Nähe keine Hexe zeigte.

Plötzlich packte jemand Lisa von hinten an die Schulter. Durch ihre dünne Bluse drückte sich der Griff einer eiskalten, krakeligen Hand. „Wer wandert denn hier so putzmunter in unserem Wald?“

Lisa zuckte zusammen, sie hatte die Hexe nicht kommen hören. „Ach, ich habe erfahren, dass hier viele Steinpilze stehen sollen, Mütterchen!“ Über Lisa schallte dreckiges, scharfes Lachen.

Vorsichtig riskierte sie einen Blick und erschrak. Die Hexen, die mit ihren Besen über ihr schwebten und sich immer auf einem Punkt hielten und nach ihr runter glotzten, waren nicht zu zählen. Bösartig äfften sie Lisa nach.

„Mütterchen?“ Sie lachten und lachten. „Gib’s ihr, Mütterchen. Zeig ihr, was du mit Menschen machst, die sich beim Pilzesuchen verlaufen haben!“, stichelte eine der Hexen und stupste Lisa mit ihren Krähenfüßen von oben an.

„Genau, es wird ihr bestimmt gefallen, dass sie die Hauptbeilage auf dem Teller zu den Mischpilzen ist.“ Wieder ertönte munteres Gelächter.

„Außerdem scheint die lebensmüde zu sein oder leidet gar an geistiger Umnachtung“, erklang es über Lisa bissig.

„Wieso? Ich kann doch Pilze pflücken, wo ich will. Es ist doch ein freies Land.“

„Ja, das kannst du. Du kannst auch unter unserer Aufsicht die Pilze fressen, die du gesammelt hast, bis dir deine Eingeweide aus den Ohren tropfen!“ Die Hexen grölten vor Freude.

Blitzschnell schoss die Hexe grob mit ihrem Fuß gegen Lisas Korb, der ihr sofort aus der Hand fiel, sodass die Pilze herauskullerten.

„Guckt mal, alles ungenießbar. Hier ist doch was faul?“

Lisa kam es vor, als würden sie immer näherkommen, diese hässlichen Weiber, mit ihrem ekelerregenden Schweißgeruch, der sich wie eine Dunstglocke um Lisa aufbaute. Sie schubsten und drehten Lisa um ihre eigene Achse. Ihre Fratzen verzerrten sich. Wie wilde Bestien führten sie sich auf. Sie sabberten unkontrolliert und wurden brutaler. Sie zogen Lisa an den Haaren und bissen sie in die Arme und Beine mit ihren gelben fauligen Zahnstumpen.

Bis eine sagte: „Komm, wir grillen das Menschenweib, auf die wartet sowieso keiner mehr.“ Eine andere, die zuvor Lisa gebissen hatte, rieb ihre stinkenden Zähne mit dem Finger ab und meinte zweifelnd: „Ach, das Weib ist alt und mit Sicherheit schon dröge!“ Zwei der Hexen flogen los, und jede griff sich einen Arm, um Lisa mitzuschleifen! Doch plötzlich ließen sie die geschundene Lisa schlagartig einfach wieder fallen, weil ihnen der Weg versperrt wurde.

Nympfjet und ihre Freunde standen abwartend, genau wie die anderen Hexen, mit ihren Besen in der Luft und hinderten so die Hexen am Weiterfliegen.

Lisa wusste gar nicht, wie ihr geschah, als sie Nympfjets Stimme hörte. „Lisa, mach dich unter das Netz, sofort!“ Verwirrt lief sie über die Wiese und suchte nach ihrem Korb, der irgendwo liegen musste. Wenn sie die Stelle fand, wo die böse Hexe ihr den Korb aus der Hand getreten hatte, dann lag dort auch das Netz der Unsichtbarkeit.

„Lisa, mach dich unter das Netz“, drängte Frowin nachdrücklich. Lisa wurde jetzt mehr als nervös. Mit zitternden Händen suchte sie die Fläche um den Korb ab. Endlich fasste sie etwas, was ihre Fingerspitzen unsichtbar werden ließ. „Gott sei Dank“, flüsterte sie und schlang beim Laufen das Netz um sich. Wie es ihr befohlen wurde, versteckte sich Lisa unter dem Unsichtbarkeitsnetz und lief zur Seite und verkroch sich hinter einem Busch.

Von dort aus konnte sie die ganze Wiese beobachten. Unzählige Hexen waren am Boden und einige standen mit ihren Besen abwartend und hinterhältig kichernd in der Luft.

„Vier gegen fünfundsiebzig. Findet ihr das nicht etwas unfair?“ Die Hexen kreischten vor Entzücken. Endlich sollten sie einen Kampf kriegen, seit Monaten flogen sie gelangweilt über den Wald, in dem nichts passierte. Aber jetzt kam diese kleine Abwechslung so zwischendurch wie gerufen.

Isis fiel ihren alten Schattenschwestern sofort ins Auge. „Isis, wie ich sehe, hast du dich auf die Seite der Verlierer gestellt!“

„Das wird sich zeigen, Taramia.“ Isis blieb ganz gelassen.

„Hm, sie will vor ihren neuen Freunden stänkern und sich stark machen“, frotzelte die Hexe. „Weiß Fedora denn schon davon, dass du ein Überläufer bist?“ Mit verhöhnendem Ton machte die Hexe Taramia Isis deutlich, dass sie nun so oder so nicht mehr lange zu leben hatte. Eine Verräterin duldeten die Hexen in ihren Reihen nicht eine Sekunde. Taramia hakte ihre verbogenen an Gicht erkrankten Hexenfüße in den Rasen und ließ ihre Augen böse aufblitzen. Unter ihren Füßen bebte der Boden auf. Ihre Kleider flatterten unruhig hin und her. Ihr Zauberstab entzündete sich zum Angriff und hinter ihr machte sich die ganze garstige Hexenmeute bereit, die vier zu vernichten.

Die andere Seite saß weiterhin entspannt auf ihren Besen und sah zu, wie die Hexen sich aufbäumten. Berta stürmte los und griff die verdutzten Hexen von der Seite an. Sie flog wie ein unbändiger Orkan immer wieder durch die verdatterten Hexen hindurch. Die wussten gar nicht, was los war. Sie fielen von ihren Fluggefährten und liefen verwirrt umher. Vereinzelte Schattenweiber gaben Befehle an ihre Zauberstäbe, trafen aber ihre eigenen bösen Schwestern, da sich in ihren Köpfen alles drehte.

Nympfjet sah sich mit Genugtuung das Dilemma an. Sie musste laut brüllen, dass Lisa sie auch wirklich hörte und verstand. „Lisa, blase ins Horn. Blase so laut, dass der Teufel dich in der Hölle hören kann …!“ Lisa versuchte, dem Horn einen Ton zu entlocken. Aber alles, was herauskam, waren verkrampfte und klägliche Tönchen. „Liiisssaaaa. Bllaaseee!“ Nympfjet wurde ungeduldig. Lisas Kopf nahm vor Anstrengung schon eine puterrote Farbe an. Ihr taten bereits die Wangen bis zu den Ohren weh. Sie wurde jetzt fahrig und unsicher. Sie pustete mit dicken Backen wild drauflos. Und beunruhigt beobachtete sie unter dem Netz, dass drei Hexen ihre langen Nasen in den Wind hielten, um sie zu wittern. Mit ihren nackten Füßen trampelten sie den sandigen und holzigen Weg ab, auf dem sie Lisa vermuteten. Mit ausgestreckten Armen und zupackenden Händen versuchten sie Lisa unter dem Tarnnetz zu finden und zu fangen. Lisa rutschte noch einige Meter zurück. Wertvolle Zeit verstrich wie im Fluge. Die Hexen sollten überrascht werden, was auch noch nach Plan lief. Doch nun scheiterte es an dem Schrei des Hornes. Nympfjet und ihre Freunde hielten sich bereit für einen ungerechten Kampf.

Taramia sammelte sich zusehends von Bertas Angriffen. Sie lenkte ihren Besen und stürzte direkt auf Nympfjet mit einem Fluch zu. „Volvite vestri ball et vos!“ Nympfjets Besen fing sofort an zu bocken und drehte sich. Vorwärtsschlag, dann wieder einen Rückwärtsschlag, immer und immer wieder im Wechsel rollte und überschlug sich der Besen mit der erschrockenen Nympfjet. Die kleine Hexe hatte große Mühe, sich auf ihrem Besen zu halten. Angriffe mit Feuerbällen folgten. Nun mussten Ida, Isis und Frowin mit eingreifen und Nympfjet unterstützen.

Zum dritten Mal riefen sie nach Lisa, die schon völlig aufgelöst unter dem Tarnnetz saß und aufgeben wollte. „Ich kann das nicht“, flüsterte sie entmutigt und entschuldigend. Mit einem hoffnungslosen Blick sah sie auf ihre Hexenfreunde, die entschlossen, forsch und energisch den Demütigungen und den Schmähungen entgegentraten.

Lisa stöhnte auf, als sie sah, dass die böse alte Hexe, die sie zuvor Mütterchen genannt hatte, Nympfjet mit einem vernichtenden Zauber in den Rücken traf. Mit einem Aufschrei fiel die kleine Hexe verletzt und krachend zu Boden.

Die garstige widerliche Hexe lachte schauerlich auf. „Ich habe die Klobenberg-Hexe umgebracht …!“

Lisa hörte die schrecklichen Worte und vergaß in dem Moment, dass sie sich unter dem Unsichtbarkeitsnetz verborgen hielt – und lief einfach los. „Nnnneeiinnn“, schrie sie außer sich. Ida, Isis und Frowin drehten ihre Köpfe zu der schutzlosen Lisa um, die entschlossen über die Wiese rannte. Beim Laufen setzte sie das Horn an ihre Lippen und blies unentwegt hinein. Das Horn kreischte und pfiff. Es brüllte und schrie und zwang die bösen hinterhältigen Hexen in die Knie. Sie fingen an zu taumeln und aus den Ohren zu bluten. Sie verloren nach und nach ihr Bewusstsein. Frowin schickte hinter jeder leblos daliegenden Hexe einen Vernichtungszauber her, der die Hexen sofort in die Teufelsmauer verbannte! Lisa blies immer noch, während ihr die Sorgentränen um Nympfjet über die Wangen kullerten.

Fedora bereitete den Hexenprozess vor dem Hexenrat auf dem Wurmberg vor. Den Plagegeistern blieb nicht mehr viel Zeit, ehe sie auf den Scheiterhaufen verbrannten oder der Teufel selber seine vernichtenden Spuren hinterließ. Bald würden sie endlich tot sein. Die Wut des Teufels hatte sie gekonnt geschürt. Er ist so sauer, dass er schon die Hölle überkochen lässt. Sie braucht jetzt nur noch warten und sich zurücklehnen.

Alles läuft nach Plan! An ihrem Rockzipfel hing seit Tagen ein Junge, dem sie immer wieder ihre mit Bosheit und Arglist durchtränkte Milch anbot. Er nahm nicht nur Nahrung, sondern die ganze niederträchtige Schlechtigkeit von der Oberhexe mit auf. Es verankerten sich grausame Bilder im Gedächtnis des Jungen, der nicht fähig war, auch nur ein bisschen zu lächeln! All das, was für Fedora bereits unwichtig und vergessen schien, lebte in der Erinnerung des jungen Hexers wieder bildlich auf. Es beängstigte das Kind nicht, sondern lehrte ihn das gewissenlose Grauen …

Sinith stolperte weiter geradlinig auf den Wurmberg zu. Ohne Rast und Ruh wanderte er mit nur einem Gedanken, endlich bei seiner Angebeteten zu sein. In seinem Ohr stets ein lieblicher Gesang, der aber grausam in seiner Bestimmung war. Fedora sang fast ununterbrochen und lockte den krankhaft verliebten Sinith zu sich.

Komm schnell, kleiner Mann,

ich dich kaum noch erwarten kann!

Ich weiß, du bringst mir ein Geschenk,

wie sehr will ich es haben!

Aus deinem Mund werden sie sprudeln,

meine glorreichen Namen!

Seele, Seele klein und fein

bald wirst du meine sein.

Komm schnell, kleiner Mann,

ich dich kaum noch erwarten kann!

So entspannt, wie Fedora auf dem Wurmberg dem Hexenprozess entgegenfieberte, war es in der Stadt Lähis nicht. Hier spitzte sich die Lage zu und der Kampf ums pure Überleben begann. Mittlerweile haben die Zwerge alle einsehen müssen, dass die einzige Chance, am Leben zu bleiben, die abgesicherte Halle Rahu ist. Alle Einwohner der Stadt befanden sich in der Zwischenzeit schon in der Halle Rahu. Bis auf einzelne tapfere Zwerge, die immer noch Wasser aus dem Mittelteich schöpften, um die Säcke zum Schutz der Stadt zu tränken. Eifrig und sorgsam versuchten sie, so gut es eben ging, die Stadt bis zum bitteren Ende kühl zu halten. Aber auch hier breitete sich die Sorge aus, denn mit jedem Eimer, den sie schöpften, stellten sie fest, dass der Mittelteich schon bald nicht mehr vorhanden sein würde. Die Hitze und die Wasserentnahmen dörrten ihn aus. Sehr schnell wird das Wasser zum Kühlen fehlen und die Stadt schließlich durch die enorme Hitze in Flammen aufgehen. Die Zwergenstadt Lähis, oder auch Zwergenrode genannt, wird mit fließendem Harz und gefräßigem Feuer in einer großen Katastrophe untergehen …

Nympfjet lag in übergroßen weichen, weißen Kissen, als sie aufwachte. Ihr Schädel brummte und sie spürte jeden einzelnen ihrer Knochen!

Um sie herum saßen besorgte Gesichter. Lisa hatte rot geschwollene und aufgedunsene Augen. Isis war noch blasser und Ida massierte nervös Nympfjets Hand. Berta hielt über Nympfjets Bett ein Schläfchen. Und Frowin stand auf einer Holzbank vor einem überdimensionalen Fenster, wo er ihr erst gar nicht auffiel, und kühlte seine Stirn an der kalten Glasscheibe. Und Brokk, der fiel in diesem Zimmer eigentlich überhaupt nicht auf, wenn nicht die dritte weiße Strähne in seinem Bart Nympfjet ins Auge stechen würde. Tiefer Kummer zeichnete sich im Bart des Zwerges ab und ließ ihn schnell altern.

„Was ist passiert?“, krächzte sie aus trockener Kehle.

„Nympfjet.“

„Mann, da bist du ja wieder.“

„Endlich!“

„Mensch, haben wir uns Sorgen gemacht. Wir dachten, du bist tot!“

„Mach so was nie wieder …“ Alle sprachen jetzt vor lauter Erleichterung darüber, dass Nympfjet wieder wach war, wild durcheinander.

„Tot?“ Erschüttert blickte sie in die besorgten Gesichter.

„Die Hexe muss mich hart getroffen haben. Ich kann mich nicht wirklich erinnern.“

„Mein Alfred würde jetzt sagen: Temterem. Donner-Blitz. Aber ich sage, Gott sei Dank bist du wieder unter uns.“ Berta schwebte nun direkt neben Nympfjet und machte es sich bei ihr im Bett gemütlich.

„So schlimm?“ Alle nickten stumm und überzeugend.

„Wie lange war ich bewusstlos!“

„Drei Tage“, kam es liebreizend von der Riesin Axarnia, die gerade frischen Tee brachte.

„Und ich bin schuld. Ich habe es nicht geschafft, das Horn zu blasen“, sagte Lisa ganz geknickt und machte sich eine Menge Vorwürfe.

„Es ist doch trotzdem alles gut gegangen, oder?“ Mit aufgerissenen Augen wollte Nympfjet jetzt nichts von einem negativen Ausgang hören.

Seit Tagen grinsten sie sich zum ersten Mal wieder untereinander an. „Alle in der Teufelsmauer. Fedora wird darüber nicht erfreut sein!“

Auf ihren Lippen kauend meinte Nympfjet noch etwas müde: „Diese Schlacht haben wir wohl gewonnen!“

Die Riesin Axarnia nickte und sagte zu ihr: „Horch mal!“

Nympfjet stellte ihre Ohren auf Lauschen. Sie drehte sie nach allen Seiten. „Es ist nichts zu hören.“

„Richtig. Hier im Zyklopenwald kommen alle langsam zur Ruhe. Wir danken euch dafür sehr.“

„Danke? Oh je …!“ Die kleine Hexe sprang zügig aus dem Bett. „Sordolax. Wir müssen den zukünftigen König holen.“

Sie wirbelte einmal herum und stand in ihrem strahlenden weißen Kleid da, in ihrer rechten Hand hielt sie das magische Schwert. Ida trug den Brustpanzer, Frowin den Helm und Isis bekam das Schild der Vernunft in ihre linke Hand. „Das, Isis, ist mein Geschenk für deine Entscheidung, dich vom Bösen abzuwenden.“

Isis strahlte und kniete vor Nympfjet nieder. Die anderen taten es ihr gleich. „Meine lieben Freunde“, flüsterte die kleine Hexe gerührt über die uneingeschränkte Loyalität, die sie ihr entgegenbrachten. Überwältigt sah sie von einem zum anderen runter. Ihre langen roten Haare wurden von einem leichten Wind um sie herum geweht. Überrascht sah sie sich um. Ihre Augen füllten sich mit Tränen wie glitzernde Perlen. Ihr Körper strahlte Wärme aus und wurde von einer Welle getragen. Transparent stand ihr Vater Wolfshelm vom Klobenberg vor ihr und strahlte sie an. „Meine kleine Nympfjet“, hallte seine Stimme stolz. „Du hast mit deiner Langmut deiner ganzen Ahnenreihe alle Ehre gemacht. Wir sind heute hier, um dir geistige Geschenke zu bringen, die du bei deinem Kampf gegen die böse Wurmberghexe benötigst. Du hast deine Eltern mit ganzem Stolz erfüllt. Knie nieder, mein Kind, und empfange, was dir zusteht.“ Die verstorbenen Seelen ihrer ganzen Ahnenreihe versammelten sich nebelhaft neben und hinter Nympfjet und übermittelten ihr ihre wohlbehüteten magischen Kräfte. Um Nympfjet baute sich wieder ein Energiefeld auf, das sie in einem Sturm stehen ließ. Doch diesmal war es der Segen ihrer Familie, der sie nach oben trug, nicht ihre eigenen Fähigkeiten. Sie bekam endgültig die Macht, die einer Herrscherin vom Klobenberg zustand. Sie vereinigte in sich alle Merkmale und Eigenschaften einer guten Herrscherin: Sie war liebevoll, gutherzig, hilfsbereit, dachte nie zuerst an sich. Sie beschützte und liebte den Harz und seine Wesen. Sie schätzte seine Wurzeln, seine Heilmittel. Für die kleine Hexe war nichts selbstverständlich, sondern gesegnet vom Universum. Aller Dinge Ursprung entstand aus Liebe zu den Menschen und danach lebte Nympfjet. Sie lebte jeden Tag in Einklang und Harmonie mit ihrer Umwelt und freute sich über das tägliche Geschenk des Friedens. Nacheinander krönten die Seelen ihre Nachfahrin. Sie gaben ihr symbolische Gefäße, küssten ihre Stirn und lösten sich nacheinander wieder vollständig auf. Mit der letzten Seele, die ihr ihren Segen übergab, war Nympfjet vollständig und mit ganzer Macht ihrer Ahnen die Herrscherin vom Klobenberg.

Sie strahlte ihre Freunde an – und das nicht nur aus ihrem Gesicht. Binnen Sekunden war alles wieder beim Alten, so, als wäre nie etwas gewesen. Die Energie, die den Raum erfüllte, verschwand mit der letzten Seele.

Die kleine Hexe ordnete wie immer ihr Kleid, indem sie es glatt strich. „Jetzt werden wir kämpfen, meine Freunde, es ist so weit.“ Und zu dem Zwerg gewandt, sagte sie:

„Lieber Brokk! Wir werden dich jetzt nach Hause bringen …“ In Brokks Augen sammelten sich dicke Tränen. Zum ersten Mal würde er seine Heimat ohne seinen besten Freund Sinith betreten. Er konnte sich nicht freuen.

Nympfjet hörte seinen Kummer rufen. Sie bückte sich herunter. Und mit weicher Stimme sagte sie: „Brokk, fürchte nicht um Sinith. Wir vergessen niemanden. Sinith, Maxima und ihren Vater werden wir aus den Fängen von Fedora befreien.“

Sie stellte sich auf und blickte fest entschlossen die Riesin an. „Axarnia, richte für den zukünftigen König alles her. Der Erbe wird bald seinen Thron besteigen!“ Auch die Riesin fiel vor der Herrscherin vom Klobenberg nieder.

Aber ehe sie sich versah, befand sie sich allein im Zimmer. Die Herrscherin und ihre tapferen treuen Freunde waren nämlich im Nu auf dem Weg, um das nächste neue Hindernis zu beseitigen …

als sie gemeinsam am Mammutbaum ankamen und vor dem Eingang zur Stadt Lähis standen, erblickten sie ein Bild des Grauens. Sie mussten ihre Münder mit Tüchern schützen, die sie trotzdem nicht an einem qualvollen Husten hinderten. Aus der Stadt und somit aus dem alten Mammutbaum aufsteigender beißender Qualm und Rauch ließen ihre Augen tränen und dadurch blind werden.

Es war für Nympfjet und ihre Freunde nicht möglich, auf direktem Weg in die Zwergenstadt zu gelangen. Durch jede noch so kleine Öffnung drückten sich die Tränen des Harzes dick und zähflüssig in die Stadt.

Brokk erstarrte. „Bei dem Eisen der Götter, was ist hier geschehen?“

Mit einem großen Kloß im Hals antwortete Nympfjet: „Der Teufel schürt die Hölle.“ Stillschweigen herrschte nun unter den Freunden. Jeder von ihnen riskierte einen traurigen Blick in den Wald, der ausgeblutet grau in grau und schwefelnd dalag. Er war gestorben! Um die friedvollen Hexen knackten und krachten die Bäume morsch auf die Erde. Es bot sich ihnen ein Bild des Grauens.

„Wir müssen einen anderen Weg finden, Nympfjet. Die Bewohner brauchen uns wohl dringender denn je!“

Isis sagte dann das, was die anderen befürchteten. „Wenn sie noch am Leben sind …“

Frowin fasste Brokk bedauernd auf seine kleine Schulter und zwinkerte ihm hoffnungsvoll zu.

Nympfjet brach von Neuem den Zahn der Treue, der nach dem letzten Knick wieder zusammengewachsen war. Ein Kreis mit Feuer und einem dunklen Loch bildete sich vor ihnen. „Kommt Freunde, wir wollen sehen, was uns in der Zwergenstadt erwartet …“ Sie sprang auf ihren Besen, flog ins Rad und wurde sofort von dem Sog mitgerissen, die anderen folgten ihr dicht auf den Fersen und taten es ihr mit dem Fliegen gleich. Sie wusste schon, warum sie sich besser auf ihren Besen fortbewegten. Die Stadt der Zwerge war nicht mehr zu begehen und nur noch aus der Luft erreichbar. Bis auf ein Gebäude, das höher lag als die anderen, wurde sie schon von den heißen Tränen bedeckt. Die Stadt Lähis gab es in diesem Sinne nicht mehr …

Nympfjet umflog das Haus und blickte mit ihrem ganzen Gesicht in die für sie winzigen Fenster. Zuerst erschraken die kleinen Zwerge, die sich darin verschanzt hatten und bis zuletzt auf Hilfe warteten.

Doch dann brach großer Jubel aus, weil sie ahnten, wem das Antlitz hinter der Scheibe gehörte. Die Zwerge fielen sich freudig in die Arme.

„Unsere Rettung ist da.“ Die ängstlichen Zwerge, die eben noch aneinander gedrückt zusammensaßen, hüpften auf und redeten alle durcheinander.

„Sinith und Brokk haben den Weg über den Hexenstieg geschafft!“

„Die Hexe Nympfjet ist da …!“

„Die Herrscherin vom Klobenberg ist angekommen.“

„Wir sind gerettet …!“, riefen die Zwerge kreuz und quer.

Sie freuten sich und feierten und tanzten auf der Stelle in der überfüllten Halle Rahu. Sie lachten und drückten und küssten sich. Sogar Tränen der großen Erleichterung tropften über die ganz alten Zwergenwangen, die mit den Eisenbergen von Thale mehr als verwachsen waren!

Sordolax klopfte erleichtert seinem Freund Brutas sehr kräftig auf den Rücken, der sofort um einiges nach vorne hüpfte.

„Die Herrscherin vom Klobenberg ist da!“ In der ganzen Halle Rahu verteilte sich das Gefühl der Erleichterung. Die Bürde sowie die große Last, die die letzten vollen und abnehmenden und wieder zunehmenden Monde auf der Zwergenstadt lastete und auf den Schultern der kleinen Wesen lag, polterte fast hörbar von ihnen ab. Befreit, entlastet und gelockert feierten sie in der Halle Rahu ihre Rettung!

Nympfjet selbst steuerte ihren Besen über die Stadt. Ihr Kleid schimmerte silbrig weiß und ihre roten Haare wirbelten umher und wickelten sie fast ein.

Sie hielt das Schwert über den Kopf, zeigte in alle Himmelsrichtungen und sprach:

„Natur, Natur, wie stehst du nur,

einst prachtvoll und satt,

nun verdorben und verdorrt, jedes grüne Blatt.

Wachse neu,

hier und da mit guter Saat, naturgetreu.

Wachse wild und ungestüm,

blühe viel und kunterbunt,

mach den Wald wieder kräftig und gesund.

Es lebt der Harz von Neuem neu

und jeder sich wieder an der Schönheit erfreu …“

Unter der kleinen Hexe zog sich das Baumharz zurück. Es sprießten Knospen, die zu Blüten reiften. Das Gras wuchs saftig grün aus dem gelockerten und gesunden Erdboden …

Ihre Freunde gesellten sich zu Nympfjet über die Stadt, die langsam wieder anfing zu leben. Und nun forderten sie gemeinsam die Natur liebevoll auf, zu ihnen zurückzukehren …

„Naturam, natura non stas,

Semel Confessio et fessis et nunc Ruit omnis virens folium

Crescit iterum.

Hic et ibi novum semen fideliter,

Crescere silvestre et vehementiores et prospera multo versicolor

facere saltus iterum, et sanus.

In regeneratione viget gratum resinae species nova …“

Nach und nach erblühte und grünte es schöner wie nie zuvor. Die Zwerge strömten jubelnd aus der Halle Rahu und warfen ihre Zipfelmützen in die Luft und riefen unentwegt: „Es lebe die Herrscherin vom Klobenberg …!“

Der zukünftige Zyklopenkönig krabbelte beschwerlich aus dem Eingangstor der sonst riesigen Halle Rahu und streckte seine gefalteten Glieder. Sordolax strahlte seine Patentante an und zeigte eine große Zahnlücke in einer Reihe weißer Zähne …

In Brokks kleinem Mäntelchen zuckte es auf einmal sehr verdächtig. Er griff in seine Manteltasche hinein und holte die beiden Wildschweine Mimur und Gunduar winzig klein heraus und stellte sie vor sich auf den neuen Rasen. In Nullkommanix wuchsen sie über den Zwerg hinaus. Munter stupsten sie Brokk an und freuten sich, wieder in Lähis zu sein. Brokk aber war sehr geknickt. Er konnte nicht mit seinen Gefährten lachen. Er vermisste seinen einzigen wahren Freund. Solange sich Sinith bei Fedora-Astarte vom Wurmberg befand, konnte er nicht glücklich sein. Dieser traurige Gedanke ließ seinen Bart nun vollständig ergrauen.

Nympfjet hörte seine Sorge. „Kopf hoch, kleiner Freund. Noch ist nichts verloren …!“ Brokk sah zu ihr auf und sie zwinkerte dem kleinen mutigen Lichtritter hoffnungsvoll aus der Luft zu.

Zu den anderen Zwergen und zu ihrem einzigen Patenkind Sordolax sprach sie angespannt und sehr ernst: „Ich habe noch einen wichtigen Termin mit Luzifer, dem Höllenfürsten und Fedora-Astarte vom Wurmberg. Ich weiß nicht, wann ich wiederkehre und ob ich überhaupt wiederkehre …“ Sie bewegte ihren Besen und die Freunde folgten ihrer Herrscherin ins Ungewisse!

auf dem Wurmberg häuften sich Berge von glühenden Kohlen zur Kanzel des Teufels an. Überall, wo sie hinsahen, blähten sich große Blasen in Schwefelquellen auf, die vor sich hin blubberten und aufplatzten.

Hinter hohen Felsen gingen die vier in Deckung und sahen von dort aus auf das für die Herrscherin vom Klobenberg errichtete Schafott. Nympfjet nahm ihre Freunde in die Arme und sagte mit sehr leiser Stimme: „Ab hier gehe ich allein. Den Zeitpunkt einzugreifen, den müsst ihr für euch entscheiden.“ Ihre Freunde nickten und hockten sich hinter die großen Steinfelsen, von denen sie den ganzen Platz übersehen konnten.

„Ida, solange Fedora abgelenkt ist, geh und such Lisas Familie! Die beiden befinden sich mit großer Wahrscheinlichkeit irgendwo in ihrer runzeligen Hütte.“ Die kleine Hexe starrte zur rötlich beleuchteten Stelle rüber und bestätigte Ida, dass sie gehen soll. „Ja. Beeil dich. Vater und Tochter sind nicht zu sehen.“

Ida machte sich klein, bückte sich und schlich leise wie eine Katze hinter den Felsen weg. Sie flog zum Haus rüber, was nicht weit von dem Ritualplatz entfernt stand.

Nympfjet richtete sich gerade auf. Mit Verspätung schritt sie mutig vor den Rat, der schon auf sie wartete … Die Frist, die der Teufel ihr gab, war weit überschritten.

Die Hexe Ida zögerte nicht, das Haus der Oberhexe zu betreten. Mit gezücktem Zauberstab ging sie über die alten Holzdielen, die hier und da ein knarrendes Geräusch von sich gaben. Abwartend blieb Ida dann stehen und rechnete damit, dass irgendeine Hexe, die sich noch in der Bruchhütte befand, aufgeschreckt wird und sie angriff. Sie ging immer weiter hinein und lauschte auf jeden Ton. Das Haus wurde immer finsterer, überall hingen und standen Dinge für die schwarze Magie, alles Gegenstände, die eine böse Hexe brauchte und benötigte.

Ida blinzelte in eine Kammer hinein, in der unendlich viele schwarze Kerzen brannten. Mitten im Raum lag ein aufgeschlagenes Buch und daneben stand ein mit Blut gefülltes Tintenfass. Sie blickte noch einmal hinter sich, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich allein war.

Auf Zehenspitzen ging sie zu dem aufgeschlagenen Werk und sah sich das Buch der Hexensprüche einmal genauer an. Ida stockte der Atem. In diesem Buch standen grausame Hexensprüche geschrieben, die Fedora als Harzherrscherin noch unberechenbarer machen sollten. Ida blätterte in dem schweren Folianten jede einzelne Seite aus Pergament um und erschrak über die blutdürstigen Einfälle der Oberhexe.

Seite für Seite war mit schrecklichen Versen versehen. Ida klappte das dicke Buch zu und murmelte leise einen Vernichtungszauber. Es musste sofort aus der Welt geschafft werden. Denn wenn jemand diese Seiten zu sehen bekam, der genau das schlechte Blut in seinen Adern hat wie die gewalttätige grässliche Oberhexe vom Wurmberg, ging alles verloren. „Pulvis …!“ Das Buch sollte nun in Staub zerbröseln, aber es lag unbeschädigt vor Ida auf dem Ständer. Ida versuchte einen neuen Zauber. „Ignis.“ Spätestens jetzt hätte das Buch in Flammen aufgehen müssen. Doch es tat sich nichts. Fedora hat es schlau mit einem unzerstörbaren Bann belegt.

Ida schreckte von einem Geräusch auf und erhaschte im Augenwinkel noch einen Schatten, der an der geöffneten Tür vorbeihuschte. Sie hielt ihren Zauberstab vor sich, um für einen spontanen Angriff gerüstet zu sein. Bereit für einen Kampf sprang sie ruckartig in den dunklen Flur. Es war aber nichts mehr zu sehen. Sie lief zügig in den dunklen Raum zurück und griff schnell noch nach dem Buch und klemmte es unter ihren Arm. Mit wehendem schwarzen Kleid stürzte sie um die Ecke. Irgendwo sollten sich Maxima und ihr Vater in der Hütte doch aufhalten. Forsch tobte sie durch das Haus.

Jeden Winkel kämmte sie durch, bis sie in einem großen kahlen Zimmer unter einer Zimmerdecke einen Spinnenkokon entdeckte, in dem Maxima steckte und sich langsam in eine Spinne verwandelte. Isis riss hektisch die Fasern auf und Maxima plumpste glitschig und schon zur Hälfte verwandelt vor Idas Füße. „Old iterum.“ Die Hexe hatte Mitleid mit Lisas Tochter, die offensichtlich für Fedora zum Haustier mutieren sollte. Nach und nach bekam Maxima ihren Körper wieder. Die haarigen Spinnenbeine verkümmerten und es kamen ihre eigenen Beine wieder zum Vorschein.

Etwas verstört wachte sie auf. Maxima blinzelte gegen ihre schmerzenden tränenden Augen an, viel zu lange mussten diese geschlossen bleiben. Mit jedem Blinzeln kam es ihr vor, als würden sich tausend Stecknadeln darin befinden. Sie schloss sie deshalb wieder, öffnete aber trotzdem mutig ihre Lider noch mal.

Die noch am Boden liegende Maxima konnte nur schemenhaft den Saum von einem schwarzen Kleid und spitzen Schuhen erkennen. Mit dem bösen, grausigen Gesicht von Fedora vor Augen krabbelte sie ängstlich in die Ecke und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

„Sccchhh.“ Ida beruhigte das völlig verängstigte Mädchen. „Hab keine Angst. Ich bin es, Ida.“ Flüsternd nahm sie Maxima am Arm und half ihr beim Aufstehen. Als Maxima langsam Vertrauen fasste, konnte Ida im Augenwinkel erkennen, dass wieder ein schneller Schatten durch das Zimmer huschte. „Repperio.“ Wie der Blitz reagierte sie und gab ihrem Stab den Befehl, den Raum hell zu erleuchten.

Mit ihrem leuchtenden Zauberstab suchte sie die Halle ab. Jetzt erst konnte sie sehen, in welchem Raum des Hauses sie sich befanden. Sie standen mitten im Thronsaal von Fedora-Astarte vom Wurmberg. Hier war schon alles für ihren Sieg vorbereitet – für eine schwarze Messe. Sogar eine Scheide für das magische Schwert hatte sie schon entwerfen lassen. Schritt für Schritt ging Ida auf den Schwertschutz zu. Von Weitem sah sie, dass es eine Aufschrift besaß und ging noch näher, um sie zu lesen. – Verderben, Hass und Tod sind keine Not. Nur wer wohnt im schwarzen Schimmer, nur der ist Herrscher für immer. – Ida stellten sich die Nackenhaare hoch, als sie die Worte von Fedora las und deren Absicht erkannte, so brutal und niederträchtig mit dem Schwert in der Dunkelheit zu regieren. „Wie kann man nur solch eine schwarze Seele haben?“ Ida hatte genug gesehen.

„Maxima, komm schnell. Wir müssen deinen Vater finden!“ Besorgt blickte sie auf das Mädchen nieder, das noch etwas unbeholfen auf den Beinen stand und wie ein Boot hin- und herwankte. War auch kein Wunder, da diese ja bis eben noch dunkel und langbehaart und zu einem Achterpack gepresst in der Luft hingen. Ida stützte Maxima und zerrte sie mehr hinter sich her, weil sie nicht mit Idas großen und schnellen Schritten mithalten konnte. Sie zwang das Mädchen zur Eile.

„Hier ist irgendetwas im Haus, das mir nicht ganz geheuer ist. Lass uns schnell verschwinden.“ Etwas orientierungslos standen sie in einem Gang, von dem nur eine einzige Tür abging. Ida gab ihrem Stab den Befehl, die Tür zu öffnen. Sie sah eine Treppe, die nach unten führte. Maxima stützend, stiegen sie mühsam hinab in ein muffiges Kellergewölbe, in dessen verwinkelten Gängen viele verweste Ratten lagen. Ida überlief ein gruseliger Schauer, denn die Gänge erinnerten sie daran, wie sie sich damals in der Burg Regenstein verlaufen hatte und sich hoffnungslos verloren fühlte …

Sie öffneten jede knarrende Tür und fürchteten, von den Hexen, die sich noch in der Nähe befinden könnten, entdeckt zu werden. „Papa? Bist du hier drin?“ Maxima rief sehr leise und mitgenommen hinter jede geöffnete schwere Holztür. Sie mussten einige aufsperren, bis sie endlich hinter einer Tür ihren Papa fanden. Erstarrt blieben sie mit offenen Mündern wie angewurzelt stehen. Sie trauten dem nicht, was sie gerade sahen.

Herr Lindner war in eine Steinwand verbannt und gefangen. Sein Körper guckte nur zum Teil aus der Wand. Maxima stöhnte, als sie ihren Vater so wehrlos in den Steinen stehen sah. Seine Augen hielt er geschlossen und er sah so blass aus, gerade so, als würde überhaupt kein Leben mehr in ihm stecken. „Hol meinen Vater da raus, Ida.“ Maxima rüttelte an Ida und holte sie aus ihrer Starre.

„Wie kommt man nur auf solche Ideen“, sagte Ida fassungslos. Sie war schon immer eine der guten Hexen im Harz. Im Traum würden ihr solche Zauber nicht einfallen und wunderte sich immer wieder über die schlechten Wünsche und Flüche, die man einem nur antun konnte. „Expedient teipsum ab murum.“

Mit diesem Spruch holte Ida Maximas Papa aus dem Fluch zurück. Er öffnete flatternd seine Augenlider und fiel ihr, ebenso wie Maxima zuvor, kraftlos vor die Füße. „Was ist passiert, wo bin ich überhaupt?“ Herr Lindner konnte sich an nichts mehr erinnern, außer dass er bei seiner entzückenden Nachbarin den Abfluss repariert hatte. Und das war schon lange, lange her …

„Ach Papa, das würde jetzt viel zu lange dauern, um dir das alles zu erzählen und zu erklären.“ Maxima wurde ungeduldig. „Lass uns abhauen. Ich habe keinen Bock mehr auf Hexerei …“ Das Wort Hexerei versetzte Lisas Ehemann nun doch in einen Schockzustand.

„Ich weiß wirklich nicht, wie ich hierherkomme. Und das macht mir in Verbindung mit dem Wort Hexerei wirklich angst und bange.“ Ida und Maxima schnappten Herrn Lindner am Arm und zogen ihn ruppig aus dem Keller. Im Gang, der zum ersten Stock führte, blieb der Schatten stehen, der Ida die ganze Zeit von Zimmer zu Zimmer verfolgte, und blickte ihr böse wünschend nach …

Ida aber begab sich mit den beiden leise zu Frowin und Isis, die immer noch abwartend hinter den Felsen hockten. „Was ist mit denen?“ Frowin war nicht begeistert darüber, dass Ida Lisas Familie in Gefahr brachte. Sie würden gleich in einen unberechenbaren Hexenkrieg verwickelt sein. Ida zuckte ratlos mit den Schultern, wo sollte sie denn auch mit den beiden hin? Frowin wusste es. „Pernoctabit.“ Er legte die zwei einfach schlafen. Das Netz der Unsichtbarkeit, das er zuvor noch vorsichtshalber eingesteckt hatte, legte er über die leise schnarchenden Menschen. Ida sah ihn an, legte den Kopf provokant zur Seite und verzog den Mund.

„Schlaumeier!“, murmelte sie, legte noch das schwarze Buch von Fedora zu den Schlafenden und wandte sich dem Geschehen vor ihr und somit ihrer besten Freundin Nympfjet zu.

Mitten auf dem Platz fraß ein gieriges hohes Feuer das trockene Holz. Das Feuer sollte den fröstelnden Luzifer wärmen, dem das Warten auf Nympfjet zu lange dauerte und der in der verstreichenden Zeit zu frieren begann. Nach Verkündung des Urteils als Hexenmörderin würde es Nympfjets Eingang in die Hölle sein, wo sie ewige, nicht enden wollende Schmerzen erleiden muss!

Der Hexenrat saß links und rechts neben Luzifer und beäugte die Angeklagte grimmig, die stolz und geradlinig mit ihrem Besen in der Hand auf ihren Prozess wartete. Zur Krönung des Ganzen standen böse zischelnde Hexen um Nympfjet herum, die ihr die Pest und noch viel Schlimmeres an den Hals wünschten. Sie spuckten sie an und fluchten ihr giftiges und krabbelndes Getier vor die Füße, welches sie ohne mit der Wimper zu zucken überging oder mit ihren spitzen Hexenschuhen einfach zermalmte.

Nympfjet widerte die entgegen brüllende Hässlichkeit der anwesenden und neugierig glotzenden Hexen an. Haarsträubend war auch der Geruch, der von den Hexen ausging und zu Nympfjet hinüberzog. Die kleine Hexe wagte nicht mehr zu atmen, so beißend und ekelerregend rochen die Körperausdünstungen der Schattenweiber.

„Euer widerlicher kloakengleicher Gestank, gemischt mit extremer Schlechtigkeit und hinterhältiger Durchtriebenheit, krempelt mir den Magen um!“ Nympfjet verzog vor Übelkeit ihren Mund. Sie fürchtete, sich übergeben zu müssen.

„Ich würde vorsichtig sein mit dem, was ich sage. Denn du bist hier als Hexenmörderin angeklagt und nicht als Klägerin über Natürlichkeit.“ Nympfjet wurde vom Hexenrat zurechtgewiesen. Die Hexen im Kreis lachten gehässig auf und zeigten ihre fauligen, vergammelten Stumpen, die noch in ihren Mundhöhlen vereinzelt steckten.

Nympfjet verneigte sich höflich vor dem Hexenrat und dem Höllenfürsten und begann mit ihrer Verteidigung. „Ich bin keine Hexenmörderin. Wenn eine Hexe durch meine Hand in der Teufelsmauer landete, dann nur, weil ich mein eigenes Leben verteidigen musste! Ich wurde angegriffen und nicht umgekehrt.“

„Schäbige Lügnerin!“ Fedora brüllte ihr ins Wort. „Du hast nicht nur deine Eltern auf dem Gewissen, sondern auch die alte Oberhexe. Deine eigene letzte Blutsverwandte, die Tante Walpurga, hast du gewissenlos in die Teufelsmauer gesetzt.“ Den Namen der letzten Oberhexe würgte sie fast quälend aus ihrer Kehle. Der Hass ließ es bald nicht mehr zu, dass sie über sie sprechen konnte. Sie drehte sich zu dem Rat um und plädierte weiter: „Sie ist eine eiskalte Familienmörderin. Und die hier …“ Fedora riss ein Tuch von mehreren verbrannten Hexenleichnamen und präsentierte mit Hochgenuss die krakeligen mumifizierten Gebeine der Hexen, die bei einem Anschlag von Nympfjet mit der Feuerkugel durch die alte Eiche ums Leben kamen. Fedora hörte den Hexenrat spitz aufschreien und nahm das Entsetzen als Trumpf gegen die Hexe Nympfjet an.

„Das ist nicht wahr …!“

„Ach, und wo kommen die sonst her?“ Mit ausgestrecktem Finger zeigte Fedora auf die toten Hexen. „Nehmt ihr den Besen ab und verbrennt sie.“ Fedora dauerte das Geschwafel um Wahrheit oder Lüge zu lange. Sie war zu ungeduldig, um den Hexenprozess und das Urteil abzuwarten. Forsch schritt sie auf Nympfjet zu und wollte ihr den Besen aus der Hand reißen.

Nympfjet umklammerte den Besenstiel fester und blickte Fedora aus wutentbrannten Augen an. „Wage es nicht, meinen Besen zu berühren.“ Nur mit der Kraft ihrer Augen warf sie Fedora mit großer Wucht zurück.

„Seht ihr, sie greift schon wieder heimtückisch an.“ Mit jämmerlicher Stimme versuchte sie Mitleid zu erregen. Aber ihre innere Erregung ließ es nicht zu, sich zurückzuhalten. Sie stürzte mit funkelnden gelben Augen auf Nympfjet zu und drückte sie schmerzlich zu Boden. Dabei rollte der Besen weit von der kleinen Hexe weg. Fedora sprang wie eine Hyäne auf ihre Beute und schnappte sich den Besen. Mit schallendem, siegessicherem Lachen hob sie den Besen über sich. Endlich hielt sie das Langersehnte in ihren Händen. Es musste nur sein wahres Gesicht zeigen, dann war sie die neue Herrin über das magische Schwert! Sie fühlte die Magie in dem Besen pulsieren …

Der Teufel stand hinter seiner Kanzel und rief mit durchdringender, tiefer, brummiger Stimme: „Schmeiß den Besen ins Feuer, Hexe, damit wir hier zum Ende gelangen.“

Fedora krümmte sich und schrie außer sich. „Nein, werft die verräterische Hexe ins Feuer.“

Luzifer wurde ungehalten. „Ich sage es nicht noch einmal, Hexe. Übergebe den Besen dem Feuer.“

Fedora wandte und drehte sich und wurde noch buckeliger. Ihre spindeldürren langen Finger strichen über den Besen. „Verbrennt erst das Hexenweib. Was soll sie der Schwesternschaft noch alles antun? Wir sind nur noch wenige. Tötet sie endlich!“ Mit einem Satz war sie bei Nympfjet und zerrte und riss sie an ihrem Kleid über den Boden zum Feuer. Immer näher kam das Gesicht der Klobenberg-Herrscherin den heißen Zungen des Feuers.

„Lass sie los, Hexe!“ Der Hexenrat mischte sich nun ein und versuchte von seinem Schreibtisch aus Fedora mit klatschenden Ohrfeigen zur Ordnung zu rufen.

Fedora klammerte sich weiterhin an den Besen und ließ nicht locker. Der Wahnsinn war ihr nun ins Gesicht geschrieben. Ihre Augen übernahmen das gefräßige Feuer und warfen es zu Nympfjet, die gerade noch so zur Seite springen konnte. „Dann werde ich dich töten, du verdammtes Aas. Ich hasse dich und deine ganze Ahnenreihe so sehr, dass ich euch seit dem Ursprung eurer dreckigen Blutlinie verfluche.“ Sie feuerte unaufhörlich auf Nympfjet. Ihr Kleid zerfetzte und fing Funken, die die Herrscherin mit der bloßen Hand sofort ausschlug. Fedora gab nicht auf. „Pereat!“ Um Nympfjets schlanken Hals fassten Hände und nahmen ihr die Luft zum Atmen. Nympfjet selbst versuchte die klammernden und festen Handgriffe zu lockern. Sie röchelte und sackte kraftlos zusammen!

Ihre Freunde waren hinter dem Steinbrocken schon auf dem Sprung. Sie fragten sich, warum die Herrscherin sich nicht wehrte. „Ich kann mir das nicht länger ansehen.“ Isis wollte gerade energisch hervortreten und dem ein Ende setzen, als der Teufel sich einmischte.

Er entriss mit seiner Dämonenkraft der Hexe Fedora-Astarte vom Wurmberg den Besen und hielt ihn imaginär über das hungrige Feuer, dessen lodernde Zungen nach dem Besen schmachteten. Nympfjet fiel bei dem Anblick noch tiefer in sich zusammen, blieb aber stumm.

Fedora aber kreischte, jammerte und flehte den Meister an. „Nicht den Besen. Verbrenn die Hexe endlich, damit wir im Harz vor ihr Ruhe haben. Wie viele Hexen müssen noch sterben?“

Der Teufel schritt gemächlich um Fedora und sagte nachdenklich: „Das weiß ich nicht, Fedora. Sag du es mir!“ Der Höllenfürst ging auf das Feuer zu und gewann von der Hitze etwas Kraft zurück, die er zuvor durch die Kälte auf der Erde langsam aus seinem Körper verlor.

Luzifer begriff nun, dass Fedora ihn ausgenutzt hatte. Hier ging es nicht nur allein um eine Schattenschwesternmörderin, hier ging es um etwas Wertvolleres. Er gab mit seiner Kralle dem schwebenden Besen den Befehl, etwas tiefer und näher zu den Flammen zu sinken. Fedora schrie jetzt wie eine Wahnsinnige. Der Satan packte die Hexe in die filzigen Haare und zischelte wütend zwischen seinen angespitzten Zähnen hervor: „Fedora, wenn ich gleich erfahre, dass du schändliches Weibsstück meine Wut mit Intrigen geschürt hast und ich deswegen den Harz bluten ließ, dann kommt all mein gesetzloser Zorn über dich.“

Wütend und feurig hielt er seine Augen auf Fedora gerichtet, als er Nympfjet aufforderte, ihm zu sagen, was sich hinter dem Besen in Wirklichkeit verbarg. Denn auch wenn er der Höllenfürst war, das Böse sehr genoss, es liebte, wenn seine Schattenweiber im Harz Schrecken verbreiteten, hieß es noch lange nicht, dass er der Vernichtung seiner Heimat zustimmte und das tolerierte. Der Harz war ihm ein Zuhause wie die glühend heiße Hölle!

Nympfjet kauerte immer noch auf dem sandigen Boden und schaute mit Bangen nach ihrem Besen über dem Feuer. Es wäre nicht das erste Mal, dass man sie entehren würde, indem man ihr die Möglichkeit nahm, sich fliegend fortzubewegen. Doch diesmal ging es um weit mehr. „Das ist das Schwert meiner Mutter und meiner Ahnen. Sie haben mir das magische Schwert übergeben, weil ich mich als würdig erwies, die neue Herrscherin vom Klobenberg zu sein. Das Schwert besteht aus Eisen, abgebaut in den Bergen unserer Heimat, geschmiedet aus Zwergenhand, gesegnet von den Göttern.“

„Wann hat dir deine Mutter das Schwert gegeben? Sie ist schon lange tot?“ Der Hexenrat horchte auf.

Nympfjet schluckte. „Sie halfen mir bei der Vernichtung meiner verleumderischen, intriganten und bitterbösen Tante Walpurga.“

„Meinst du mit ‚sie‘ auch deinen Vater?“

„Ja! Sie waren bei mir. Auch Johann Wolfgang von Goethe.“

„Da, habt ihr das gehört? Sie bestätigt, eine Menschenfreundin zu sein. Welche Hexe kämpft mit Menschen gegen eine Hexe?“ Fedora krabbelte dem Teufel vor die Füße und versuchte ihn ein weiteres Mal zu umgarnen und ihn auf Nympfjet zu hetzen.

Die Mitglieder des Hexenrates hatten nun genug gehört. Sie standen auf und beratschlagten sich kurz, ehe sie verkündeten: „Das hier ist keine Anklage mehr, deren Entscheidung und Urteilsvermögen beim Rat liegt. Der Hexenrat zieht sich zurück. In diesem Fall liegt ein privater verbitterter Hass vor, der nur im Zweikampf ausgefochten und geklärt werden kann. Möge die bessere und geschicktere Hexe gewinnen!“ Mit einem Kopfnicken verabschiedeten sie sich von Luzifer, der nun etwas verloren dreinblickte, und teleportierten sich vom Wurmberg weg.

Mit einem Wink schob er Nympfjet den Besen zu. „Ihr habt gehört, was der Rat gesprochen hat. Bringt es zu Ende.“

„Das kannst du mit mir nicht machen.“ Fedora heftete sich an die Fersen des Satans. „Ich habe das alles nur für dich getan! Ich wollte mit dir zusammen den Harz zum Untertan machen.“

Der Teufel stieß die sich an ihn klammernde Oberhexe weg. „Ich, ich, ich …! Was anderes hört man von dir nicht. Du hast mich reingelegt, genau wie Walpurga damals. Ich hasse Hexen, die schlauer sein wollen als ich.“

Der Meister, der unter vielen Namen bekannt war, wurde sehr grantig. Der gefürchtete Unterweltbewohner verbreitete in aller Welt unter den Namen Teufel, Satan oder Fürst der Unterwelt das Gegenteil vom Guten.

Und das sollte jetzt die Hexe spüren, die ihn, wie zuvor schon eine andere, reingelegt hatte. Er wurde mit jedem Wort gigantischer und überragte jeden Felsen auf dem Wurmberg. „Ich hätte wegen deiner Intrigen bald den ganzen Harz zerstört, Fedora. Und das verzeihe ich dir nie. Niiiiemmalllsss …!“ Das letzte Wort brüllte er über die ganzen Täler, Wälder und Felder des Harzes. Die Bäume wackelten und gaben verschreckte Vögel frei, die den Himmel sofort noch schwärzer werden ließen. Das kleinste Gewürm wühlte sich verängstigt in die feuchte Erde. Seine Hörner glühten vor Zorn und aus seinen Nasenlöchern qualmte heißer Atem. Seine Augen wurden schwarz wie sein enormer Schatten, der sich bedrohlich auf den Wurmberg legte.

Er beugte sich zu Fedora-Astarte herunter und alles, was er jetzt sagte, ließ die schwarzen Kleider der Oberhexe flattern und wehen. „Bist du es, Fedora-Astarte, die den Kampf nicht überlebt, da kann ich dir jetzt schon sagen, dass ich, Luzifer, der Fürst der Unterwelt, dich nicht vermissen werde!“

Genervt von zeternden und habgierigen Hexen drehte er sich vor Kälte zitternd ab, ließ von seinen Dämonen den Erdboden öffnen und verschwand in seiner glühend heißen Hölle. Er überließ die keifende und streitende Hexe und die Herrscherin vom Klobenberg sich selbst …

Die Höllenpforte war noch gar nicht ganz geschlossen, da stürzte sich Fedora auf Nympfjet: „Du widerliche Krücke. Du bist schuld, dass er sich von mir abgewandt hat. Und das wirst du mir jetzt büßen.“

„Das wage nur, Fedora!“ Isis stellte sich vor Nympfjet und fing geschickt den Fluch von ihr ab.

„Ach nee. Wen haben wir denn da?“ Fedora freute sich darüber, dass sich Isis so freiwillig und todesmutig zwischen sie und die verhasste Erbin vom Klobenberg stellte. Ihr arglistiges, kaltes Herz zuckte vor lauter Begierde, die abtrünnige Hexe zu vernichten! „Ich dachte, dass du dich schon lange als Verräterin in der Teufelsmauer befindest! Wie es scheint, hat Beijanna es nicht geschafft und auch nur kläglich versagt!“

Nun sammelten sich gewissenlose Hexen hinter Fedora zum Kampf. Ida und Frowin stellten sich zu Nympfjet und Isis. Die Magie baute sich auf. Überall blitzten und zuckten gierige Zauberstäbe.

Tückisches Gekicher steigerte sich auf der einen Seite und abwartende gerechte Haltung auf der anderen, als sie alle von einem zutraulichen und vertrauensseligen Zwerg, der auf Fedora zulief, abgelenkt wurden.

Isis erschrak bis ins Mark. „Sinith“, stöhnte sie erschrocken. Wie ein Liebeskranker rannte er mit weit auseinander gestreckten Armen auf Fedora zu. „Endlich bin ich da!“

Fedora lachte gehässig auf. Ihre gelben Augen funkelten erneut bitterböse, als sie den Zwerg erkannte, der ohne Furcht auf die grässliche Oberhexe zusteuerte. „Ach, mein kleiner Freund. Auf dich habe ich gewartet.“

Sie ließ Isis nicht aus den Augen. Ihre Reaktion hat sie verraten. Sie schien diesen nervigen Zwerg zu mögen. Und das machte sie jetzt sehr verletzbar. „Jetzt kannst du ihn sagen … meinen glorreichen Namen.“

Sinith nickte und hüpfte vor Fedora auf und ab. „Ja, das kann ich.“

„Was hindert dich, Sinith?“ Sie lockte den Zwerg mit weicher Stimme, seine Zunge zu lösen. Immer wieder beobachteten ihre gelben Augen die blasser werdende Isis, die schon auf dem Sprung war, um dazwischenzugehen.

Er öffnete seinen kleinen Mund. Isis schrie: „Nein, Sinith, nicht.“ Nympfjet zeigte nun das wahre Gesicht ihres Besens, das magische Schwert. Frowin und Ida schossen Flüche in die Hexenweiber. Doch alles zu spät.

Sinith rief den Namen. „Du heißt Fedora-Astarte vom Wurmberg!“ Die Oberhexe brauste auf und zeigte ihre grausame Seite. Schauerlich schwebte sie über dem Zwerg. Ihr Gesicht wurde zu einer fiesen gefräßigen Fratze. Wie ein Monster baute sie sich auf und zog ihm seine unschuldige und treue Seele aus dem Körper. Sinith fiel sofort tot zu Boden.

Isis schrie verzweifelt und wütend auf. Die Hexe mochte den Zwerg mittlerweile sehr. Sie kannte keinen Zweiten, der mit seinem liebreizenden Wesen so unkompliziert und leichtlebig sein Schicksal annahm wie der kleine übersprudelnde Zwerg. Sie rannte los und schubste links und rechts kämpfende Hexen zur Seite und suchte das hässliche Angesicht von Fedora. Die stinkende buckelige Hexe wartete schon grinsend und hielt Isis ihre lange warzige Nase entgegen. Auf diesen Moment hat sie gelauert. Sie streckte ihren krüppeligen Finger aus. „Arescit.“ Isis wurde am Arm getroffen, der sofort an der noch fliegenden Hexe verkümmerte. Ehe Isis handeln konnte und überhaupt bemerkte, was geschehen war, stand Fedora schon neben ihr und stach Isis ihre spitzen Fingernägel in den Nacken und entzog ihr damit alles Leben. Isis selbst hörte noch den letzten Herzschlag ihres Lebens, als sie für immer in die Teufelsmauer gesetzt wurde.

Ida, Frowin und Nympfjet kreisten die Hexen ein. Fedora befand sich mit der leblosen Isis genau in der Mitte. Erschrocken bemerkte die Oberhexe, dass sie sich selbst eine Falle gestellt hatte. Vor lauter Hass zur Hexe Isis ließ ihre Achtsamkeit nach und sie drehte ihren Feinden den Rücken zu. Nympfjet und ihre Freunde fixierten die Mitte und zwangen die grausamen Hexen hinein. Nympfjet wurde von der weißen Magie getragen. Um sie herum bildete sich ein Magnetfeld und schützte sie. Mit Ida und Frowin vereinigte sie sich zu einer starken Kraft. Sie murmelten unentwegt einen Zauberspruch, erst ganz leise und dann immer lauter werdend:

„Purus Ariolus, Saga sint vobis parvae tantum finis.

Morbi nunc nec ipsum.

Quia impiorum veneficas manere non improbum

veneficas nos non desidero!

Abesse patria, is aliter stare.“

„Hexenbein, Hexenschein kann nur dein Ende sein.

Fedora ist nicht rein.

Denn böse Hexen bleiben nicht,

böse Hexen wollen wir nicht!

Geh fort von diesem Land,

du kriegst einen anderen Stand.“

Sie sangen und sangen den Hexenreim. Sie verbanden ihre Hände, unter ihnen wölbte sich ein silbrig weißes Pentagramm auf. Sie stellten sich hinein und sangen unentwegt weiter.

Fedora und der Rest ihrer Schattenweiber krümmten sich vor unsagbarem Schmerz. Nympfjet hielt die Spitze des Schwertes gegen Fedora.

„Richte, was recht. Richte, was schlecht.

Nur der wahre Herrscher hat die Macht,

das Böse zu bannen.

Hinweg, hinfort, verschwinde hier …

meinetwegen auch zu Eis gefrier.“

Es war noch gar nicht ausgesprochen, da zuckte das Schwert und erfüllte das Recht. Es bildete sich bittere Kälte um Fedora und ihre Hexenweiber. Stück für Stück erstarrten und gefroren sie zu klirrendem Eis. In ihrer ganzen Hässlichkeit standen sie buckelig, krakelig und langnasig, wie zu Lebzeiten, eiskalt vor der Herrscherin vom Klobenberg und ihren Freunden. – So kalt und grausam wie ihr Leben, so eiskalt wie ihr gefühlloses und totes Herz, genauso endete Fedora-Astarte vom Wurmberg.

Der Teufel selbst ließ die Erde in unsagbarem Zorn erbeben und die bösen Hexen und ihre Oberhexe zerfielen und zersplitterten zu Tausenden von Eiskristallen. Die Herrscherin, Ida und Frowin blickten auf die Trümmer, die von Fedora übrig geblieben sind. Mit der Spitze des Schwertes berührte Nympfjet die Bruchstücke. Das Schwert glühte auf und schmolz die Eiskristalle zu Wasserpfützen, die sofort durstig vom ausgetrockneten Wurmberg aufgesogen wurden. „Das war es nun. Fedora und ihre Schattenweiber sind Geschichte!“ Frowin legte seinen Arm um Nympfjet, um sie mit sich zu ziehen. Sie sollte weg. Weg von der feuchten Stelle, die einst eine böse Hexe darstellte.

Noch mit unfassbaren Gesichtern blickten die drei über den Platz. Nichts war mehr zu sehen, nichts mehr zu hören. Das letzte Kreischen von der Wurmberghexe hallte nur noch in ihren eigenen Ohren nach.

Eine Menge Wasser verteilte sich großflächig und tränkte die Dürre. Und mitten in diesen Wasserleichen lagen leblos ihre geliebten Freunde.

Erschöpft sagte Nympfjet zu Ida: „Geh und bring Maxima und ihren Vater zu Lisa. Unsere Lisa wartet mit großer Sehnsucht schon auf ihre kleine Familie. Frowin und ich gehen erst noch einen anderen traurigen und schwermütigen Weg …“

Ida schnappte ihren Besen und flog zu dem Felsen, hinter dem Maxima und ihr Papa friedlich schlummerten. „Maxima, wach auf. Lorenz, komm, steh auf.“ Ida weckte die beiden aus ihrem Schlaf. „Kommt, ich bringe euch zu Lisa.“ Ida lächelte die beiden taumelnden Menschen an. Nympfjet wartete schon auf die kleine Gruppe. Sie brach den Zahn der Treue ein drittes Mal und sofort öffnete sich das Portal, in dem Ida, Maxima und ihr Papa binnen Sekunden verschwanden und sich umgehend im Zyklopenwald befanden.

Nympfjet und Frowin waren nun mit sich selbst und ihrer traurigen Aufgabe beschäftigt.

Niemand von den beiden bemerkte, dass ein Knabe, nackt und schmutzig, das Ende seiner schwarzen Mutter mit angesehen hat. Dieser Knabe wandte sich mit glühenden Augen ab und verschwand still und heimlich vorerst in den Wäldern des Wurmberges …

Lisa und Berta, die im Zyklopenwald auf die Rückkehr von Nympfjet und den anderen ungeduldig warteten, wurden von einem gewaltigen Erdbeben aufgeschreckt. Mit diesem Beben zog sich die Magie, die sich um den Wald herum befand, zurück.

„Sie haben es geschafft, Temterem. Sie haben es tatsächlich geschafft, Temterem!“

Lisa flüsterte ungläubig: „Fedora-Astarte vom Wurmberg ist tatsächlich tot!“

Berta machte einen gewaltigen Freudenflug durch Lisa, verknotete ihr die Haare, was sowieso schon lange überfällig war, und hielt dann still in der Luft an. „Und meine kleine Harzblume bleibt die Herrscherin vom Klobenberg“, sagte Berta und nahm ihr besticktes Taschentuch und tupfte sich die Wangen ab.

Lisa war jetzt gar nicht mehr zu halten. Ungestüm tobte sie durch das Gästezimmer der Riesen, wie die alte dicke Berta durch sie, und freute sich mächtig auf ihre verschollenen Lieblinge und deren übersprudelnde Erzählungen. Sie hüpfte noch selbstvergessen auf dem Ungetüm von Bett herum, als auch schon mit aller Kraft die schwere Tür unter Ächzen und Schimpfen aufgeschoben wurde.

„Mama!“ Maxima kletterte zu Lisa aufs Bett und warf sie um. Ihr lieber Ehemann tat es seiner Tochter gleich. Beide fingen ohne Punkt und Komma durcheinander und in einem undefinierbaren Kauderwelsch auf einmal an zu berichten. „Mama. Ich war bald eine Spinne. Sooo groooooßßß. Und voll hässlich.“

„Und ich erst, ich war in einer Mauer versunken …!“, mehr anzugeben traute er sich nicht, denn so richtig hat er ja nichts erlebt. So ein bisschen beneidete er seine Tochter schon wegen ihres Abenteuers. Denn Maxima hörte nicht mehr auf, munter drauflos zu plaudern.

„Ich bin so froh, dass wir wieder zusammen sind. Ich habe auch ganz viel zu erzählen“, sagte Lisa. Bei dem ausgesprochenen Gedanken musste sie grinsen. Jetzt werden ihre beiden ‚Fantasielosen und Harzsagen-Nichtaussteher“ genau solche Harzerzähler wie Lisa …

auch die Zwergenstadt Lähis wurde kräftig durchgerüttelt. Und alle seufzten erleichtert und nahmen das als gutes Zeichen auf, dass nun wieder Ruhe in das Land der Mythen und Sagen einzog …

Bald würde die Herrscherin vom Klobenberg wieder in der Stadt eintreffen. Und dann sollte alles für ein großes Fest vorbereitet sein.

Der Zwergenkönig Brutas klopfte seinem tapferen Lichtkrieger Brokk auf die Schulter und sagte lächelnd: „Bald ist deine bessere Hälfte wieder da. Ich sehe, du vermisst ihn sehr.“ Der Zwergenkönig zeigte auf das falsch zugeknöpfte Mäntelchen und die unterschiedlichen Socken, die Brokk an seinen Füßen hatte.

Brokk sah an sich herunter. „Ja, stimmt wohl, ohne Sinith bin ich kein Zwerg.“ Sie stießen sich an und lachten herzhaft. Auch wenn Brokk mit dem König mitlachte, so hatte das Lachen doch einen unguten Beigeschmack, der sich in seinem Bauch ausbreitete.

überall in den Wäldern des Harzes herrschte wieder Stille und Frieden. Nur auf dem Wurmberg konnte sich keiner so recht über den Sieg freuen. Sie trauerten um Isis und Sinith.

Frowin nahm den Leichnam der Hexe Isis behutsam auf seine Arme – und zauberte ein Bett: „Lecticula.“ Sanft legte er sie hinein. Er bedauerte ihren Tod sehr. Niemand war ihm in der Kräuterheilkunde so ähnlich wie diese Hexe. Ach, was hätten sie voneinander lernen können. Frowin war in seinen Gedanken nicht zu trösten.

Und als er zu der kleinen Hexe sah, schmerzte ihm das Herz mehr denn je. Denn Nympfjet ging gleichzeitig weinend in die Knie und bedauerte zutiefst den Tod des tapfersten Zwerges, den sie je kennenlernte. Mutig, stolz und gewissenhaft hatte er sich mit seinem Freund Brokk auf den Weg gemacht, die Herrscherin vom Klobenberg zu finden! Tapfer bezwangen sie mit ihren Gefährten, den Wildschweinen Gunduar und Mimur, den gefürchteten Hexenstieg. Viele Angriffe der bösen Hexe musste Sinith bestehen, doch die Spaltung seiner treuen Seele kostete ihn dann letztendlich doch sein Leben.

Nympfjet legte den kleinen toten Zwerg direkt neben seine Hexe Isis und legte sein Händchen in ihre leicht geöffnete Hand. Nur Isis selbst konnte sagen, warum sie ihn so gerne mochte. Erwähnt hatte sie es niemals. Das wird immer ein Geheimnis bleiben und für immer und ewig ein Stückchen der Teufelsmauer sein …

Nympfjet und Frowin teleportierten sich und die sterblichen Hüllen von Sinith und Isis in die Zwergenstadt.

Als sie Nympfjet erkannten, jubelten einige sofort lauthals. Aber fast augenblicklich erstickte der Jubel schon wieder im Keim. Alle Zwergengesichter versteinerten direkt. Die kleinen Wichtel nahmen andächtig ihre Zipfelmützen ab und neigten ihre Häupter, als sie erkannten, was die Herrscherin vom Klobenberg und Frowin der Zauberer mit sich führten.

Beide zogen an den langen Griffen einer Holzkarre, auf der Isis und Sinith auf weißen Blüten gebettet lagen. Weiß war die Farbe des Mondes und der Reinheit. Eingehüllt wurden die beiden vom Duft der weißen Blüten des Jasmins. Der Hauch von Trauer und Schmerz zog vom Wagen durch die ganze Zwergenstadt.

Brokk sah sie von Weitem auf sich zukommen. Mit brennendem Herzen ging er zaghaft und wie in Zeitlupe auf Nympfjet zu, nahm seine Zipfelmütze und schlug sie verzweifelt und mit aller Kraft gegen sein gebrochenes und schmerzhaftes Herz. Er wusste nicht, ob es jemals eine Zeit gab, die er ohne seinen besten Freund verbrachte. Er weinte nun bittere Tränen und dachte an all das Schöne, was er mit seinem besten und treuesten Freund Sinith erlebte. Die ganze Aufregung und die tiefe Angst um Sinith ließen ihn zu einem alten Zwerg werden. Hätte Brokk noch dunkles Haar getragen, wäre es jetzt schlohweiß geworden.

Er stellte sich neben den Handwagen und streichelte liebevoll Siniths kaltes Gesicht. Er wirkte, als würde er fest schlafen. Sein trauriger Blick fiel auf die Hände, die ineinandergelegt waren. Ja, so sollte es sein. „Sie hat uns das Leben gerettet. Aus irgendeinem Grund mochte sie uns …! Den Zwerg und die Hexe sollte man im Tod auch nicht trennen. Wir begraben sie zusammen.“ Das ganze Dorf schwieg und trauerte mit Brokk. Er nahm dann das allerletzte Mal Siniths andere auf dem Bauch liegende Hand in seine. „Er war der Beste!“ Seine Lippen bebten und seine Augen wurden blind.

Bei Nympfjet rannen unentwegt die Tränen des Schmerzes. „Ich konnte für ihn nichts tun. Seine Seele war vorher schon verloren.“ Brokk verstand, was sie damit sagen wollte. Er war dabei, als sich Siniths Seele spaltete. „Bettet sie wie Helden zu ihrer letzten Ruhe. Denn Helden waren sie!“ Gekrümmt vom Kummer wandte er sich ab – der einsame Zwerg zog sich zur Arbeit in sein Bergwerk zurück.

Nympfjet sah dem trauernden Zwerg nach und sagte: „Ich hatte mal einen Freund – Johann Wolfgang von Goethe. Um ihn weinte ich einst und er sagte mir damals:

‚Was man tief in seinem Herzen besitzt, kann man nicht durch den Tod verlieren.‘

Diese Worte schüttelten die Schultern des kleinen Zwerges noch mehr, als er in sein Bergwerk allein zur Arbeit ging.

Lisa und ihre Familie verbrachten noch bis zur Inthronisierung von Sordolax eine schöne Zeit im Zyklopenwald. Maxima und ihr Mann versprachen Lisa, dass sie nie wieder über Mythen und Sagen, die man sich im Harz so viele Jahre schon erzählt, lachen werden.

Sordolax bekam den Segen des alten Königs und sollte ein guter und gerechter Regent im Zyklopenwald werden. Zur Feier des Tages und zum Abschluss der Krönung des neuen Königs Sordolax vom Zyklopenwald saßen alle an einer riesigen Tafel zusammen. Kunterbunt mischten sich Riesen, Zwerge, Hexen, Zauberer und Menschen. Alle freuten sich auf das Essen, was Ida in der Großküche liebevoll gezaubert hatte. Maxima staunte nicht schlecht, als aus der Küche ein Teller nach dem anderen mit Flügeln geflogen kam und sich vor jedem einzelnen Gast platzierte.

Brokk klopfte gegen sein Glas und kletterte, damit ihn auch alle sehen konnten, auf die festlich gedeckte Tafel. „Meine lieben Freunde. So wie wir heute zusammengekommen sind, wird es kein zweites Mal mehr geben.“

Lisa sah zu Nympfjet und dann zu ihrer Maxima und ihrem Ehemann, die nebenbei ihre Suppe löffelten. Sie griff auch zum Löffel und wusste, dass das Abenteuer mit Nympfjet und ihren Freunden für sie an dieser Stelle zu Ende ging. Denn mit dem Essen der Suppe wird sich niemand mehr von der Familie Lindner daran erinnern, was für ein Abenteuer sie erlebten.

Nympfjet lächelte weise und sprach, ohne ihre Lippen zu bewegen: „Wer weiß, meine kleine Lisa, was noch so Aufregendes im mystischen Harz auf dich wartet! Ich sage Lebewohl mit den Worten von Goethe:

Was ich gesollt, hab' ich vollendet;

Durch mich sei dir von nun an nichts verwehrt;

Allein, verzeih dem Freund, der sich nun von dir wendet

Und still in sich zurücke kehrt.“

Nympfjet nahm ihr Glas und prostete Lisa Lindner zu, deren Augenlieder schon ganz schwer wurden …!

Wie von weit her klangen die andächtigen Worte des Zwerges Brokk zu ihr durch. Es war fast, als würde ihr jemand eine Gutenachtgeschichte erzählen, die sie zum Einschlummern zwang.

Der Zwerg Brokk und König Brutas

„Es ist eine lange Zeit vergangen, seit Sinith und ich uns auf den Weg begaben, die Herrscherin vom Klobenberg zu finden. Mein bester Freund und ich lernten auf dieser gefährlichen Reise eine liebevolle Hexe mit dem Namen Isis kennen. Leider sind diese beiden heute nicht mehr unter uns. Aber ich habe viel daran gearbeitet, dass sie es doch immer sein können. Wir werden sie in guter Erinnerung behalten und ihrer in Ehren gedenken, denn auch Sinith der Zwerg und Isis die Hexe haben einen großen Teil zur Rettung von unserem schönen Zuhause beigetragen!“

Brokk gab ein Zeichen an Brutas den Zwergenkönig, der sich das Vorrecht, das Tuch von etwas Massivem darunter zu entfernen, nicht nehmen lassen wollte. Unter dem Tuch befand sich eine aus dem Eisen des Berges aus Thale gefertigte Statue: Sie stellte die Hexe Isis auf ihrem Besen und den vor ihr sitzenden Zwerg Sinith dar, die auf dem Weg waren, das magische Schwert wieder zur Herrscherin vom Klobenberg zurückzubringen.

Das war Brokks letzte Erinnerung an Sinith. Und das Allerletzte, was er von seinem besten Freund je wieder lebend sah …