Erschöpft kauerten die Zwerge unter dem Unsichtbarkeitsnetz zusammen. Sinith sammelte sich schneller wieder, als Brokk zunächst annahm.

„Na, da bist du ja wieder. Oder bist du doch jemand anderes?“ Brokk nahm seinen kleinen Dolch in die rechte Hand und hielt diesen entschlossen Sinith entgegen.

„Pack das weg. Ich bin es schon!“ Bestürzt drückte er den Dolch zur Seite, etwas beleidigt und schockiert über diese extreme Vorsichtsmaßnahme seines besten Freundes. Aber verstehen konnte er ihn trotzdem. Sie waren gerade ganz knapp dem Tod von der Schippe gesprungen.

„Wir sind haarscharf der Hexe entkommen“, wisperte Brokk. Auf die große Verwandlungsfähigkeit der Hexe waren beide nicht vorbereitet. Sie wussten, dass sie niemals ihren Namen nennen durften und dass sie es mit der fiesesten Hexe nach der Brunnen-Walpurga vom Klobenberg zu tun bekommen würden. Diese Eigenschaften hatten sie schon verstanden und sie achteten auch besonders darauf. Aber auf welche Gesichter sie sich einstellen mussten, konnte ihnen vor ihrer Reise niemand sagen! Weil das ja auch niemand wusste, denn Fedora veränderte sich in tausend Gesichter.

Zwischen den beiden gingen nun stille Blicke hin und her. Bis Sinith sich ein Herz fasste und das aussprach, was ihn schon seit einigen Monden belastete. „Brokk, ich habe Angst. Die Hexe hat mich fest in der Hand. Ich versuche mich zu wehren, aber eine andere Seite in mir hilft ihr!“ Sinith klopfte mit der flachen Hand auf die Seite, wo sein Herz noch unnachgiebig und stark den Takt des Lebens bestimmte.

Brokk hielt währenddessen noch eisern das Horn der Taubheit an seine Brust gepresst, so als erwarte er in absehbarer Zeit den nächsten Angriff und wollte gewappnet sein. „Ich habe das alles erst gar nicht wirklich erkannt“, sagte er tonlos. „Bis ich den Blutdurst in ihr gesehen habe. Und du dich aufgeführt hast wie eine Marionette. Ich hatte auch Angst. Aber nicht vor der Grausamkeit der Hexe, sondern um dich. Um meinen besten Freund.“ Brokk schluckte schwer bei dem Gedanken, dass er ohne seinen Freund weitergehen müsste, vor allem aber vielleicht ohne ihn nach Hause zu kommen. Diese Vorstellung brach ihm das Herz Stück für Stück.

Sinith stützte seinen Kopf in seine groben Hände und massierte seine pochenden Schläfen. „Ich habe doch gesagt, sie hat viele Gesichter.“

Brokk antwortete nicht darauf. Denn zu gut kannte er nun ihr wahres grässliches Gesicht.

„Ja, leider sind ihre Anhängerinnen auch keine liebevollen Schönheiten.“ Sinith lächelte verschmitzt. Der eingeworfene Scherz war zwar etwas unpassend zu der ganzen Situation, aber bei diesen Weibern von Liebreiz und Schönheit zu sprechen, schien doch etwas amüsant und makaber. „Wie gehen wir jetzt vor?“ Sinith sah seinen Freund ratlos an.

„Ich würde sagen, wir bleiben erst einmal unter dem Netz. Wir sollten auch auf dem Weg über den Hexenstieg nicht darunter hervorkriechen. Es bleibt über uns. Auch über den Schweinen. Bis wir sicher sein können, dass die Hexen von uns abgelassen haben.“ Dass Brokk den letzten Satz so sicher sagte, konnte er bald gar nicht glauben. Auch wenn die Hexen sie nicht sahen, aber hören und riechen konnten sie sie allemal. Die Hexen werden nie von ihnen ablassen. Die Oberhexe hat ihr Augenmerk besonders auf die Zwerge gelegt. Dazu kommt noch, dass sie einen besonderen Draht zu Sinith gefunden hatte. Das machte Brokk viel mehr als Sorgen …

Die Hexen sammelten sich seit Tagen auf dem Wurmberg. Die Oberhexe kämpfte immer noch stark mit Schwindel und demzufolge mit arg schlechter Laune, weil sie mit ihrem Besen keine Ausflüge machen konnte. Die Gleichgewichtsstörungen würden sie vom Besen reißen und das wollte sie nicht riskieren! Sie wusste nicht, dass sie mehr Glück als Verstand hatte. Denn wenn Brokk noch ungestümer in das Horn geblasen hätte, wären sie und andere Hexen jetzt nicht mehr. Sie ärgerte sich darüber, dass die Zwerge mächtige Zauberwaffen in ihren Händen hielten. Doch sie ahnte auch nicht ansatzweise, dass Brokk mit diesem Horn die Macht besaß, die Hexen zu töten. Mit tiefem Groll fragte sie sich, was das für ein Zauber war. Sie selbst hatte noch nie von so einem tosenden, brüllenden Horn gehört, das Hexen um ihren Verstand bringen kann. Egal, wo es herkommt und wohin es soll, es wird wie das Schwert der Weisheit auch bald in ihrem Besitz sein.

Mit diesem Gedanken legte sie sich in ihrem Haus auf dem Wurmberg erst einmal gemütlich hin und pflegte ihre Genesung. Sie nahm sich nun die Zeit, über viele Dinge nachzusinnen und für andere Vorhaben hinterhältige Pläne zu schmieden! Ihre geräumige Hütte stand unterhalb eines alten Steinbruchs, von dort aus beobachtete sie früher immer den regen Flugverkehr der alten bissigen Walpurga.

Der Brocken und der sich schlingende und hügelige Wurmberg liegen sich direkt gegenüber. In der Natur wirkte alles einträchtig, doch für die jeweiligen Berghexen regierte pure Feindschaft. Die erhabenen Berge mitten im Harz waren wie ihre Herrscherinnen, stolz und überaus dominant. Die ungeliebten Erinnerungen ließen Fedora keine Ruhe.

Fedora-Astarte stand mit ihrer krakeligen Figur und ihrer zänkischen Stimmung in der Zwischenzeit wieder am Fenster in ihrer Wohnstube, von der man unweigerlich einen traumhaften Blick auf den Brocken erhielt. Seitdem die Brunnen-Walpurga nicht mehr lebte, ist es um den Berg ruhig geworden. Die eh schon gereizte Fedora wurde noch launischer bei den ungeliebten Gedanken an Walpurga!

Die gereizte Hexe drehte sich blitzartig vom Fenster ab und stürzte eine Reihe Stühle um. Die aufsteigende Lust, irgendjemanden zu verletzen, konnte sie nicht unterdrücken. „Isis“, schrie sie. „Wo ist die alte Hexe schon wieder. Iiissiiss.“ Durch ruckartige Bewegungen taumelte Fedora durch ihre Stube und musste sich auf ihr Nachtlager fallen lassen.

Erneut fiel ihr Blick durch das Fenster und versetzte sie wieder viele Jahre zurück. Wie oft hatte Fedora vor ihrem Haus ungeduldig auf Luzifer gewartet. Sie konnte seine Anwesenheit riechen, der Schwefelgeruch der Hölle haftete an ihm wie schwarzes Pech. Der Wind trug seinen betörenden Duft vom Brocken zur Hexe auf den Wurmberg rüber. Sie wusste, dass er bei ihr vorbeikommen würde und putzte sich für den Teufel heraus. Der Meister der Hölle und der Schikanen machte regelmäßig einen Umweg zur Wurmberghexe, wenn ihn die Walpurga auf dem Brocken wieder zur Weißglut gebracht hatte. Und das war bei der damaligen Oberhexe keine Kunst. Jede Gelegenheit nutzte sie aus, ihn als kleinen dummen Jungen hinzustellen. Er kam dann zu Fedora, um seine beleidigte und gekränkte Mannesehre trösten zu lassen. Bei der Vermählung mit ihm konnte sie die Leidenschaft zur Brockenhexe spüren. Er kam nie wirklich bei ihr, der Wurmberghexe, an. Luzifer verzehrte sich vor Sehnsucht nach der ehemaligen Oberhexe und wurde überheblich abgewiesen. Sie belächelte seine Gier nach ihr und nutzte diese schamlos aus, um Intrigen zu schmieden! Bei Fedora war das anders. Sie vergötterte ihren Meister der Unterwelt. Er war für sie alles, was sie jemals besitzen wollte. Aber er sah sie nicht. Seitdem spürte sie puren abgrundtiefen Hass gegen die tote Walpurga, und mit ihr zusammen gegen den Rest ihrer verdammten und verfluchten Blutlinie. Die Eifersucht fraß sich noch lange nach dem Tod der letzten Oberhexe durch Fedoras gammelige Knochen. Um ihre Ruhe zu finden, brauchte sie den Triumph über das Schwert. Sie wusste ganz genau, wenn sie das magische Schwert vom Klobenberg erst einmal in ihren Händen hielt, dann würde auch Luzifer, der Herrscher der Unterwelt, erkennen, dass nur sie die wahre diabolische Hexe an seiner Seite ist, um tiefes Grauen und schauerliches Entsetzen über den Harz zu legen! Er würde sie dann dafür lieben müssen …

In Lähis saßen die zwei unterschiedlichen Könige in der Halle des Friedens zusammen und hielten Rat. „Es sind jetzt schon sehr viele Monde vergangen. Und wir haben immer noch keine Nachricht von Sinith und Brokk!“ Die Sorge um seine besten Lichtritter ließ den Zwergenkönig Brutas um Jahre altern.

Sordolax legte ganz behutsam seine Hand auf dessen Schulter, um den kleinen König nicht noch mehr zu belasten. „Wir wussten doch, dass es kein einfach zu beschreitender Weg sein wird, den sie gehen müssen.“ Auch Sordolax hatte schwer zu tragen. Sein sterbender Vater war gefangen im Wald, um den sich die Hexen versammelten. Sie lauerten lästig in kriegerischer unberechenbarer Stimmung um den Wald und über den Waldspitzen. Keiner kam jemals dort raus. Auch dem alten König ist der Weg versperrt. Sie brauchten mehr denn je die Hilfe der Hexe Nympfjet.

Brutas sah den Riesenprinzen an. „Was ist, wenn sie es nicht schaffen? Was ist, wenn Fedora-Astarte vom Wurmberg sie vernichtet, während wir uns beratschlagen? Wen sollten wir ein weiteres Mal aussenden, um die Klobenberg-Herrscherin zu suchen?“ Der Zwerg hatte Fragen über Fragen, die sich sorgenvoll in seine Gedanken fraßen.

Der Harz besaß keine Überlebenschance, wenn die Ritter scheiterten, das war auch Sordolax bewusst. Fanden sie die liebreizende Nympfjet nicht, würde alles zur Geschichte werden. Tatenlos konnten sie nur abwarten und hoffen, dass es Sinith und Brokk über den Hexenstieg schaffen werden. Denn der weise weiße Magier konnte keinen Erfolg oder einen Misserfolg in seinen Visionen erkennen. Der Nebel um die beiden und ein schwarzer Schatten ließen keine Sicht zu.

„Wir können nur hoffen und beten, mein treuer Freund. Mehr ist uns hier, außer Abwarten, nicht gegeben …!“ Sordolax wusste nicht, wie er den Zwergenkönig aufmuntern und stärken sollte. Der ganze Harz war machtlos. Sie besaßen keine Armeen, die sie aussenden konnten. Die ganze Bürde lag vollends auf den mutigen Zwergen – Sinith und Brokk!

Die Wurmberghexe rief ihre Schattenweiber zu sich auf den Berg und machte ihrem Unmut Luft. Tagein, tagaus suchte sie krampfhaft nach einem Weg, alle Bewohner auf dem Klobenberg ums Leben zu bringen. Aggressiv und streitsüchtig plante sie ein Ränkespiel, um endlich das Schwert der Weisheit in den Händen zu halten. Fedora konnte es nicht mehr abwarten, am liebsten würde sie den ganzen Harz niedermachen, um aus dessen Schutt und Aschehaufen das Schwert persönlich auszugraben. Wer brauchte schon die Schönheit der Wälder? Wenn sie erst einmal die Herrscherin war, dann würde sich niemand mehr daran erfreuen können. Denn danach legte sich ihr schwarzer kalter Schatten über alles Lebendige und nichts wird dem Ursprung mehr ähneln. Sie wird sich das Schwert zu eigen machen, koste es, was es wolle. Und sie wird siegreich hervorgehen und sich alle, selbst Luzifer, zu liebenden Untertanen machen. Alle werden sie verehren und vergöttern müssen. Sonst wären sie wie die Natur des Harzes zum Tode verurteilt!

Verbannte Hexen in der Teufelsmauer

„Ich bin die Königin der Hexen. Walpurga, hörst du mich. Ich allein!“ Wütend und mit aufbrechendem Zorn in ihrem uralten Leib schrie sie der unaufhaltsam wachsenden Teufelsmauer entgegen … Doch wie erwartet kam wie zur Schikane von der Mauer nichts zurück. Auch zu Lebzeiten der Brunnen-Walpurga hätte sie die streitsüchtige und herausfordernde Fedora ignoriert. Nur das Echo von der garstigen Oberhexe selbst hallte ihr grollend ins Antlitz. Mehr hatte sie nicht zu erwarten.

Fedora-Astarte vom Wurmberg heftete sich mit ihren bösen und zynisch spottenden Anhängerinnen abwechselnd an die ahnungslosen Lichtritter, an Lisas Haus und die Familie. Es erzürnte sie maßlos, dass sie bei den Zwergen aufgrund der kreischenden Töne des Hornes aufgeben musste. Mit diesem Misserfolg hatte sie bei ihrem höhnischen Vorhaben nicht gerechnet. Sie vermutete auch nicht eine derartige starke Waffe bei den Wichteln. Diese Zauberwaffe war ihr und anderen unbekannt. Jeder, den sie danach in der Zwischenzeit befragte, verneinte, jemals von dem Horn gehört zu haben.

Fedora weckte die Neugier mit ihrer gezwungenen Schilderung über das Horn bei zwielichtigen Gaunern. Sie wollten mehr von dem redseligen und tratschenden Weib über das Horn erfahren. Die Geschichte war nicht uninteressant. Ein Zauberhorn, das Hexen in Schach hielt, brachte viele Ixen. Es könnte sie reich machen. Man erzählte sich nun dank des geschwätzigen alten Weibes, dass, sobald das Horn geblasen wird, eine Hexe gezwungen ist, aus ihrem Schlupfwinkel zu kriechen. Sie verliert jeglichen Orientierungssinn, das zirpende und ziehende Geräusch zwingt sie in die Knie und sie bangt um ihr Leben. Es lässt sie Tage danach noch in Taubheit. An ihren Stammtischen lachten die Banditen schon hämisch, als sie die imaginären Säcke voll mit Geld insgeheim schön zählten und untereinander aufteilten. Doch Fedora war zu gerissen, um sich von solchen Hinterwäldlern, die nur Ixen in ihren Augen glitzern sahen, austricksen zu lassen. Abgebrüht und dickhäutig schickte sie Tage danach Isis aus, um den Männern einen Gruß von der Wurmberghexe auszurichten. Jeder, der irgendeinen Plan erdachte, für den gab es von der Oberhexe einen Krug mit süßem Wein zu trinken. Mit dem ersten gierigen Schluck, den sich die Männer hinunterkippten, vergaßen sie, wer sie waren und woher sie kamen. Sie vergaßen alles …

Fedora hörte immer noch schlecht. Seit dem Ertönen des Horns konnte sie die Wichtel nicht mehr sehen. Die Oberhexe war sich nicht sicher, ob das Horn nicht nur Taubheit auslöste, sondern auch auf die Augen übergriff. Denn sie konnte die Zwerge zwar wittern, aber nicht orten. Außer sich vor Wut brüllte sie: „Iiissiiss! Iiissiiss. Wo steckt dieses Weibsbild ständig?“

„Ich bin hier, Fedora, wie immer.“ Steif und kalt stellte sich Isis neben die tobsüchtige Oberhexe, die Isis sofort packte und vor sich hin schubste. Das Stoßen der Oberhexe mit ihren verbogenen Fingern hinterließ bei Isis an den Schultern bohrende und stechende Schmerzen.

„Ich habe dir befohlen, dass du in meiner Nähe bleibst, Hexe!“ Isis duldete wie jeher die Prügelattacken der Oberhexe ohne laute Ächzer.

Als wäre sie nicht schon aufgebracht genug, kamen da auch noch Fedoras treue Zuträgerinnen und Schmarotzerinnen, um ihr zu sagen, dass sich zwei weitere Hexen in die Teufelsmauer eingereiht haben.

„Wir grüßen dich, Fedora, Oberhexe vom Wurmberg und des Harzes.“ Grässliche schwarze Weiber krochen fast auf den Holzdielen in Fedoras Hütte, als sie die Oberhexe ansprachen.

„Waas?“ Fedora war ungehalten und nicht in der Stimmung auf kriecherisches Getue von ihren Spitzeln. Sie war schließlich gerade in bester Laune, Isis zu erniedrigen.

„Wir haben tote Schwestern zu melden.“

Krachend ließ sich Fedora auf ihren Stuhl zurückfallen, ihre dürren bleichen Hände umfassten die Schnitzereien ihrer Lehnen.

Mit spitzer Zunge zischelte eine der Hexen: „Dies geschah bei dem Versuch, in das Haus einzusteigen, auf das sie achten sollten.“

„Was ist passiert? Ich will jede Kleinigkeit wissen“, schrie sie wie eine wild gewordene Krähe und vergaß zusehends, Isis zu demütigen und zu ohrfeigen.

Die Hexe Beijanna führte das Wort. Als einzige direkte Augenzeugin konnte sie genauestens erklären, was sie gesehen hatte. „Die Zwillinge Efaria und Epftara sahen, dass die Hintertür zur Küche offen stand und wollten flink wie die Ratten ins Haus. Sie sind aber nicht weit gekommen. Denn unweit von der alten Eiche zwirbelten sie an einem Feuerstrang vorbei und fingen Feuer, ehe sie dann zu Staub zerfielen.“ Mit gehässigen geröteten Augen beobachtete sie die Reaktion von Fedora. Sie freute sich auf den Trumpf, den sie jetzt durch ihre faulen Zahnstumpen zischte. „Ich habe die Nichte von Walpurga gesehen. Im Gartenteich sah ich ihr Spiegelbild.

Als ich in Gestalt einer Krähe Wasser zu mir nahm, ging sie unsichtbar an mir vorbei. Sie spiegelte sich im Wasser wider.“

Die Oberhexe traute ihren Ohren nicht. Verstand sie das jetzt wirklich oder spielte ihr das Gehör Streiche? Wieder verzeichnete Fedora den Verlust von zwei Schattenweibern. Der Verlust der Hexen ließ sie kalt. Hier ging es ganz allein um Stärke, Macht und Besitztümer! Sie war jetzt nicht mehr Herrscherin ihrer Gefühle. Zu ihrem Ärger kam aber noch ihr angekratztes Ego.

Sie konnte es nicht ertragen, dass es der Nichte der verhassten Brunnen-Walpurga gelingt, sie zu häuten und sie nackt und erniedrigt vor ihrem Hexenclan stehen zu lassen. „Niemals werde ich das zulassen“, schwor sie sich selbst und zwickte mit ihren langen Krallen nervös hin und her.

Aufgebracht verließ sie ihre Hütte, um sich an der frischen Luft abzureagieren. Mit großen Schritten stampfte sie umher. Verdutzt folgten die anwesenden Schattenweiber der Oberhexe, die sich wie eine wilde Furie benahm. Ihre Augen schossen unkontrolliert alles weg, was ihr im Weg stand. Sie raufte ihre Haarbüschel zusammen und schrie in den Himmel, der sich sofort verfinsterte. Atemlos bemerkte sie, dass ihre Hexen abwartend abseits standen und auf Befehle warteten.

Nach und nach zügelte sie sich, um dann ihren Anhängerinnen gegenüber gefährlich ruhig zu erscheinen. „Ich lag mit meiner Vermutung wohl doch nicht so falsch!“, krächzte die Oberhexe, als sie aufschnaufend vor ihnen hin und her schritt und den trockenen Boden aufwirbelte. Ihr griffiger Blick traf erneut zügellos einen Steinberg, den sie in Staubkörner sprengte. Sie schrie mit der Explosion gemeinsam auf, so eine unbändige Wut kam wieder in ihr hoch. „Uns ist der Weg ins Haus genauso versperrt wie damals Walpurga. Was soll ich davon halten? Entweder ist der Zauber schon sehr alt und dauerhaft gesprochen oder er ist erst ganz neu über das Haus gelegt worden. Das würde bedeuten, dass sich die verleumderische kleine Hexe Nympfjet in der Nähe des Hauses aufhält oder in ihm wohnt und immer noch ein waches Auge auf die ätzenden Menschen hat.“

Fedora stieß Verwünschungen aus. Um sie herum fingen die Büsche wahllos Feuer, der Qualm verteilte sich und nebelte die ungepflegten entstellten Weiber in schwarze Rauchschwaden ein. Urplötzlich drehte sie sich mit einem breiten Grinsen ganz still und in sich gekehrt um. Ihre Nasenflügel bebten ununterbrochen, als sie erfreulich feststellte: „Dann ist das Schwert in diesem Haus versteckt!“

Die Hexen fielen alle bis auf Isis auf den Boden und huldigten Fedora. Ihr krummer buckeliger Rücken straffte sich etwas, nebensächlich, eher belanglos äußerte sie sich: „So wird es sein. Warum sollte sie sonst einen mächtigen Schutzzauber um das Haus gelegt haben? Nur der Menschen wegen?“

Teilweise hafteten die Blicke von herumstehenden Schattenweibern an der Oberhexe, diese stießen sich untereinander abenteuerlustig an und zeigten freudig ihre vergammelten Zähne.

„Ich komme schon noch an das Schwert. Nicht umsonst habe ich die Feuerhexe ausgesucht!“ Die Hexen, die Fedora zu Füßen lagen, stimmten in schauderhaftes Gelächter ein. Mit glühenden Augen erwähnte sie weiter: „Wir werden uns ein Nest bauen mit vielen kleinen kuscheligen Kätzchen.“ Listig und clever ließ sie ihre Idee von ihren Kriegerinnen feiern, die für Fedora nur von Wert waren, Handlanger zu sein, um ihren Plan auszuführen. Marionetten an festen Stricken, die Fedora gekonnt in ihren Händen hielt, mehr waren sie nicht.

Isis behielt die jähzornige Oberhexe Fedora ständig im Blick. Jede Bewegung prägte sie sich ein. Sie suchte aufmerksam nach einer Schwachstelle, die ihr irgendwann einmal zugutekommen sollte. Sie wollte die Demütigungen der alten Hexe nicht länger ertragen! Wie sich die anderen anbiederten und vor Fedora entwürdigten, das wollte Isis nicht mehr. Isis die Schattenhafte warf sich nicht mehr vor der Oberhexe in den staubigen Sand. Ruhig und gelassen beobachtete sie das Geplänkel der Oberhexe und ihrer ekelhaften Krähen. Sie hatte genug von Fedoras Schmarotzerei, wie Tieren warf sie ihnen bröckchenweise Futter zu, um sie so niedrig wie nur möglich zu halten. Sie belächelt ihr Gewürm, das in ihren Augen nur gefräßige Parasiten darstellt. Die Hexen waren Marionetten und forderten die Gunst der Oberhexe ein, indem sie ihr nach dem Mund redeten. Isis hatte genug Erniedrigungen einstecken müssen. Mehr als untertänig führte sie, wie die anderen Schwestern auch, alles aus, was Fedora befahl. Nun wartete sie auf ihre Chance, Fedora alles heimzuzahlen …

„Was ist mit dir, Isis? Stehst hier und hältst Maulaffen feil.“ Fedora blieb die Wachsamkeit von Isis nicht verborgen, zu achtsam war sie dafür. Für den Geschmack der Oberhexe gab sie sich zu aufmerksam und viel zu angespannt. Sie merkte, dass Isis nach Verhaltensmerkmalen suchte, die mit ihrer Person zu tun haben.

„Was planst du, Isis? Meinen Untergang?“, fragte sie scheinheilig und niederträchtig. Schallendes Gelächter ihrer Schattenschwestern bohrte sich in Isis’ Gehirn, die inzwischen nun alle im Halbkreis um Fedora standen und gefährlich auf Isis einen Schritt zukamen und die Ablenkung arglistig annahmen. Eine Bestrafung einer abtrünnigen Hexe wäre jetzt, nach den letzten Ereignissen und der Niederlage mit den widerlichen Zwergen, eine willkommene Abwechslung! Und dann auch noch Isis – der Neid der Hexenschwestern galt ihr schon lange. Die selbstaufopferungsvolle Art gegenüber der Oberhexe ist dem ganzen Hexennest ein Dorn im Auge! Erbarmungsloser Hass drang zu Isis rüber und machte sich mit eiskalter Respektlosigkeit breit. Die Schattenweiber schätzten die Hexe Isis seit längerer Zeit schon als wertlos ein. Sie verstanden nicht, warum sie immer noch die Gunst der Wurmberghexe besaß. Sie lechzten nun förmlich der Vergeltung entgegen. Lange haben sie auf diesen Moment gewartet, dass Isis von der Oberhexe gefoltert wird.

Fedora berührte mit ihrer langen spitzen Nase die von Isis. Antlitz zu Antlitz standen sie sich gefährlich gegenüber. Isis hielt dem bohrenden Blick von Fedora stand, nicht mal ein Blinzeln zwang sie aufzugeben. Selbst der stinkende Geruch von Verwesung, der aus Fedoras Schlund emporstieg, konnte sie nicht ablenken. Isis drehte sich der Magen um und ihr wurde speiübel von dem beißenden Geruch des Todes, doch auch das ließ sie sich nicht anmerken. Standhaft duldete sie das Gesicht der Oberhexe an ihrem. Der Moment der Nähe zog sich wie Gummi, bis sich Fedora mit warnender Geste von Isis Zentimeter für Zentimeter löste.

Wie eine Schlange kurz vor ihrem tödlichen Biss, schlängelte sie sich um die Hexe Isis herum und schnüffelte sie dabei mit ihrer langen Warzennase von Kopf bis Fuß wie ein Hund ab. Genussfreudig schnalzte sie mit ihrer verlogenen und gespaltenen Zunge. Ihre Augen verfärbten sich braungelb, als sie ihre warzige grüne lange Nase bedrohlich nahe in das zerzauste Haar von Isis steckte.

Für die anderen herumstehenden Schattenweiber nicht hörbar, trat sie noch dichter an den Kopf der Hexe und wisperte feindselig: „Ich rieche Verrat, List und Untreue. Du scheinst tatsächlich lebensmüde zu sein.“ Nur mit der Kraft ihrer bloßen Augen zwang sie Isis auf den Boden und in den Dreck. Die zuschauenden Hexen begrüßten den unfairen Kampf. Und Fedora erniedrigte und peinigte Isis hämisch. Mit blitzenden gelben Augen zischelte sie lautlos durch ihre dreckigen Zahnstumpen: „Deine Zeit kommt, Isis.“ Fedora schnaufte ihren jahrhundertealten Mief in die Haare von Isis, als sie kränkend weitersprach: „Jetzt gehorchst du völlig mir. Hast du mich verstanden? Du bist nur der Dreck unter meinen Nägeln, Isis, merke dir das.“

Isis hatte die Drohung verstanden. Es sollte jetzt nur ein Tadel sein und die wirkliche Bestrafung sollte folgen. Fedoras ergebener Hexe wurde auch gnadenlos mitgeteilt, wann sie damit rechnen konnte.

„Wenn ich erst mal das Schwert in den Händen halte, gewähre ich dir vielleicht die Entscheidung, aber nur wenn ich einen guten Tag habe, auf welcher Seite du stehen möchtest. Auf meiner oder auf der der Teufelsmauer.“ Hinter der Oberhexe steigerte sich krächzendes Gekicher. Obwohl sie nicht hörten, um was der Streit ging, konnten sie aber an ihren Körperhaltungen erkennen, wie groß der Disput der beiden war.

Beijanna, Lupina, Pinella und die Feuerhexe Sojana, die sie eigens für ihre Mission ausgesucht hatte, forderten Fedora mit spitzer Zunge auf, die auf den Boden gedrückte Isis doch zu bestrafen. „Lehre ihr mehr Gehorsam. Schick ihr die Todgreifer“, zischelte Lupina und rieb sich ihre verdorrten kalten Hände aneinander. Beijanna befürwortete das und flehte mit vor Aufregung zitternder rauer Stimme: „Brech ihr das Genick. Und schmeiß sie in die Hölle. Die Dämonen werden ihren Spaß haben.“ In den Mundwinkeln der Hexen sammelte sich durch die pure Mordlust der Speichel. Die hässlichen und krüppelhaften Weiber erwarteten auf der Stelle, dass Fedora die Vernichtung vollzog. Sie steigerten sich in einen Singsang: „Verfluche sie, verfluche sie, verfluche sie …!“

Isis krümmte sich auf dem kahlen sandigen Boden. Ihre Haut wurde dünn und durchsichtig wie farbloses Pergament. Ihre Adern traten dick hervor, mit weit aufgerissenen leeren Augen lag sie im Dreck und fühlte, wie ihr Körper langsam austrocknete und sterben wollte …

Bei Lisa überschlugen sich seltsame Ereignisse. Wenn sie dachte, sie hatte ihr Fenster zum Lüften geöffnet, sich dann abermals umdrehte, war es prompt wieder geschlossen. Dasselbe mit der Hintertür. Sie ging immer hinten durch, um zu ihren Mülleimern zu kommen. Die Hintertür öffnete sie weit genug, damit sie vom Wind nicht zugeschlagen werden konnte, brachte den Abfall weg, und als sie wiederkam, war die weit geöffnete Tür fest verschlossen.

„Ich glaube, so langsam verliere ich meinen Verstand.“ Lisa nahm sich einen Apfel und biss herzhaft hinein, während sie die Hintertür unter die Lupe nahm. Sie klippte sie auf und beobachtete, ob sie von allein wieder zuschlug. Aber die Tür stand und blieb unbeweglich. Es gab keine Anzeichen dafür, dass sie sich selbstständig schloss.

„Komisch!“ Egal, in welcher Position sich die Türe auch befand, sie stand. Die Tür bewegte sich weder nach vorne noch nach hinten. Tipptopp ausgeglichen! Lisa zuckte mit den Schultern, denn sie fand keine Erklärung zu den mystischen Ereignissen im Hause Lindner.

„Was ist komisch, Schatz!“ Lorenz ging auf seine sich wundernde Frau zu und gab ihr einen beherzten Kuss. „Ist was mit der Tür?“

„Ach, ich dachte, dass ich sie aufgelassen hätte. Und wie ich von den Tonnen zurückkam, war sie auf einmal zu!“

„Das kommt vor, Schatz. Der Wind, das himmlische Kind …!“

Lisa kräuselte ihre Nase und sah in den ruhigen Garten. „Hm. Es ist kein Wind da.“

Lorenz schüttelte den Kopf über seine grübelnde Frau, die scheinbar schon wieder Hexen oder Geister jagte, und nahm wie immer seine Lisa nicht ernst. Er grätschte seine Finger und verstellte seine Stimme rauchiger und gruseliger. „Wir kommen. Wir kommen, um dich zu holen.“

Lisa trieb es einen leichten Schauer über die Kopfhaut. „Ach, hör auf zu spinnen!“, lachte Lisa und kniff ihren Ehemann in den Bauch. „Ich mag das nicht. Du weißt, dass ich mich sehr fürchte. Also lass das gefälligst!“, ermahnte sie mit Nachdruck.

Plötzlich wurden sie von einem fürchterlichen Schrei aus dem Obergeschoss aufgeschreckt. Lisa war kurz erstarrt und blickte nur noch ihrem Mann, der gleich zwei Stufen auf einmal nach oben nahm, entgeistert hinterher.

„Maxima!“ Der Klang von Maximas Namen weckte sie aus ihrer Lethargie und ließ sie ihrem Mann nachstürmen. Außer Atem kam sie oben an und brachte nicht unbedingt den rechten Mut auf, um in das Zimmer zu sehen, in dem sich ihre Tochter aufhielt.

Unsicher und aufgeregt blieb sie neben ihrem Lorenz stehen. Ihr Mann, der Schreckliches erwartet hatte, kicherte und gluckste, bevor er in schallendes Gelächter ausbrach.

„Was ist?“ Lisa riss ihre Augen weit auf und fand den Mut, ins Zimmer zu schauen. Erleichtert stimmte sie in das herzliche Lachen ihres Mannes mit ein und prustete lauthals los.

„Guck mal, deine Tochter wollte aussehen wie du vor ein paar Tagen erst.“ Er lachte laut und schlug sich vor Komik auf den Oberschenkel.

„Was ist passiert, Mia?“, fragte Lisa und wischte sich die Tränen vom Lachen von den Wangen.

„Ich habe mich nur aus dem Fenster gebeugt und jetzt sehe ich so aus.“ Erzürnt blitzte sie ihren Vater an. „Ist hier im Badezimmer auch dieser weiße leichte Baustoff verarbeitet und meine aufgeladene Energie kann dadurch nicht abfließen? Oder wie erklärst du mir jetzt, dass ich aussehe wie Struwwelpeter als Punker persönlich?“

Ihr Vater ging durch das Badezimmer ans Fenster und vergewisserte sich. Als wüsste er, was er tat, klopfte er den Fensterrahmen ab. „Du hast nur aus dem Fenster geguckt?“

Maxima ärgerte sich maßlos, so stinksauer war sie über ihre versaute Frisur. „Jaaa doch. Fenster auf. Kopf raus und dann das …!“

„Das kann ich jetzt auch noch nicht erklären.“ Ihr Vater rieb sich das Kinn und überlegte scharf. „Ja, diese Situation ist auffällig ungewöhnlich, hhmm!“ Mit dem Hhmm drehte er sich um und ging in sein Arbeitszimmer, um der Sache auf den Grund zu gehen.

Lisa machte sich derzeit an die zerzausten Haare ihrer Maxima. Das wutentbrannte Mädchen hätte heulen können. „Mama?“ Mia blickte ihre Mutter fragend an. „Wie erklärst du das?“

Achselzuckend und ohne eine Antwort streichelte sie ihrer Mia, die völlig außer Rand und Band wegen ihrer Frisur war, noch ein paar abstehende Haare glatt und wollte das Badezimmer verlassen, als sie eine warnende Stimme hörte: „Lasst die Fenster und Türen geschlossen.“

Sie drehte sich zu ihrer Tochter um und fragte: „Wieso soll ich alles geschlossen halten?“

Ihre Tochter schüttelte verdattert den Kopf. „Wie? Was geschlossen halten?“

„Du hast doch gerade gesagt, ich soll Fenster und Türen geschlossen halten!“

„Ääh? Nein, Mama, das habe ich nicht. Ich habe gar nichts gesagt.“

Lisa krauste ihre Stirn und wollte noch was sagen, als ihre Tochter energisch den Kopf schüttelte und ihre Hände abwehrend gegen ihre Mutter streckte. „Nein, Mama. Das sind deine Nerven. Keine Zauberwesen. Fang nur nicht wieder damit an. Ich habe genug Simsalabim für heute.“ Mit diesen Worten drückte sie ihrer erstaunten Mutter die Badezimmertür vor der Nase zu.

Frechheit, dachte sich Lisa. „Du, Fräulein, dafür entschuldigst du dich“, erwiderte sie verblüfft über die Unerzogenheit ihrer Mia. Hinter der Tür folgte prompt leise: „Meinetwegen auch noch. Tschuldigung, Mama.“

Noch die Nase an die Badezimmertür gepresst, löste sie den Geburtsvertrag ihrer Tochter auf, der beinhaltete, die Befugnis, die Erlaubnis und die Berechtigung zu haben, ihr Fleisch und Blut zu sein!

Als sie dann etwas angesäuert die Treppe zu ihrer Küche runtergehen wollte, hielt sie etwas Magisches zurück. Irgendetwas war im Flur anders als sonst. Aber was? Sie blieb stehen und ließ es auf sich wirken. Es war plötzlich viel wärmer um sie herum und die Atmosphäre kam ihr irgendwie bekannt vor. Aber woher? Als sie so ruhig dastand und sich von einem unsichtbaren, aber vertrauten Gefühl einwickeln lassen wollte, hörte Lisa hinter sich ein leises Glucksen von einem stark unterdrückten Kichern und spürte einen Windhauch von blühendem Lavendel, der ihr sofort ein Wiedererkennungsgefühl gab. Sie schloss die Augen und wollte sich erinnern, woher sie diesen liebreizenden Duft kannte. Aber es fiel ihr nicht ein. Sie drehte sich in alle Richtungen, um irgendetwas zu finden, was diesen Geruch erzeugte und das schadenfrohe, kesse Glucksen ausgelöst hatte. Als sie nichts sah, fasste sie sich an die Stirn und verordnete sich selbst den verhassten Baldriantee, den sie von ihrem Vater damals schon sehr gerne zur Beruhigung empfohlen bekam.

Es ist jetzt schon einige Tage her, dass Sinith und Brokk eine Hexe über sich fliegen sahen. Der Hexenstieg war schon fast geschafft und sie kamen nun dem berüchtigten Hexenberg immer näher, dessen massive Gestalt zwischen hohen Tannen gespenstisch hervorlugte.

Dieser Berg wurde als Treffpunkt der Schattenweiber zu Ritualen genutzt. Dort standen riesige Steinbrocken in einem Kreis, die der Teufel direkt aus der Hölle heraufgeworfen hatte, sie waren pechschwarz und rochen extrem nach Schwefel. Wenn die Hexen ihre Rituale durchführten, fingen sie an zu schwelen und zu rauchen, um dieser Tatsache Nachdruck zu verleihen.

In der Mitte der Felsklötze befand sich ein silbrig schwarzes Pentagramm. Das Symbol war nicht den guten Mächten der Erde und dem Himmel gewidmet, sondern nur dem Teufel und der feurigen heißen dämonischen Hölle. Man sagt dem Berg nach, dass er das Blut der Opfer, in dem sich die Hexen nach bösen Ritualen badeten, durstig aufsaugte und dass er mit dem Blut die geopferten Seelen gefangen hält. Sinith und Brokk war der Anblick nicht ganz geheuer. Mit mehr als gemischten Gefühlen hafteten ihre Augen auf der Bergspitze, die ihnen eine unangenehme Gänsehaut über ihre Rücken jagte.

„Wenn wir das nächste Mal losgeschickt werden sollten, um den Harz zu retten, dann nehmen wir bitte einen Weg, der über bunte duftende Blumenwiesen führt, okay?“

Mit einem verunglückten Lächeln sah Sinith zu Brokk und wartete eine Antwort ab.

„Ich glaube, wir haben gerade dasselbe gedacht. Wir kennen seit unserer Kindheit die Sage des dunkelsten Berges des Harzes! Und Schritt für Schritt kommen wir dem Berg der toten Seelen immer näher. Ich kann gerade nicht einmal mit Gewissheit behaupten, gehen wir ihm entgegen oder kommt der Berg auf uns zu …! Es ist fast so, als würde er uns zu sich rufen. Hörst du das auch, der Berg schweigt, trotzdem schreit er.“

Die Zwerge blieben stehen und lauschten in den Wald. Die Stille, die sie nun umgab, war Furcht einflößend und ließ sie ununterbrochen frösteln. Mit angehaltenem Atem schauten sie sich beängstigt nach allen Seiten um. Mit den Zwergen schienen auch die Tiere des Waldes den Atem anzuhalten, um zu lauschen, was der Berg zu sagen hatte.

Müde setzten sie ihren Weg fort, denn nichts weiter als verschwörerische Ruhe schwebte über den Bäumen. Sie waren noch nicht viel weiter über den Stieg gekommen, als sie nacheinander kraftlos und schmerzhaft stöhnten und seufzten.

„Wollen wir es noch einmal wagen, das Unsichtbarkeitsnetz abzulegen? Seit Tagen habe ich weit und breit keine Hexe gesehen. Und mir tun langsam die Arme vom ständigen Hochhalten weh!“

„Ja, gerne. Meine Arme sind auch schon ganz lahm. Außerdem möchte ich auch mal wieder den Sternenhimmel ohne das Netz sehen und die klare Nachtluft ohne Sieb genießen.“

Brokk ließ seine Augen wie ein Luchs umherschweifen, nachdem er keine Gefahr witterte, nickte er noch mal zustimmend zur verdienten Pause.

„Lass uns dort hinten ein Feuer machen. Da ist ein Felsvorsprung, unter dem sitzen wir geschützt. Da machen wir Rast.“

Sie sattelten ihre Wildschweine ab, die sich dankbar als Erstes in der von anderen wildlebenden Artgenossen aufgewühlten feuchten Erde wälzten und suhlten und sich über bekannte Gerüche freuten, über die sie sich mit ihren langen Rüsseln sofort grunzend hermachten. Ihre feuchten Nasen hingen wie Saugnäpfe auf dem Waldboden fest. Die Schweine genossen es sichtlich, ohne Sattel zu sein.

Stumm sahen die Zwerge ihren Begleitern Mimur und Gunduar über dem Feuerschein eine Weile zu, bis sie auf ihre eigenen Mägen aufmerksam wurden, die jetzt knurrten. „Ich habe solch einen Hunger, dass ich die ganze Vorratskammer aus Lähis verspeisen könnte!“

Brokk fasste in seinen Rucksack und holte enttäuscht nur noch kleine Brocken von der Maize heraus und hielt sie in der geöffneten Hand.

„Das ist noch alles an Brot, was wir haben, Sinith. Oder hast du noch Maize?“ Erschreckt und hungrig wühlte auch Sinith nur einige Bröckchen aus seinem Beutel. Nüchtern und mit dem schleichenden Wissen, vom Pech verfolgt zu sein, zeigte er mit einem riesigen Loch im Magen die krümeligen trockenen Reste. Sie bedauerten erschüttert ihre Lage und legten die Maize in eine Schale und teilten sich die Stückchen nach und nach, indem sie das Brot von einem zum anderen reichten. Wenn sie sonst ihr Essen gierig kauten und vom beißenden Hunger getrieben alles nur so hinunterschlangen, ließen sie sich bei dieser Mahlzeit viel Zeit, um schneller ein Sättigungsgefühl zu erzeugen. Vielleicht war es aber auch der Anstand, den anderen lieber satt zu sehen als sich selbst, denn keiner der beiden Freunde traute sich, das letzte Stück der Maize aus der Holzschale zu nehmen. Beide starrten schweigend ins Feuer und jeder für sich folgte seinen eigenen Gedanken.

„Dann müssen wir wohl morgen auf die Jagd.“

„Wir können doch nicht mit Pfeil und Bogen durch das Netz schießen, unter dem wir uns verstecken“, empörte sich Sinith und dachte einen Moment lang, Brokk sei von allen guten Geistern verlassen.

„Wir können aber auch nicht verhungern!“, warf Brokk energisch und ungehalten ein. „Ich rede auch nicht davon, mit Pfeil und Bogen durch das Netz zu schießen. Ich habe noch nicht den Verstand verloren, Sinith!“

„Nein, das nicht.“ Kleinlaut bedauerte Sinith seinen plumpen Einwurf und Brokk die Erhebung seiner Stimme.

Brokk konnte es nicht ertragen, seinen Freund so bedrückt zu sehen. Zuversichtlich klopfte er seinem Kameraden auf die hängenden Schultern.

„Ich weiß, dass wir uns vor den Hexen verstecken müssen. Aber essen müssen wir auch.“

Ein weiteres Mal trafen sich schweigend die Blicke in den Flammen ihres Lagerfeuers. Brokk driftete mit seiner Sorge ab. Er sah schon viel weiter und sah etwas auf sie zukommen, von dem sein Freund Sinith nicht einmal was ahnte.

Den älteren Zwerg, auch wenn es nur Tage waren, beschäftigte ein weit größeres Problem, das sein Wegbegleiter wohl noch nicht erkannte, weil es ihm entweder noch nicht aufgefallen war oder auch nebensächlich erschien. Das Erstere schien wohl eher zuzutreffen, denn Sinith war im Wesen einfach unbeschwert. Arglos und gutgläubig ging er durch sein Zwergenleben. Darum musste er besonders auf seinen Freund achten. Auch Sorgen nahm er ihm ab, indem er ihn auf vieles nicht hinwies, um seinen Geist zu schützen.

An Brokk aber nagte der Kummer bis in seinen Bauch. In seiner Umsichtigkeit stellte er fest, dass sie in Kürze erkranken würden. Er löste seine matten Augen vom Feuer und sah auf den erschlafften Salzsack, der an Gunduars Sattel hing. Brokk hatte keine Ahnung, wie es ohne das nahrhafte Salz weitergehen sollte. Denn ohne grobes Salz konnten sie nicht leben … Mit dem Gedanken, dass er auf keinen Fall einschlafen durfte, ohne das schützende Netz auszuwerfen, ermüdete ihn kurz darauf das Starren ins Feuer doch sehr. Das flackernde Licht und das gleichbleibende Knistern des Holzes ließen ihn schläfrig werden und zwangen ihn, seine Augen zu schließen.

Auf so eine müßige und achtlose Gelegenheit hatte Fedora-Astarte nur gewartet. Die böse Hexe hielt sich nicht unmittelbar in der Nähe der Zwerge auf. Nein, das brauchte sie nicht, um ihr falsches Spiel zu spielen. Von ihrem Wurmberg aus konnte sie einen anderen Zugang gekonnt nutzen, den sie schon in der ersten Nacht erschuf, als sie die Zwerge heimsuchte.

Am Rand ihres Wurmbergs stand Fedora-Astarte in einem von ihr angeordneten aufkommenden Wirbelsturm. Der starke Wind umgarnte sie und ließ ihre schwarzen Kleider bedrohlich flattern. Ihre langen Haare schlugen ihr wie Peitschenhiebe durchs Gesicht und ihre rot-gelben Augen funkelten durch die Haarsträhnen hindurch und glitten über die Baumspitzen zu einer bestimmten Stelle. Böse legte sie mit einem hämischen Lächeln ihre faulen schwarzen Zähne frei, als sie das gefunden hatte, wonach sie suchte. Die bucklige alte Hexe streckte ihren Arm aus und zeigte mit ihrem gelben langen Fingernagel auf eine Stelle mitten im Wald und verband sich telepathisch mit Sinith, dem ahnungslosen, friedlich schlafenden Zwerg. Sie lachte schallend und grässlich laut, bevor sie ganz ernst wurde und ihre sonst garstige Stimme einen schwingenden und fast zärtlichen Unterton bekam:

„Sinith. Siinniithh“, lockte sie mit weicher Stimme das Unterbewusstsein aus dem Zwerg heraus.

„Komm, mein kleiner Freund. Hier bin ich.“ Jugendliches helles Lachen folgte ihrer Aufforderung. Das tiefe Innere von Sinith löste sich von seinem schlafenden Körper und stellte sich neben den am Boden liegenden eigenen Körper. „Siinniithh“, erschallte die Frauenstimme vom Waldrand her. Mit roten Wangen und wirren Umdrehungen suchte er nach der Verlockung.

„Hier bin ich. Such mich doch …!“ Wieder hörte man ein glucksendes Lachen. Sinith lief in den Wald und vermutete sie hinter einigen Bäumen, die er umlief und vorwitzig umfasste. Er fühlte sich glücklich und die Freude steigerte seinen Leichtsinn in diesem unfairen Spiel. Er verirrte sich mit der rufenden und verführerischen Stimme immer weiter und tiefer in den Wald. Er sah sie mit wehenden Haaren zwischen den Bäumen und Büschen barfuß im Zickzack laufen. Sie spielte dem Zwerg vor, dass sie vor ihm flüchtete. Wie ein junges Mädchen kicherte sie herzerfrischend und tänzelte und schäkerte gekonnt. Sein Herz stolperte bei dem Anblick. Mit dem Zeigefinger winkte sie den benommenen liebeskranken Sinith zu sich. „Komm, sing ein Lied mit mir.“

Seele, Seele klein und rein …

Bald wirst du meine sein …

Abendrot und Morgenrot …

Die zusammen, dann bist du tot …

„Was ist das denn für ein Lied“, fragte er lachend. „Da gibt es doch schönere, oder?“

„Sing, mein kleiner Freund, und fühle die Welle, die deine Seele umgibt …“ Sie lachte und lachte.

Sinith war der Überzeugung, dass das alles einen spaßigen Charakter hatte und setzte an: „Seele, Seele klein und rein …“ Er stockte im Vers, als er sie nicht mehr sah. „Wo bist du?“ Er guckte in alle Richtungen und stolperte und stürzte über Baumstümpfe und herausstehende Wurzeln. Irritiert rief er nach ihr. „Sag was. Wo hast du dich versteckt?“ Der kleine Mann wirkte verschüchtert. Versteck spielen, das war nicht seine Leidenschaft.

„Hier bin ich. Und warte auf dein Lied“, kam die Stimme rechts von ihm. Als er im Sprung diesen Weg nehmen wollte, kam die Stimme von links. Er wendete und lief auf die andere Seite, dann erschallte die Stimme von vorne. „Hier bin ich.“ Und fast gleichzeitig hörte er sie von hinten. „Oder auch hier.“ Sekunden danach sagte sie: „Vielleicht bin ich aber auch hier.“

Orientierungslos drehte er sich auf der Stelle. Der dunkle Wald wirbelte mit hoher Geschwindigkeit um den kleinen Zwerg herum. In diesem unbändigen Karussell seiner Sinne erschien eine alte grässliche Fratze, die nach ihm greifen wollte und ihn drohend aufforderte, dazubleiben. Doch das Karussell drehte sich und wurde immer schneller …

Sinith wurde speiübel. Jemand rüttelte und schüttelte an ihm und schrie hysterisch seinen Namen. Als Sinith seine Augen aufschlug, übergab er sich in hohem Bogen.

Total verschwitzt und mit Todesangst in den Augen ließ sich Brokk völlig erschöpft in den Sand fallen. „Gott sei Dank, da bist du ja wieder. Diesmal dachte ich wirklich, dass ich dich für alle Zeit verloren habe!“

Keuchend und mit seinem rebellierenden Magen ringend sagte Sinith schwach: „Brokk, du täuschst dich, nicht ich war weg, sondern mein anderes Ich … Und durch das geraten wir immer mehr in Gefahr!“

Brokk verstand nicht ganz, was Sinith ihm damit sagen wollte. Verblüfft hakte er nach: „Wie? Dein ‚Ich‘ im Unterbewusstsein? Wie kommst du auf diese Idee?“

Noch berauscht und benommen von dem liebreizenden Singsang wurde es nun Zeit, seinen Kameraden aufzuklären. Zaghaft und kaum verständlich sagte er mit leiser belegter Stimme: „Mein anderes Ich hat sich in die Hexe verliebt. Ich kann mich nicht dagegen wehren. Es sagt mir, was sie will, und fordert mich dazu auf, so zu handeln, wie sie es will!“

Entsetzt hörte Brokk den Worten seines Freundes zu und konnte sie dennoch nicht glauben. Ihm war schon klar, dass das alles unfassbar erschien, aber nicht unmöglich. Die Hexe nutzte tatsächlich alle Möglichkeiten aus. Sie hatte wirklich nichts, aber auch gar nichts ausgelassen, um an Siniths Seele zu kommen und das zu hören, was sie unbedingt hören will. Ihren schändlichen Namen!

Schlagartig wurde ihm bewusst, dass Sinith auf keinen Fall mehr schlafen durfte. Nur so konnte er der Hexe den Zugang zu seinem Unterbewusstsein vereiteln.

Nympfjet behielt währenddessen die kleine Familie Lindner immer im Auge. So ungezwungen einfach Tor und Tür offen stehen zu lassen, das sollte die nächste Zeit tabu sein. Fedora-Astarte hatte ihre Spione ausgesandt, um in das Haus zu gelangen. Gott sei Dank legte Nympfjet schon vorher den magischen Zauber ums Haus und verhinderte somit Schlimmeres.

Durch den Tod zweier Hexen, die sich ins Haus schleichen wollten, wird nun Fedoras Fokus auf dem Haus von Lisa und ihrer Familie liegen. Die Oberhexe wird die ganze Hölle in Bewegung setzen, um an das magische Schwert zu kommen. Der Tod der Hexen am Haus wird ihr nun bestätigt haben, dass sich das Schwert hier im Haus bei Familie Lindner befindet. Und mit dem Schwert die Herrscherin!

Aus diesem Grund bewegte sich Nympfjet nun häufiger zwischen den dreien im Haus und trieb besonders gerne mit Lisas Tochter zwischendurch ihren Schabernack. Nympfjet fand an diesen kleinen Spielchen großes Vergnügen. Es bereitete ihr wahre Freude, der Tochter des Hauses einige erzieherische Maßregeln und Tischmanieren zu lehren. Und mit einer kleinen Prise Magie ist manches einfacher. Wenn es nach der kleinen Hexe ginge, dann wäre durchaus eine strengere Hand von Vorteil, da Maxima noch eine Spur lebendiger ist wie Lisa damals in dem Alter. Verschiedene Regeln haben auch ihrer Mutter nicht geschadet, sondern haben sie nur gestärkt und weise gemacht.

Nympfjet stand mit einem Lächeln in der Küchentür und beobachtete Maxima genau. Das Mädchen war allein, und Nympfjet vertrat die Meinung, dass ihr zum Frühstück etwas Gesellschaft guttun würde. Die kleine Hexe setzte sich, natürlich unsichtbar, mit an den Frühstückstisch, an dem Maxima den Unterrichtsstoff für die nächsten Stunden konzentriert durchging.

Mit dem Buch vor der Nase schleppte sie Müsli, ein Schälchen und ihre Milch an den Tisch. Leise lesend ging sie an den Schrank zurück und griff, ohne hinzusehen, nach der Zuckerdose und holte sich einen Löffel aus der Schublade. Nur mit Buchstaben vor den Augen ging sie zurück an den Tisch, um zu frühstücken. Maxima führte wie jeden Morgen die Handgriffe schon fast wie im Schlaf aus. Es war ein Ritual geworden, alles passte. Sie nahm ihre Müslitüte und schüttete nach Gefühl etwas in ihre Schale. Danach die Milchtüte. Sie goss die weiße Flüssigkeit in die Schale über das Müsli, dachte sie zumindest bis zu diesem Zeitpunkt. Denn ein Plätschern ließ sie dann doch endlich von ihrem Buch aufschauen.

„Oh nein. Wie kann das denn sein?“ Die Milch, die sie großzügig in die Schale gießen wollte, lief nun über die ganze Tischplatte und tropfte an verschiedenen Stellen auf den Fußboden. „So ein Mist.“ Sie vergewisserte sich noch einmal genau, ob sie wirklich allein in der Küche war. Es befand sich jedoch niemand mit ihr in der Küche, der ihr einen Streich hätte spielen können. Mürrisch nahm sie ein Küchentuch, um das Malheur zu beseitigen, als ihr Blick wieder auf den Tisch fiel, den sie widerwillig säuberte: Ihre Müslischale stand nicht mehr dort. Sie richtete sich auf und glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Verwundert sah sie, wie ihre Müslischale vom Tisch wieder zurück auf die Arbeitsplatte wanderte. „Bin ich über Nacht alt und senil geworden? Ich glaub’s ja nicht. Ich weiß doch ganz genau, dass ich alles auf den Tisch gestellt habe!“ Sie stemmte ihre Fäuste in die Hüften und ärgerte sich maßlos über sich selbst.

Nympfjet stellte sich knapp hinter das Mädchen und flüsterte: „Ein weiser Mann namens Johann Wolfgang von Goethe sagte einst: Wer sich den Gesetzen nicht fügen will, muss die Gegend verlassen, wo sie gelten!“

Maxima fasste sich an den Kopf und stöhnte. „Ich glaube, ich werde krank. Ich muss wieder ins Bett.“

„Nein, krank wirst du nicht. Es ist nur, essen und lesen verbindet man nicht. Der weise Goethe sagte nämlich auch: Es ist ein großer Unterschied, ob ich lese zum Genuss und Belebung oder zur Erkenntnis und Belehrung. Vor lehrreichen Worten sollte man mehr Respekt zeigen!“

Maxima wandte sich auf dem Absatz um und lief schreiend aus der von Geistern befallenen Küche. Sie stürzte, als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her, die Treppe zu ihrem Zimmer hoch. Wie ein Wirbelwind warf sie mit einem lauten Knall die Tür ins Schloss und versteckte sich unter ihrer schützenden Bettdecke.

Lisa wurde aufgeschreckt und rannte verwundert ihrer Tochter nach. „Was ist Mia? Stehen deine Haare wieder ab?“

„Nein, Mama. Viel schlimmer. Heute höre ich eine Stimme…!“, schrie sie panisch unter ihrer Bettdecke hervor, unter der sie dann auch den halben Tag verbrachte.

Fedora-Astarte orderte ihre engsten Schattenweiber wieder mal auf die Spitze des Wurmberges. Es war Mitternacht. Der Vollmond stand dicht am Berg und beleuchtete den Hexen ihren Flug über die Baumspitzen. Die Hexen, bis auf Isis, waren entzückt, als sie die festliche Wärme auf dem Berg erblickten. Es roch stark nach Schwefel, und dämonische Zigeuner, die der Satan aus der Hölle zur Unterhaltung mitbrachte, spielten auf ihren verhexten Violinen und tanzten um das baumhohe scharf züngelnde Teufelsfeuer. Die Hexen genossen den Anblick der gut gebauten Männer von oben und kreisten, bevor sie landeten, mehrmals über dem Platz.

Isis sonderte sich unauffällig ab und versteckte sich auf ihrem Besen in einer Baumkrone. Sie verfolgte nach Fedoras letzter Demütigung ihren eigenen Plan. Sie hatte genug von Fedoras Machtspielchen und den unerbittlichen Schmerzen, die sie ihr unter die Haut schickte. Beim letzten gemeinen Angriff von der Oberhexe sah Isis ihren eigenen kommenden Tod vor Augen. Die Teufelsmauer schrie erbärmlich nach ihr, als sie bewegungslos im Staub zu Fedoras Füßen lag. Sie konnte es schmerzhaft fühlen, dass ihr Lebenssaft versiegte und das Leben in ihr stocken ließ. Nun schwor sie sich bei ihren Hexenahnen, dass sie der Oberhexe alles heimzahlen würde. Sie soll genau dieselben Schmerzen durchleiden müssen, die sie Isis immer und immer wieder durch böse Flüche in den Körper jagte.

Still und abwartend verhielt sie sich zwischen den grünen Blättern einer Buche. Ihr Fernbleiben fiel niemandem auf. Sie lauschte den Gesprächen der anderen Hexen und wartete darauf, dass sie aus ihrem Sichtfeld verschwanden. Die Hexen aber verfolgten auf ihren Besen fliegend und schändlich grinsend, was sich auf dem Wurmberg abspielte. Isis sah aus ihrem Versteck, wie die Feuerhexe Sojana freudig krähte. Sie beugte sich von ihrem Besen leicht herunter und hielt ihre spitze Nase in den Wind.

„Der Meister ist da. Mein Blut brodelt und stößt heiß durch meinen Körper, wenn er in der Nähe ist. Man sagt nicht umsonst, er zeugte mich im Höllenfeuer!“ Sie lachte unverschämt dreckig bei dem Gedanken an ihre Mutter, die selbst in solch einem Feuer später ihr Leben ließ, erst ein Akt der Freude in lodernder Hitze, dann ein Akt des Todes in demselben. Die Feuerhexe schwelgte in einer anderen Zeit.

Doch diesmal ging es nicht um die Leidenschaft des Teufels im Feuer. Nein, jetzt kam der liebe Gott ins Spiel. Auch in seinem heiligen Namen wurde Feuer gelegt, und das mit christlicher Hand aus seinem Gotteshaus, der Kirche. Sie nutzten ihre Macht gegenseitig aus. Mal war es im Namen des Herrn aus dem Himmel, mal war es im Namen der Kirche und im Auftrag des Papstes.

Selbst Hexen wie Mirella, Sojanas Mutter, wussten, welchem Gott sie mit diesen brennenden Opfern auf den Scheiterhaufen huldigten, jedenfalls nicht dem Gott der Obrigkeiten. Das Fegefeuer der Kirche stand für ein Sinnbild, das für die Läuterung der verdammten verteufelten Seelen brennen sollte. Nur brannte dieses Feuer direkt für den Gott der Unterwelt. Der Gott des Himmels hatte damit nichts zu tun …

Sojana erfüllte es mit Stolz, dass ihre Mutter der Kirche ins Antlitz spuckte, als ihre Füße langsam anfingen, von der glühenden Hitze zu schmelzen. Sie lachte und lachte, als sie ihr andächtig das Kreuz entgegenhielten und sie somit genau in die Hölle verdammten.

„Euer Gott ist nicht hier“, schrie sie ihnen zu und stieß noch einen Fluch hervor, der bis ins heutige Jahrhundert reicht. Alle wiederkehrenden Seelen sollten dafür leiden, was sie ihr in der Öffentlichkeit antaten. Denn nicht nur sie war des Teufels, auch die sogenannten selbst berufenen Gottesmänner waren Werkzeuge für Luzifer. Ansonsten würde sie jetzt nicht auf dem Scheiterhaufen stehen und gleich brennen. Mirella wollte, dass die unkeusche und gesetzlose Lendenfrucht der besagten heiligen Männer mit ihrer Volljährigkeit dem Wahnsinn verfällt.

„Meine Nachkommen, die Kinder der Unzucht und des Teufels …“ Sie stockte und ihr suchender Blick durchforstete die versammelte Menge, in der sie auch den Mann fand, dem der Fluch galt. Dem Kardinal der Kirche von Braunschweig. Er steckte in einer roten Robe. Wie eine Hure mit Lüge und Heuchelei gekleidet und geschmückt, stand er auf einem Podest mit einer brennenden Fackel in der Hand und mit wachsendem Wahnsinn im Gesicht. Gewaltsam musste er mit ansehen, wie sie ihn und seine Erben verfluchte.

Sie griff sich an ihre blanken Brüste, als sie ihm sagte: „Die Kinder, die ich mit meinen Brüsten genährt habe, werden die andere Blutlinie, die auch aus denselben Lenden gezeugt wurde, jede Nacht durch Träume verfolgen – so lange, bis sie sich selbst nackt und in wirrem Geisteszustand vor den Toren der Kirche aufhängen. Das Zeichen des Todes wird das Zeichen des Teufels auf ihrer Brust sein!“

Unter den Schaulustigen wurde ein Raunen laut. „Sie hat ein Kind mit dem Kardinal?“ Wie eine Verrückte lachte Mirella und schürte somit das Entsetzen der Menge. Starr vor Angst, selbst der Gotteslästerung angeklagt zu werden, beendete er eiskalt das Schauspiel auf dem Marktplatz.

Sojana fühlte sich völlig in das Jahr 1484 zu ihrer Mutter zurückversetzt. Sie sah, wie ihre Mutter auf den Scheiterhaufen gebunden dastand.

Sie beobachtete auch, wie der Kardinal, der seine gierige Lust oft mit ihr befriedigte, durch ein Kopfnicken den Befehl gab, das Geäst unter der Frau anzustecken, und reichte die Fackel dem Henker weiter.

Frauen und Männer bewarfen sie mit faulem Obst und Eiern. Und andere aus der Menge munkelten hinter vorgehaltener Hand darüber, ob es sogar der Wahrheit entsprach, dass der Kardinal mit der Hexe ein Kind hatte. Es gab aber auch Männer auf dem Platz, die sich die Verbrennung ansehen mussten. Männer, die mit ihr einst Unzucht trieben, versteckten sich feige hinter ihren keifenden Frauen.

Mirella duldete das alles mit einem Lächeln. Sie hatte keine Angst zu sterben. Ihr dunkelstes Blut würde sie bis in alle Ewigkeit rächen … Sie begrüßte ihren kirchlich beschlossenen Tod durchaus. Sie verinnerlichte sogar noch die letzten Szenen um sie herum, bevor sie vor allen anderen Anwesenden als Erste in die Hölle vorgeschickt wurde.

Ihr Augenmerk galt zwei weiteren Frauen, die neben ihr den Verbrennungstod finden sollten, sie schrien und beteuerten ihre Unschuld, eine Hexe zu sein! Mirella glaubte den beiden. Sie konnte an ihnen weder eine Gotteslästerung noch irgendeine Schandtat erkennen, die den Feuertod rechtfertigte.

„Ich bin des Teufels.“ Ihre Stimme klang vom Rauch schon kratzig, als sie den Frauen noch beistand.

„Die Weiber neben mir sind unschuldig. Löscht das Feuer, wenn nicht ihr Blut an euren dreckigen Händen kleben soll!“

„Nein, die Hexen sollen brennen!“

Mirellas von schwarzem Qualm verschleierter Blick fiel auf drei fettleibige Frauen, die darüber feixten, dass die Frauen um ihr Leben kreischten, und die sie unbedingt in Flammen aufgehen sehen wollten. Schändliche Frauen, deren schlechte Beweggründe sie erkannte. Neid und tiefer Hass spielten eine große Rolle. Sie klagten die Frauen als Hexen an, dabei waren sie selber welche! Ihr wurde klar, was sich hier abspielte. Sie fand Zugang in ihre scheinheiligen Köpfe, die zuvor falsches Zeugnis über diese Frauen vor dem Kirchenrat ablegten. Sie versicherten hoch und heilig auf die Bibel, dass es sich um Frauen handelt, die mit dem Teufel im Bunde stehen, und dass sie persönlich gesehen haben, wie sie mit dem Besen geflogen sind, um sich mit dem Teufel zu treffen.

„Weil ihr heute unschuldiges Blut vergießt, werdet ihr euch selber das Leben schwer machen. Ihr könnt nicht mehr aufhören zu essen. Es gibt für euch kein Sättigungsgefühl mehr, bis ihr daran jämmerlich verrecken werdet.“

So ward es damals ausgesprochen und besiegelt mit dem schwarzen kochenden Blut ihrer Mutter. Die Flüche reichen bis in die heutige Zeit. Die unzüchtige Frucht des damaligen Kardinals nimmt sich mit dem Zeichen des Teufels immer noch in Volljährigkeit das Leben.

„Dann komm, Sojana. Begrüßen wir deinen Vater und unseren Meister!“ Die Hexe wurde aus dem Bild der Vergangenheit gerissen und lenkte mit den anderen ihren Besen dem Feuer aus der Hölle entgegen.

Kaum hatten sie den sandigen Boden vom Wurmberg betreten, verwandelten sich die hässlichen Schattenweiber in pure Schönheiten. Luzifer liebte die menschliche Fassade der Frauen bei den Vermählungen. Er begehrte die anmutigen, schlanken und anschmiegsamen Körper. Doch wo sie auch hinschauten, der Meister war nirgends zu sehen, und bevor bei ihnen Langeweile auftreten konnte, nutzten die Hexen die Musik der Zigeuner, um ihnen den Verstand zu rauben. Sie tanzten grazil um das Feuer, sie lockten, wie nur ein böses Weib locken konnte. Ihr aufforderndes Lachen dazu klang kindisch und unvernünftig. Es dauerte nicht lang und die Violinen spielten allein und die Zigeuner befanden sich im Bann der Hexen. Sie sangen wie Meeres-Nymphen, die dabei waren, Schiffe ins Unendliche verschwinden zu lassen. Sie forderten mit rhythmisch lockenden Bewegungen die Männer aus der Unterwelt heraus. Stimmungsvoll und raffiniert köderten sie die diabolischen Zigeuner mit ihren vollen roten Lippen und funkelnden Augen zu sich heran. Die tanzenden Frauen stimmten gemeinsam in ein uraltes Hexenlied ein:

Die Göttin der Nacht,

die deine Gier entfacht.

Musik spielt für deine Sinne,

denn du bist ohne Wille.

Sie fordert mit weiblicher Macht

deine männliche Kraft.

Glaube nicht, dass du das Spiel gewinnen kannst,

denn deine zügellose Lust nach ihrem Willen tanzt!

Das Feuer um die tanzenden Leiber wurde heißer und heißer. Es nahm den Männern die Luft zum Atmen. Sie drehten sich um die lüsternen und flüsternden Weiber. Um sie herum kreiste alles. Sie schwitzten und rissen sich die Kleider vom Leib. Allesamt tanzten nach den teuflisch spielenden Geigen. Nackt, wild und unbeherrscht und nicht mehr Herr der Sinne bewegten sie ihre aufgeheizten Körper um das lodernde gefräßige Feuer. Die Augen der Männer hafteten willenlos an den bildschönen nackten Silhouetten, die im rötlichen Schein des Feuers unwiderstehlich waren! Kalt lächelnd wandten die Hexen ihre Taktik an. Im Schatten des Feuers wurden in dieser Nacht neue böse Blutlinien der Hexen gezeugt …

Fedora-Astarte vom Wurmberg beobachtete das wollüstige Treiben der Schattenweiber hinter dem Fenster ihrer Schlafstelle. Mit bösen, feurig leuchtenden Augen gesellte sie sich, nachdem alles mehr als perfekt nach ihrem Plan verlief, wieder zu dem erschöpften Satan unter ihr weiches Bettfell und flüsterte: „Mox exaudivit me et vos, in silvis.“ Die Oberhexe war sich so sicher, dass in naher Zukunft die Wälder des Harzes von ihren eigenen und des Teufels Händen mit schierer Boshaftigkeit beherrscht werden. Dazu benötigte sie nur noch das magische Schwert der Weisheit …

Siniths Augenränder wurden immer schwärzer und schwärzer. Seit einer Woche schlief er nur noch in Etappen und nie länger als eine halbe Stunde, dann musste ihn Brokk wieder wach machen. Es ging enorm an seine Kräfte. Hinzu kam noch, dass ihr Zwergenbrot, die Maize, völlig aufgebraucht war. Sie konnten im Wald zwar jagen und an naturgegebenen Teichen Fische angeln, aber ihnen fehlte dazu das grobe Salz zum Würzen. Bei dem Angriff der Oberhexe, als alte Bäuerin verkleidet, zog Brokk das Horn der Taubheit aus der Tasche, dabei riss der Sack mit dem Salz entzwei und so konnte es den ganzen Weg lang ungehindert herausrieseln. Es war jetzt so weit, dass die Zwerge mit ihren Kräfte an ihre Grenzen stießen. Sie schleppten sich nur noch kraftlos den Berg hinauf.

„Wir haben es bald geschafft“, sagte Brokk und wollte Sinith damit Mut zusprechen. „Hinter dem Hügel dort geht es zum Klobenberg. Siehst du das?“

Mit einem zaghaften Lächeln nickte er Sinith zu, der über seine geschwächten Beine und Füße stolperte.

„Ich bin so müde, Brokk.“

„Komm, setz dich auf Mimur. Der ist stark genug. Du brauchst ihn nicht schonen.“ Brokk half Sinith auf sein Wildschwein, der sackte sofort völlig entkräftet auf dem Schwein nach vorne und fiel vom gleichmäßigen Schaukeln in einen tiefen traumlosen Schlaf.

Brokk gewährte ihm eine halbe Stunde Ruhe, mehr konnte er dem Zwerg nicht geben. Die Gefahr, dass Fedora sein Unterbewusstsein ruft, war zu groß!

Tapfer hielt Brokk die Schweine an den Leinen und führte sie die letzten Kilometer den Berg hoch, das Ziel vor den Augen. Sie hatten den Hexenstieg überwunden. Jetzt galt es nur noch, die Nordseite des Hexenberges zu überwinden, das bedeutete für die Zwerge eine Tagesreise. Doch dann standen sie am Fuße des Klobenberges, der Herrscherin schon ganz nah.

Brokk zählte seine Schritte, um wach zu bleiben und sich zu beschäftigen. Sein Magen schmerzte vor Hunger und sein Körper forderte das lebensnotwendige Salz. Die sonst rosigen Wangen der Zwerge änderten sich – es entstanden Risse und Hautablösungen. An vielen Stellen der Körper bildeten sich Flecke mit einhergehendem starken Juckreiz. Die Zwerge machten einen jämmerlichen Eindruck.

Das tat aber ihrem Mut und ihrer Tapferkeit keinen Abbruch! Diese beiden kleinen Wichte waren mehr als treu und loyal.

Brokk hatte genug vom Zählen, seine Augen streiften auf einmal ein nicht weit entferntes Buschdickicht. Sein Herz polterte und überschlug sich beinahe, als er erkannte, wer sich in diesen wild gewachsenen Ästen versteckte.

„Heexeenn. Es sind Hexen hier!“, schrie er und riss den schlafenden Sinith von Mimur runter, warf das Netz über ihn und griff nach dem Horn der Taubheit und blies wie von Sinnen hinein. Das alles geschah in Windeseile. Sofort ertönte ein pfeifendes schrilles Schreien und Quietschen aus dem Horn. Jede Hexe, die sich in unmittelbarer Nähe befand, wurde von den mörderischen Tönen in die Knie gezwungen. Denn den Ton des Horns konnten Hexen nicht ertragen. Der Laut war ein Fluch für ihre Ohren.

Die Hexe krümmte sich und verhakte sich in den Büschen. Sie versuchte noch zu flüchten, aber wohin. Das Horn der Taubheit nahm ihr jegliche Orientierung. Sie stürzte, stolperte und fiel über herausstehende Wurzeln. Mit letzter Kraft und mit einem vor Schmerz verzerrten Gesicht versuchte sie krampfhaft ihre Ohren mit den Händen zu schützen. Doch vergebens.

Brokk sah schon, dass Blut zwischen ihren Fingern lief. Die Hexe irrte noch Sekunden desorientiert umher, ehe sie wie ein gefällter Baum umfiel und wie tot liegen blieb.

Mit wild pochendem Herzen starrte Brokk ungläubig auf die bewegungslose Hexe. Das ging jetzt schnell. Irgendetwas passte nicht. Brokk fragte sich allen Ernstes, ob er übereifrig gehandelte hatte. Denn so im Nachhinein schien es schon verwunderlich, warum er die hockende Hexe mehr überraschen konnte als sie ihn!? War es ihre geduckte Haltung, die nicht entdeckt werden sollte, die ihn jetzt zweifeln ließ? Es sah eher so aus, dass sich die Hexe versteckt hatte, um nicht jemand anderem aufzufallen. Sie befand sich nicht in einer Angriffsposition und wirkte nicht wie eine wilde Furie, die sich auf die Zwerge stürzen wollte, um diese zu töten! Umso mehr er darüber nachdachte, kam er zu dem Entschluss, dass sie tatsächlich auf die Zwerge im Gebüsch gewartet haben muss.

„Puh, was war das denn gerade?“ Noch völlig aus der Puste ließ sich Brokk auf seine Knie fallen.

„Was machen wir jetzt mit ihr?“

Völlig unsichtbar für Brokk hörte er Siniths Stimme schwach und dünn unter dem Netz hervor: „Die hat sich nicht mal gewehrt.“

„Nein, das hat sie nicht. Obwohl sie mehr als genug Zeit besaß.“

Die Zwerge wirkten ratlos. Sollten sie die Hexe liegen lassen und ganz schnell das Weite suchen? Oder sollten sie herausfinden, was die noch bewusstlose Hexe von ihnen wollte.

„Komm, wir fesseln sie schnell an einem der Bäume, solange das Schattenweib nicht ansprechbar ist.“

Sinith und Brokk, die selber mehr als erschöpft waren, rollten und zerrten die Hexe zu einem Baum, legten die Arme nach hinten und banden sie fest. Denn eine Hexe braucht zum Zaubern ihre Hände, so vermuteten die Zwerge. Auch ihre Augen bedeckten sie mit einem Tuch, damit diese den Zwergen nicht schaden konnten.

Etwas abseits von dem Baum, an dem die Hexe lehnte, machten Sinith und Brokk ein Feuer und ließen die Hexe nicht eine Sekunde aus den Augen.

Als sie so abwartend auf die Hexe blickten, wurden sie kurzfristig von einem knurrenden Magen abgelenkt.

„Ich habe Hunger“, jammerte Sinith qualvoll und hielt sich den schmerzenden Bauch. Mir ist auch kalt. Irgendwie fühle ich mich nicht wohl, Brokk.“

Vorsichtig legte er seine Hand auf die schwitzende Stirn seines Freundes. Das Fieber kam ohne Ankündigung.

Um sich nichts anmerken zu lassen, steckte er einen gejagten Hasen über einen spitzen Ast, der allmählich über dem Feuer gegrillt wurde. Das langsam bratende Fleisch verströmte ein köstliches Aroma.

Und unter anderen Umständen wäre den Zwergen sicherlich das Wasser im Mund zusammengelaufen. Obwohl sie auch mehr als Hunger hatten, verspeisten sie später eher appetitlos das zarte Fleisch. Denn ohne die schmackhafte Würze des groben Salzes schmeckte alles fad und eintönig und es fehlte ihrer Gesundheit.

„Komm, iss bitte noch ein bisschen, Sinith. Wir haben morgen noch ein gutes Stück Weg vor uns. Du brauchst die Kraft.“ Brokk nahm von seinem Teller etwas Fleisch und hielt es Sinith vor seinen zusammengepressten Mund.

Sinith schüttelte sich. „Ich kann nicht essen. Mir ist nicht gut.“ Der Zwerg drehte seinen Kopf zur Seite und schloss die Augen.

Immer wieder warf Brokk ein Auge auf die Hexe, es war auch mehr als riskant, was sich die beiden da ausgedacht hatten.

Der Zwerg beäugte genauestens das schlafende Schattenweib. Leise stellte er seinen Teller auf einem großen Stein ab und ging neugierig auf sie zu, als er das große Amulett an ihrem Hals bemerkte. Nicht unbedingt zögerlich schritt er auf sie zu. Der Anhänger war ein schwarzes Pentagramm. Die Spitze zeigte nach unten. Das bedeutete ganz sicher, dass das Symbol für den gehörnten Gott steht. Denn Brokk wusste aus alten Überlieferungen, dass der Satan Hörner trägt. In der Mitte des gezackten Amuletts sah er den Kopf eines Ziegenbocks. Was eindeutig auf die schwarze und hässliche Seele der Hexe hinwies.

Es war das dunkle Merkmal und das unverkennbare Zeichen einer Braut Luzifers, was nichtssagend auf der Brust von der Hexe ruhte!

Nun doch verunsichert, ging der Zwerg einige Schritte rückwärts und hoffte, dass das Weib endlich aufwacht.

Brokk setzte sich wieder ans Feuer und behielt die Hexe weiter im Auge. Er wartete geduldig auf eine Regung der noch bewusstlosen Hexe und schaute ab und zu hinüber zum fest schlafenden Sinith, der sich von der Hitze des Fiebers hin und her warf. Die Anstrengung, auf alles zu achten, und der wenige Schlaf der letzten Tage ließen ihn selbst in einen Schlummer fallen.

Die Hexe brauchte Stunden, um wieder zu sich zu kommen! Mit leichtem und leisem Stöhnen machte sie irgendwann mal auf sich aufmerksam und ließ Brokk verschlafen hochschrecken.

„Kann ich einen Schluck Wasser haben?“, fragte sie zaghaft und kränklich.

Sinith hob schwerfällig seinen Kopf, als er die Stimme der Hexe vernahm. Die Blicke der Zwerge kreuzten sich. Sollten sie oder sollten sie nicht?

„Ich bin nicht gekommen, um euch zu schaden. Gebt mir Wasser, meine Kehle schmerzt vor Trockenheit.“

Noch unschlüssig wandte sich Brokk Sinith zu. Sinith nickte in Richtung seiner Feldflasche und erlaubte Brokk, die Hexe von seinem Wasser trinken zu lassen.

Mit großem Abstand warf er der Hexe die Flasche in den Schoß.

„Was seid ihr für dumme Zwerge! Kann mir einer von euch erklären, wie ich ohne meine Hände etwas trinken kann?“

Das mussten die beiden einsehen. Brokk ging auf die Hexe zu und nahm vorsichtig die Flasche wieder in die Hand, drehte die Kappe ab und ließ die Hexe daraus gierig trinken.

„Was willst du von uns? Wieso hast du auf uns gelauert?“

„Ach, ich habe nicht gelauert, ihr törichten Zwerge“, sagte die Hexe in irgendeine Richtung, in der sie die Zwerge vermutete.

„Ganz im Gegenteil: Ich möchte euch ein Geschäft vorschlagen!“

„Mit Hexen macht man keine Geschäfte. Das brauchst du gar nicht erst versuchen.“

Brüskiert über diese bodenlose Dreistigkeit, die Zwerge dermaßen hinterhältig aus ihrer Reserve zu kitzeln, griff Brokk erneut zum Horn, um der Hexe endgültig das Leben zu nehmen.

„Genau, wir sind zwar klein, aber nicht dumm!“ Sinith trat der Hexe inzwischen zwar mit schlotternden Beinen entgegen, jedoch mit bedrohlich geballten Fäusten.

„Ich weiß nur zu gut, dass ihr meine Hilfe braucht! Ich glaube auch zu wissen, dass ihr auf dem Weg seid, um die Klobenberg-Herrscherin um Unterstützung zu bitten. Der Zyklopenkönig Sordolax hat euch geschickt, nicht wahr?“

Wieder sahen sich die Zwerge erstaunt an. Hexen sind wirklich Wesen, mit denen man sich nicht einlassen sollte. Sie wissen alles und können dadurch gekonnt alle Pläne vereiteln.

„Wenn du das glaubst, dann denke nur weiter daran! Aber wir wollen ganz woanders hin.“

Brokk war froh, dass die Hexe seine Unsicherheit nicht sehen konnte. Er hoffte, mit fester und bestimmter Stimme zu sprechen, damit sie keinen Verdacht schöpfte, wie es wirklich in ihm aussah. Aber seine Hoffnung ging nicht auf.

„Ihr habt vergessen, mit wem ihr es zu tun habt. Fedora weiß über alles Bescheid. Der Krieg über dem Zyklopenwald nimmt gerade seinen Höhepunkt. Es werden alle einäugigen Riesen vernichtet sein, wenn ihr nicht schnell die Herrscherin findet und sie aufklärt. Und nicht nur das. Ihre Freunde, ihre Menschenfreunde, sind auch in ganz großer Gefahr …“

Die Zwerge schluckten schwer. Von Menschenfreunden wussten sie nichts. Aber dass der Zyklopenwald in Gefahr ist und der alte König unbedingt Beistand braucht, das war ihnen nichts Neues. Darum hatte man sie ja wirklich ausgesandt. Brokk ging näher an die Hexe heran.

„Ich weiß, wer du bist. Ich habe dein Gesicht gesehen, als dich die böse Fedora vom Besen holte und in den Sand stieß …!“ Brokk erinnerte sich an jedes noch so kleine Detail an diesem Tag. Unter dem Tarnnetz konnte er alles sehen. Auch die Abneigung, die diese Hexe vor ihnen am Baum erkennen ließ, hatte er nicht vergessen. Grenzenlose Wut und zügelloser Hass gegen die Oberhexe spiegelten sich in ihrem verzerrten Gesicht und in ihren Augen wider. Diesen verbissenen Ausdruck um ihre Mundwinkel und das waghalsige und bissige Leuchten der schwarzen Pupillen hat der Zwerg verinnerlicht. Noch nie in seinem Leben sah er so ein Feuer der Besessenheit, jemanden zu töten. Es loderte nicht nur, sondern es brannte im Herzen der Hexe, und wurde geschürt und gefüttert …

„Du kommst als Verräterin aus deinen eigenen Reihen, warum sollten wir einer falschen Schlange glauben?“

„Mein Name ist Isis. Isis die Schattenhafte. Ihr solltet mir vertrauen, auch wenn es für mich mehr zum Eigennutz ist. Fedora-Astarte vom Wurmberg ist dabei, schwarzes Blut zu züchten und Armeen von Hexen aufzustellen.

Und die Krönung der Macht wird das magische Schwert in ihren Händen sein …!“

Die Hexe lauschte dem schweren Atmen der kleinen Wichtel. Totenstille herrschte um das Feuer. Nicht einmal ein eifriger Käfer traute sich gerade durch das Laub auf dem Boden zu krabbeln. Die Hexe seufzte: „Sie weiß, wo das Schwert ist. Ihr braucht meine Hilfe, so oder so.“

Verunsichert zupfte sich Brokk an seinem langen dunklen Bart, der von einer einzigen weißen Strähne durchzogen wurde. Sinith saß schon wieder zusammengesackt und kraftlos am Feuer und wurde vom aufsteigenden Schüttelfrost stark gebeutelt.

Was sollte er jetzt machen? Der Hexe Glauben schenken und Siniths Leben sowie seines riskieren? Unter Umständen würden sie vielleicht an Mangelerscheinungen sterben, bevor sie überhaupt den Klobenberg erreichen? Unsicher sah er noch einmal zu Sinith rüber. Wenn sein bester Freund nun auch noch mit dem Fieber zu kämpfen hatte, wird es noch unmöglicher sein, den Weg zum Klobenberg zu schaffen.

„Kannst du uns eine Sicherheit geben, dass du uns nicht tötest und wirklich zur Herrscherin bringst?“

„Die Sicherheit liegt in eurem Vertrauen. Eine andere kann ich nicht geben!“

Was hatte er nun für eine Wahl? Wenn er wählen könnte, von welcher Hand wäre es ihm lieber zu sterben? Der von Isis oder der von Fedora?

„Mach dir keine Gedanken über das Sterben, Zwerg“, sagte Isis. „Dein Freund erliegt bald dem Fieberwahn und Fedora hat leichtes Spiel. So töricht kann man doch nicht sein? Binde mich los.“

Warum überraschte ihn das jetzt nicht, dass Isis die Schattenhafte auch noch seine Gedanken hören konnte? Zielsicher ging er auf die Hexe zu und löste mit einem scharfen Dolch die Seile, die die Hexe am Baum festhielten, ob es jetzt gut oder schlecht war, darüber wollte er jetzt nicht mehr nachdenken!

„Mama? Mammmaaa!“ Maxima lag in ihrem Zimmer auf dem Fußboden und malte mit den Fingern die kleine Hexe im Fenster nach.

Es hat Tage gedauert, bis sie sich von ihren sogenannten eingebildeten Hirngespinsten wieder beruhigt hatte.

Nur Lisa ließ das alles keine rechte Ruhe. Ihr Bauchgefühl sagte ihr jeden Tag mehr, dass hier irgendetwas nicht stimmte und dass noch etwas weitaus Schlimmeres auf sie zukommen wird. Nur was! Das konnte sie sich trotz ihres ausgeprägten Alarmsignals nicht beantworten.

„Mama. Hörst du mich nicht? Ich habe schon ein paarmal gerufen!“ Entrüstet stand Maxima hinter Lisa im Kleiderschrank, die in Gedanken versunken die Wäsche sortierte. „Hm doch, ich höre!“

„Wer’s glaubt.“ Genervt drehte sich Maxima um und legte sich wieder vors Fenster. „Wir kriegen neue Nachbarn.“

Lisa horchte auf. Sollte tatsächlich jemand sein Herz an das alte und baufällige Haus verloren haben? Neugierig legte sie sich neben ihre Tochter auf den Boden und blickte über die alte Eiche auf das Nachbargrundstück. Weibliche Möbelpacker räumten mehr als schnell die Möbel aus dem vorgefahrenen Lastwagen. Es wirkte so unnatürlich.

Lisa und ihre Tochter wunderten sich, wo die vielen Frauen herkamen, die wie Bodybuilder Schränke und schwere Kommoden wie flinke Ameisen ins Haus schafften.

„Na, die legen ja ein Tempo vor“, grinste Maxima.

„Ja, das ist unbegreiflich. Guck mal, jetzt tragen die zu zweit einen Flügel. Das glaube ich doch nicht. Das können wahrscheinlich nur Sportlerinnen sein, oder was meinst du?“

Maxima brummte sich was in den Bart, was Lisa nicht verstand.

„Was hast du gesagt?“

„Ich sagte, dass ich nicht ganz verstehe, wo die in dieser Hütte die Möbel überall unterbringen wollen. Warst du da schon mal heimlich drin?“ Maxima flüsterte im Nu verschwörerisch.

„Nein. Wieso auch. Das ist ein fremdes Grundstück.“

Mit warnendem und forschem Blick sah sie ihre Tochter von der Seite an.

Die nickte sogleich und sagte: „Ich schon, Mama. Und wenn ich dir jetzt sage, dass die Fußböden in den Zimmern nicht mehr dazu geeignet sind, schwere sperrige Möbel darauf zu stellen, kannst du mir das glauben!“

„Du meinst, die können nicht, ohne lebensmüde zu sein, in diesem Haus wohnen?“

„Richtig. In den Bretterböden sind solche Löcher.“ Maxima weitete ihre Arme ganz aus, um ihrer Mutter den desolaten Zustand zu veranschaulichen.

„Ich konnte von ganz unten nach ganz oben durchsehen und in den Türrahmen und Türen die fetten Holzwürmer beißen hören.“

„Da passt doch was nicht!“, wisperte Lisa nun auch kaum hörbar. Schweigend lagen sie nebeneinander und begutachteten das Ein und Aus im Nachbarhaus.

„Mama.“

„Hm.“

„Weißt du, was ich noch komischer finde?“

„Nee, was denn?“

„Zähl mal die schwarzen Katzen, die ums Haus schleichen …!“

„Eins, zwei, drei … sechs. Dreizehn …! Habe ich mich verzählt oder alles doppelt und dreifach gezählt?“

„Nein, ich habe auch dreizehn.“ Mit einer aufsteigenden kribbeligen Gänsehaut lagen die beiden Spione mucksmäuschenstill nebeneinander und beobachteten weiter gespannt die ungewöhnlichen Frauen.

„Die sind ja eigenartig drauf!“, flüsterte Mia, die dicht an der Fensterscheibe klebte. Ihr Atem vernebelte das Fenster und versperrte ihr nun leicht die Sicht.

„Ja, aber bildschön.“ Lisa sah fasziniert den Frauen nach. „Die haben nicht einen Makel und guck dir mal die langen Haare an. Die sind doch ein Traum!“

„Hm. Vielleicht sind das Ausländer und kommen aus dem Orient. Die haben doch immer lange Haare.“

Als die beiden sich noch wunderten, sahen sie, wie Lisas Mann mit dem Auto ankam und nicht wie gewohnt zuerst ins Haus kam, sondern schnurstracks auf die neuen Bewohner zuging, um sie freudig zu begrüßen.

Eine schlanke, grazile Frau mit leuchtenden rotbraunen Haaren, die weit bis über die Hüften fielen, schritt wie eine Katze auf Herrn Lindner zu. Sie reichte ihm auch fast so samtweich ihre Hand entgegen. Die beiden plauderten beherzt und lachten unbekümmert.

Lisa versetzte das unkomplizierte und offene Verhalten ihres Mannes einen kleinen Stich ins Herz. Sie hatte ihn noch nie so im Gespräch mit einer anderen Frau gesehen. „Der flirtet.“ Brüskiert ließ Lisa die beiden nicht aus den Augen. Nach einigen Minuten gaben sie sich wieder die Hände. Und Lisa und Maxima hörten, wie er säuselte: „Ja dann. Man sieht sich!“, und sich fast vom Straßenpflaster lösend nach Hause ging.

In Lisa brodelte die Eifersucht. „Was bildet sich der Spinner denn ein? Der tut ja gerade so …!“

Lisa schimpfte diesen Satz nicht mehr zu Ende, denn in diesem Moment sah die Frau zu ihnen hoch. Lisa erstarrte. Mit feuerroten Augen wie Laserstrahlen suchte die Frau die Stelle ab, an der Lisa und ihre Tochter kauerten. Die beiden Beobachter verstummten sofort und machten sich blitzschnell vom Fenster weg.

„Ach du Kacke“, platzte Mia erschrocken hervor. „Was war das denn gerade?“ Starr vor Schreck und mit totenblassem Gesicht trauten sich die beiden nicht, sich zu bewegen.

„Kneif mich mal, Mia!“

„Nee, brauch ich nicht. Ich habe das auch gesehen.“ Nach einigen Sekunden schaute Mia noch einmal nach und riskierte mutig einen Blick auf die Straße. Sie brauchte ihren Blick nicht lange schweifen lassen.

Die Frau dirigierte die anderen gerade befehlend ins Haus. Dabei sah Mia, wie die Frau mit den blitzenden Augen erbost einer der schwarzen Katze einen Tritt verpasste, die mit kreischendem Katzengejammer im hohen Bogen über die Hecke flog und wie ein Wiesel davoneilte.

Mia streifte ein feiner Hauch Lavendel und sie hörte die Stimme wieder, die sie seit einiger Zeit ständig im Ohr hatte. Der Duft von Lavendel beruhigte Mia, bevor sie sich erschrecken konnte. Denn die Stimme kam immer unverhofft.

Mit einer entzückenden jungen Stimme sagte sie: „Johann Wolfgang von Goethe schrieb einmal einen Hinweis zur Achtung gegenüber Grausamkeiten an Tieren: Wer Tiere quält, ist unbeseelt und Gottes guter Geist ihm fehlt, mag noch so vornehm drein er schauen, man sollte niemals ihm vertrauen. Sei weise und achte auf die Kleinigkeiten, Maxima! Man kann anhand des gut gemeinten Rates Gutes von Bösem unterscheiden.“

Maxima sah ihre Mutter ungläubig an, die nervös an ihren Nägeln kaute und vor sich hin zitterte.

„Nee, nee, nee. Das geschieht alles nicht gerade wirklich, oder?“ Mia fragte sich völlig verunsichert noch vieles mehr. Konnte sie jetzt die Wirklichkeit von Tagträumen nicht mehr unterscheiden, oder was? Von der Stimme in ihrem Kopf wollte sie jetzt nicht unbedingt auch noch anfangen. Drehte sie eventuell Schritt für Schritt durch? Sie fragte sich nur, welcher Stressfaktor der Auslöser für erlebte Halluzinationen sein kann.

Und warum ihre Mutter in diesen Visionen mitwirkte, verstand sie erst recht nicht und bedarf noch einer Klärung.

Das Flüstern in ihrem Kopf, das die letzte Zeit öfter mal erscheint, hat sie allerdings schon irgendwie akzeptiert. Mit der Stimme kommt auch immer ein Geruch von blühendem Lavendel. Dafür hat sie allerdings für sich noch eine plausible Erklärung gefunden. Denn seitdem sie überhaupt denken kann, blühten Jahr für Jahr Unmengen an Lavendelsträuchern um das ganze Haus, die ihren Wildwuchs jedes Jahr erweiterten. Es könnte durchaus möglich sein, dass der Wind eine Prise ins Haus und somit unter ihre Nase wedelte.

Oh je. Was war aber mit der Stimme, die ihr unentwegt Weisheiten, ausgerechnet von Goethe, auftischte! Diese Frage konnte sich Mia nicht beantworten.

Aber all das musste einen Zusammenhang haben. Die komischen Frauen, die Stimme, ihre abstehenden Haare im Badezimmer und die vielen Katzen, um nur einige außergewöhnliche Geschehnisse zu nennen.

Was passierte hier? Wenn es sich um keine Krankheitserscheinungen handelte, was dann? Hatte ihre Mama die ganze Zeit recht, wenn sie von Hexen und Harzwesen sprach und sie davor warnte?

Maxima war mit dem, was sie glauben sollte, noch unentschlossen. In ihrem kleinen Köpfchen ratterte es wie eine dampfende Lokomotive. Um nun überhaupt etwas zu sagen, lenkte sie ihr Augenmerk auf das Geschehen von nebenan. Denn die liebevolle Stimme und die Sprüche von Goethe stellten für Mia keine Gefahr dar.

„Mama. Eine schwarze Katze ist ja schon ein Unglücksbotschafter. Was sind denn dann dreizehn Katzen? Und was ist eine Frau, die Laserstrahlen als Augen hat? Und was sind das überhaupt für Menschen, die in ein Haus ziehen, was der nächste Sturm dem Erdboden gleichmachen würde?“

Lisa nahm ratlos ihren eigenen schmerzenden Kopf in die Hände und zog sich dabei unsinnig an den Haaren. Es arbeitete alles in ihr hoch konzentriert und extrem feinfühlig. Ihr Bauchgefühl täuschte sie also nicht. Hier suchten andere Mächte die Nähe zu Familie Lindner. Vor nicht allzu langer Zeit stellte sie sich schon einmal die Frage, ob das alles eventuell mit ihrer Kindheit zu tun hatte. Die Frage beantwortete sich jetzt von selbst. Sie war sich ganz sicher, dass die Ursache in ihrer Kindheit lag.

In ihrem Kopf konnte sie die harten Schläge von ihrem rasenden Herzen spüren. Ihr wurde schrecklich übel und einer Ohnmacht nahe zog sie ihre Tochter zu sich in die Arme und flüsterte: „Maxima“, flehte Lisa. „Jetzt halte mich bitte, bitte nicht wieder für verrückt und schimpf nicht wieder über die Harzsagen. Aber hier stinkt vieles ganz gewaltig bis zum Himmel …!“

Lisas Tochter hielt ihre Beine eng am Körper und schaukelte unruhig hin und her. In ihren ganzen zarten zwölf Lebensjahren verschlug es ihr nicht einmal so die Sprache wie gerade eben. In ihrem Kopf arbeitete es unaufhörlich. Sie suchte nach Erklärungen, die das soeben Erlebte plausibel als Hirngespinste abtaten, versuchte aber auch auf der anderen Seite, den Geschichten ihrer Mutter Glauben zu schenken. Denn diese furchterregenden glühenden Augen waren so was von echt und real, das sieht man sonst nur mit Spezialeffekten im Fernsehen. Hier wurde aber kein Film gedreht. Nein, gerade das ließ an der Realität keinen Zweifel offen. Zum ersten Mal hatte Maxima tatsächlich Beklemmungen und das Gefühl von mehr als Unwohlsein in ihrer Brust.

„Ich glaube, ich habe jetzt gerade etwas Angst …!“

„Ich auch, Kind. Aber bevor wir nicht ganz genau wissen, wer unsere neuen Nachbarn sind und was sie hier wollen, sollten wir das alles erst einmal für uns behalten. Wir sagen Papa noch nichts davon. Der wird uns eh nicht glauben!“

Maxima nickte stumm. Noch nie war Maxima, was Gruselgeschichten anging, mit ihrer Mutter auf einem Nenner. Doch ab heute, das wussten nun beide, würde alles etwas anders verlaufen.

„Wir meinen, dass du Lisa früher oder später den Vergessenheitszauber wieder abnehmen musst.“

Frowin verteilte heißen Kräutertee in drei Kelche. Sorgenvoll macht er Nympfjet darauf aufmerksam, dass der Schutzzauber aus schwarzem Turmalinpulver nicht ausreichend ist, um Lisa und ihre Familie zu beschützen. Nympfjet hatte ein ausreichendes Energiefeld aus schwarzem Turmalin um das Wohnhaus errichtet. Markante Punkte verbanden sich mit den Elementen der Erde und der Weiblichkeit der Mutter.

Eine gute Hexe konnte die Verbindungen um das Haus sehen, die sich wie ein Spinnennetz über, unter und um das Haus legten. Eine böse Hexe, die sich zu nah am Haus befand, würde von dem starken Magiefeld wie von einem unsichtbaren Band sofort angezogen und verbrannte zu Asche. Ihr blieb keine Chance, sich wieder aus den Fäden zu befreien.

Nympfjet wiegte ihren Kopf leicht hin und her. „Nein, Frowin, der Zauber ist sehr stark. Sie kommen nicht ohne Weiteres ins Haus.“

„Dann wird Fedora einen anderen Weg finden.“

„Das hat sie schon!“ Nympfjet streckte sich im Rücken, um ihren Freunden etwas Sicherheit zu signalisieren.

Ida war über diese Neuigkeit nicht unbedingt überrascht. „Dann sind wir einem Kampf ja näher als wir dachten!“ Sie zog eine Augenbraue nach oben und sah Frowin fragend an. „Dann sollten wir uns wappnen und uns streng vorbereiten.“

Nympfjet wirkte nachdenklich und in sich gekehrt. Ihre Freunde wussten noch nicht das, was die kleine Hexe seit Tagen beobachtete. Die Oberhexe Fedora hat ein Hexennest in direkter Umgebung aufgebaut. Sojana entdeckte Lisa und Maxima beim Spionieren. Und auf den Mann des Hauses ist die Feuerhexe persönlich angesetzt worden! Für den Geschmack der kleinen Hexe viel zu viele Gelegenheiten, die die Oberhexe nutzen konnte.

Es wurde wirklich höchste Zeit, dass sich Lisa wieder an den Kampf mit der Brunnen-Walpurga vom Klobenberg erinnert. Nympfjet seufzte in sich. Gerne nahm sie den Zauberspruch nicht zurück, aber nur so konnten sie ihr helfen.

Ida saß gespannt auf ihrem Sessel und wartete auf ein Wort von Nympfjet. In der Hoffnung, dass ihre Freundin dasselbe wie alle im Raum dachte, holte sie aus: „Wir könnten ihre Hilfe gut gebrauchen! Die anderen sind mehr als in der Überzahl.“

Frowin polierte ausgiebig seinen Zauberstab auf Hochglanz und gab dem einen Befehl. „Vermis inventus.“ Vor seinen Füßen tummelten sich kleine bis mittelgroße Maden. Seinen Zauberstab anhauchend und weiter reibend, meinte er so nebenbei: „Wir sollten zügig die Hexe und ihre Schattenweiber zu Fischfutter verarbeiten.“

Ida verdrehte ihre Augen und gab gen Himmel ein Stoßgebet.

Nympfjet lächelte und wirkte überredet. „Ich finde es auch besser, dass Lisa weiß, worum es hier geht!“

Frowin holte noch einmal zum Fluch aus. „Esurientem leones.“ Und Miniaturlöwen piepsten mürrisch und liefen stolz über den Holztisch.

„Genau, wir sollten die Hexen in die Löwenarena werfen und zusehen, wie ihr böses Fleisch hungrige Mäuler stopft.“

„Hör jetzt auf mit dem Blödsinn, Frowin. Du nervst mich!“ Ida funkelte ihn säuerlich an und entwaffnete ihn blitzschnell.

Perplex von der schnellen Entwaffnung seiner Freundin verfolgte er den rasanten Flug seines in die Ecke geworfenen Zauberstabs. Es gab einen anerkennenden Pfiff von Frowin. Er gab sich mit abwehrenden Händen, geneigtem Kopf und schief grinsend augenscheinlich geschlagen und Ida somit kurz das Gefühl, ihn besiegt zu haben. Aber nur kurz und nur für einige Sekunden, dann holte er mit seinem schnellen Mundwerk aus. „Manchmal kommt doch noch die Ziege aus dir heraus, was!“ Herausfordernd spielte Frowin mit einem imaginären Ziegenbart vor seinem Kinn.

Das war nun zu viel des Guten. Blitzschnell konterte Ida mit ihrem Zauberstab. „Ore. Et deorsum in arcam.“ Schneller wie der Schall klebte ein Pflaster auf Frowins Mund und er faltete sich wie von selbst passend in eine Schachtel. Puterrot vor Aufregung setzte sie sich in ihrem Sessel zurück und sah Nympfjet unschuldig an.

Diese zuckte nur kopfschüttelnd mit ihren Schultern und fragte: „Frowin, kannst du mich hören?“ Die kleine Schachtel hüpfte auf und ab.

„Gut. Ich darf aber nichts überstürzen. Wenn ich Lisa jetzt wieder alles sehen lasse, kann es sein, dass sie einen Nervenzusammenbruch bekommt. Und das ist etwas, was wir nicht gebrauchen können.“ Ernst sah sie danach Ida ins Gesicht und sagte: „Ich muss euch was sagen. Die Katzen schleichen schon ums Haus.“

Der Pulsschlag an Idas herunterhängenden Handgelenken puckerte so stark, dass ihre Hände im Takt mitzuckten. Sie wusste nur zu gut, was Katzen bedeuten. Ihr starrer Blick auf Nympfjet schmerzte sie. Doch sie hielt eisern dem festen Blick von der kleinen Hexe stand und schwor feierlich: „Auf Leben und Tod, Nympfjet. Auf mich kannst du dich verlassen.“

Auf dem Tisch wippte die kleine Schachtel, in der Frowin noch steckte, hin und her. „Asch misch kaschte disch verlaschen“, nuschelte es durch die Pappschachtel, die wie zur Bestätigung noch munter auf dem Tisch hin- und herrollte.

Es war allen klar, was für ein grausamer und unfairer Kampf mit gnadenlosen Gegnerinnen auf sie zukommen wird. Nichts wurde von ihnen mehr infrage gestellt.

Fedora-Astarte vom Wurmberg begutachtete die Lage am Zyklopenwald. Die Hexen haben es immer noch nicht geschafft, den Wald zu betreten und lebendig wieder herauszukommen. Es gab auch keinen Hinweis darauf, wie die Hexen in diesem Wald ums Leben kamen und was ihnen geschah, bis sie qualvoll starben. Darüber existierten keine aussagekräftigen Berichte. Keine Hexe kam dort je ungeschoren heraus! Aus diesem besagten Grund konnten auch keine Augenzeugen, keine Überlieferungen eines rituellen Auswegs sowie etwaige Geheimgänge in irgendwelchen alten Schriftrollen hinterlegt sein. Sie mussten nun vor dem Wald einsehen, dass sie nur mit ihrer schwarzen Magie weiterkommen konnten.

Oberhalb des Waldes versuchten sie die Riesen in den Wahnsinn zu treiben und ihnen dermaßen Angst einzuflößen, dass sie vor Furcht von allein sterben. Sie umlagerten und umflogen seit Wochen die Baumspitzen. Sie schickten Todesflüche durch das Dickicht und kreischten zudem ohne Unterlass hinunter. Aber ob die Zyklopen wirklich am eigenen Wahnsinn starben, konnte keine Hexe bestätigen, weil sie keinen Einblick in den Wald bekamen. Nicht einmal mit dem durchdringenden Blick, den jede Hexe besaß, und somit alles Undurchsichtige durchlaufen konnte, erkannten sie, was unter den Bäumen passierte.

Die Brunnen-Walpurga vom Klobenberg hatte den Wald dermaßen unter Magie gesetzt, dass wirklich niemand hinauskam oder sich auch freiwillig hineintraute. Bis auf ein widerliches Weib schaffte es niemand.

„Ohhh, ich könnte vor lauter Wut die Krätze kriegen!“, krächzte Fedora karg und spitz. Zu wissen, dass auch noch die einzige Überlebende aus dem Wald das Blut der letzten Oberhexe durch ihr menschenfreundliches Herz pumpte, machte sie wahnsinnig! Wütend und fluchend schritt Fedora am Waldrand entlang und würde am liebsten das ganze Stück Land in die Luft sprengen. Doch auch da waren ihr die Grenzen aufgezeigt worden. Nichts vergaß die garstige Hexe, die Brunnen-Walpurga vom Klobenberg, nicht einen Schlupfwinkel. Diesen Wald konnte nicht einmal ein hungriges Feuer erobern. Sie kochte innerlich vor Wut. Zu gern hätte sie diese einäugigen Missgeburten ausgerottet und das Land zu ihrem eigenen gezählt.

Je mehr sie sich in ihren Ärger steigerte, umso ungehaltener wurde sie auf Nympfjet. Sie lief unruhig und verbittert auf und ab und stellte sich immer wieder die Frage: Wie hat es das Weibsstück nur geschafft, aus diesem Wald lebendig und ohne jeglichen Kratzer wieder rauszukommen? Zähnefletschend steigerte sie ihren aufgestauten und gefürchteten Ärger. Ihre gelben Augen vernichteten alles, was ihr im Weg stand, zu Staub und Asche. Um Fedora blitzte und donnerte es ungehindert.

Beijanna, Lupina und die Hexe Pinella standen dicht beisammen und flüsterten.

„Was habt ihr hinter meinem Rücken zu faseln, Weiber?“ Fedora-Astarte vom Wurmberg fühlte sich durch das Tuscheln gereizt und hintergangen. Unbeherrscht und garstig stieß sie die Hexen auseinander. „Sprecht, was habt ihr allein so Wichtiges zu tuscheln?“

Erschrocken über die plötzliche Brutalität verneigten sich die Schattenweiber vor der Oberhexe so tief, dass ihre Nasen beinahe in dem kargen Boden feststeckten.

„Wir wissen, dass du die klügste Hexe im Harz bist!“, versuchte Lupina den Zorn von Fedora abzumildern.

„Ja, Fedora, wir verehren dich“, schmeichelte Beijanna. „Wir haben nur gerade überlegt, ob dieser Fluch hier nicht nur ein Fluch des Todes ist, sondern auch noch ein Fluch des Schutzes!“

Fedora griff sich nachdenklich an ihr hervorstehendes Kinn und strich es mit ihren verknorpelten Fingern nach. Die Oberhexe musste zugeben, dass sie diese Möglichkeit bis jetzt außer Acht ließ. Sollte es tatsächlich sein, dass das Aas – der Menschen und Missgeburten Freundin – ihre durchtriebene Tante noch übertrumpfte?

„Ihr wollt wohl schlauer und cleverer sein wie ich?“ Mit einem garstigen Hieb aus dem Handgelenk flogen die drei Hexen in wild gewachsene Büsche und jammerten um Vergebung. Die böse Hexe schaukelte sich in ihrer schlechten Laune hoch und befreite sich mit einem verärgerten Schrei. Das ganze Begehren, die Herrscherin vom Klobenberg zu töten, legte sie hinein. All den angestauten, wild lodernden Zorn in ihrem Bauch brüllte sie gegen die stummen Bäume, die sich fast von der Kraft, die von Fedora ausging, neigten. Mit blutunterlaufenen hasserfüllten Augen und einer verbohrten Starrsinnigkeit im Blick gab sie eine Weissagung an Nympfjet ab.

„Ich verspreche dir hier und jetzt, dass ich dir bei lebendigem Leibe dein schlagendes Herz selbst herausreißen werde!“

Fedora war nicht mehr Herr ihrer Sinne und wollte in diesem Zustand wie immer jemandem wehtun.

„Wo ist Isis?“ Untereinander wieder unruhiges Gewisper. Nur mit einem Blick fasste die Oberhexe Beijanna an den Hals und zog sie in die Luft.

„Ich habe gerade gefragt, wo sich die Schattenhafte rumtreibt!“ Beijanna röchelte und kämpfte gegen unsichtbare würgende Hände an ihrem dürren Hals an. Ihre Augen quollen aus den Höhlen hervor und Panik machte sich in ihr breit.

„Ich bin hier, Fedora!“, sagte plötzlich Isis, die sich unbemerkt hinter Fedora gestellt hatte. Die Oberhexe ließ von der Hexe Beijanna ab, die umgehend mit einem lauten Knacken ihrer Knochen zu Boden knallte.

„Iissiis.“ Fedora betonte den Namen besonders, um der Hexe klarzumachen, dass sie keine heimtückischen Spielchen duldete. „Wo kommst du her? Habe ich dir nicht vor Kurzem erst verständlich genug gemacht, dass du dich in meiner Nähe aufzuhalten hast?“

Isis straffte ihre Haltung und verzog keine Miene, als Fedora mit ihrer langen gebogenen Nase an ihr rumschnüffelte. Beunruhigt kreiste die Oberhexe Isis ein. Abgestumpfte Gefühlskälte schleuderte sie in Isis’ Gedanken. „Komm mir nicht ins Gehege. Ich warne dich zum letzten Mal. Ich habe dich schneller in der Teufelsmauer verpackt, als du deinen Zauberstab zücken kannst.“

Fedora grinste gemein und versetzte der standhaften Hexe mit einem Fluch aus ihrem Stab einen Schlag in ihren Magen. „Impugnamur in ventriculo.“

Isis flog durch die Luft und schlug hart auf dem Rücken auf. Für einen Moment wollte sie ihren Zauberstab zücken und der alten widerlichen Fedora entgegentreten. Doch sie sammelte sich und hielt sich im Zaum.

„Ich frage dich jetzt noch einmal, Isis. Wo kommst du her?“ Wie eine Raubkatze schlich sie auf die noch am Boden liegende Isis zu.

„Ich habe die Zwerge im Auge behalten. Du hattest anderes zu tun, also habe ich mich an die Zwerge gehängt und ihnen den Weg erschwert!“

Fedora hielt noch einmal ihre bewarzte Nase Richtung Isis und sog den Geruch, der an der Hexe haftete, zu sich rüber. Sie leckte sich die Lippen.

„Aahh, ja, mein Freund Sinith klebt mit seinem Geruch fest an dir! Du sagst die Wahrheit.“ Immer noch schleichend und auf die Hinterhältigkeit von Isis wartend, grunzte sie heuchlerisch. „Warum hast du ihnen nur den Weg erschwert und sie nicht gleich getötet?“ Wissbegierig kam sie Isis wieder näher. Ihre Krallen bogen sich schon zu spitzen Dolchen, falls Isis jetzt etwas Falsches sagte, würde sie ihren Rumpf damit aufschneiden.

„Sollte ich sie töten? Ich dachte der Triumph und das Vorrecht liegt bei dir?“ Schlau stellte sich Isis unsicher. „Sollte ich sie denn töten?“

Nachdenklich leckte sich Fedora ihre staubigen Lippen. „Nein, es ist schon gut so. Spielen wir noch ein wenig mit ihnen, bevor wir sie zum Frühstück verspeisen! Du hast weise entschieden, Isis. Mein sind die Zwerge …!“

Mit ihrem Zeigefinger strich sie Isis übers Gesicht und etwas entspannter, aber noch nicht wirklich überzeugt, wechselte sie das Thema.

„Die meisten Hexen befinden sich schon in der alten Bruchhütte, neben dem Wohnsitz der Herrscherin vom Klobenberg! Lass ein paar Hexen hier, damit die Zyklopen nicht auf die Idee kommen, dass wir sie vergessen und aufgegeben haben.“

Kalt blickte sie Isis an. „Du bleibst ab jetzt neben mir. Ich werde in ein paar Monden das Schwert mein Eigen nennen. Ich fühle schon die Macht in meinen Körper fließen und ich sehe, wie es in meiner Hand liegt.“ Die Oberhexe lachte gehässig und schwang sich auf ihren Besen. „Regel das hier noch zu Ende, und dann folgst du mir“, schrie sie Isis herrisch im Fliegen zu, die erleichtert ausatmete.

Beijanna aber konnte die Prügel von Fedora, die Isis gebührte, nicht so einfach hinnehmen und einstecken. Sie schwor sich, Isis zu beschatten, und ein besonderes Augenmerk auf sie zu legen. Sie wollte Rache für Fedoras Wutanfall. Sie würde schon noch rauskriegen, was die Schattenhafte verbarg. Sie benahm sich die letzten Wochen wirklich mehr als undurchsichtig. Wenn Isis nämlich endlich des Todes sicher war, würde sie, Beijanna, die Tochter des Fuchsweibes, die rechte Hand der Oberhexe werden …

Isis konnte Brokk überzeugen, ihr zu vertrauen und auf sie zu hören. Er hatte sie befreit, und da sie ihm versprach, in einer Stunde zurück zu sein, ließ er sie gehen. Sie musste gehen, damit die Oberhexe nicht hinter ihren Plan kam. Brokk wurde durch die ausweglose Situation, in der sie sich befanden, gezwungen, ihr zu vertrauen. Ihm blieb auch keine andere Wahl. Siniths Zustand war lebensbedrohlich. Von einer Minute auf die andere stieg das Fieber ins Unermessliche. Sein Körper glühte und schwitzte von der Hitze, die den kleinen Körper schüttelte. Brokk konnte den Fieberwahn von der Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden.

Fragend und ängstlich sah er Isis in die Augen, als sie – wie versprochen – wieder neben ihm stand: „Nein Zwerg, mach dir keine Sorgen. Fedora ist es nicht, die ihr Unwesen in ihm treibt! Zumindest noch nicht.“

Brokk bat die Hexe mit sehr traurigen und Tränen gefüllten Augen um Hilfe: „Bitte Isis. Hilf meinem geliebten Freund Sinith. Er darf nicht sterben.“

Die Hexe sah den völlig in sich zusammengefallenen und mitgenommenen Zwerg an: „Du siehst auch nicht gesund aus, Zwerg. Was fehlt euch?“

Mit glanzlosen Augen und schwacher müder Stimme versuchte er nicht zu klagen. „Salz, Isis. Grobes körniges Salz. Wir Zwerge sterben langsam und qualvoll, wenn wir kein Salz bekommen.“

Unruhig schaute sich Isis um. Das war ein Satz, den Fedora nicht hören durfte. Sie würde diese Kenntnis sofort ausnutzen, um die Zwerge zu quälen. Die Hexe nickte und legte einen Finger über ihre Lippen, um Brokk zu zeigen, dass er schweigen soll.

„Ich helfe euch.“ Sie nahm ihren Zauberstab und murmelte: „Praefurnium cocus bysso aqua pura.“

Erschrocken rutschte Brokk von der Hexe weg.

Isis registrierte die schnelle ängstliche Reaktion. „Ach Zwerg, hab keine Angst. Ich sagte euch doch, dass ich euch nicht schaden will!“ Sie seufzte und fühlte sich in der Pflicht, den Zwerg aufzuklären. „Das heißt: Kessel koche fein, das Wasser rein.“ Sie sah die Erleichterung in dem kleinen Wichtel aufsteigen. Isis amüsierte sich: Woher sollten die Wichtel auch Zaubersprüche verstehen?

Vor ihnen baute sich ein Kessel auf, der mit blubberndem, dampfendem Wasser gefüllt war. „Et nunc in sal et febris debet abiit.“ Wie von Geisterhand rieselte grobes Salz in das kochende Wasser. Wieder recht fragend, wollte Brokk wissen, was sie noch gesagt hat. Stolz darüber, außergewöhnlich zu sein, erklärte sie ihm: „Wir reimen unsere Hexensprüche auf Latein. Diese Sprache ist für die Menschen im Laufe der Jahrhunderte uninteressant geworden. In der Welt der Menschen sprechen nur noch Mediziner und große Gelehrte diese Worte. Und somit haben wir uns die Sprache, die tote Sprache, wie die Menschen sie nennen, zu Nutzen gemacht! Das, was ich gerade gezaubert habe, ist harmlos und geht in die weiße Magie. Der ganze Zauberspruch lautet:

Kessel koche fein, das Wasser rein.

Und nun noch Salz hinein.

Und das Fieber soll vergangen sein!

„Das klingt in der anderen Sprache aber weitaus gefährlicher.“

Isis lächelte frech. „Ja, so soll es auch sein.“ Etwas nachdenklicher und leiser sagte sie dann: „Es ist auch ein Unterschied, ob du etwas Gutes oder etwas Böses im Schilde führst. Das hörst du dann aber auch am Ton der Hexe. Denn Flüche, die dich treffen und verletzen sollen, sind nun mal nicht nett.“

Sie träufelte Sinith ein paar Tropfen vom abgekochten Wasser über seinen leicht geöffneten bleichen Mund. Sofort bekamen seine ausgetrockneten Lippen etwas rosige Farbe zurück.

Isis nickte zufrieden und wandte sich wieder Brokk zu. „Merke dir eins, Zwerg.“ Isis’ Stimme klang warnend und Brokk horchte auf. „Malum Saga non habet misericordiam!“

Der kleine mutige Lichtritter zuckte diesmal nicht nur mit seinen Schultern, weil er nichts verstand, sondern stolperte einen ganzen Meter zurück. Mit ihrem plötzlich veränderten Wesen erschreckte sie ihn so sehr, dass sein Gesicht farblos wie ein Glas Wasser wirkte.

Isis hatte bewusst den strengen Ton gewählt, damit der Lichtritter verstand, worum es im Endeffekt überhaupt ging. Die Hexe schwebte über den Boden und kam Brokk so nahe, dass er sich selbst in ihren Pupillen stehen sah. Er wirkte klein und eingeschüchtert in ihren giftgrünen Augen. „Das heißt: Eine böse Hexe kennt keine Gnade.“

Brokk schluckte und musste nicht weiter fragen, was sie damit meint. Nur zu gut wusste er, dass das für Fedora-Astarte vom Wurmberg galt. Eilig drehte sie sich um, packte ihren Besen, setzte sich und gab noch ein, zwei Anweisungen für den Zwerg.

„Ich muss los. Fedora erwartet von mir, in ihrer Nähe zu bleiben. Gib deinem Freund ununterbrochen das Wasser und er wird sich in ein paar Stunden erholt haben. Bleibt, bis ich wiederkomme, unter dem Tarnnetz. In ein paar Tagen seid ihr stark genug, um mit mir zu reisen. Dann werde ich euch zur Herrscherin vom Klobenberg bringen!“ Isis setzte ihren Besen zum Flug an und war schneller wie der Wind aus den Augen und in den dunklen Himmel verschwunden.

Als Brokk sich umdrehte und nach Sinith sah, entdeckte er einen kleinen Tisch, auf dem Köstlichkeiten – mit viel grobem Salz zubereitet – standen.

„Danke Hexe!“, murmelte er, ehe er sich wie ein Verhungernder auf die Mahlzeit stürzte.

Nympfjet ließ Lisa nicht mehr aus den Augen. Sie verfolgte sie auf Schritt und Tritt und heftete sich im ganzen Haus an ihre Fersen.

Zudem merkte Nympfjet die starke Energie, die sich im Haus befand, und die die kleine Hexe von Tag zu Tag mehr suchte. Jeder Handschlag, den Lisa machte, könnte das Rufen nach der kleinen Hexe aufdecken. Also hängte sie sich an Lisa, als wäre sie ihr eigener Schatten. Egal, welche Schranktüren Lisa auch öffnete, Nympfjet schaute ihr interessiert über die Schulter, wurde aber immer gleich wieder enttäuscht, weil sich nichts dahinter zeigte, was auch nur ansatzweise ein Zauberrelikt sein könnte. Hinter keiner Tür oder Schublade, die aufgerissen wurde, befand sich auch nur ein Hauch von Magie, die freigelegt werden konnte. Selbst die Energie im Haus blieb die Gleiche, sie wurde nicht stärker und auch nicht schwächer.

Nympfjet verzweifelte bald. Das fordernde Bitten war zum Greifen nahe, aber eine unsichtbare Wand verweigerte den Zugang zu ihr. Es musste etwas Wichtiges und Dringendes sein, was den Kontakt zur Herrscherin zwingend wollte. Wo könnte Lisa oder jemand anderes aus der Familie dieses Etwas mit der starken Energie nur versteckt haben? Denn eins war ihr klar, es muss durch eine friedvolle und treue Hand ins Haus gekommen sein. Alles andere wäre schier unmöglich. Durch den mächtigen Schutzzauber würde alles an dem Bann vor dem Haus hängenbleiben, weil der Eintritt des Bösen nicht zugelassen würde! Nympfjet wurde durch Lisas Tochter, die gerade hereinpolterte, von ihren nagenden Gedanken abgelenkt.

Maxima kam gerade schnaufend aus der Schule und warf sich genervt auf einen Küchenstuhl und mit dem Oberkörper auf den davorstehenden Tisch. „Ich hasse Schule!“, jammerte sie.

„Was sind das denn für neue Töne von dir? Die kenne ich von meinem kleinen Schlaumeier gar nicht.“ Lisa war mit dem Gemüseputzen beschäftigt und horchte auf. „Bisher war Schule voll cool und Lernen oberaffengeil.“ Lisa setzte dem letzten Wort Gänsefüßchen bei.

„Na ja, es ist auch nicht die Schule. Also nicht das Gebäude an sich. Es ermüdet mich, dass die Lehrer immer alles besser wissen wollen. Ständig muss ich diskutieren und meine Meinung erläutern. Dabei haben wir doch Meinungsfreiheit, oder?“

Lisa grinste. Daher weht der Wind. Madam Schlau wollte wieder auf ihr Recht pochen und lief gegen pädagogische Wände.

„Um was ging es denn in der Diskussion?“, fragte Lisa interessiert und ging nach nebenan und an ihre Kühltruhe.

„Ach.“ Maxima haderte mit sich und überlegte, ob sie ihrer Mutter einen kleinen Schwindel auftischen sollte, entschied sich aber dann doch für die Wahrheit.

„Halluzinationen!“

Für Nympfjet wurde das Gespräch nun interessant. Sie sah auf Lisa, die ihre Gesichtszüge veränderte.

„Mia“, sagte sie vorwurfsvoll und brach ihre Suche in der Kühltruhe abrupt ab und haute die Tür mit voller Wucht zu. Gerade in diesem Moment wollte jemand nach Nympfjet rufen. Dieses klagende Rufen wurde jedoch gnadenlos erstickt. Nympfjets Ohren horchten knapp auf, aber weil das Flehen so prompt aufhörte, lauschte sie nicht weiter nach und konzentrierte sich eher auf Maxima, die wohl immer noch zweifelte.

„Das, was wir gesehen haben, war keine Halluzination, Maxima!“ Lisa entrüstete sich und verteidigte das Gesehene.

„Die Augen sprühten rote Funken. Die Frauen haben in Rekordzeit schwere Möbel ins Haus geschleppt. Du selbst sagst, dass das Haus eigentlich nicht bewohnbar ist.“ Lisa legte eine Pause ein, um Luft zu holen. „Dann die dreizehn Katzen.“ Lisa schauderte es weit über den Rücken. Die Katzen, sie nannte sie Die schwarze Dreizehn, saßen seit dem Einzug der Nachbarn ständig, nein ununterbrochen, in der alten Eiche und schienen Lisa im Haus zu beobachten!

Nympfjet stand in der Zwischenzeit mit verschränkten Armen hinter Lisa und ärgerte sich fast genauso, wenn nicht noch mehr, über das ungläubige Kind.

„So meine ich das ja gar nicht. Ich weiß ja auch, was ich gesehen habe.“ Maxima klapperte nervös mit ihren Fingernägeln auf der Tischplatte. „Ich mach mir nur Gedanken, ob ich vielleicht verrückt werde!“

In Lisa stieg Mitleid auf. Sie ging an den Tisch und nahm ihre offensichtlich total verstörte und verwirrte Tochter in die Arme. „Ich mache mir doch auch einen Kopf darüber, warum in letzter Zeit so merkwürdige Dinge um uns herum passieren. Aber dass es Trugbilder sein könnten, das habe ich ausgeschlossen!“

„Es ist aber durchaus möglich, Mama. Auch ein gesundes Gehirn kann seinem Besitzer leicht Streiche spielen. Manchmal reicht bereits eine gewisse Zeit des Alleinseins und der Stille, und das Gehirn beginnt sich sozusagen selbst Gesellschaft zu leisten.“

Lisa unterbrach ihre Tochter forsch und verärgert.

„Mia. Du willst mir doch nicht weismachen, dass du hier vereinsamst!“

„Nein, natürlich nicht.“ Maxima brachte sich aus der Gefahrenzone. „Hier geht es nur darum, dass wir beide nicht dieselbe Vision oder auch die gleichen Trugbilder sehen können. Aber dennoch tun wir es.“

Verärgert über ihre Tochter lenkte Lisa erneut ein: „Ja, aber wenn du das alles selber weißt, Kind, warum musst du dann mit deinen Lehrern fachsimpeln?“

Nympfjet hatte genug gehört und half Maxima auf die Sprünge und mischte sich ein, indem sie sich hinter Maxima stellte und ihr ins Ohr flüsterte: „Einer neuen Wahrheit ist nichts schädlicher als ein alter Irrtum. Das ist auch eine Weisheit, die der liebe Goethe einmal von sich gab!“

Kopfnickend stand Maxima von ihrem Stuhl auf und sagte: „Siehst du, das meine ich, Mama.“

Lisa war verwirrt und konnte ihrer Tochter nicht ganz folgen. „Was meinst du, Kind?“

Maxima warf fragend ihre Hände hoch und rief sarkastisch: „Hast du gerade, in dieser Sekunde nicht was von Goethe gesagt?“

Lisa verneinte es und schüttelte amüsiert den Kopf.

„Siehst du. Und das, genau das, meine ich. Ich höre seit“, Mia überlegte kurz, „bestimmt zwei Wochen Stimmen. Stimmen, die mir Weisheiten von Johann Wolfgang von Goethe zitieren!“

Lisa stützte ihren Kopf auf den Händen ab und blickte fassungslos zu ihrer Tochter. „Hm, dann würde ich auch an meinem Verstand zweifeln.“

Eine Weile schauten sie schweigend die Einrichtung in der Küche an. Dann trafen sich ihre Blicke und beide prusteten los. Sie lachten schon fast hysterisch, bis ihnen der Bauch wehtat.

„Goethe?“, fragte Lisa noch mal nach und erinnerte sich daran, dass Maxima wie ein wild gewordener Handfeger in ihr Zimmer rannte und schockiert durch ihre Bettdecke schrie, dass sie Stimmen hörte.

Maxima nickte nachdrücklich, als wäre sie ein Wackeldackel. Mutter und Tochter konnten trotz der gruseligen Lage um sie herum nicht mehr ernst bleiben. Sie kringelten sich auf dem Küchenboden vor Lachen …! Und stammelten immer wieder den Namen von Goethe hervor, bevor sie in einen neuen Lachanfall verfielen.

Nympfjet streckte wie Mia zuvor ihre Hände zum Stoßgebet zum Himmel und ahnte, dass hier ein gutes Stück Arbeit auf sie zukam! „Wieso werde ich nur mit Ungläubigen so bestraft?!“ Beherzt raffte sie ihr langes Kleid in die Höhe und stampfte schulterzuckend und mit geröteten Wangen aus Lisas Küche …

Fedora hielt sich permanent in der Nachbarschaft von Lisa auf. Um das Haus und alles rundherum im Auge zu behalten, verwandelte sie sich mit zwölf anderen Schattenweibern in schwarze umherschleichende Katzen. Sie setzten sich in die alte Eiche, um Lisa in der Küche besser beobachten und sie mit ihren gelben Augen unentwegt anzustarren zu können.

So, wie die Katzen Lisa nicht aus ihrem weiten Blickfeld ließen, so reagierte Lisa ebenfalls. Allein schon deshalb, weil die eisige Kälte, die aus dem Baum mit den schwarzen Unheilbringern zu ihr rüber kroch und sie direkt mit einem Frösteln dazu aufforderte, auf sich und ihre Familie zu achten!

Was auch immer Die schwarze Dreizehn plante, war nichts Gutes und das Ungute wurde ihr unverkennbar durch die Anwesenheit von den unheimlichen Unglücksboten überbracht. Sie wollten, warum auch immer, Lisa an den Kragen gehen!

Sie fühlte sich inzwischen machtlos. Seitdem sie wusste, dass es hier nun keine menschlichen Wesen sind, die ihr Haus umlagerten, fühlte sie sich überfordert. Mit spukenden Gedanken von Magie, Hexen, Teufel und Zauberkunde war sie bis zu den Zehenspitzen bewaffnet und hatte dabei schon Unmengen an Kämpfen ausgefochten und auch gewonnen! Aber wie sie all ihre imaginären Kämpfe vom Kopf in die Realität umsetzen sollte, wusste sie noch nicht. Sie konnte die Macht, die die Hexen besaßen, nicht wirklich einschätzen. Woher sollte sie dieses Wissen auch nehmen oder bekommen haben? Dass es hierbei auch nicht mehr nur um irgendwelche makabren Scherze ging, davon zeugten die permanenten Besetzer der alten rustikalen Eiche. Diese durchaus merkwürdigen Besitznehmer waren keine charmanten Beobachter oder schmusigen Kuscheltiere mehr, sondern gefährliche Stalker aus einer bösen grauenvollen Zauberwelt!

Lisa verbrachte nun Nächte am Computer und setzte sich mit Schutzzaubern auseinander und googelte alles, was mit Hexen zu tun hatte. Sogar persönliche und angeblich wahre Begebenheiten wurden ausführlich diskutiert und besprochen. Aber es stellte sich schnell heraus, dass sich alles mit der Situation, in der sich Lisa und ihre kleine Familie befanden, nicht vergleichen ließ.

Tagsüber kaufte sie dann Bücher über Hexenkulte und Abwehrzauber, die sie zuvor in ihrer nächtlichen Google-Hexenstunde fand.

Mit einer unsichtbaren, zufrieden lächelnden Nympfjet im Nacken köchelte sie in ihrer Küche undefinierbare Gebräue zusammen, deren Düfte Die schwarze Dreizehn draußen nur noch wilder, jaulender und unzähmbarer machten. Verzweifelt probierte sie Hexenrezepte und ihre angeblichen Schutzwirkungen!

Die kleine Hexe sah Lisa genauestens auf ihre Finger und begutachtete sorgfältig ihre Kochkünste am Hexenkessel. Sie freute sich sichtlich, dass die alte Lisa immer noch das neugierige Mädchen von damals war. Vor nichts schreckte sie zurück. Weder vor unerklärbarer Zauberkunde, die sie nicht wirklich verstand, noch vor einer Armee mit bösen Frauen, die ihr im Hinterhalt des Baumes über die Schulter guckten.

Es puffte, rauchte und knallte in Lisas Küche, als ob eine alte verstaubte Lokomotive mit aller Kraft die verbrannte Kohle durch ihren Auspuff drücken wollte. Verrußt und aufgeheizt zerstampfte sie Kräuter, von denen sie noch niemals in ihrem Leben etwas gehört hatte, in einem Mörser zu einem undefinierbaren Brei. Aus dem Hexenkessel, der sich sehr gut zum Kochen für besondere Elixiere eignete, dampfte es unangenehm und stinkend.

Mit einem erschöpften Schnaufen steckte sie ihren Kopf noch mal in die offenen Bücher und suchte verzweifelt nach einer einfachen Möglichkeit, sich und ihre Familie vor Hexenangriffen zu schützen. Das Einzige, was ihr jetzt noch wirksam erschien und sie nun vom Kochen und Stampfen abhielt, war der durchtrennte Apfel. Wenn man nämlich einen Apfel quer zerteilte, entstand ein naturgegebenes Pentagramm. Zusätzlich bedeckte sie es, wie im Buch beschrieben, mit einem Lorbeerblatt, um dem Bösen keinen Zutritt zu gewähren. Ob sie daran glaubte, das stand auf einem anderen Blatt Papier, auf jeden Fall wollte sie irgendetwas zum Schutz tun. Lisa legte einen halben Apfel auf jedes Fensterbrett im ganzen Haus und hoffte auf helfende Wirkung.

Und Nympfjet als geschulte Zauberlehrerin war ganz gerührt von dem Eifer ihrer alten Schülerin … und zauberte in die Apfelhälften einen Unverderbbarkeitszauber, denn Lisa lag mit ihrem Schutzpatron schon ganz richtig. Stolz überließ sie Lisa der unordentlichen Küche und ging zu ihren Freunden …