Sojana die Feuerhexe bekam unterdessen den Auftrag, ihre menschlichen weiblichen Reize und Vorteile auszuleben und sich bei Lisas Ehemann mit aller Macht und Kraft einer Frau anzubieten. Was sie auch gerissen in die Tat umsetzte. Immer wieder fielen ihr neue, unbedingt notwendige Hausmeisterarbeiten ein, die der ahnungslose Mann freundlich und mit großem Übereifer ausführte. Dass die Nachbarschaftshilfe hier gerade etwas ausgedehnt wurde und man von einem spontanen Zufassen nicht mehr reden konnte, das fiel Herrn Lindner nicht mehr auf. Er war schon fast täglich im Auftrag der Nächstenliebe unterwegs, um einer alleinstehenden Frau von nebenan unter die Arme zu greifen. Herr Lindner fühlte sich dermaßen von der reizvollen Nachbarin geschmeichelt, weil sie seine Arbeit schätzte, anerkannte und sehr lobte. Er konnte von ihrem Beifall gar nicht genug bekommen. Geschickt provozierte die nur scheinbar gute Frau von nebenan einen Ehekrieg. Gefühle von Vernachlässigung und Nicht-geschätztwerden machten sich bei Herrn Lindner von Tag zu Tag mehr in seiner Brust breit. Heute Morgen erst wollte er mit seiner Frau eine Tasse Tee trinken, aber die hatte im Moment für alles und jedes Zeit. – Nur nicht für ihren eigenen Mann. Schmollend und schmählich vernachlässigt suchte er seine Nachbarin auf und ließ Lisa lieber bei ihren intensiven Arbeiten mit komischen Köcheleien in ihrer Küche allein. So hatte die fremde geheimnisvolle Frau leichten Zugang zu ihm und konnte ihn Stück für Stück aus dem Haus entführen. Ohne dass es ihm besonders auffiel, verfiel er immer mehr der Verschlagenheit einer bösen Hexe!

„Ach, Herr Lindner, was bin ich froh, dass Sie so handwerklich geschickt sind. Was sollte ich bloß ohne Sie machen?“ Mit bittersüßem Lächeln umgarnte sie den hilfsbereiten Mann. Vorsichtig legte sie ihre warme Hand auf sein Bein ab und schaute mit ihm unter die Spüle, die er eben auseinandernahm. Der war natürlich wieder mal von der Aufmerksamkeit, die seiner Arbeit entgegengebracht wurde, angetan. Insgeheim beglückwünschte er sogar die absolute Hilflosigkeit und die zwei linken Hände der reizvollen Frau.

„Das ist doch Ehrensache.“ Lorenz Lindner lag auf dem Rücken unter dem Spülbecken und drehte und schraubte am Abflussrohr und war von dem Lob eitel beeindruckt.

„Da haben wir auch schon den Übeltäter.“ Er krabbelte flink aus dem Schrank hervor und hielt einen kleinen Ball zwischen zwei Fingern hoch. „So wie das aussieht, wollte eine ihrer Katzen ihr Spielzeug waschen.“

Die Hexe nahm ihm den Ball aus den Händen und lächelte ihn spöttisch an. „Solche Schlawiner auch!“ Wie zur Bestätigung schlich eine Katze schnurrend um ihre Beine und knurrte Herrn Lindner fauchend an.

„Oh, ich habe sie doch nicht beleidigt, oder?“, lachte Lorenz Lindner über den offenkundigen Protest der Katze.

„Nein, nein“, wehrte die Hexe schlau ab und gab dem Tier mit einem Stoß zu verstehen, zügig zu verschwinden. „Sie ist vielleicht etwas eifersüchtig auf Sie.“

In Herrn Lindners Gesicht zeichnete sich eine Spur von Verlegenheit ab. „Ach eifersüchtig. Auf mich doch nicht!“ Herr Lindner suchte im Raum scheu nach neuer Arbeit.

Die Hexe nutzte die Scham sofort aus. „Unter uns weilte schon lange kein Mann mehr, wir sind alle zu einsamen Landstreichern mutiert.“ Sie seufzte gekonnt zurückhaltend.

„Sie meinen, Ihre dreizehn Katzen sind Landstreicher? Aber Sie doch nicht.“

„Ja, natürlich nur die Katzen. Ach, ich Dummerchen bin kein Vagabund, ich bin nur einsam.“ Sie seufzte herzergreifend. „So ein Mann, wie Sie sind, so einer fehlt mir im Leben.“ Mit schmachtendem Augenaufschlag himmelte sie Lorenz Lindner an.

Der Mann schluckte peinlich berührt und wollte der Versuchung schnell ein Ende setzen. Oder auch nicht. In seinem Kopf gab es eine Stimme, die etwas anderes sagen wollte als das jetzt. „Na, dann kann ich ja mein Werkzeug wieder einpacken!“ Verwirrt kramte er seine durcheinanderliegenden Utensilien zusammen. Irgendetwas in ihm wollte das Werkzeug doch lieber ausstatt einpacken. Es war so eigenartig …

„Warum denn so eilig, Herr Lindner.“ Die Hexe nahm ihm den Schraubenzieher lächelnd aus der Hand. „Ich hätte da noch einige Kleinigkeiten zu erledigen, die für eine Frau zu gefährlich sind.“ Sie blinzelte ihm treuherzig entgegen. Hinterhältig und mit List und Tücke versuchte sie den Mann aufzuhalten und daran zu hindern, in die Obhut seiner Familie zurückzukehren! Mit funkelnden Augen, und ohne dass es ihm bewusst war, wurden ihm die Worte sorgfältig auf einem silbernen Tablett serviert. Er brauchte nur ablesen.

„Na, dann her damit. Ich bin ja nun mal gerade hier und habe die Kraft eines Bären!“ Euphorisch hob er seinen Werkzeugkoffer in die Höhe und zeigte seine strotzenden Muskeln an den Oberarmen. Die Feuerhexe war am Ziel angelangt, gewissenlos und kalt belächelte sie seine Bereitschaft, noch mehr Arbeiten im Haus zu erledigen.

„Das ist ausgezeichnet. Bitte gehen Sie doch voran Richtung Dachboden …!“ Sie ließ ihm den Vortritt, wenn man es so bezeichnen konnte, denn um seine Füße tummelten sich plötzlich alle dreizehn Katzen, die mit ihm die Treppe hochliefen. Die böse Hexe selbst ging mit bösen rot leuchtenden Augen hinter dem gutherzigen und widerspruchslosen Mann her. Die Hexe hatte es geschafft. Noch ein kleines Ritual und Herr Lindner wird nach dem Dachbodenbesuch nicht mehr der Alte sein …

Währenddessen beschlich Lisa ein ungutes Gefühl im Bauch. Immer wieder schaute sie unruhig auf die Uhr, sie wusste gar nicht mehr so genau, wann ihr Ehemann das Haus verlassen hatte. Es fing schon an zu dämmern und von ihrem herzallerliebsten Gatten immer noch keine Spur. Sie machte sich leichte Vorwürfe, dass sie ihren Mann gehen ließ, um in dem Haus nebenan einige Arbeiten zu erledigen! Sie bereute ihre Großzügigkeit, denn sie ahnte schon, dass etwas Eigenartiges auf sie zukam. Aber ihre Neugier, die größer war als irgendeine Sucht, trieb sie dazu, ihrem Mann zu erlauben, in dem komischen Haus etwas zur Hand zu gehen und den merkwürdigen Nachbarn zu helfen. Vielleicht erfuhr sie so mehr über die Bewohnerinnen und ihre Vorlieben für schwarze starrende Katzen! Das war eigentlich die ganze Absicht der Mission. Er sollte ja auch nicht ansatzweise ihren Plan erkennen, damit dieser nicht aufflog. Also wehrte sie sich nicht gegen seine Hilfsbereitschaft, sondern ließ ihn gehen.

Mehr als unkonzentriert bereitete Lisa das Abendessen vor, ständig schaute sie auf die Uhr, die einfach nicht fortschreiten wollte.

Doch dann, endlich, hörte sie das bekannte Geräusch vom Öffnen des Gartentors. Lisa war ganz aufgeregt. Gleich würde sie erfahren, was es mit den Nachbarn auf sich hat. Ungeduldig und fast schon bibbernd wartete sie in ihrer Küche. Für Lisas Geschmack dauerte das Aufmachen der Haustür viel zu lange. „Wo bleibt der nur?“, fragte sie sich unsicher. Nach einer geschätzten Ewigkeit knallte plötzlich Lisas Mann die Haustür. Erleichtert darüber, die Tür ins Schloss fallen zu hören, rief sie vom Herd aus: „Schatz, das Essen ist gleich fertig!“

Da sie darauf keine Antwort von ihrem sonst so vom Kohldampf gepeinigten Ehemann bekam, wurde sie stutzig und blickte irritiert aus der Küche in den Flur.

„Schatz?“ Mit den Augenbrauen runzelnd sah sie ihrem Lorenz zu, wie er sich einer ferngesteuerten Marionette gleich mit seinem Werkzeugkoffer fortbewegte. Stur und ohne einmal nach ihr zu sehen, ging er in sein Arbeitszimmer und setzte dabei ein Lächeln auf, das unwirklich und falsch erschien.

Lisa wollte ihm gerade hinterherrufen, als er seinen Kopf leicht zur Seite drehte. Der Anblick riss Lisa fast den Boden unter den Füßen weg. Es war nicht mehr ihr Ehemann. Seine Augen, die Lisas Herz bis zum Hals schlagen ließen, schauten sie glanzlos, leblos und starr aus ihren Höhlen an. Und dieses merkwürdige aufgesetzte Lächeln kannte sie gar nicht von ihm.

Lisa erschrak und zog sich leise in ihre Küche zurück. Sie legte ihre rechte Hand auf ihr aufgeregt pochendes Herz und versuchte es zu beschwichtigen. Ihr Atem ging schnell und keuchend, wie nach einem Marathon.

„Oh Gott!“, flüsterte sie und versuchte dem Brummen und Dröhnen in ihrem Kopf keine Beachtung zu schenken. Sie war kurz davor, die Besinnung zu verlieren. Das durfte sie auf keinen Fall zulassen. Schon allein wegen Maxima …!

„Danke, mein Liebling. Ich bin satt!“, hörte sie eine eiskalte Stimme von der Bürotür in die Küche rufen. Stumm an die Wand gelehnt und mit der Hand vor dem Mund, um keinen Laut von sich zu geben, holte sie sich die Bilder und den geistig verstörten Gesichtsausdruck von ihrem Mann noch einmal in Erinnerung. Denn „Liebling“ und: „Ich bin satt …“, so etwas gibt es in dem Wortschatz von ihrem Mann überhaupt nicht.

Das konnte doch jetzt nicht wahr sein, oder? Was sie gerade sah und hörte, ließ keinen Zweifel offen, dass dieser Mensch nicht mehr ihren Lorenz verkörperte. Aber wen dann? War das überhaupt noch ihr Ehemann? Oder wurde er nur von einer fremden Macht von außen manipuliert? War er gar von etwas besessen? Mit wildem Herzschlag wurde ihr klar, dass dieser Mann, der eben ins Haus kam, eine seelenlose Hülle mit toten Augen war …

Es dauerte auch nicht lange, bis sie die Tür zum zweiten Mal hörte, aber dieses Mal wurde sie von außen kräftig zugezogen, und ließ die verstörte Lisa, die zitternd in ihrer Küche hockte, fast ausgegrenzt erscheinen. Das Zuziehen der Tür sollte vorerst das letzte Lebenszeichen von ihrem Mann gewesen sein. Danach blieb er für seine Familie für immer spurlos verschwunden …

Nympfjet stand wie immer unsichtbar neben ihr. Mütterlich sah sie auf die zusammengekauerte Lisa herunter. „Es wird Zeit, meine kleine Lisa, dass du verstehst, mit welchen Mächten du es zu tun hast.“

Lisa horchte auf. Was war das? Als sie merkte, dass sie ganz allein in der Küche war, legte sie wieder müde und weinend ihren Kopf auf ihre Knie.

Die kleine Hexe ließ Lisa derweil mit ihren aufgeriebenen Gefühlen vorerst allein.

Die Zwerge erholten sich dank der helfenden Hexe Isis umgehend. Sie bekamen nicht nur das Salz. Auch Naturheilkräuter, die ihre Seele wieder stärken sollen, bereitete sie liebevoll für die beiden zu. Sie vertrauten der Hexe Isis immer mehr und bewunderten ihr Wissen. Und nicht nur das. Sinith und Brokk fanden sie inzwischen mit jedem Tag noch hübscher, freundlicher und hilfsbereiter. Mit der Hexe vollzog sich ganz zaghaft eine Umwandlung von einer Bösen zu einer Guten. Mit jeder Stunde fühlten sie sich kräftiger und genossen es, dass die Hexe bei ihnen war.

Sie gehorchten jedem gut gemeinten Ratschlag, auch dem, nicht unter dem Netz hervorzugehen und sich so keinen Gefahren auszusetzen. Folgsam und geduldig warteten sie bis zur Rückkehr der Hexe unter dem Netz der Unsichtbarkeit. Es bedurfte auch keiner Notwendigkeit, unter dem Netz hervorzukriechen. Denn sobald sich der Teller mit den Lebensmitteln leerte, wurde er wieder mit frischem Obst sowie salzigem Brot und Fleisch gefüllt, also Essen und Trinken zur Genüge. Die Zwerge mussten tatsächlich unter dem Netz keine Not leiden, an alles hatte die Hexe gedacht. Die beiden Wichtel waren mehr als kräftig geworden und bekamen zusehends sogar kugelrunde Bäuche, über denen die Mäntelchen etwas spannten.

Wohlwollend beäugte Isis die komplett erholten, kerngesunden und munteren Winzlinge, als sie wieder zurückkam, um die Zwerge auf dem letzten Stück des Weges zur Herrscherin vom Klobenberg zu begleiten. Sie hielt sich nicht lange mit belanglosen Plaudereien auf. Schnell und eilig packte sie gleich nach ihrer Ankunft das Hab und Gut der Zwerge zusammen. „Redigo.“ Alles verkleinerte sich so sehr, dass es in einen Rucksack passte.

Traurig tätschelten Sinith und Brokk das borstige und störrische Fell ihrer Wildschweine. Nur ungern würden sie diese treuen Wildschweine zurücklassen und schauten mit traurigen Augen über die borstigen Rücken der Tiere zu Isis, die ihr Jammern und Klagen schon längst wahrgenommen hatte.

„Ihr wollt den Schweinen nicht die Freiheit geben?“ Entrüstet, wie Isis nur so was fragen konnte, schüttelten sie ihre Bärte.

„Wir haben sie von klein auf. Sie gehören zu uns.“

„Genau. So wie Brokk und ich nicht zu trennen sind, so kann man die Schweine auch nicht von uns trennen!“ Sinith stampfte mit den Füßen auf und ab und wartete erregt auf eine Reaktion der Hexe.

Seufzend gab Isis ihrem Zauberstab einen Befehl: „Parvula minima.“ Und die Tiere wurden so winzig, dass sie sie behutsam in ihre Manteltaschen stecken konnten.

Sie ließ ihren Blick zur Kontrolle noch mal über den ganzen Platz schweifen, um sich zu vergewissern, dass sie auch wirklich nichts vergaßen, was Fedora auf die Fährte der Zwerge brachte. Als alles so war, wie es auch sein sollte, zwang sie die Wichtel zur Eile.

„So Zwerge, kommt schnell und klettert auf meinen Besen und haltet euch gut fest. Wir starten und fliegen geschwind wie der Wind zum Klobenberg. Seht nicht nach unten. Wir können uns kein Missgeschick erlauben, ich muss zügig wieder zurück sein.“ Sie hielt im Satz an und schluckte bitter an dem nächsten.

„Sonst schöpft Fedora Verdacht und setzt mich ohne mit der Wimper zu zucken in die schwelende Teufelsmauer.“

Die Zwerge rutschten nach vorne vor Isis auf den Besenstiel, die wickelte sie noch schnell in ein warmes Tuch und legte das Tarnnetz über sie, ehe sie dann mit den beiden vom Boden abhob. Sinith und Brokk genossen das Abenteuer, über die Wälder des Harzes mit einer durchaus berüchtigten Hexe zu fliegen. Isis flog, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her. Der Vergleich hinkte zwar etwas, aber nur so konnten die Zwerge die Geschwindigkeit benennen, die die Baumspitzen und Felder wie blitzende Lichter aussehen ließen.

„Na Isis, du hast es aber eilig!“, hörten die Zwerge mit einem Mal eine andere Hexe rufen. Isis fuhr erschrocken zusammen. Mit Verfolgern hatte sie nicht gerechnet.

„Wo treibst du dich rum, du, und wo kommst du überhaupt her? Du weißt doch, dass Fedora dich an ihrer Seite nur ungern vermisst!“ Sie lachte böse auf.

„Vielleicht sollte ich mich sputen und ihr erzählen, dass ich dich gesehen habe und du den Eindruck machtest, als wärest du auf der Flucht!“

Sie hielt ihre krakelige Nase in die Luft. „Außerdem stinkst du abartig nach den Zwergen. Das wird Fedora nicht gefallen.“

Isis ließ sich nicht einschüchtern. „Tu, was du nicht lassen kannst, Beijanna. Wenn du glaubst, dass dich Fedora durch Verrätereien ehrt, hast du dich geschnitten.“

Beijanna wusste, dass Isis recht hatte. Sie musste vorsichtig das Vertrauen der Oberhexe gewinnen, um die begehrte Seite neben Fedora einnehmen zu können.

Die Schattenhafte merkte, dass sie die Hexe zum Nachdenken gebracht hatte, und nutzte schnell das Grübeln der emsigen Hexe aus und schickte, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln, einen eindringlichen Fluch gegen ihren rasenden Besen. „Brenno genistae.“

Sofort trudelte der Besen unkontrolliert und fing an zu brennen. Die Hexe konnte dem Fluch nichts entgegensetzen und musste fluchend und schmerzhaft landen.

„Puh, das war knapp“, sagte Sinith und zog die Decke enger an sich.

„Ist sie jetzt tot?“, fragte Brokk und schaute dem Feuerball nach, der auf den Boden knallte.

„Nein, wir haben nur etwas Zeit gewonnen. Sie wird nun mit aller Besessenheit versuchen, vor mir bei der Oberhexe zu sein, um mich bei ihr anzuschwärzen.“

Die Zwerge bekamen Mitleid mit Isis. Sie wollten jetzt wirklich nicht in ihrer Haut stecken.

„Macht euch um mich keine großen Sorgen, Zwerge. Auch wenn ich euch jetzt auf meinem Besen transportiere, bin ich trotzdem noch eine Hexe, die auch die Schattenhafte genannt wird. Ich werde mich zu wehren wissen. Das glaubt mal.“

Sinith und Brokk sahen sich an und entschieden für sich, am besten gar nichts mehr zu sagen. Sie waren froh darüber, dass die Hexe ihnen einigen Fußmarsch abgenommen und sie gesund ernährt hatte. Beide wollten auf keinen Fall ihren Zorn herausfordern. Also genossen sie die Reise weiterhin stillschweigend. Ehe sie sich versahen, war dann auch schon die Zeit des Fluges vorbei und Isis landete vorsichtig in einem Waldstück in der Nähe vom Klobenberg.

Die schwarze Hexe bückte sich zu den Zwergen hinunter und zeigte mit ausgestrecktem Arm den Weg, den die Zwerge von nun an wieder zu zweit gehen mussten. „Ab hier müsst ihr allein weiter. Dort, seht ihr das Licht und den rauchenden Schornstein? Da wohnt Familie Lindner. Macht euch irgendwie bemerkbar. Doch achtet auf schwarze Katzen. Finden die euch, seid ihr in den grausamen Klauen von Fedora.“

„Warum bringst du uns nicht ganz zum Haus?“, fragte Sinith mit aufkommender Panik im Blick. Auf keinen Fall wollte er Fedora schutzlos ausgeliefert sein. „Die kann mich bestimmt zehn Meilen gegen den Wind riechen, oder?“

Isis nickte und bedauerte, dass ihrer Hilfe ab dem Waldrand Grenzen gesetzt wurden. „Es geht nicht, Sinith. Ich möchte mir nicht ausmalen, was passiert, wenn die uns zusammen erwischt. Ich will auch nichts heraufbeschwören.“ Fast liebevoll hob sie die kleinen Wichtel vom Besen runter und setzte sie auf dem feuchten Rasen ab.

„Ich versuche Fedora vom Garten abzulenken, damit ihr ungehindert die Klobenberg-Herrscherin suchen könnt.“

Fast schon mütterlich half sie ihnen noch, ihre Rucksäcke auf den Rücken zu schnallen, und legte das Netz der Unsichtbarkeit über die Zwerge.

„Passt auf und seid bloß auf der Hut. Ich darf euch in der Nähe des Hauses nicht zu Hilfe eilen. Meine Tarnung würde auffliegen wie ein geöffnetes Buch im Wind.“ Sie stockte im Reden und half den Zwergen, ihr Hab und Gut zu verstauen.

„Eins noch, Zwerge! Wenn ihr gefangen genommen werdet, streite ich jegliche Unterstützung, die man mir vorwirft, ab.“ Fast wie zur Besänftigung ihrer eigenen Worte wies sie leise darauf hin: „Natürlich nur, falls ihr mich bei Fedora in Ungnade fallen lassen müsst, euch rechtfertigen wollt oder was auch immer.“ Betroffen blickte sie auf ihre spitzen Schuhe und meinte sehr leise: „Vielleicht würde ich euch sogar wehtun müssen …!“ Die Zwerge erschreckten sich. Isis, die sie bis hierher gebracht hat, würde ihnen vor Fedoras Augen wehtun, nur um sich selbst zu retten, das konnten sie nicht glauben.

„Geht jetzt. Wir haben genug geplaudert. Es ist von mir alles gesagt worden, was für euch wichtig ist. Also achtet die Worte und haltet eure Augen weit auf.“

Die beiden Wichtel verstanden, dass sie nun wieder für sich allein die Verantwortung trugen. Und egal welchen Folterungen sie auch immer unterworfen sein sollten, die helfende Hexe Isis würden sie niemals verraten.

Isis’ Beweggründe waren zudem fast dieselben, die die Wichtel zur Klobenberg-Herrscherin führten, um sie um Hilfe zu bitten. Außerdem verdankten die Zwerge der schattenhaften schwarzen Hexe ihr eigenes Leben. Sie bedankten sich noch mal demütig bei Isis für ihre Großherzigkeit.

Doch diese erläuterte abwehrend: „Denkt daran, Zwerge, ich habe es nicht allein aus Zwergenliebe getan, sondern verfolge meinen eigenen Plan gegen Fedora-Astarte vom Wurmberg! Und jetzt macht euch los. Genug Zeit vergeudet.“

Ohne freundschaftlichen Gruß verließ sie die Zwerge und flog, um eventuelle Spuren zu verwischen, vom Süden aus hinter das Haus mit dem qualmenden Dach.

Die böse Oberhexe lachte dreckig, als sie genugtuend zwischen einigen Schattenweibern umherschlich und ihre wölbenden Leiber mit ihren widerlichen krakeligen Händen begrabschte. Sie hätte gerade platzen können vor Stolz.

„Meine schwarzen Nachkommen. Meine nur mir gehorchenden Untertanen der diabolischen Hexenwelt. Ich kann es gar nicht erwarten, dass ihr geboren werdet!“

Listig und in böser Vorfreude auf die im Feuer gezeugten neuen Hexen machte es sich Fedora-Astarte vor dem brennenden Kamin in dem baufälligen Unterschlupf neben Lisas Wohnhaus gemütlich. Wohlwollend beäugte sie ihre schwangeren Schattenweiber. Die uralte böse Hexe konnte von diesem Anblick gar nicht genug bekommen. Sie ergötzte sich an den kugelrunden Frauen, die demnächst schon schwärzeres Blut gebären werden, als es je im Harz gegeben hatte.

Mittendrin bewegte sich Lisas Ehemann wie eine aufgezogene Puppe. „Wie ich sehe, Sojana, hast du einen gefälligen Diener!“ Sie lachte wieder anerkennend dreckig. „Ich bin gespannt, wie lange es dauert, bis die Menschenfreundin Nympfjet hier auftaucht und diesen dummen, einfältigen und manipulierbaren Mann zu seinem trauernden Weibchen holen will!“ Sie lachte und lachte mit ihren Schattenweibern gehässig, auf Kosten einer sorgenvollen Lisa.

Lisas Ehemann stand mitten unter den vielen hässlichen und gemeinen Hexen und bediente sie wortlos: Er reichte ihnen ein Tablett mit Weinkelchen und kleinen Schüsseln, gefüllt mit gerösteten Knabbereien, mit Hühnerbeinen, Spinnenrümpfen und Kakerlakenköpfen.

Fedora zeigte mit dem Finger an, dass er zu ihr kommen soll. Ohne mit der Wimper zu zucken, trat er wie eine Marionette vor die böse alte Hexe. Mit ihrer langen dürren Nase schnüffelte sie wie ein gieriger Spurensucher an ihm lang, als sie ihm süffisant das Ende des Kampfes voraussagte:

„Zum Schluss werde ich mir eure Herzen, deines und die deiner niedlichen kleinen Familie braten lassen. So als krönenden Abschluss für die Vernichtung einer alten Harzlegende. Nämlich dann, wenn ich das Blut der alten Brunnen-Walpurga, was immer noch bedauerlicherweise in den Adern von einer tückischen Hexe fließt, für immer und ewig vergießen werde!“

Fedora hasste Walpurga, und das Gefühl ankerte tief in ihrem modrigen Hexenfleisch. Obwohl diese schon lange vernichtet war, lebte sie unweigerlich in den Gedanken von Fedora weiter. Und zu wissen, dass noch eine Hexe dieses schwarze Blut in sich trägt, die auch noch eine Abtrünnige der Teufelsgemeinschaft ist, machte sie unsagbar wütend – ein unerträglicher Zustand für die Wurmberghexe. Der Hass auf die alte Oberhexe steigerte noch mehr ihre unbändige Lust, Nympfjet sofort mit eigenen Händen aufzuspießen!

Ärgerlich trat sie nach Herrn Lindner, der sein Gleichgewicht verlor und auf den Bauch fiel. Sie verzauberte ihn zum Spaß noch in ein Schwein, das sich sofort in dem vergossenen Wein und den Leckereien für die Hexen tierisch suhlte. Mit grunzenden Geräuschen fraß er alles auf, was verschüttet auf dem Boden lag. „Ja, du bist auch nicht mehr wert als ein verfressenes stinkendes Schwein.“

Sie lachten und grölten und begannen den Abend mit weiteren groben Gemeinheiten gegen Lisas Ehemann.

Nun haben es Sinith und Brokk dank Isis tatsächlich geschafft, den ersten Schritt auf den Grund und Boden der Klobenberg-Herrscherin zu setzen. Sie liefen zwar noch einen Tag und eine Nacht ab dem Waldweg, aber sie hatten unentwegt das Ziel vor Augen, somit war der Gang nicht mehr so beschwerlich wie die vergangenen Meilen – voller Gefahren, Krankheit und Schmerz. Nun freuten sich die Zwerge darauf, der Herrscherin vom Klobenberg endlich die Botschaft auszuhändigen! Es trennte sie wirklich nur noch das eigentliche Gegenüberstehen!

Im Haus selbst war fast alles beim Alten. Maxima saß mit ihrer Mutter in der Küche und hing ihren eigenen Gedanken nach, während Lisa immer noch Zauberbücher durchforstete und Elixiere kochte und in kleine Flaschen abfüllte. Warum sie das tat, wusste sie nicht ganz genau. Aber es gab ihr ein Gefühl von Sicherheit und gewappnet zu sein vor dem, was eventuell noch auf sie und Maxima zukommen würde.

Und die kleine Hexe, die immer noch danach forschte, wo das Rufen nach ihr herkam, ließ die beiden nicht aus den Augen. Sie schaute Lisa nebenbei auf die fleißigen Hände und hörte ihren Gedanken bei der Arbeit zu: „Wie sage ich nur Mia, dass ihr Vater sich drüben bei den komischen Frauen aufhält?“ und: „Wie kann ich meine Kleine denn beschützen?“ oder: „Oh je, ich habe keine Ahnung, was hier gerade läuft“.

Nympfjet hatte großes Mitleid mit Lisa. Sie war ja nun kein kleines Mädchen mehr. Nein, sie ist eine verantwortungsvolle Mutter geworden. Die kleine Hexe verstand Lisas Gedanken nur zu gut. Sie wollte jetzt nicht in ihrer Haut stecken. Denn in Zeiten einer Not Mutti zu sein, ist der schwerste Weg, den sie gehen muss. Weil eine Mutter immer zuerst an ihr Kind denkt, bevor sie an sich selbst denkt.

Zumal Lisa überhaupt keine Idee hat, wie sie ihrer Tochter mitteilen sollte, dass sich ihr Vati in der gefährlichen Obhut von bösen Harzhexen aufhalten musste. Die Angst um ihren geliebten Lorenz fraß sie schier auf. Zu gern wüsste sie, wie es ihm geht und ob sie ihren Mann wenigstens nett behandelten. Die Ungewissheit raubte ihr fast alle Nerven. Lisa trug die Last bis jetzt ganz allein, um ihre Maxima noch etwas zu schützen. Wie lange sie das noch tragen muss, stand für sie in den Sternen. Aber solange sie es verschweigen kann, so lange würde sie es auch tun.

Von Lisas Schwermütigkeit angesteckt, ging Nympfjet in der Küche auf und ab und spiegelte sich – für Lisa und Maxima nicht sichtbar – im Fenster wider, als sie dabei verstohlen in den Garten schaute.

Der Garten erschien dunkel und finster, geblendet vom hellen Licht im Zimmer, doch Nympfjets Adleraugen sahen, dass sich auf dem Rasen etwas bewegte und die Grashalme nach unten platt drückte. Nympfjet richtete ihre Augen auf den Rasen, auf dem eine Laufspur zum Haus sichtbar wurde, und hielt sich kampfbereit.

Die Zwerge selbst sahen nicht gerade viel. Es war schwer für sie, mit einem Netz über dem Kopf einen holprigen hochgewachsenen Rasen auseinanderzuteilen, damit sie leichter vorwärtskamen. Sie stolperten mürrisch über ihre eigenen Füße unter dem Netz der Unsichtbarkeit.

„Von Rasenpflege hat hier auch noch keiner was gehört!“, zeterte Brokk.

Sinith grinste schelmisch. „Kannst dich ja anbieten, wenn wir unsere Mission erfüllt haben.“

Brokk reagierte darauf etwas angesäuert. „Ja klar. Ich pflege den Rasen und du machst dich an Nympfjet ran. Das kannst du ganz schnell wieder vergessen.“

Sinith fand den Vorschlag gar nicht mal so übel. „Das war dann aber deine Idee. Nicht, dass du später behauptest, ich hätte mir den Plan schon lange zurechtgelegt!“ Brokk verfing sich in einer Eifersucht, obwohl es überhaupt keinen Anlass dazu gab.

Unwirsch trampelte er vor Sinith her, der ihn dann von hinten anstieß. „Pass doch auf, du Trottel“, schimpfte sich Brokk in Rage, als Sinith ihm in die Hacken trat. Es dauerte nicht lange, da wiederholte sich das dumpfe Buffen. „Aua. Sinith, ich habe gerade gesagt, du sollst aufpassen.“ Seine Warnung hatte er noch nicht ganz ausgesprochen, da traf Sinith ihn sofort wieder im Rücken. Ungehalten wandte er sich seinem Freund zu, um ihm die Leviten zu lesen. Seine Fäuste schon geballt, wollte er ihm gerade denselben Stoß versetzen, den er mehrere Male gegen seine Ferse aushalten musste.

Das starre und kreidebleiche Gesicht seines Freundes hielt ihn aber zurück. Es war nicht das erste Mal, dass er diesen Gesichtsausdruck bei seinem Freund sah. Bleich und mit bewegungslosen Gesten stierte Sinith ihn erschrocken an. „Ich bin das nicht, ehrlich“, schwor Sinith besonders leise.

Brokk schaute vom weißen Gesicht seines Freundes weg und der Blick blieb auf einem samtigen schwarzen Fell und fies dreinblickenden gelben Katzenaugen hängen. Wie angewurzelt blieben sie auf dem Punkt stehen. Die Katze fuhr ihre Krallen aus und schlug damit augenscheinlich ins Leere, traf aber zielsicher die Zwerge, die sich krampfhaft am Netz festhielten und unsanft auf dem Boden aufschlugen. Schnell und wendig haute sie mit ihren Pfoten unentwegt zu, um die Zwerge irgendwie zu treffen und sie unter dem Netz hervorzuholen.

„Sinith, ich freue mich, dass du den weiten Weg tatsächlich geschafft hast.“ Die Katze kam mit ihrer Schnauze ganz dicht an Sinith heran und versuchte ihn mit ihren Barthaaren zu ertasten. „Ich kann dich riechen, mein Freund …! Mmh, komm doch zu mir. Hab keine Angst, du kennst mich doch schon.“

Die Katze schnurrte so laut, dass sich Brokk die Ohren zuhalten musste, ansonsten wäre er taub geworden. Dabei kam ihm der rettende Gedanke, dass er das Horn der Taubheit schnell blasen musste. Fahrig suchte er in seinen Taschen danach. Nichts. Wie sollte er es auch finden, wenn noch alles winziger als winzig in den Taschen verzaubert war! Isis hatte vergessen, die persönlichen Gegenstände der Zwerge wieder in ihren Ursprung zurück zu zaubern. Wie sollte er jetzt ein Horn finden, das nicht einmal mehr die Größe eines Fingernagels besaß. In der Zeit, als Brokk nervös nach dem Horn suchte, befand sich Sinith schon fast unter Hypnose. Fedora, die alte Wurmberghexe, wusste ganz genau, wie sie den Zwerg erreichen konnte, und fing liebreizend zu singen an:

Mein kleiner Freund, hab keine Angst,

ich kenne keinen Grund, wovor du bangst.

Du nennst nur meinen Namen

und ich kann deine Seele haben.

Sag ihn lieblich, leise

auf eine betörende Weise.

Sprich aus deinem Munde

die Namenskunde.

Ich will nur wissen,

ob du auch wirklich weißt,

wie mein Name heißt!

Brokk wühlte wie ein Wahnsinniger in allen Taschen. Er kippte sie zügig aus und verteilte die Sachen, um das Horn schneller zu finden. Nichts, wo war das Horn nur? Wonach musste er suchen, wie sah das Horn jetzt aus …? Schweißperlen sammelten sich auf Brokks Stirn und liefen ihm das Gesicht hinunter.

Die Zeit drängte. Sinith befand sich wieder einmal fest in den Klauen von Fedora. Sein Unterbewusstsein löste sich und wollte ihr folgen. Er setzte an und wollte ihren Namen nennen: „Fe, Fee … Feed …“

„Nein, Sinith. Nein, nein, nein“, schrie Brokk seinen Freund an. Brokk rannte mit aller Wucht gegen die Katze. Ihm war es egal, ob die böse alte Hexe ihn nun mit Haut und Haaren verspeiste. Sie sollte nur ihren Freund in Ruhe lassen.

Die Katze fuhr fauchend ihre messerscharfen Krallen aus und schlug auf gut Glück zu. In diesem Moment passierte etwas Entsetzliches. Das Netz öffnete sich zu einem winzigen Schlitz, der für Fedora schon ausreichte, um Brokk zu sehen. Ein weiteres Mal schlug sie so hart zu, dass Brokk komplett unter dem Tarnnetz sichtbar wurde und der schwarzen Katze von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.

Die bleckte ihre spitzen Zähne, lachte gurrend und wünschte sich einen guten Appetit. „Muris!“ Ehe er begriff, was passierte, sah Brokk hinter sich einen langen grauen Schwanz. Seine Hände wurden winzige Pfötchen und seine von Panik ergriffene Stimme ähnelte nur noch einem jämmerlichen Piepsen. Nun war Brokk für Fedora-Astarte vom Wurmberg nichts weiter als ein kleiner Mäusesnack.

Gierig sprang sie mit einem Satz auf die Maus zu und wollte diese mit einem Biss hinunterwürgen, in dem Moment traf sie ein hellgrüner Blitz und sie eilte mit einem erbärmlichen Katzengejammer davon. Das kleine Mäuseherzchen überstand die ganze Aufregung nicht und ließ Brokk erschöpft in ein tiefes traumloses Loch fallen …

Lisa hatte sich doch entschlossen, Maxima von ihrem Vater zu erzählen. „Ich geh da sofort rüber!“, schrie Maxima fast hysterisch. „Wieso ist mir gar nicht aufgefallen, dass Papa schon drei Tage nicht mehr hier ist?“

In Maximas Augen sammelten sich heiße Tränen der Verzweiflung. Sie war auf sich wütend, da sie wieder mal nur an sich dachte, anstatt Augen und Ohren offen zu halten sowie ihrer Mutter und der sich wiederholenden Stimme in ihrem Kopf zu glauben.

„Wir müssen Papa von der Alten dahinten wegholen, Mama! Wer weiß, was er auszustehen hat!“

Lisa hockte ratlos in ihrem alten Kinderzimmer und folgte dem Schatten der kleinen fliegenden Hexe aus dem Fenster. „Ich weiß in diesem Fall nicht einmal, von wem wir ernst gemeinte Hilfe erwarten können, ohne dass sich die Person lustig macht und uns beide für total bescheuert hält …?“

Verunsichert suchten ihre Blicke im Zimmer irgendwo Halt. Sie wussten langsam nicht mehr, was sie noch denken sollten.

Bis Maxima das gespenstische Schweigen mit einer nicht einmal törichten und bei den Haaren herbeigezogenen Frage brach:

„Hast du dir eigentlich schon mal darüber Gedanken gemacht, was das für männerseelenfressende Monsterweiber sind, die sich in unserer Nachbarschaft breitmachen?“

Lisa stieg ein Kloß in die Kehle, als sie an ihren Lorenz dachte. „Ja, irgendwie bin ich stets am Denken. Ich komme aber zu keinem Ergebnis“, log sie ihre Tochter an, denn nur zu gut wusste sie, dass es Hexen waren.

„Ich aber.“ Maxima kam ganz nah an Lisas Ohr und flüsterte so leise, dass Lisa erst gar nichts verstand, sondern nur ihre aufsteigende Gänsehaut im Nacken spürte. Mit ihren Lippen formte sie das Wort nach, das Maxima ihr zuraunte.

„Hexen?“, wiederholte Lisa überrascht. Ihre Maxima, die nie an Harzwesen geglaubt hat, dachte ernsthaft an Hexen? Maxima sah ihrer Mutter fest in die Augen und nickte ununterbrochen dazu.

„Ich wollte diesen Gedanken mit dir nie zu Ende denken, Kind. Aber ich weiß, dass du recht hast. Wir haben es hier nicht nur mit Hexen zu tun, sondern mit bösen Teufelsweibern.“

Mutter und Tochter machten einen jämmerlichen Eindruck, als sie auf dem Dielenboden saßen und ihre Hilflosigkeit zum Himmel schrie …

Hilflos und jetzt auch noch mutlos stierten sie wieder vor sich hin. „Was sollen wir jetzt nur machen? Das Einzige, was ich über Hexen weiß, dass sie früher auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, weil sie des Teufels waren. Aber wie man sich schützen kann oder auch mit ihnen kämpfen soll, davon habe ich keinen bloßen Schimmer!“

„Und warum hast du das ganze Kraut in unserer Küche gekocht? Wenn nicht zum Schutz? Auch die Apfelhälften sind mir nicht verborgen geblieben, Mama! Und dann sagst du, du hast keine Ahnung, wie du uns beschützen kannst. Das haste doch schon!“

Maxima wusste auch nicht mehr wie ihre Mutter, die sich im Internet über Hexen und deren Hexereien belesen hatte.

Aber es fühlte sich gut an, was ihre Mutter bisher für sie im Haus getan hat.

Es war so unwirklich, dass sich Mythen und Sagen gerade im Leben von Familie Lindner lebendig gestalten. Alles, was man sich bisher erzählte, handelte sich um Geschichten, Überlieferungen und Erzählungen aus dem Mittelalter. Doch für die Neuzeit gab es keine Tipps, wie man mit wahren bösen Hexen umgehen muss. Es ist halt auch nicht möglich, sich einfach auf die Straße zu stellen und mit dem Finger auf die Frauen zu zeigen und Hexe zu schreien, wie das im 12. bis 15. Jahrhundert gang und gäbe war. Heute, im 21. Jahrhundert, würde man schneller in einer Zwangsjacke stecken, als man bis drei zählen konnte.

Lisa seufzte schwerfällig bei dem Gedanken, wie viele unschuldige Frauen auf diesem Wege hingerichtet wurden.

„Weißte was, Mia, wenn wir unsere Geschichte jemandem erzählen würden, dann stände sogar ich zu damaligen Verhältnissen auf dem Scheiterhaufen.“

„Warum, weil du Kräutersuppe gekocht hast?“

„Ja, genau aus diesem Grund, Mia. Leider sind gerade diese Frauen verbrannt worden.“

„Weil die essbare Pflanzen gesammelt haben und Heilkräuter, das ist doch unglaublich?“

„Ja, Kind. Viele Frauen mussten ihr Leben lassen, die wegen ihrer Kräuterkunde und Nächstenliebe angeklagt wurden, weil irgendein Bauer oder Nachbar der Meinung war, schlechtes Zeugnis abgeben zu müssen! An allem sollten sie schuldig sein. Missernten, Totgeburten, Ehebruch. Ach, an allem eigentlich.“

Ungläubig sah Maxima ihre Mutter an. „Ich verstehe das eben nicht? Nimmst du die Hexen jetzt auch noch in Schutz? Ich glaub’s ja wohl nicht.“

„Mia, bitte. Du musst richtig zuhören! Nein, ich nehme hier keine bösen Hexen in Schutz. Ich will dir nur verständlich machen, dass es zweierlei Frauengruppen gibt. Die eine ist böse und dunkel und die andere hell und freundlich.“ Wieder kroch in Lisa ein Gefühl aus Kindertagen im Bauch umher, das sie wie immer nicht einordnen konnte.

„Ich glaube, wir sollten zu Papa ins Büro gehen und intensiver danach googeln. Bestimmt werden wir über Hexen etwas Ausführlicheres finden, was uns weiterhilft, oder Mama?“ Maxima fand den Vorschlag nicht übel und bat ihre kapitulierende und müde Mutter aufzustehen und zu handeln.

„Meinst du, die alten Überlieferungen, außer den Ratschlägen, die Hexen auf dem Scheiterhaufen festzubinden und anzustecken oder ihnen die Köpfe abzuhacken, halten für uns irgendetwas Brauchbares, Hilfreiches und Nützliches gegen böse Hexenweiber parat?“

Maxima hockte sich wieder hoffnungslos auf die noch warme Stelle zurück. „Ach menno! Ich weiß dann jetzt auch nicht mehr weiter.“

„Ich weiß nur, dass ich meinen Ehemann und deinen Vater wiederhaben will. Und das ungeschoren.“

Beide seufzten schwer im Duett und fielen wieder in eine Phase der Ratlosigkeit …

Nympfjet, Ida und Frowin beobachteten alles mitfühlend aus ihrem Paralleluniversum, das sich mitten in Lisas altem Zimmer befand.

„Nimm den Vergessenheitszauber ab, Nympfjet. Es reicht jetzt. Allein können sie sowieso nichts ausrichten!“ Frowin stimmte Idas Drängen uneingeschränkt zu.

„Es ist mehr als Zeit. Die zwei müssen noch auf den bitteren Kampf mit der Wurmberghexe vorbereitet werden! Worauf wartest du noch?“ Frowin und Ida redeten auf Nympfjet ein, die schon längst wusste, dass die Zeit gekommen war, um Lisa ihre Erinnerung wiederzugeben. Sie zückte ihren Zauberstab und sprach liebevoll:

Wach auf und erinnere dich.

Der Schlaf, in dem du steckst,

ist jetzt und gleich aufgeweckt!

Zum Nachdruck bestätigte Nympfjet die Auflösung des Vergessenheitszaubers in der angenommenen Hexensprache: „Obliuio est praeteritum.“ Vergessenheit ist Vergangenheit, diese beiden entscheidenden Worte und dazu ein hellgrüner Lichtstrahl ließen Lisa all ihre Erinnerungen klar und deutlich sehen.

Lisa saß auf dem Fußboden und beschäftigte sich mit ihren Fingernägeln, um sich dabei einen Plan auszudenken, wie sie ihren Mann von diesen Hexen befreien konnte, als sie plötzlich jemand mit weicher singender und betörender Stimme wie aus einem tiefen Schlaf weckte: „Schön dich zu sehen, Lisa!“

Lisas Herz blieb fast stehen. Mit weit aufgerissenen Augen und im wachen Zustand konnte sie trotzdem nicht glauben, was sie sah und wer vor ihr stand. Ganz langsam stiegen heiße Tränen und die Erinnerung in ihr hoch, die sie wieder zwölf Jahre alt sein ließ. Sie schlug ihre Hände vors Gesicht und lugte hindurch: „Nympfjet. Frowin. Ida. Oh Gott, ich kenne euch.“ Fassungslos schob sie ihre Hände ganz vors Gesicht und nahm sie aber sofort wieder weg, um zu gucken, ob das, was sie da sah, auch Wirklichkeit war.

Sie stützte sich vom Fußboden hoch und rannte auf die drei zu und tastete alle nacheinander ab. „Das war nie ein Traum? Ich wusste das die ganze Zeit. Euch gibt es wirklich …!“

Lisa stürzten nun dicke Tränen die Wangen runter. Wie oft wurde sie ausgelacht wegen ihrer Geschichten. Freunde in der Schule machten sich über ihre blühende Fantasie lustig. Sogar die eigene Familie trieb ihren Schabernack mit Lisas einzigartiger Liebe zum Harz und seinen Mythen – zur großen Belustigung aller.

Schwach sackte sie zu Nympfjets Füßen zusammen und hielt den goldenen Saum am grünen Kleid mit ihren Händen fest umklammert. „Weine nicht, Lisa. Jetzt wird alles gut!“

Lisa kauerte vor den Füßen der kleinen Hexe und überdachte alle Hänseleien, die sie in ihrem Leben ertragen musste. Man lachte sie aus und hielt sie für die größte Spinnerin im Harz. „Ich erinnere mich an Bruchstücke! Grausame Dinge passierten. Man hat mir sehr wehgetan …!“

Nympfjet nickte und zog Lisa zu sich hoch. Sie waren jetzt in Augenhöhe. Und Nympfjet stellte mit einem ziehenden Schmerz im Herzen fest, dass vor ihr kein Kind mehr stand!

„Du wirst nach und nach erfahren, was damals passierte. Die Erinnerungen brauchen jetzt etwas Zeit, damit du uns nicht geistig schwach wirst.“

„Wo wart ihr so lange?“ Lisa klopfte auf ihr Herz. „Hier drin habe ich euch so sehr vermisst! Ich wusste immer, dass mir meine Fantasie keinen Streich spielt.“ Lisa konnte kaum sprechen. Die vielen kullernden Tränen, die von einem unsagbaren Schmerz ausgelöst wurden, blockierten ihre belegten Stimmbänder.

„Warum das so war, Lisa, wirst du alles zu seiner Zeit erfahren. Und nun trockne bitte deine Tränen und freu dich, uns zu sehen!“ Nympfjet breitete ihre Arme aus und umschloss die aufgelöste Lisa, die sich sehr schnell in der Umklammerung beruhigte. Als sie so bei der kleinen Hexe im Arm lag, wurde ihr auch schlagartig klar, woher sie den Lavendelduft kannte.

„Du warst die ganze Zeit über im Haus! Ich konnte dich riechen und hatte keine Ahnung. Immer wieder zog ein feiner Hauch von Lavendel durch jedes Zimmer. Die ganzen Jahre über warst du an meiner Seite, ohne dass ich es gemerkt habe oder mich erinnern konnte.“

Lisa schüttelte erneut ein bitterliches Weinen. Nympfjet und ihren Freunden ging Lisas Schmerz sehr nahe, ihre Augen füllten sich zusehends mit Tränen. Keiner von ihnen ahnte in dieser Zeit, was sie der kleinen Lisa angetan hatten. Und nun musste sie ein weiteres Mal gemeinsam mit ihnen eine böse Hexe bekämpfen …

Nacheinander nahmen auch Ida und Frowin Lisa in ihre Arme und begrüßten sie herzlich unter laufenden Tränen.

„So, genug geheult, würde Berta jetzt sagen.“ Frowin lächelte, wischte verschämt mit seinem Handrücken die feuchten Spuren weg und beendete das Drama Wiedersehen.

„Ja, genau. Wo ist die dicke Berta? Die gab es doch auch, oder doch nicht?“

Fragend suchte sie in den bekannten Gesichtern. Dabei streifte ihr mütterlicher Blick Maxima. Leicht beunruhigt sah sie, dass Maxima verwirrt und regungslos vor ihrem Bett hockte und überhaupt nichts mehr verstand.

Beruhigt stellte sie aber fest, dass ihre Tochter nicht den Eindruck machte, als ob ein Geist durch sie hindurch gejagt war, sondern eher, dass sie hoffnungslos den Verstand verlor!

Frowin lächelte Lisa an und sagte: „Die gute alte Berta fehlt uns auch. Sie ist nach dem Kampf mit der Brunnen-Walpurga zu ihrem Alfred in den Himmel aufgestiegen und macht ihm mit Sicherheit ordentlich die Hölle heiß!“

„Darauf kannst du einen lassen!“, ertönte es plötzlich. Gleichzeitig schauten sie überrascht auf die Wand, in der die alte Berta früher wohnte. Eine durchsichtige Frau, die in einer weißen gestärkten Schürze steckte, quälte sich mit einem Koffer in der Hand durch die Wand und sagte: „Ihr solltet mal eure dämlichen Gesichter anschauen.

Habt ihr etwa einen Geist gesehen? Mein Alfred würde jetzt sagen: Temterem.“ Sie lachte schallend über ihren Scherz und meinte weiter, als keiner der Anwesenden auch nur zu einem Laut fähig war: „Ich brauchte mal Urlaub. Das ist dort oben dermaßen geordnet und langweilig, dass ich bei Petrus Urlaub beantragen musste.“ Wieder lachte sie schallend. Die Gesichter vor ihr sahen sie immer noch an, als hätten sie einen Geist gesehen, deshalb hörte sie prompt auf und erstickte bald daran. Mit einem scheußlichen Hustenanfall krächzte sie: „Wie ich sehe, habt ihr euren Humor innerhalb der letzten dreißig Jahre begraben. Schade auch. Oder habt ihr eure Zähne verloren? Oh Gott, wie es scheint, steht mir viel Arbeit bevor, na ja, war wohl höchste Zeit, dass ich im Harz mal Urlaub mache.“ Ruppig wirbelte sie dem verstummten Frowin durch die Haare, die ihm sogleich senkrecht vom Kopf abstanden. Durch Ida flog sie hindurch und begrüßte sie herzlich. „Na Ziege, sind wir satt. Mmäääh, ich mag kein Blatt!“ Ida grinste und nahm die Begrüßung nicht so ernst. Berta durfte sich das erlauben, nur kein anderer.

Schnell kniff sie ihre Augen zusammen und mit einem giftigen Augenaufschlag sah sie zu Frowin. Ohne Worte verstand Frowin sofort, was dieser Blick bedeutete, nämlich: „Wehe, du wagst es auch, so mit mir zu sprechen.“ Frowin grinste über das ganze Gesicht und wollte sich diesen Spruch unbedingt merken. Er nickte Ida mit schlitzigen Augen wissend und herausfordernd zu. Wie zwei Kampfhähne beäugten sich beide, die eben dabei waren, aufeinander loszugehen. Selbst ihre Zauberstäbe leuchteten schon auf. Unterbrochen wurden sie dann aber von der dicken Berta, die gerade aus ganzem Herzen seufzte, als sie die kleine Hexe ansah.

Liebevoller als bei den anderen schwebte sie auf Nympfjet zu und sagte: „Ach, mein kleines Hexlein. Du bist schön wie eh und je.“ Sie drückte Nympfjet herzlich an ihre transparente Brust, die die kleine Hexe kurzfristig mitten in Berta stehen ließ, und sagte mit fast demselben Atemzug: „Lisa, wie ich sehe, bist du ja auch nicht mehr die Jüngste. Ich hoffe nur für dich, dass du deine vorlaute Klappe in den Griff bekommen hast!“

„Sie schon“, meinte Ida kichernd, „nur ihre Tochter nicht!“

„Na ja, der Apfel fällt halt nicht weit vom Stamm“, sagte die dicke Berta streng und herzte auch Lisa an ihre Brust, die wie Nympfjet auch vollständig stehend in Berta verschwand. Berta war das alles egal, denn hier ging es nur um die mütterliche Geste, ihre Liebsten bei der Begrüßung in die Arme zu nehmen.

In der Zwischenzeit passierte das, was passieren musste. Maxima fiel mit einem lauten Knall ins bodenlose Schwarz.

Zur Entschuldigung für ihre zusammengebrochene Tochter meinte Lisa verschämt mit einem Achselzucken: „Es tut mir leid, aber sie glaubt eigentlich nicht an die Harzsagen und ihre Wesen!“

Berta stemmte ihre Fäuste in ihre prallen Hüften und schimpfte. „Temterem. Das ist ja unglaublich. Die ist tatsächlich wie ihre Mutter …!“

Fedora-Astarte zog sich auf ihren Wurmberg zurück und leckte ihre Wunden. Sie war von dem Fluch schwer verletzt worden, der sie aus dem Hinterhalt plötzlich überraschte. Für ihren Geschmack viel zu feige, man hatte ihr nicht einmal die Gelegenheit eingeräumt, sich wehren zu können. Bitterböse jaulte sie über die Schmerzen des Fluches, die so unerträglich waren, dass sie nicht wusste, wie sie sich aufrecht halten sollte. Brennend heiß bohrten sich ihre wütenden Augen in die Holzdielen in ihrer Hütte. Zu gern würde sie jetzt jemandem wehtun, am liebsten wäre ihr die ekelhafte Menschenfreundin Nympfjet. Denn Fedora wusste ganz genau, von wem der Angriff kam.

„Dieses Hexenaas werde ich in Fetzen reißen, wenn ich es in meine Krallen kriege.“ Fedora besah sich ihre spitzen langen Fingernägel, fluchte laut und hinderte Isis daran, die Wunde mit klarem Wasser auszuwaschen.

Still und abwartend hockte Isis hinter der erbosten Oberhexe. „Mach was, Isis. Der Schmerz ist unerträglich!“ Isis nahm ein Tuch mit einer dicken breiigen Masse von Fedoras bereits eitriger offener Wunde am Rücken ab und begann diese zu säubern. Isis hatte schon viele offene Wunden gesehen, aber diese hier war heftig. Alle Heilzauber von Isis schlugen fehl. Die Herrscherin vom Klobenberg beherrschte mächtigere Zauber, als alle dachten. Fedora verlor fast das Bewusstsein, so höllische Schmerzen musste sie ertragen.

Isis konnte nicht einschätzen, ob das Zittern, was ihren mageren Leib schüttelte, vom Schmerz ausgelöst wurde oder durch die bittere Wut gegen die Klobenberghexe. Sie wusste, dass Fedora nicht ertragen konnte, wenn jemand mehr Stärke zeigte wie sie. Jede Hexe war des Todes, wenn sie in der schwarzen Magie mehr aufweisen konnte als die Oberhexe vom Wurmberg.

Umso mehr musste Isis nun auf der Hut sein und versuchen, die Herrscherin des magischen Schwertes auf ihre Seite zu bekommen. Doch seit Fedoras Verletzung musste Isis Kräuter suchen, damit sie aus der Natur eine Heilsalbe für Fedora herstellen konnte, die die große Wunde entgiften sollte.

Alte Rezepte kramte sie hervor, anstatt die Herrscherin aufzusuchen! In uralten Büchern fand sie dann eine alte Rezeptur, selbst von Fedoras Mutter aufgeschrieben. Die Mutter von Fedora stellte das ganze Gegenteil ihrer bösen gnadenlosen Tochter dar. Beim Durchblättern der Seiten bedauerte Isis sehr, dass die alte Kräuterhexe nicht mehr lebte. Viele Fragen taten sich für Isis gerade auf, für die die Heilkunde etwas Besonderes war …! Sie wandte sich wieder den Seiten mit der Salbenherstellung zu und hielt sich streng an das Rezept. Sie brauchte zwei gehäufte Doppelhände Ringelblumen (Blätter, Stängel und Blüten), die sie sorgfältig klein hackte. 500g Schweinefett vom natürlich gefütterten Schwein, welches sie noch beim Bauern besorgte. Das gute Fett erhitzte sie dann so, als ob man ein Stück Fleisch braten wollte. In dieses heiße Fett gab Isis dann nacheinander die geschnittenen Ringelblumen. Sie ließ sie sorgfältig zerkochen, rührte den entstandenen Brei um und zog den Kessel zur Seite. Zugedeckt ruhte die Paste einen Tag lang. Heute war die Salbe fertig und Isis konnte die Oberhexe versorgen! Sie erwärmte sie ganz langsam, bis sie sich fast verflüssigte, und filterte die Heilpaste durch ein Leintuch in saubere und sterile Gefäße, als Vorrat. Isis freute sich sehr darüber, dass sie die weiße Magie noch nicht verlernt hatte bzw. noch nicht von der schwarzen Magie eingenommen wurde, so wie bei Fedora!

Ohne Gegenzauber für die Flüche stand Fedora der Herrscherin machtlos wie ein kleines Kind gegenüber. Das wollte sich Isis auf alle Fälle merken und zum späteren Zeitpunkt zunutze machen. Fedora fletschte in Isis’ Gedanken hinein: „Wehe, du erzählst irgendjemandem davon, dass ich diesem Zauber nichts entgegenzusetzen hatte!“ Sie griff in Isis’ ungekämmtes langes Haar und zerrte sie zu sich herunter, sodass sie ihren fauligen Atem riechen konnte. Isis sah nicht zum ersten Mal den ihr gegenüber lodernden Hass aus Fedoras Augen springen. Zu gern würde Fedora-Astarte sie hinrichten und Isis den Platz in der Teufelsmauer zuweisen, den sie für sie mit Sicherheit schon lange auserkoren hatte. Doch noch brauchte sie Isis. Mit einem brutalen Tritt gegen Isis’ zarte Hüfte zeigte sie der treuen Isis ihre nichtssagende Stellung neben Fedora auf.

Abschätzend beäugte sie ihren flachen Leib, gegen den sie gerade beherzt mit ihrem Fuß trat. Schlagartig fiel ihr auf, dass Isis keinen Bauch vor sich her trug wie die anderen Hexen. „Wieso bist du nicht schwanger, Isis?“ Fast tonlos krächzte die Oberhexe die Worte und betrachtete nun mit größerem Interesse Isis’ schlanken Körper. Sie legte ihre spindeldürren Hände auf Isis’ flachen Bauch und fühlte nach der Gebärmutter. „Du solltest dir ein Mittelchen gegen deine Unfruchtbarkeit brauen.“ Fedora verzog schmerzhaft das Gesicht, als Isis ihr die Salbe kräftig auf die offene Wunde drückte, um Fedora von ihrem Bauch abzulenken. „Es wäre äußerst schade, wenn deine Talente nicht weiter vererbbar wären!“, stöhnte sie vor Pein auf und kniff gefährlich ihre Augen zusammen, um mit fester Stimme nachzuhaken: „Oder warst du gar nicht erst beim Ritualtanz dabei? Sollte ich das herausbekommen, Isis, werde ich nicht mehr damit warten, dich zu verbrennen!“ Obwohl die Verletzung Fedora körperlich einschränkte, tat es der Schärfe ihrer Zunge keinen Abbruch.

Mit einem Zauber bohrte sich Fedora in Isis’ Mund, um ihre Zunge zu lösen, damit endlich die Worte des Verrats ausgesprochen wurden. Sie wusste, dass die Hexe etwas verbarg, sie wollte es nur noch von Isis selbst hören!

„Los Hexe, sag es, was ich schon lange ahne.“ Doch Isis hatte die Tricks von Fedora tausendmal beobachtet und konnte ihre Redseligkeit im Zaum halten. Der Oberhexe war es nicht möglich, die Wahrheit aus Isis herauszulocken, und ließ von Isis ab. Mit eiskaltem Lächeln sagte sie: „Du bist schlau, Hexe. Aber nicht schlau genug. Fürchte den Tag, an dem wir beide im Kampf gegenüberstehen. Du wirst mit ansehen müssen, wie ich an diesem Tag dein blutendes pochendes Herz mit Füßen treten werde. Denn das, Hexe, wird auch das Letzte sein, was du in deinem verräterischen Ende erleben wirst.“

Isis drängte nach dieser Ansage noch mehr die Zeit im Nacken. Sie hoffte nun sehr, dass die Zwerge bei der Klobenberg-Herrscherin ein Wort für sie eingelegt haben. Wenn nicht? Dann bleibt nur mit Stolz der ewige Tod in der Teufelsmauer …

Lisa brauchte einige Zeit, um das, was eigentlich vergessen schien, wieder aufzuarbeiten. All das, was sie ihr ganzes Leben lang glaubte, nämlich alles nur in gruseligen Träumen gesehen zu haben, wurde lebendig und bekam Namen. Während Lisa sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen musste, um nun das wahre Gestern mit dem Heute zu mischen, beobachtete Maxima gespannt, wie sich ihr Zimmer in eine Halle verwandelte, in der Ida, Frowin und die dicke alte Berta mit Flüchen nur so um sich warfen.

Die Zauberstöcke gaben mit jedem Fluch einen anderen Lichtstrahl ab. Maxima konnte Frowins Zauber schon sehr schnell einschätzen. Sein Licht aus dem Stab war unterschwellig leicht rosa. Und bei Ida und Berta erschienen die Farben, wie sie sein sollten, kräftig und zackig.

Sie grinste, als ihr ein Grund dazu einfiel, den sie auch direkt Frowin aufs Butterbrot schmierte. „Du bist in Ida verliebt!“, kicherte Maxima vorlaut und ertappte Frowin beim Rotwerden. „Versuch erst gar nicht, das abzustreiten. Ich habe schon ganz genau beobachtet, dass du die Ida manchmal mit Absicht gewinnen lässt.“ Verschwörerisch blinzelte sie dem schüchternen Frowin von unten her zu.

„Du bist ganz schön keck, mein Fräulein Lindner!“, antwortete er, überrascht von der direkten frechen Art zu diesem Thema. Maxima verschränkte ihre Arme über der Brust und nickte Frowin wie ein Wackeldackel zu. „Ich weiß genau, was hier läuft!“ Der Zauberer nahm einen Schluck Wasser und beäugte aus dem Augenwinkel die Tante Schlaumeier. „Schön für dich. Dann kannst du ja hinterherrennen.“ Mit einem munteren Grübchen in der Wange ließ er die verdutzte und besserwisserische Maxima einfach stehen.

Nympfjet und Lisa saßen in der Zwischenzeit und wärmten die Geschichten auf, die fortwährend in Lisas Gedächtnis zurückkehrten. Sie bekamen das Gespräch zwischen Maxima und Frowin mit und belächelten mütterlich sein ertapptes zickiges Verhalten, von einer Zwölfjährigen erkannt worden zu sein.

„Sie ist ganz und gar wie du, Lisa.“ Lisa erfüllte es mit Stolz, dass gerade die kleine Hexe Nympfjet, die sie selber damals für eine Zwölfjährige gehalten hatte, die Anerkennung aussprach. Denn niemand kannte Lisa so gut wie Nympfjet. So nach und nach erfuhr sie, dass Nympfjet Lisa seit ihrem zwölften Lebensjahr beobachtete, ohne dass das Mädchen davon Wind bekam. Still und leise bewegte sich Nympfjet wie ein Schutzengel neben Lisa und achtete ständig auf sie. Oftmals wehrte sie sogar Gefahren von Lisa ab. Selbst nachts hatte sie stundenlang an ihrem Bett gesessen und ihr Harzsagen zugeflüstert oder sie einfach nur angesehen. Vom ersten Tag an, als sie beschlossen, Freundinnen zu sein, gab es Lisa und Nympfjet – und anders herum. Und nachdem Lisa den Vergessenheitszauber bekam, war es selbstverständlich, dass die kleine Hexe auf Lisa achtete.

Nympfjet erhob sich von ihrem Sessel, klatschte in die Hände und beendete den Übungskampf in der großen Feuerhalle, die eigentlich Lisas altes Zimmer war.

„Berta. Frowin und Ida, kommt bitte her.“ Die drei stellten ihre Kämpfe ein und setzten sich neugierig zu Lisa an den Tisch. Fragend blickten sie auf Nympfjet, anscheinend wollte sie ihnen etwas sagen: „Ich habe euch noch etwas mitzuteilen“, sagte sie lächelnd. „Bisher erwähnte ich euch gegenüber noch nicht, dass wir noch zwei weitere Gäste haben, die einen gefährlichen Weg auf sich nahmen, um die Klobenberg-Herrscherin zu finden. Die zwei mussten sich erst einmal erholen, deshalb legte ich sie in einen festen Schlaf. Es wird nun Zeit, dass sie uns berichten, was und wer sie auf den Weg geschickt hat.“

Nympfjet öffnete eine Schranktür, hinter der sich ein urgemütliches Zimmer verbarg, in dem sich Brokk und Sinith unbeobachtet fühlten und wieder einmal um die Gunst von Nympfjet stritten. Lisas Herz hüpfte vor Freude, als sie die winzigen Wesen erkannte. Glücklich flüsterte sie: „Das sind ja Sinith und Brokk …!“

Maxima, die die ganze Zeit aus Frowin herauskitzeln wollte, wie lange er schon in Ida verliebt war, schaute auf und sah die lebendigen kleinen Wichtel, die sie anlächelten und mit einer tiefen Verbeugung begrüßten. Mit einem Aufschrei verabschiedete sie sich wieder von den anderen und fiel abermals in eine Bewusstlosigkeit.

Die alte dicke Berta, die unter der Decke schwebte, verdrehte verständnislos die Augen und polterte brummig: „Na, das wird ja ein Abenteuer werden, wenn die jedes Mal umkippt, wenn sie Fabelwesen sieht.“ Und zu Nympfjet gewandt, sagte sie in einem bedauerlichen Ton: „Bei der brauchst du deine Suppe nicht kochen. Die kriegt eh nichts mit!“

Lisa kümmerte sich nicht wie sonst um den Schwächeanfall ihrer Tochter. Sie wusste, die würde bald wieder aufwachen. Man sollte jetzt nicht den Eindruck gewinnen, dass sie sich zu einer Rabenmutter entwickelte. Nein, Maxima war die letzten Tage so oft in Ohnmacht gefallen, wenn sie etwas erblickte, woran sie nie im Leben geglaubt hatte, sodass es Lisa einfach als Lernprozess ansah.

Beherzt ging sie dafür auf ihre Lieblingszwerge zu, stupste sie an und zog sie an Mäntelchen und Bärten. „Ihr seid so was von echt!“, lachte sie und hätte sie am liebsten abwechselnd auf den Arm genommen, doch der abwehrende Blick von Brokk hinderte Lisa daran. Die freudig überraschte Lisa musste sich beruhigen, denn die Zwerge waren ja nicht wegen Lisa gekommen, sondern hatten eine Mission, und die sollte endlich der Herrscherin vorgetragen werden. Sie musste sich jetzt notgedrungen zusammenreißen, obwohl sie sie lieber geherzt und geknufft hätte. „Ich bin Lisa“, stellte sie sich als Erste vor und rätselte gleich die Namen der Zwerge. „Du bist Brokk“, tippte sie auf den Bart mit der weißen Strähne. „Und du der Sinith.“ Die Zwerge staunten nicht schlecht, so exakt wusste noch niemand sofort, wer der eine oder andere ist. Aber was war auch noch normal in den letzten Wochen!

Nachdem sie sich dann alle bekannt gemacht haben, war es an der Zeit, dass Sinith und Brokk der Herrscherin vom Klobenberg all ihre Abenteuer und vor allen Dingen das erzählten, wofür sie ausgesandt wurden! Sie berichteten ihr, dass die Wurmberghexe viele Gesichter besaß und dass sie ohne die Hilfe der Hexe Isis heute nicht vor ihr stehen würden. Sie erwähnten auch schweren Herzens, dass sie den Zahn der Treue in der Tiefe der Bode verloren haben, den Brokk zur besonderen Aufbewahrung um den Hals trug. Wohlweislich verschwiegen sie vorerst, dass sich Siniths Unterbewusstsein zu einer guten und einer schlechten Seite geteilt hat.

Nympfjet hörte aufmerksam zu. Sie erfuhr nun, dass der Zyklopenwald Hilfe benötigte.

„Der Zahn der Treue“, wisperte sie überlegend. „Genau, das ist es“, sagte sie zu sich selbst und hörte dem kleinen Mann nicht mehr zu, der gerade davon erzählte, wie er in das Horn der Taubheit blies und daraufhin die Hexen unkoordiniert umherstürzten. „Ich muss ihn finden. Der Zahn ist es, der mich ruft!“

Sie stand von ihrem Sessel auf und ging ohne ein Wort an den Zwergen nachdenklich vorbei. Frowin, Ida und die dicke Berta sahen sich zuerst fragend an, zuckten die Schultern und überlegten, ob sie ihr folgen sollten, entschieden sich aber dafür, unwissend zurückzubleiben.

Brokk, der sich in seinem eifrigen Redefluss ungezogen unterbrochen fühlte, zeigte mit seinem kleinen Zeigefinger hinter Nympfjet her und meinte verblüfft zu den verdutzten anderen: „Wie kommt sie darauf, dass der Zahn der Treue im Haus ist …?“

Sie schwiegen achselzuckend dazu, da sie nicht einmal wussten, was der Zahn der Treue überhaupt ist.

Fedora stand mit dem Rücken zu einem Spiegel und begutachtete ihre Wunde, die nun von innen nach außen mühsam zuheilte. Sie war sauer, dass der Fluch ein Brandmal auf ihrem Rücken hinterlässt, das ewig an die Hexe Nympfjet erinnern wird.

„Nur so lange wird es ein Schandmal für mich sein, wie du deinen Atem in den Harz hauchst. Wenn dieser zum Stillstand kommt, dann wird diese Narbe eine Trophäe für mich darstellen.“

Die Oberhexe verfiel in Selbstgespräche, als sie von dem Wohlgeruch, der den Meister ständig begleitet, eingewickelt wurde. „Luzifer, wie lange beobachtest du mich schon!“ Mit einer Drehung zu ihm hin verwandelte sie sich in eine bezaubernde anmutige Schönheit mit langen, glänzenden, schwarzen Haaren. Nur ihren Augen sah man die tief sitzende Schlechtigkeit noch an, die in ihrer Seele wohnte. Die Iris wurde umrandet von einem stechenden goldenen Braun, was das Gefährliche an dieser Frau noch unterstrich. Es gab niemanden im ganzen Harz, der auch nur annähernd so eine Augenfarbe hatte.

Sie tänzelte barfuß und mit schwingenden festen Hüften auf den Herrscher der Unterwelt zu. Der Teufel zeigte wohlwollend seine spitzen Zähne und riss das Weib zu sich heran. „Wer hat dich so verletzt, Fedora?“ Mit seinen schwarzen, langen Nägeln und roten Händen zeichnete er die Wunde auf ihrem nackten Rücken nach.

Fedora sah jetzt ihre Zeit gekommen, den Satan auf ihre Seite zu locken. „Ich wollte dir das nicht sagen, Meister!“ Mit einer Mimik aus Scheinheiligkeit und Bestürzung, die sie in ihr Gesicht rief, um eine Hexe bei Luzifer anzuschwärzen, legte sie noch gekonnt mit einer bedauerlichen Tonart eins drauf. „Die Wunde hat mir im Kampf eine abtrünnige Hexe zugefügt. Ich wollte sie davon überzeugen, dass sie es unter deiner Herrschaft besser hat als bei der, zu der sie sich gerade hingezogen fühlt! Bei meinem ehrlich gemeinten Versuch, ihre schwarze Seele für dich zu retten, hat sie mich angegriffen und verletzt.“ Dass Fedora bei ihrer theatralischen Aussage keine Tränen vergoss, darüber war selbst sie erstaunt.

So nach und nach entwickelte sich bei dem Fürsten der Unterwelt brodelnder Zorn, der ihn mit dampfendem und kochendem Schwefel umhüllte. „Wer wagt es, die Hand gegen die Schwesternschaft zu erheben? Habe ich nicht selbst die Verfassung geschrieben, dass eine Abtrünnige das ewige Feuer erleiden muss?“

Fedora stand hinter dem aufbrausenden Meister und massierte ihm seine verspannten Muskeln. Ihre Augen funkelten und glimmten leuchtend gelb auf, als sie erkannte, dass sie ihm jetzt, genau zu diesem Zeitpunkt, den Namen der feindlichen Hexe nennen konnte. „Ich mag dir gar nicht ihren Namen nennen, Meister“, heuchelte sie arglistig in sein Ohr. „Aber ich habe alles getan, um sie wieder auf deine Wege zu führen, Meister. Doch ohne Erfolg. Bitte bestrafe mich nicht!“

Der Teufel fühlte sich geschmeichelt, dass Fedora seine Hand fürchtete. „Wer ist die Hexe, die sich willentlich gegen uns stellt?“

Fedora ließ das Wörtchen uns genüsslich auf ihrer gespaltenen Schlangenzunge zergehen und ließ sich auf den Schoß des Teufels ziehen. Sie vibrierte innerlich bei ihrem Schachzug gegen die verhasste Hexe. Die Oberhexe hatte Nympfjet mit Haut und Haaren gefressen. Das, was sie für diese Blutlinie empfand, war nicht in Worte zu fassen. Kaum körperlich auszuhalten, so fest verankert und verknotet saß der Hass in ihrer schwarzen Seele. Wenn sie ihren Ekel zum Himmel schreien würde, zerfielen selbst die Sterne zu Ruß. Langsam holte sie mit einem Würgen den Namen der Hexe aus ihrem von Lügen verseuchten Schlund: „Nympfjet vom Klobenberg!“

„Wolfshelms Tochter. Sie ist bei mir schon zweimal des Hexenverrates angezeigt worden!“ Er überlegte knapp. „Ich dachte, die Hexe ist schon lange in der Teufelsmauer?“

Fast weinerlich und vor seinen Füßen niederkniend jammerte sie. „Sie besaß immer hinterlistige Helfer und fand aus jeder Situation einen Ausweg. Ich habe mich nie getraut, dir das zu sagen, weil ich wusste, dass es dich aufregen würde, mein geliebter Meister.“

Der Teufel lächelte Fedora mit seinen scharfkantigen Zähnen an und strich über ihren Kopf. „Mach dir über meinen Zorn keine Sorgen, Fedora. Die soll sich jetzt, ab dieser Sekunde, eine andere machen.“ Brodelnd, wild und aufgebracht entlud sich sein Unmut gegen Nympfjet aus seiner tiefsten dunkelsten Seele. Fedora beobachtete genussvoll jede aufglimmende Geste von Luzifer.

Umgehend bildeten sich Schwefelquellen in Fedoras Hütte und ließen den Wurmberg aussehen, als würde er brennen. Mit tiefer inbrünstiger Stimme und im Duett mit innerlich verwachsenen Dämonen gab er das Todesurteil der Klobenberg-Herrscherin frei.

Überall im Harz wurde es von Teufelshand selbst an alle Hexen verteilt und mit Feuer an die Holztüren genagelt, ohne dass es der Meister selbst tat.

Die Hexe Beijanna wohnte gerade selbst in ihrer Mooshütte am Moorwald, als die Handschrift des Teufels an ihre Tür diesen Erlass schrieb. Nachdem sich die Feuerzungen in Wohlgefallen auflösten, stellte sie sich an ihre Holztür und las das Urteil.

Beijanna lächelte böse, Fedora schien den Teufel um den Finger gewickelt zu haben. Es wurde Zeit, dass sie endlich den Platz neben Fedora einnehmen konnte. Ihren Willen würde sie Fedora schon ins Ohr flüstern. Denn genau so einen Brief möchte sie an die Türen angeschlagen sehen, nur mit dem Namen von Isis der Schattenhaften.

Humpelnd ging sie wieder in ihr Haus zurück, um ihr zerschmettertes Bein zu schonen, das von dem Aufprall auf dem harten Boden zersplitterte, als Isis ihren Besen in Flammen setzte. Die Schattenhafte hatte nicht nur ihren Besen verflucht, sondern auch ihre Knochen mit einem Zauber belegt. Beijannas Brüche sollten nicht so schnell heilen. Isis braucht für irgendetwas Zeit. Beijanna übte sich in Geduld. Sie wusste, dass die Schattenhafte bei Fedora bald in Ungnade fällt. Es war nur eine kurze Zeit, die sie sich dadurch verschaffte. Und die hatte Beijanna auch. Was ist bei einer Hexe schon erwähnte Zeit? Krötenscheiße, mehr nicht.

Sie stellte sich Isis’ verhasstes Gesicht vor und fluchte sie an.

„Du wirst mir alles bezahlen. Dein Blut auf dem dreckigen Boden, auf dem du stehst, und dein Antlitz in der Teufelsmauer werden für mich Befriedigung genug sein! Vielleicht schlage ich ja mit einer Klappe gleich zwei Fliegen. Wer weiß, wer weiß …“ Die Hexe konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich ahnen, wie nah sie mit ihrer Aussage der Wahrheit lag.

Fedora ahnte von den Gedanken der Hexe keinen Schimmer, sie genoss jetzt in vollen Zügen die Vermählung mit ihrem Meister … Sie musste ihn milde stimmen, damit er keinen Verdacht hegte, dass sie ihn mit List und Tücke auf das Todesurteil gebracht hatte. Der aber vermutete überhaupt nicht, dass man ihn hintergangen haben könnte. Für ihn war das Urteil ausgesprochen, er schürte brodelnd vor Wut schon sein Feuer in der Untererde …

am Eingang von der Menschenwelt zur Zwergenstadt, also am Mammutbaum, verharrten die Zwerge der vier Eingänge zu Mitteltor in starrem Entsetzen. Sie verstanden zuerst nicht, was um sie herum geschah, bis sie in einer zähflüssigen Masse versackten. Sie blickten nach oben und sahen, dass es aus allen Baumrillen tropfte und glitzernde Rinnsale am Mammutbaum runter liefen. Aber damit nicht genug. Als sie die anderen Bäume betrachteten, sahen sie, dass jeder einzelne Baum schmerzhaft ausblutete, ob groß oder noch sehr klein und fein. Es bluteten die ganzen friedlichen Wälder des Harzes vor sich hin!

Unverzüglich und sehr hektisch bestiegen die Wächter der Tore ihre Wildschweine und machten sich umgehend auf den Weg nach Lähis. Dort angekommen, brauchten sie nicht lange nach dem Zwergenkönig zu suchen. Wie immer war er bei seiner Lieblingsbeschäftigung: die filigrane Kunst der Schwerter seines Kunstschmiedemeisters und dessen Gesellen zu bewundern.

„Brutas.“ Die Zwerge der vier Himmelsrichtungen verneigten sich vor ihrem König und stützten sich demütig auf einem ihrer Knie ab. Brutas überraschte es, dass die wichtigsten Zwerge außerhalb von Lähis ihren Platz vernachlässigten. Doch an ihren gepeinigten und sorgenvollen Mienen konnte der König erkennen, dass etwas Schreckliches passiert sein musste und dass Lähis in unmittelbarer Gefahr schwebte! „Sprecht. Was hat euch bewogen, euer Wachamt zu verlassen.“

Der Zwerg Austrimi, der den Osten bewachte, ergriff das Wort. „Verzeiht, Euer Majestät. Wir sind weder nachlässig noch gleichgültig unseren Aufgaben gegenüber.“

Brutas nickte. Das war ihm auch bewusst. Er kannte seine zuverlässigen Bewohner. „Nun sagt schon, was ist Fürchterliches passiert, dass ihr Uns heimsucht?“

„Die Wälder des Harzes weinen! Die Tränen fließen und drücken sich heiß und unaufhaltsam durch Geäst und über Stock und Stein. Zähflüssig kriechen sie bald durch die Eingänge von Lähis.“ Der kleine Mann stockte, ehe er weiter verkündete: „Es wurde das Tor der Unterwelt geöffnet. Der Wurmberg brannte, bevor die Erde sich erhitzte. Die Bäume bluten von der Hitze aus. Man kann auf der oberen Welt nicht mehr die Füße stehen lassen, die Erde glüht heißen Kohlen gleich!“

Brutas blickte auf das friedvolle Lähis. Fleißig und frohgelaunt gingen die Zwerge in den Berg, um Eisen herauszuschlagen, aus denen kraftvolle Schwerter geschmiedet wurden. Überall tummelten sich Zwergen-Wickelkinder, die glücklich glucksten. Man flirtete mit gut gelaunten Wäschefrauen, die am Bach ihre Kleider wuschen. Die ganze Stadt war auf den Beinen. Putzmuntere, wissbegierige und arbeitsame Zwerge bewegten sich wie jeden Tag, nichts Böses ahnend, in der Stadt Lähis umher.

Die Augen des Zwergenkönigs hoben sich von seinem Volk ab und ruhten oberhalb an einer Brücke, die Lähis von der Außenwelt trennte. Verdeckt unter duftenden Blumen, Büschen und Bäumen, die sich wie zur Paarung an die Brücke schmiegten und den Durchgang zur Zwergenstadt etwas erschwerten, über diese soll in naher Zukunft das Unglück hereingekrochen kommen und Lähis versenken? Der Zwergenkönig konnte es nicht glauben.

Lautlos und nicht weniger erschüttert stellte sich Sordolax hinter Brutas, der das Gespräch der Männer verfolgte. „Dann hat jemand Satans unbarmherzigen Zorn auf sich gezogen. Er schürt seine Hölle, um es einfach und milde auszudrücken.“

Dem Zwergenkönig wurde übel und er griff, um sich zu halten, an den langen Mantel von Sordolax. „Wie lange haben wir noch, Sordolax, bis wir in den Tränen ertrinken werden und für die Nachwelt als bestückter Bernstein enden?“

Ahnungslos über das ganze Ausmaß antwortete er nüchtern: „Es kommt darauf an, wie wütend der Fürst der Unterwelt ist …!“

Brutas fasste noch fester an den Mantelstoff, weil ihm die Beine versagten. „Haben wir schon Nachricht von Sinith und Brokk. Hat irgendjemand von den beiden etwas gehört?“

Der zukünftige Zyklopenkönig schüttelte traurig seinen Kopf. „Nichts. Keine Nachricht. Kein gesandter Botschafter. Es ist bald so, dass wir uns unserem Schicksal beugen müssen!“

„Soll es tatsächlich so sein …?“ Obwohl Luzifers Handlung für den Zwerg einen Schlag ins Gesicht bedeutete, war er trotzdem noch nicht derselben Meinung wie sein großer Freund. Er wollte noch nicht aufgeben. Zumindest so lange, bis sich die Trauer des Harzes durch den Eingang von Lähis drückte …

Lisa und Maxima schrien zusammen hysterisch auf. Alle Fensterscheiben, jeder Spiegel, ja alles im Haus war mit dem schrecklichen Zeichen, dem Pentagramm des Teufels versehen. Wo sie auch hinliefen, überall verfolgte sie das Symbol! Von dem markerschütternden Schreien erschrak Nympfjet ebenfalls und suchte die beiden im Haus. Als Nympfjet sah, was den beiden Angst machte, fasste sie sich ans Herz und flüsterte fast unhörbar: „Der Krieg hat begonnen. Fedora-Astarte vom Wurmberg hat Unterstützung angefordert und bekommen.“ Die kleine Hexe sackte benommen zusammen. Lisa eilte zum Schrank, holte ein Glas und wollte Nympfjet schnell etwas Kühles zu trinken geben.

Doch der nächste Schlag traf die kleine Gruppe, als Lisa den Wasserhahn öffnete und der Strahl unter die Decke spritzte, anstatt ins Glas zu laufen. Alles schien nicht mehr den Gesetzen der Schwerkraft zu unterliegen. Stühle rückten und flogen durch die Räume. Die Türen schlugen im Sekundentakt auf und zu. Die Uhren standen auf drei Uhr fest und klingelten ununterbrochen zum Wecken.

Sie zitterten alle vor Anspannung und fragten sich, was es mit der Uhrzeit auf sich hatte. Die alte dicke Berta wurde noch blasser und sagte: „Kinder, die Uhrzeit heißt nichts Gutes. Das war das Erste, was ich jemals in der Kirche gelernt habe, und ich glaube, ich war auch nur einmal dort, um überhaupt noch mehr zu lernen.“ Die dicke Berta schwebte vor die ungestüm klingelnde Küchenuhr und sagte erschrocken: „Um drei Uhr nachmittags ist unser Herr Jesus Christus gestorben. Es ist die Stunde des Teufels – und das alles ist des Teufels Werk!“

Lisa rieselte eine Gänsehaut über den Kopf und Maxima wollten wieder die Beine versagen.

„Hexe Nympfjet. Heexxee Nnyymmppfjet“, brüllte eine tiefe Stimme und ließ das Haus erbeben. Nympfjet erstarrte zu einer Salzsäule vor Schreck. „Hexe, du bist jetzt zum dritten Mal bei mir des Hochverrats angeklagt worden. Mich erzürnt der Gedanke, dass du Wolfshelms Tochter bist, der mir wie ein Bruder war! Ich gebe dir eine letzte Frist. Und nun höre, Hexe: Du hast in drei Tagen zur nächtlichen Dreiuhrstunde vor dem Hexenrat zu erscheinen und dich zu deinem Vergehen zu bekennen. Solltest du auf deinem Weg einer Hexe begegnen, darf sie dich häuten und töten. Schaffst du es bis zum Rat, dann hast du noch ein letztes Mal die Gelegenheit, dich zu äußern.“

Mit einem zischenden Feuerball flatterte ein brennendes Flugblatt herein, auf dem Nympfjets Todesurteil stand. Als sie es alle gelesen hatten, zerfiel es zu schwarzer Asche.

Frowin und Lisa liefen hektisch hin und her. Brokk stierte zu Nympfjet, die immer noch starr und steif auf der Stelle stand und sich nicht einen Zentimeter bewegen wollte.

„Ich denke, das Haus ist geschützt?“, fragte Lisa mit schlotternden Beinen.

Nympfjet schaute auf, als wäre sie gerade aus einem Traum erwacht. „Ist es auch. Gegen Hexen. Der Teufel hat die Macht, sich über alles hinwegzusetzen. Er ist der Einzige, der keine Grenzen kennt.“

Berta schwebte zu der kleinen Hexe und streichelte ihr über den Kopf. „Wieso glaubt der, dass du dich schon dreimal des Hochverrates schuldig gemacht hast, Kleines?“

Nympfjet stützte ihren Kopf auf den Händen ab. „Ich weiß es nicht. Ich denke mir, dass Fedora-Astarte vom Wurmberg dahintersteckt!“

Plötzlich sprang Ida kreidebleich in die Küche und schrie voller Panik: „Das Schert ist weg.“

Berta, die als Einzige in Sekunden durch das Haus fliegen konnte, durchforstete im Nu alle Zimmer. Völlig außer Atem stoppte sie nicht viel später vor der kleinen Hexe und sagte: „Sinith und Maxima auch!“ Wie von Sinnen nahm sie Anlauf und flog zur Bestrafung durch Lisa hindurch. Die wusste nun nicht mehr, wo oben und unten war, als Berta ihre zügellose Wut etwas beruhigt hatte. „Deine Tochter ist genauso dreist und ungehorsam, wie du es warst! Gggrrrr“, knurrte sie Lisa mit fiesem Mundgeruch an, deren Haare sich wie bei einem Sturm sofort nach hinten warfen. Lisa wurde kreidebleich. Es kam ihr vor, als hätte sie sich in einem nicht enden wollenden bösen Traum verlaufen …

Brokk zog zaghaft an Nympfjets bodenlangem Kleid, um auf sich aufmerksam zu machen. Mit bleichen Lippen versuchte er der Klobenberg-Herrscherin zu beichten, dass sich sein Freund draußen im Wald auf einem Präsentierteller befand und nicht mehr lange zu leben hatte, wenn die böse Hexe ihn zu sich rief. „Verzeiht mir, Herrscherin. Es gab noch keine Gelegenheit, dir mitzuteilen, dass Fedora-Astarte einen Weg gefunden hat, Sinith zu manipulieren. Sein Unterbewusstsein hat sich geteilt. Die eine Hälfte ist der bösen Hexe gefügig und ergeben. Wenn er außerhalb dieses Hauses ist, dann kann sie ihn zu sich rufen und er gehorcht ihr bedingungslos!“

Ida schrie auf und legte ihre Hand vor den Mund. „Was sagst du da? Warum rückt ihr jetzt erst mit der Sprache raus?“ Um Ida drehte sich alles.

Frowin stellte sich neben die wankende Ida und presste zaghaft mit einer Hand gegen ihren Rücken. „Nympfjet, es ist nicht auszudenken, was passiert, wenn er das Schwert bei sich führt!“

„Egal, wer das Schwert hat, Frowin, alle beide sind in Lebensgefahr. Und wir mit ihnen.“ Mit glanzlosen Augen blickte sie jeden Einzelnen von ihnen an, bis ihr trauriger Blick an Lisa hängen blieb, die dank Berta noch einen weitaus elenderen Anblick abgab als bei der Nachricht, dass ihre Tochter verschwunden ist. Flehend blickte Lisa zurück.

„Nympfjet. Bitte sag mir, dass dieses Abenteuer auch gut ausgeht und ich mir um meine Mia nicht mehr Sorgen machen muss wie eh schon.

Nympfjet stellte sich auf. Ohne einen Ausdruck im Gesicht, in dem man hätte lesen können, sagte sie zu Berta: „Liebe Berta, ich muss dich um etwas bitten!“

Berta stand wie ein Offizier vor der kleinen Hexe und salutierte. „Was immer du willst, Kind!“

„Durchsuche in Windeseile jeden noch so versteckten Winkel vom Haus. Hier ist jemand, dessen Rufen immer lauter wird, umso mehr Schwierigkeiten wir haben. Ich glaube, es ist der verlorene Zahn der Treue, der hier im Haus versteckt ist. Wenn wir ihn finden, dann steigt unsere Chance erheblich!“

„Was kann der Zahn, was wir nicht auch herbeizaubern können?“, fragte Ida überrascht.

„Es gibt nur drei Wesen, die das wissen. Der Zyklopenkönig, sein Sohn, dessen Zahn es auch ist, und meine Person.“

„Ja, und was kann er nun?“, drängte Ida neugierig geworden.

„Er ist das Tor zu einer anderen Welt!“ Im Raum ist es stiller als still geworden. Brokk schämte sich unendlich dafür, dass er ein so wichtiges Zauberrelikt verloren hatte. Und diese Schmach ließ seinen langen Zwergenbart noch eine weitere Strähne weißer werden.

Nympfjet spürte die Verlegenheit des tapferen Lichtritters und ermunterte ihn. „Gräm dich nicht, Brokk. Der Zahn ist im Haus, ich spüre die Magie. Lasst uns alle danach suchen. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Den Teufel lässt man schließlich nicht warten.“

Berta, Ida und Frowin lächelten sich an und waren zufrieden darüber, ihre mutige und kriegerische Herrscherin vom Klobenberg wiederzuhaben.

„Und du, Brokk …“, Nympfjet wandte sich mahnend dem Zwerg zu, „erzählst mir jetzt alles, was ich noch nicht weiß, aber schon längst wissen sollte!“

um drei viertel drei, in einer kalten Vollmondnacht, lagen die schwangeren Hexen in ihren Wehen. Direkt neben Lisa und ihren Zauberfreunden wurden die zukünftigen Kriegerinnen der uralten Hexe geboren. Man sah ihnen das schwarze Zauberblut an. Es waren hässliche Kreaturen, die das Licht der Welt erblickten und die Minuten nach der Geburt schon zu wachsen begannen und ihre Körper entstellten. Ihre Schreie glichen denen von Schakalen und die Anzahl ihrer Finger betrug an jeder Hand sechs, das unverkennbare Zeichen des Teufels.

„Ist auch ein Hexer dabei?“ Mit feurigen Augen sah sie gespannt auf die Nachkommen der Hexen. Sechs mal sechs mal sechs Säuglinge lagen in Tüchern vor dem Feuerschein des Kamins und wuchsen stündlich heran.

Sojana schnippte mit dem Finger und ein schon kräftiges sitzendes Kind schaukelte über dem Feuer in einer Wiege hin und her! Fedora lachte böse auf. „Willkommen, meine überaus geliebte Feuerbrut. Willkommen.“ Sie breitete ihre dürren Arme aus und freute sich höllisch über die gelungene Armee. Zu Sojana sagte sie knapp: „Bring den Hexer in meine Hütte. Den werde ich an meinem Busen nähren wie mein eigenes Kind. Ich habe Großes mit ihm vor. Erstaunlich Großes.“ Sie beschaute sich noch einmal die Hexen in ihren Bettchen, indem sie ihre lange warzige Nase drüber hielt und die Kriegslust, die von den Betten heraufstieg, genüsslich einatmete. Aufgeregt drehte sie sich um und beim Davoneilen meinte sie eher zu sich selbst als zu Sojana: „Ich habe nicht mehr viel Zeit. In ein paar Stunden ist die Brut ausgewachsen und zum Krieg bereit. Ich muss mich sputen!“ Sojana hörte sie noch lachen, als sie vor dem Mond mit ihrem fliegenden Besen von dunklen Wolken am Himmel verschlungen wurde.

Im Nachbarhaus von Lisa kam Aufbruchsstimmung auf. Nicht nur der kleine Hexer sollte zur Hütte auf den Wurmberg gebracht werden, sondern auch Lisas Ehemann, der sich noch in dem Nest befand und vorerst keinen Schaden davontragen durfte. Sie folterten ihn zwar stündlich, in purer Gelassenheit und mit groben Gemeinheiten, doch sterben sollte er mit seiner Familie. Die Oberhexe wollte amüsante und lustige Spielchen mit diesem Menschen und den Seinen. Sie wollte alles genießen, bevor sie dem schwarzen Schatten den Harz übergab … Mit der Niederschrift in ihr dunkles Herrschaftsbuch würden alle Details festgehalten, und somit auch, wie sie die Menschen ausrottete, mit denen die Herrscherin vom Klobenberg den Harz zu retten versuchte. Man sollte in Tausenden von Jahren noch von der Übernahme des Harzes durch den dunklen Schatten berichten und diesen Tag ehren und feiern …

Maxima schimpfte mit Sinith. „Geh wieder zurück!“, mahnte sie den kleinen Zwerg mit Nachdruck, der wieder zu seinem persönlichen Schutz ins Haus gehen sollte.

„Das kannst du schnell wieder vergessen, nur wenn du mir das Schwert gibst.“

„Nein!“ Maximas Schritte wurden größer und schneller, um den ihr folgenden Zwerg abzuhängen.

Doch der kettete sich mit Armen und Beinen nach einem sicheren Sprung an ihrem Hosenbein fest. „Du hast überhaupt keine Ahnung, was du mit dem Diebstahl des Schwertes der Herrscherin vom Klobenberg angerichtet hast.“

„Das ist mir auch völlig egal. Ich gebe der alten gruseligen Hexe das Schwert und sie mir meinen Vater. Und dann ist Ruhe!“

„Das glaubst du doch nicht wirklich! Wie dumm bist du? Sie wird alle vernichten, wenn sie das Schwert in der Hand hält. Alles wird nicht mehr so sein, wie du es kennst. Der Schatten wird herrschen. Sei nicht töricht, Maxima. Lass uns bitte wieder zurückgehen, bevor sie uns wittert.“

Das Mädchen schüttelte mit ihrem Bein hin und her und wollte Sinith damit abwerfen. Doch der krallte sich an Maximas Bein fest wie eine Katze an einen Baum und erschwerte ihr das Weitergehen. „Bleib endlich stehen!“ Sinith wollte Maxima mit allen Mitteln aufhalten. Jegliche Mühen, das Mädchen umzustimmen, schlugen fehl.

Ganz im Gegenteil. Sie machte sich noch über Sinith und seine Befürchtungen lustig. „Töricht. Töricht!“ Maxima lachte über den Ausdruck, den der Zwerg benutzte, um ihr zu sagen, dass das eine große Dummheit war, was sie gerade veranstaltete.

„Wie du sprichst, so spricht heute keiner mehr. Für dich braucht man noch ein Nachschlagewerk. Kannst du nicht einfach sagen: Das ist bescheuert und doof und blöd. Und wenn du weitergehst, wirst du abgemurkst oder so ähnlich!“

Sinith verstand jetzt gar nichts mehr. So unterschiedlich sprachen sie doch gar nicht? „Dann eben so, Maxima. Wenn die doofe Hexe Wind von dir kriegt, wirst du abgemurkst und liegst bescheuert im Wald herum.“

Maxima grinste sich eins ins Fäustchen. „Geht doch …!“

„Ja, aber du verstehst scheinbar deine eigene Sprache nicht! Du sollst nicht weitergehen, sondern umkehren.“ Sinith blieb stehen und zeigte mit ausgestrecktem Arm den Weg wieder zurück. Doch das Mädchen ging einfach weiter. „Maxima …!“, grollte Sinith hinterher.

„Ja, ja, ja. Ey Mann! Ich hab es kapiert. Die schreckliche Hexe wird den Harz so schnell vernichten, wie man auch ihren Namen nicht sagen darf. So ein Quatsch auch! Ich werde jetzt ihren Namen rufen, hörst du?“

Sie drehte sich zu Sinith um und machte ihr vorlautes Mundwerk weit auf und erschreckte Sinith damit fast zu Tode. Er bekam so fürchterliche Angst, als Maxima gerade nur ansatzweise den Namen der abscheulichen Hexe nennen wollte, dass ihm ein stechender Schmerz vom Herzen bis in die Beine fuhr, und er fürchtete, auf der Stelle tot umzufallen. „Das ist kein Unsinn, Mädchen. Sie hat dich schneller gefunden, wie ein Gedanke dich auffordert, wegzurennen.“

Maxima drehte sich provokant zu Sinith um. „Ich habe ihn schon auf der Zunge liegen“, ärgerte sie den Zwerg. „Wir werden gleich sehen, was passiert, wenn ich ihn laut ausrufe.“ Sie öffnete ein weiteres Mal ihren Mund weit und gab einen Ton von sich.

Sinith hockte sich hin und machte sich noch kleiner, als er schon war, und schlug dabei schützend seine Hände vors Gesicht. Jetzt gleich wird die böse Hexe ihn und das Mädchen töten. Sinith kauerte eine Weile so da, bis er durch seine Finger lugte und keine Hexe sah, aber auch kein kleines Mädchen mehr. Maxima hatte sich einfach still und heimlich von ihm abgewandt, während er um sein Leben bangte, und ging einfach den Weg weiter, ohne den Zwerg zu berücksichtigen. „Maxima, du bist ein ganz ungezogenes Menschenkind“, schimpfte Sinith hinter ihr her.

„Geh nach Hause, Angsthase“, sagte Maxima genervt und schritt, ohne auf den Zwerg hinter ihr zu achten, einfach schnurstracks geradeaus.

Umso tiefer sie in den Wald gingen, desto schwerer wurde das Atmen und die Hitze immer unerträglicher. Erschöpft legten sie mehrere Pausen ein. Die saftigen grünen Blätter und Tannennadeln nahmen mehr und mehr ab und gaben die Sicht frei auf eine braune abgestorbene Natur. Es wurde immer unheimlicher und ruhiger, ja totenstill, je weiter sie in den Wald gerieten.

Bei dem Anblick war Maxima insgeheim doch ganz froh, dass sie nicht allein im Wald rumlief. „Warum ist es hier überall so heiß? Und warum sind die Bäume verdorrt, Sinith?“ Schweißgebadet und mit feuchter Kleidung standen sie fassungslos im rauchigen und qualmenden Wald und blickten erschüttert zwischen verbrannten hohen Bäumen durch. Maxima versuchte ihre Lungen frei zu husten, atmete aber unentwegt die schlechte Luft ein, die ihr fürchterliche Kopfschmerzen verursachte. Mit diesem Schädelbrummen stellte sich eine hartnäckige Übelkeit ein, die sie auf den Boden zwang, der unnatürlich warm war. Erschöpft saß sie dort, legte ihre flachen Hände auf die Erde und fühlte unglaubliche Wärme. Sie ahnte Schlimmes. „Hat hier jemand Feuer gelegt? Und fand das vielleicht auch noch witzig!“ Maxima keuchte schwerlich ihre Worte und hielt einen Ärmel ihrer Jacke schützend vor Mund und Nase.

Erschüttert gab Sinith Antwort. „Nein, das Ende des Harzes hat begonnen. Guck dir das genau an, Menschenmädchen. So wird alles bald aussehen, wenn die grausame gnadenlose Hexe das Schwert der Weisheit in ihren Händen hält!“ Die Bäume, die sich noch um die beiden erhoben, bestanden nur noch aus leblosen Hüllen, die nach und nach umfielen. Ausgeblutet und brüchig stürzten sie nach allen Seiten um und legten sich wie zum Begräbnis auf den trockenen Waldboden.

Maxima drehte sich in alle Himmelsrichtungen. „Wo liegt der Wurmberg?“ Sinith zeigte mit dem Finger gen Osten. Dort, über beißendem Rauch und heißer Asche zeichnete sich schlingend und hügelig der Wurmberg ab. „Na gut. Das schaffe ich auch noch.“ Großspurig machte sich Maxima Mut und setzte den Weg fort, ohne Sinith eines Blickes zu würdigen. Weit entfernt voneinander wanderten sie schweigend und behäbig über die Leichen des Waldes, die ihnen den Weg versperrten und sie nicht problemlos vorbeiließen. Sinith hatte es aufgegeben, das Mädchen von ihrem Vorhaben abzubringen. Mit einem schlechten Gefühl im Bauch trottete er trotz Widerstand hinter dem starrsinnigen Kind her.

„Was haben wir denn da?“ Mit einem Krächzen kam plötzlich aus dem Nichts eine Hexe geflogen, die Maxima grob an den Haaren packte und mit sich zerrte. Das Mädchen schrie vor Schmerz auf, als es den Boden unter den Füßen verlor und nur an den Haaren in der Luft hing. „Wenn das mal nicht das geliebte Töchterchen von unserem nichtsnutzigen Diener ist.“ Die hässliche Hexe lachte laut und gehässig auf. „Komm, ich bring dich mit einem Gratisflug schneller zu deinem Vater, wie dir lieb ist, du stinkende Kröte!“

Beijanna fühlte sich in einem Glücksrausch. Fedora würde außer sich vor Freude sein, noch ein Familienmitglied begrüßen zu können. Stück für Stück hüpfte sie auf dem Treppchen zu Fedora immer höher.

Sie krallte ihre magere und knöcherne Hand noch fester in Maximas Haare und gab ihrem Besen den Befehl, auf den Wurmberg zu fliegen. Innerhalb von Sekunden starrte Sinith, der mehr als geschockt war und sich sofort hinter einen verbrannten Baum hockte, um von der Hexe nicht gesehen zu werden, nur noch einem winzigen dunklen Punkt am Himmel nach, der mit Lisas Tochter spurlos verschwand. Der Zwerg war erleichtert, dass die Hexe ihn nicht gesehen hatte, sie machte nicht einmal Anstalten, die Fläche nach weiteren Personen abzusuchen.

Er hockte noch benommen hinter einem morschen Baumstamm und achtete auf Bewegungen am Himmel. Erst wenn er ganz sicher war, keiner anderen Hexe mehr zu begegnen, wollte er schnell zum Klobenberg laufen und den anderen erzählen, dass Maxima entführt wurde. Sie benötigte jetzt eine ganze Armee, die ihr den Rücken stärkte, denn das leichtfertige dumme Menschenmädchen hat sich ihr gnadenloses Schicksal selbst herbeigerufen. Nun brauchte sie alle Hilfe, die sie bekommen konnte. Unruhig blickte er immer wieder zu den Wolken, um nach weiteren Hexen zu sehen, aber sie zogen sich zusammen und machten den Himmel undurchsichtig. Er musste sich doch beeilen, aber wie, wenn sich die Wolken gegen ihn verschworen haben …

Genauso unerwartet, wie die Hexe auf dem Besen einfach da war, kniete nun Isis die Schattenhafte neben Sinith und machte ihm ein Zeichen, dass er still und leise bleiben sollte. Sinith war erleichtert, Isis an seiner Seite zu sehen. Mit Isis wurde nun schnell alles wieder gut. Sie verharrten einige Zeit in ihrem Versteck, um zu sehen, ob sich noch Begleiterinnen der Hexe in der Nähe aufhielten. Irgendwann gab Isis dann Entwarnung und durch stumme befehlende Handzeichen wies sie Sinith an, sich zu beeilen. Doch Sinith zögerte, seine Beine schlotterten und wollten ihm nicht gehorchen. Bleich blickte er Isis an.

„Komm Zwerg. Wir müssen zur Klobenberg-Herrscherin. Und das schneller, als der Blitz je sein mag.“

Die ganze Situation ging Sinith jetzt viel zu schnell. Alles überschlug sich. Er wusste gar nicht mehr, was er nun gesehen hatte – oder auch nicht! Was sollte er der Herrscherin zuerst erzählen, womit sollte er anfangen?

Mit dem sterbenden Wald oder mit dem ungezogenen und vorlauten Menschenkind? Das freche Mädchen war schließlich auch daran schuld, dass das magische Schwert nicht mehr in der Obhut der kleinen Hexe ist. Sinith hatte das Gefühl, dass sich sein Gehirn schmerzhaft zusammenkrampfte. Immer mehr Fragen sammelten sich in seinem Kopf. Dazu kam dann die grässliche Hexe auf dem Besen, die sich anschlich wie eine Katze und Maxima entführte, und jetzt Isis, die wie gerufen erschien und schnell von diesem unscheinbaren und toten Platz wegwollte. Isis wurde ungeduldig.

„Denk nicht nach, Zwerg. Wir haben keine Zeit. Los, spute dich und setz dich zu mir auf den Besen!“ Sinith saß noch nicht ganz auf dem Besenstiel, da spürte er auch schon den eisigen, scharfen und peitschenden Flugwind im Gesicht.

Mit wildem Herzklopfen dachte er daran, dass Fedora-Astarte bestimmt schon das Schwert in ihren knorpeligen Händen hielt. Ihm war nicht aufgefallen, dass Maximas Rucksack, in dem das Schwert der Herrscherin steckte, herunterfiel und einen Baumstumpf zerschmetterte und nun unter Baumrinden vergraben lag. Bei Sonnenschein wäre es durch Funkeln und Glitzern wahrscheinlich aufgefallen. Aber dadurch, dass sich der Himmel dem Bösen langsam anpasste, blieb das Schwert der Weisheit erst einmal im Schutz der schwelenden Trümmer verborgen …

Bevor Sinith mit der Wimper zucken konnte, landeten sie schon auf dem Klobenberg. Nun stand er zusammen mit der Hexe Isis vor Nympfjet.

„Ich habe von dir schon gehört, Isis. Die Zwerge erzählten von dir. Du scheinst eine gute Seele zu haben. Sonst wärst du hier nicht hereingekommen, außer in breit getretener Asche unter den Schuhsohlen!“

Nympfjet war vorsichtig. Auch wenn sie den Zwerg sicher wieder auf den Klobenberg brachte, kannte sie die Absicht der Hexe noch nicht, warum sie den Zwergen so hilfreich in allem zur Seite gestanden hatte. „Erzähl mir, Isis, was ist dein Anliegen?“

Ida und Frowin stellten sich schützend neben Nympfjet und richteten ihre Zauberstäbe gegen die undurchsichtige Hexe. Eine falsche Bewegung der Hexe und sie würde sterben. Isis räusperte sich und ließ sich nicht einschüchtern, denn ihr Kommen war ehrenhaft.

„Fedora, die Oberhexe vom Wurmberg hat ihre eigene Armee gezüchtet, um gegen dich zu kämpfen. Ohne dass du es weißt, wachsen sie direkt neben dir heran. Die Stunde naht schneller, als du denkst, in der sie ausgewachsen sind. Das Haus neben dir ist ein bestücktes Nest schwarzer und böser dämonischer Hexenkinder, mehr als du dir je vorstellen kannst!“

„Warum sollen wir dir das glauben, Hexe?“ Frowin gab seinem Zauberstab einen leisen Befehl: Aus dessen Spitze schlängelte ein silberner Schweif, der sich auf den Mund von Isis legte. „Vielleicht ist es eine Falle, Nympfjet?“ Mit einer Handbewegung zeigte sie Frowin und Ida an, dass sie noch abwarten sollen, die Hexe in die Teufelsmauer zu setzen.

Nympfjet drehte sich dem Haus zu, in dem angeblich eine Brut des Teufels heranwuchs. Mit dem Rücken zu Isis und mit dem festen Blick über die alte Eiche, in der immer noch Katzen lauerten, sah sie mit durchdringendem Blick in das Haus der Hexen. „Da mihi per speciem!“ Nichts hinderte Nympfjet daran, durch dicke Mauern zu sehen. Alles, was den Augen verborgen blieb, konnte sie wahrnehmen – und das war schauerlich!

Alles, was Isis erzählte, stimmte. Dort drüben hielten sich viele unzählige Hexen auf, eigentlich noch Kinder, die grausame Flüche begierig lernten, um sie mit unstillbarer Mordlust anzuwenden. Sie zählten nicht mehr als zehn Jahre, natürlich in Menschenjahren gerechnet. Es dauert nur noch einen Augenaufschlag und die Hexen sind erwachsen, kämpfen konnten sie schon seit ihrer ersten Wiegenstunde! Sie seufzte schwerfällig, als sie sich zu Isis umdrehte.

„Sie haben das Haus nicht geschützt. Soll das für mich eine Einladung und eine Falle sein oder haben sie nur keine Vorsichtsmaßnahme eingeleitet, weil sie sich so sicher sind, dass ich das Haus nicht stürmen werde?“ Isis staunte schon, dass Fedora doch so nachlässig gehandelt hatte. Vielleicht war sie sich aber auch sicher genug, dass die Magie von ihren Hexen möglicherweise ausreichend ist, um gegen die Klobenberg-Herrscherin anzutreten und sie zu töten.

„Was überlegst du so lange, Hexe? Führst du doch etwas im Schilde gegen die Herrscherin?“ Frowin hielt sich bereit, die Hexe in die Teufelsmauer zu schicken.

Nympfjet mahnte ihn mit einem Zeichen zur Ruhe. „Der Schutzpatron um das Gebäude hätte sie verbrannt! Mit dem Auftrag, mich zu töten, wäre sie nicht ins Haus gekommen.“

Sinith und Brokk fanden es nun an der Zeit, die Hexe in den Schutz zu nehmen. Brokk verneigte sich. „Liebe Herrscherin. Nur mit Hilfe dieser Hexe sind wir hier gut angekommen. Sie half uns zu überleben.“

„Richtig“, meinte Sinith. „Sie hat uns aber auch deutlich zu verstehen gegeben, dass sie das nicht aus Zwergenliebe macht, sondern selbst Fedora an den Kragen möchte!“

Nympfjet atmete auf. „Sag mir, Isis, was sind deine wirklichen Beweggründe?“ Die kleine Hexe trat auf Isis zu, legte die rechte Hand auf ihre Stirn und verband sich mit ihrer Vergangenheit. Was Nympfjet nun sah, war nichts Schönes. Grausamkeiten wurden Bilder. Schreie von Hexen und Menschen, die bei Isis um ihr Leben bettelten, wurden laut. Sie erkannte eine gnadenlose, schattenhafte Mörderin für Fedora-Astarte vom Wurmberg. Bis sich die Bilder änderten und Isis im Fokus der bösen Hexe stand, die von der grausamen Hand der Oberhexe für nichts und wieder nichts unsagbar gefoltert und gequält wurde. Nympfjet sah alles. Kein bisschen der noch so unangenehmen Erinnerung verschleierte Isis.

Müde und erschöpft von der Reise durch das Leben einer anderen, aber mit dem beruhigten Wissen um die Pläne der Hexe, löste sie die Hand von ihrer Stirn. Erschlafft ließ sie sich auf ihren Sessel fallen. Isis’ reichhaltiges Hexenleben war markerschütternd und rücksichtslos. Es zeugte nur von einer gewalttätigen Barbarei und erschreckte die Reinheit der kleinen Hexe, die nur kämpfte, weil sie dazu immer wieder herausgefordert und gezwungen wurde.

„Ich frage mich“, sagte sie leise und bestürzt, „wie kann man so böse sein, Isis? Was bringt einen dazu, so voll abstoßender unbegrenzter Brutalität zu sein?“

Isis schämte sich tatsächlich vor der Herrscherin und hielt es für angebracht zu schweigen. Die Herrscherin hatte recht, ihr Leben war eine einzige Schmach, durch und durch schwarz und dünkelhaft.

„Ja, das warst du, Isis. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem du vor mich getreten bist. In dem Moment hast du gezeigt, dass du auch noch eine andere, eine gute Seite besitzt. Und die nehmen wir gerne bei uns auf!“ Erleichtert, dass die Herrscherin vom Klobenberg auch ihre Gedanken lesen konnte, sackte sie auf ihre Knie und dankte Nympfjet für diesen Großmut, den sie in dieser Form von ihr nicht erwartet hatte.

Ida trat neben Nympfjet. „Lass uns jetzt handeln, das Nest zerstören wir auch ohne Schwert.“

Isis’ Herz holperte unruhig, als sie die Worte von Ida vernahm. „Wie – ohne Schwert? Wo ist das Schwert?“, stotterte sie sehr sorgenvoll heraus.

Frowin war mit einem kampflustigen Schritt bei Isis. „Das war die falsche Frage, Hexe!“ Der Zauberer traute der Hexe nicht über den Weg. Einmal schattenhaft, immer schattenhaft. Zu sehr erinnerte er sich an die skrupellosen Gemeinheiten der Brunnen-Walpurga vom Klobenberg.

Nympfjet legte ihre zarte Hand auf die Schulter von Frowin und beruhigte ihn. „Frowin, mein Freund. Bitte. Ich habe in sie gesehen. Unschönes sah ich, aber nichts, was mir schaden könnte. Lass es nun gut sein!“

Sinith trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. „Das Mädchen Maxima hat das Schwert. Sie will es zum Tausch gegen ihren Vater Fedora-Astarte vom Wurmberg anbieten.“ Sinith war furchtbar blass und voller Angst.

„Nein.“ Isis traute ihren Ohren nicht. Dann war das Schlimmste, was je passieren durfte, geschehen. Fedora hielt inzwischen das Schwert in ihren Händen!

Ida weckte nun alle noch einmal aus ihrer Lethargie. „Nympfjet. Lass uns den Schlag gegen das Nest führen. Wir müssen sie ausrotten, solange sie noch nicht ausgewachsen sind. Später haben wir wenig Chancen!“

Nympfjet erklärte sich einverstanden, sie rüsteten sich zum Kampf. Die Zauberkräfte reichten aus, auch ohne das glorreiche magische Schwert, um gegen unerfahrene Hexen anzutreten. „Was ist mit dir, Hexe Isis? Bist du bereit?“

Isis stellte sich neben Nympfjet und reichte ihr die Hand zur Freundschaft. „Ich kämpfe an deiner Seite, Herrscherin. Wenn mein Blut vergossen werden sollte, dann auf der Seite des Guten!“

Frowin, Ida und die Hexe Isis kreuzten ihre Hände. Als Letzte legte Nympfjet zur Besiegelung des Hexenkodex zwischen diesen vieren ihre weiche zarte Hand obenauf. Um die aufeinanderliegenden Hände schlängelte sich ein Band der Einheit und der Treue, im Kampf aufeinander zu achten und niemanden zurückzulassen! Nympfjet sprach folgenden Schwur:

„Wer ihn bricht, diesen Schwur,

der einst versprochen von vieren,

wird seine Hexenkräfte verlieren!“

Alle drei Hexen und der Zauberer Frowin sangen im Chor vereint diesen Hexenspruch in der Sprache der Hexen nach und versprachen sich, im Kampf füreinander da zu sein und sich die Treue zu halten.

„Qui transgreditur iuramento hoc
semel est suis promisit quattuor,
amittere pythonissam potentiae!“

Nympfjet erstrahlte in einem stechenden Weiß, das ihre Reinheit widerspiegelte. Ida wurde ausgerüstet mit dem Brustpanzer für die unbegrenzte Liebe zur Herrscherin und Frowin bekam den Helm des gerechten Kampfes. Nur Isis musste erst ihre unerschütterliche Treue zur Herrscherin vom Klobenberg in diesem Kampf beweisen. Sie trat nur mit ihrer Hexenkraft gegen hungrige junge und kriegerische hinterlistige Hexen an!

Fedora konnte ihre Freude nicht zügeln. Sie lachte und lachte gehässig und schäbig auf, als ihr Beijanna das grässliche Kind vor die Füße stieß. „Das ist fein. So nach und nach kommen die Mäuse aus ihren Löchern gekrochen. Dabei habe ich mit dem Ausräuchern nicht einmal begonnen!“ Fast enttäuscht darüber, dass es so einfach schien, die Familie wieder zusammenzutreiben, lockte sie weiter. „Dann ist wohl die Hexe auch schon unterwegs?“, krächzte Fedora-Astarte voller Ungeduld.

„Ich will meinen Vater!“, schrie Maxima die widerliche Hexe an.

„Du willst deinen Vater?“ Fedora wiederholte mit einer schauerlichen Grimasse die Ansage des Kindes. Dabei stand sie von ihrem Stuhl auf und gab Beijanna einen nackten und hässlichen Jungen auf den Arm, den sie bis eben an ihrer Brust nährte. Fedora grinste eklig auf. Ihre Nase wirkte noch eine Spur länger und gewaltiger, umso mehr sie ein Lächeln versuchte. Mit krummem, gebeugtem Buckel und ihrer tief sitzenden Abscheulichkeit ging sie auf das Mädchen zu. Sie schnippte mit ihren Fingern und Maximas Vater trat in den Raum.

„Papa!“ Das Mädchen stürzte mit großer Freude auf ihren Vater zu und umarmte ihn stürmisch. „Papa, jetzt wird alles wieder gut. Ich bin gekommen, um dich zu holen.“ Sie umklammerte ihren Vater fest und sah ihn von unten her glücklich an. Doch er erwiderte ihre Zuneigung und ihre Freude nicht, keine Regung ging von ihm aus. Nichts. Kalt und ohne Leben stand er mitten in Fedoras Hütte und wartete auf Anweisungen. Nicht eine noch so winzige Geste zeigte an, dass er seine Tochter wiedererkannte. Abrupt und erschrocken löste sie sich und trat einige Schritte zurück, als sie verstand, dass irgendetwas mit ihrem Vater nicht stimmte. Der Mann sah zwar aus wie ihr Vater, aber er war es nicht. Seine Augen schauten tot und sein Verhalten kam kalt, falsch und unnahbar rüber. „Papa“, murmelte Maxima verzweifelt. Doch er sah einfach über sie hinweg.

„Du hast mich gerufen, Herrin?“

Die Oberhexe lachte ein weiteres Mal abscheulich auf und stieß den Mann angewidert und gelangweilt zur Seite. „Geh, verschwinde. Hast genug getan.“ Der Mann fiel von dem groben Stoß, den Fedora ihm versetzte, fast über seine eigenen Füße und verließ gehorsam den Raum. Maxima sah bedrückt und traurig ihrem Vater nach und begriff mit jedem klopfenden Herzschlag, wie ausweglos ihr Vorhaben ist.

Von dem Geruch des Menschenkindes angelockt, sammelten sich um Maxima herum viele andere Hexen. Mit ekeligen, fiesen Fratzen glotzten sie Maxima aus gelben und roten Augen an und rückten ihr mit stinkendem Atem bedrohlich näher. „Können wir sie essen, Fedora?“, gluckste fiebrig eine der Hexen und sabberte unkontrolliert aus den Mundwinkeln. „Jaaa.“ Voller Erwartung rieben sich die anderen Weiber die Hände und griffen gierig nach dem inzwischen ängstlich auf dem Boden kauernden Mädchen.

„Ich weiß nicht recht.“ Fedora gesellte sich zu den Schattenweibern. „Das Kind essen, würde uns stärken und einige Jahre verjüngen. Aber wir sollten noch auf den Rest der kleinen Familie warten. Wir wollen doch, dass es ein Festmahl wird, oder?“

Die Hexen, die Maxima sehr nahe waren, zuckten enttäuscht zurück und ärgerten sich, zu gern hätten sie den Geschmack von Maximas blutigem Herzen auf ihren Zungen gespürt. Sie zischelten wie aufgeschreckte Schlangen von Maxima weg und gaben ihr noch den einen oder anderen brutalen Tritt gegen den Leib. „Schade …!“, flüsterten einige verärgert und verließen griesgrämig die Hütte.

Fedora-Astarte und die Hexe, die Maxima entführte und in das Haus der Oberhexe brachte, standen etwas abseits von dem Mädchen und tuschelten.

Beijanna fühlte sich als Vertraute der Oberhexe groß und stark. Sie kam ihrem größten Wunsch immer näher. Bald würde sie die engste Mitwisserin von Fedora-Astarte vom Wurmberg sein und eigene Entscheidungen über Leben und Tod treffen.

Die uralte Hexe ließ Beijanna stehen und ging herzlos, mürrisch sowie äußerst gelangweilt in großen Kreisen um das zitternde Kind. Sie überlegte fieberhaft, was sie mit dem spontanen Besuch anfangen soll. „Ich werde dich noch nicht töten und essen. Erst wirst du noch in den Kerker geworfen zu den Ratten, die schon ein wenig an dir knabbern dürfen!“ Die Oberhexe verfiel bei dem Gedanken wieder in unendliche Vorfreude. „Dort wirst du auf die anderen warten. Dann bete, dass sie rasch kommen werden. Umso schneller kommt dein Tod. Ich kann mir vorstellen, dass langes Ausharren ermüdend ist.“ Mit ihren stinkenden gelben Fingernägeln kratzte sie Maxima unter dem Kinn.

„Nympfjet wird dich zermalmen, du Kloaken-Kuh.“ Lisas Tochter wurde mutig, keiner wagte es je vor ihr, so mit Fedora-Astarte vom Wurmberg, der Oberhexe vom ganzen Harz, zu sprechen! Sie ahnte auch nicht im Mindesten, was sie nun heraufbeschworen hatte.

Der Hass gegenüber der Herrscherin vom Klobenberg krempelte die uralte Hexe binnen einer Sekunde auf die andere von innen nach außen! Die krakelige, buckelige Hülle der Hexe wich einer übergroßen fetten, behaarten Spinne mit riesigen Fangzähnen. Sie drehte das Mädchen geschwind in ihren Faden und wickelte es zu einem Kokon. Hungrig und mit dem Willen, dem Mädchen heftige Schmerzen zuzufügen, biss die Spinne in ein Bein des Kindes und saugte etwas von ihrem Blut ab und infizierte sie mit ihrem vergifteten Speichel. Kaltherzig wickelte sie das Menschenkind weiter und weiter in einen dicken weißen Faden, den sie wie einen Wirbel um sie herum schlang, und hängte sie in die dunkle Ecke unter die Zimmerdecke.

Böse grinsend nahm sie Beijanna den Bastard wieder aus den Armen und schürte bösartig die Gier des Jungen mit ihrer eigenen verdorbenen und verbrecherischen Muttermilch …

Während Lisa und Berta jeden Winkel des Hauses durchkämmten, um den Zahn der Treue zu finden, waren Nympfjet und ihre Krieger in Lisas altem umgewandelten Zimmer und bereiteten sich auf die Teleportierung vor. Hoch konzentriert verbanden sie sich mit ihrem geistigen festen Willen zum Nachbarhaus. „Alii domui.“ Mit dem Tempo der Lichtgeschwindigkeit landeten sie nacheinander im Keller des Hexennestes. Mit ihren Zauberstäben machten sie sich bereit für einen bestialischen Kampf. Frowin und Isis suchten die dunklen und verwinkelten Kellerräume nach Hexen ab. Nichts, im Keller befand sich niemand, der die anderen hätte warnen können. Vorsichtig stellte Frowin dann seinen Fuß auf die Treppe, die fürchterliche knarzige Geräusche von sich gab. Zwei große runde Augen öffneten sich und ein Mund voller spitzer Zähne wurde gähnend aufgerissen. Als sie Frowins Fuß auf der Treppe stehen sah, schrie sie umgehend wie eine Sirene:

Wer weckt mich, wer?

Wer schreckt mich, wer?

Der Holzwurm ist es nicht.

Nein, ich sehe in feindliches Gesicht.

Mit einem entsetzten Gesicht hechtete die kleine Hexe sofort auf die schreiende Holzstufe zu.

„Pppssst, nicht so laut. Du benimmst dich wie ein alter Knöterich!“ Nympfjet legte ihre Hand blitzschnell auf ihren lauten holzigen Mund und stoppte das dröhnende Mundwerk.

„Ach du bist das, Nympfjet!“, grinste jetzt die Treppe, als sie die kleine Hexe erkannte. „Lange nichts mehr von dir gehört. Wo warst du so lange?“

Ida machte sich bemerkbar mit einem angesetzten Husten. Die Treppe wollte sofort wieder Alarm schlagen, war dann aber doch viel zu neugierig. „Und wer sind die anderen?“

Wie aus einem Mund fielen die anderen ins Wort. „Das fragen wir uns auch gerade!“

Nympfjet blieb nun nichts anders übrig, als die Treppe vorzustellen. „Darf ich bekannt machen? Frau Berga Horn. Das sind meine Freunde Ida, Frowin und Isis.“

„Aha.“ Isis war beeindruckt. „Bergahorn, einer unserer schönsten Bäume im Harz. Vor Hunderten von Jahren gewann man aus dir Zucker und eine Art Wein wurde aus dem Saft gegoren. Du kannst ein sehr alter Baum werden.“

Der Edelbaum war entzückt und geehrt. „Ja, ich war fünfhundert Jahre alt, und bis ich zu einer Treppe wurde, ursprünglich fünfunddreißig Meter hoch. Mächtig und auffallend stand ich an einem Hügel. Ich liebte das feuchtkühle Klima des Harzes. Ich begrüßte immer viele Besucher unter meiner Krone. Die Kinder setzten meine Samen auf ihre Nasen und spielten Einhorn. Nasenzwicker wurden sie genannt.“ Sie wirkte nun traurig, als sie sich an fröhliche Tage erinnerte. „Und nun bin ich trocken und knarzig.“ Sie seufzte mit jeder Stufe, die zu ihr gehörte. Frowin stupste die kleine Hexe an und gab ein Zeichen, dass es an der Zeit war, weiter im Haus nach den Hexen zu suchen. Nympfjet erschrak und gab dem Zauberer recht.

„Liebe Berga, lass uns später weiterplaudern. Wir sind aus einem ganz anderen Grund ins Haus gekommen. Bitte sei leise, damit wir ohne einen Laut über deine Stufen ins Haus hochgehen können.“

Schreckhaft und mit verzerrter Stimme warnte die alte Berga: „Es ist fürchterlich dunkel im Haus. Überall herrscht schwarze Magie. Ständig knallt und pufft es im Haus. Wilde Schreie dröhnen durch jedes Zimmer. Es ist nicht mehr dasselbe, Nympfjet. Böse ist es geworden …!“

Nympfjet und ihre Freunde nickten und die Treppe ließ sie nach oben gehen.

Lautlos schlichen sie in die erste Etage, bis alle nach und nach vor einer großen Flügeltür standen, ab hier redeten nur ihre Augen. Mit einem heftigen Ruck stieß Frowin die morsche Wohnzimmertür auf, hinter der sechs mal sechs mal sechs Hexenmädchen schwarze Magie ausübten. Durch einen Zauberspruch, den Frowin sagte, ließ sich die Tür nicht mehr schließen, so war ihnen eine Flucht möglich. „Aperire te.“

Die Kinder, die sich dahinter befanden, reagierten nicht einmal erschrocken, als die Flügeltüren nach beiden Seiten aufschlugen und links und rechts gegen die Wände knallten. Mit dunklen, fast schwarzen Augen, in denen nicht eine Spur von Weiß zu sehen war, begrüßten sie ihre Gäste gefühllos und kalt. Sie kreisten umgehend die vier ein und murmelten Flüche. Ihre Augen verfärbten sich glühend rot.

Nympfjet gab den ersten Befehl an ihren Zauberstab. „Seorsum.“ Die Hexenkinder flogen alle auseinander und verstreuten sich im Zimmer. Manche flogen so hart gegen die Mauern, dass man ihre Knochen brechen hörte. Zornig richteten sie sich wieder auf und versammelten sich zu lauernden Gruppen. Mit Anlauf sprangen sie auf Nympfjet und ihre Zauberer zu, das war der Anfang eines erbitterten Kampfes. Die Kinder verwandelten sich noch im Sprung blitzschnell in Schlangen, in Spinnen und andere hochgiftige Tiere, um schnell und gewandt ihr tödliches Gift in die Adern der Eindringlinge zu spritzen.

Skorpione bahnten sich den Weg über die Kleider von Nympfjet und Isis und wollten sie in den Hals stechen.

Um Frowin schlängelten viele Königskobras und Speikobras. Die Speikobras versuchten seine Augen zu treffen, um ihn durch Blindheit zu lähmen. Sie spuckten ihn unentwegt an, während die anderen Kobras sich vergrößerten und ihr Gebiss aushakten, um Frowin zu verschlucken. Sein Zauberstab zuckte unentwegt Flüche gegen die wendigen Schlangen hervor.

Ida musste sich gegen Tausende Spanische Fliegen wehren, die sich wie ein Teppich unter ihr sammelten. Jeder wusste, 30 mg von diesem Gift wirkten sofort tödlich.

Der Raum füllte sich mit Magie, Rauch und Feuerbällen. Sie kämpften um ihr Leben. Auf dem Holzfußboden reihten sich verbrannte Tierkadaver aneinander. Doch es war kein Ende abzusehen.

Die Kräfte von Nympfjet, Frowin, Ida und Isis im Kampf gegen die Hexenbrut ließen nach. Zusehends gewann Fedoras gezüchteter, blutdurstiger Schattennachwuchs die Oberhand. Nympfjet sah, dass sich die Skorpione unter Isis’ Haut den Weg in ihren Kopf bahnten. Ida sah man vor lauter Käfern nicht mehr. Bewegungslos und übersät mit schwarzen krabbelnden und zubeißenden Insekten lag sie wie tot am Boden …

Der Anblick ihrer treuesten Freundin, dem sie machtlos gegenüberstand, ließ Nympfjet in einem noch helleren Weiß erstrahlen. Es gingen Schallwellen von ihr aus, die die giftigen Schlangen, die Frowin würgten, explodieren ließen. Die Spanischen Fliegen wurden steinhart und lösten sich von Idas Körper wie grobe Körner. Isis erbrach die Skorpione, die sie in Besitz nehmen wollten. Nympfjet selbst aber stand im Mittelpunkt des Sturms. Ihre roten langen Haare wirbelten um ihren schmächtigen Körper. Ihre Augen fixierten einen Punkt. Ihre Kleider bäumten sich auf, als sie sagte: „Moritur miserabiliter!“ Aus ihrem Zauberstab sprühten Blitze wild umher. Nun wurden auch die Letzten der Hexenbrut zum Tode verurteilt und starben unverzüglich einen elenden Feuertod.

Dann trat auf einmal heilige Ruhe ein – keine lauten und grässlichen Geräusche mehr. Nympfjet holte ihre leuchtende Aura zurück und ließ sie wieder die kleine Hexe sein. Ängstlich lief sie auf Ida zu, die immer noch bewegungslos am Boden lag. „Frowin, schnell. Wir müssen ihr helfen.“ Frowin nahm Ida auf den Arm und die anderen stellten sich dicht aneinander. Um sie herum wirbelte es und sie teleportierten sich wieder in Lisas Haus zurück.

Keinem der Kämpfer fiel auf, dass sie vergaßen, jemanden zu töten. Eine Hexe überlebte. Die Hexe Sojana, die den Kindern Mutter und Lehrerin war, packte ihren Besen und eilte auf den Wurmberg, um Fedora-Astarte zu berichten, dass ihre Hexenarmee ganz und gar vernichtet wurde …

In Lähis versammelte der König sein Zwergenvolk auf einem großen Platz, um ihm zu verkünden, in welch auswegloser Situation sie sich befanden. Dass sich die Tränen des Harzes nun zusehends immer flüssiger und stärker und somit erbarmungslos und unaufhaltsam durch die Tore des Mammutbaums drückten. Oberhalb der Brücke von Lähis gab es weder eine Möglichkeit zum Hineinkommen noch Hinausgehen mehr. Den einzigen Weg, die Zwerge aus ihrer Heimat zu befreien, versperrte das Harz. Sie konnten nur noch zusehen, wie die eigene Stadt im Baumharz ertrinken wird! Der König, der die ganze Zeit in der Hoffnung lebte, von irgendjemandem Hilfe zu bekommen, war sich ganz sicher, würde das nicht bald geschehen, gibt es für die Stadt Lähis keine Rettung mehr. Die Stadt war zwar gegen Unholde, Diebe und alle die, die von Herzen böse und schlecht sind, durch die Götter geschützt, aber gegen Naturgewalten, die vom Höllenfürsten selbst angeordnet wurden, von denen die Stadt verschüttet und begraben werden konnte, gab es nichts.

„Meine lieben Freunde und Bewohner von Lähis! Ihr habt mich mit eurem außerordentlichen Fleiß und eurer Herzensgüte zu einem stolzen König gemacht!“ Brutas sah über seine ganzen Stadtbewohner hinweg. Die vielen gütigen und rosigen und lustigen Gesichter ließen seinen Schmerz im Herzen verstärken. Sein Gesicht selbst wandte er dem Eingang von Lähis zu, genau dorthin, wo sich der schleichende Tod für die Zwerge hineindrückte. Die Bewohner folgten dem Schweigen des Königs und schätzten die zähflüssige kriechende Masse ein, bis er wieder die volle Aufmerksamkeit forderte. „Wie ihr seht, haben wir keine andere Wahl, als zu sterben …“

Brutas wurde grob unterbrochen. „Warum sagst du das?“ Die wartenden Zwerge stupsten sich in die Seiten und nickten sich zu.

„Wir wollen noch nicht sterben, Brutas. Und du sicher auch nicht!“

„Es muss doch etwas geben, womit wir den Lauf der Tränen des Harzes hinauszögern können, bis Hilfe kommt!“, sagt eine Mutter und hielt ihr Baby fest an sich gedrückt.

Brutas schüttelte hoffnungslos seinen langen Bart. „Nein, meine Freunde. Ich habe euch hierher gebeten, um euch die freie Entscheidung zu lassen, ob ihr mit euren Familien in die Halle Rahu ziehen möchtet, bis uns der nagende Hunger den Tod bringen wird, oder ob ihr mit den Tränen des Harzes untergehen wollt. Ihr habt die Wahl und könnt selber entscheiden, wie ihr sterben möchtet.“

Unter der Bevölkerung wurde ein Raunen hörbar. Noch nie hatten sie ihren König so gebrochen und bekümmert gesehen. „Was ist mit Brokk und Sinith?“, rief einer der Zwerge durch die Menge.

„Ich habe keine Nachricht von ihnen erhalten, seit sie weg sind!“, sagte der König kraftlos und leise.

„Auch keine Todesnachricht?“

Sordolax ergriff das Wort für seinen Freund Brutas. „Nein, wir haben weder ein Lebenszeichen noch eine Botschaft erhalten, dass zwei Zwerge ums Leben gekommen sind.“

Jetzt wurde das Raunen in der Menge lauter. „Dann sind sie noch am Leben!“, schrie einer der hinteren Zwerge. „Ja, sie schaffen das und werden uns retten.“ Sie redeten jetzt alle wild durcheinander und teilten sich wieder in ihre Häuser auf.

Sordolax und Brutas blieben zerstreut und achselzuckend zurück. „Haben sie nicht verstanden, worum die Versammlung ging?“, fragte Sordolax seinen entrüsteten Freund.

„Doch, das haben sie. Aber solange von Sinith und Brokk keine Nachricht von einem Boten kommt, dass sie nicht mehr am Leben sind, bis dahin werden sie die Hoffnung haben, dass diese Stadt nicht untergeht.“

„Das nennt man Vertrauen haben!“

„Genau, mein Freund. Und ich schäme mich vor meinem treuen Volk, dass ich das für einen Moment verloren hatte.“