»Vor vielen, vielen Jahren gab es in Thale eine Zwergenstadt namens Lähis. Unter Einheimischen wurde diese Stadt auch Zwergenrode genannt. Das hörte sich aber nicht so verträumt an, wie es in der Heimat der kleinen Wichtel wirklich war. Und so änderten die Zwerge den Stadtnamen und tauften den Ort auf Lähis. Diese Stadt stand in Mitteltor. Mitteltor deshalb, weil sich dieses Gebiet genau im Herzen des Harzes befand. Den Eingang zu dieser Zwergenwelt bildeten vier von allen Himmelsrichtungen begehbare Tore, die in einem großen und sehr alten Mammutbaum versteckt waren.
Bewacht wurden die Tore von vier Zwergen. Das Tor zum Süden bewachte Dienmidu. Der Zwerg Ziemelu schaute nach Norden, zum Westen sah Rietumi. Und den Osten beobachtete Austrimi.
Wer von diesen Zwergen durch die Tore hereingelassen wurde, durfte die überwältigende Schönheit des Waldes, in dem sich die Stadt verbarg, erleben. Er würde nie auch nur einen feinen Hauch vom Wind an seiner Wange spüren, weil alles friedlich ist. Kein Lärm, kein Gebrüll, kein Streit – weder in der Natur noch unter dem Volk, das die Stadt bewohnte.
Diese Stadt wurde persönlich von den Göttern beschützt. Denn die Zwerge in jener Stadt im Bodetal stellten die Schwerter und Schilde aus dem Eisen her, welches sie in ihren Bergen Tag und Nacht aus den harten Felsen schlugen. Es handelte sich um ein besonderes Metall, voller Zauber und Magie, und damit kein anderer dieses Edelmetall fand, legten die Götter eine Tarnkappe über diese Stadt, die sie vor Feinden und Dieben schützte.
Gekühlt wurde das heiße, glühende Eisen mit dem Wasser aus dem Mittelteich, der in der Nähe der Schmiede lag. Dem Wasser sagte man Heilkräfte nach, weil es besonders rein schien.
Die Zwerge lebten im Einklang miteinander. Denn es waren liebevolle und höfliche Zwerge, die in dieser Stadt wohnten und die keinen Schaden nehmen sollten. Auch wenn man den Zwergen manchmal nachsagt, dass sie hinterhältig und auch sehr gemein sein können, traf das auf die Zwerge in Thale nicht zu. Ganz im Gegenteil. Wenn sie um Hilfe gebeten wurden, dann waren sie auch nach getaner harter Arbeit nie zu müde dazu …“
Abrupt wurde die Sage unterbrochen. Und ein lustiges Zwinkern aus wachen, braunen Augen traf Lisa kichernd.
„Oh Mama, wer das glaubt, ’ne! Der ist echt noch ein Baby.“
Lisa schmunzelte. Sie konnte sich nur zu gut erinnern, dass sie es auch ihren Eltern mit Sagen und Mythen um den Harz nicht einfach gemacht hatte.
Lisas Tochter sprang mit einem Ruck aus ihren aufgeschüttelten und eigentlich zum Schlafen einladenden Kissen und hüpfte mit einem imaginären Schwert im Bett auf und ab.
„Da, ihr Wichte, nehmt den Stoß und kämpft tapfer um euer Leben und Hab und Gut.“ Blitzschnell sprang sie auf die andere Seite ihres Bettes. „Aha, da kommen noch mehr aus dem Zwergenland. Auf ihren Zwergenponys strotzen sie todesmutig dem Feind. Hier bin ich …“
Mit einem Hechtsprung machte sie einen Satz mitten in Lisas altes Kinderzimmer und forderte die kleine Hexe, die viele Jahre leise im Fenster hin und her schaukelte, mit ihrem nicht vorhandenen Schwert in der rechten Hand auf, sich zu ergeben. Lisa beobachtete vom Bett aus das Schauspiel, was ihre kleine Tochter Maxima wieder putzmunter werden ließ.
„Erzähl weiter, Mami“, forderte Maxima Lisa aufmunternd auf.
„Ich glaube, Mia, für heute hast du genug mit den Zwergen gekämpft. Ab ins Bett, du kleine Hupfdohle.“ Liebevoll kürzte Lisa gern den Namen ihrer Tochter ab.
„Oh menno. Immer wenn es spannend wird.“ Sie sprang wieder zurück auf ihr Bett und ließ sich auf ihre Matratze fallen, die das Mädchen noch etwas auf und ab wippte.
„Kannst du mir nicht noch einen Satz aus der Geschichte sagen?“ Mia blickte erwartungsvoll zu ihrer Mutter und klimperte mit ihren langen dunklen Wimpern. Mit ihrem Zeigefinger und dem Daumen zeigte sie an, wie groß oder wie lang der Satz sein sollte. „Bitte, nur einen Satz.“
Mia schob theatralisch ihre Unterlippe nach vorne und schmollte gekonnt. Sie wusste ganz genau, wenn sie so ein Gesicht zog, würde ihre Mutter nicht lange standhalten, und Mia ihren Willen bekommen. Und so war es auch.
„Okay, du Nervensäge. Dann wird aber geschlafen!“ Lisa seufzte leicht überrumpelt und fuhr fort: »In dieser Stadt wohnten zwei Zwerge, der eine hieß Brokk und der andere Sinith, und diese beiden mussten sich auf den Weg machen, um die Herrscherin vom Klobenberg zu suchen, weil der König aus dem Zyklopenwald in großer Gefahr schwebte. Denn der König nahm einst einer kleinen liebevollen Hexe ein Versprechen ab, das jetzt eingelöst werden musste.«
Maxima grinste breit. „Wie doof ist das denn? Warum muss ein König im Märchen immer Versprechungen machen? Entweder verschenkt der seine Tochter oder Haus und Hof. Und wenn er nicht gestorben ist, dann verschenkt er heute noch.“ Maxima überlegt ganz locker, wie es weitergehen könnte, indem sie auf ihrem Bett herumtobte. „Ich kann ja die Geschichte weitererzählen. Dann hat die nicht so ein blödes Ende.“
Lisa rollte ihre Augen gegen die Decke und versuchte ihre Tochter unter die Bettdecke zu stecken.
„Hier wird nichts mehr weitererzählt. Hier wird jetzt geschlafen.“ Mit einem sanften Stoß von Lisa ließ sich Maxima in ihre Kissen zurückfallen.
„Kannst ja weiter davon träumen, wenn du unbedingt ein Ende haben willst. Vielleicht erscheinen dir noch Riesen und böse Hexen!“ Lisa lächelte verschmitzt.
„Na toll, da haste mich jetzt aber auf eine Idee gebracht. Oh menno, jetzt kann ich vor Aufregung gar nicht mehr schlafen!“ Maxima kräuselte ihr Näschen, wie es ihre Mutter auch immer getan hatte, wenn sie etwas ausheckte. „Darf ich dir eine klitzekleine Version von meiner Geschichte gerade eben noch erzählen, Mama …?“
Aber so weit sollte es nicht mehr kommen.
Maxima wurde durch das vorsichtige Aufdrücken ihrer Zimmertür gestört. Behutsam schob sich ein lächelndes Gesicht herein, das an einer deutlichen Ähnlichkeit zu Maxima keinen Zweifel ließ. „Na, sind meine kleinen Zauberinnen mit den bösen Harzwesen für heute noch nicht fertig?“
„Papa.“ Maxima war mit einem knappen Anlauf auf die Arme ihres Vaters gesprungen und küsste sein Gesicht wild von einer Seite auf die andere.
„Nein, Schatz. Es ist heute wieder mal sehr schwierig, deine Tochter und dein fantasieloses Blut zu überzeugen.“
Er grinste wissend seine Maxima an, die hinter dem Rücken ihrer Mutter die Augen verdrehte.
„Mama wollte mir aber auch wieder eine Geschichte auftischen. Unglaublich. Von Zwergen, die in Thale Götterwaffen schmieden.“ Sie prustete vor Lachen lauthals los.
„Hast du schon mal Zwerge gesehen, außer solchen, die aus Holz geschnitzt am Wanderweg stehen?“ Vater und Tochter befanden sich wieder in ihrem Element. Sie machten sich gerne über die Harzgeschichten von Lisa lustig. Keiner der beiden glaubte an die Mythen, die man sich in ihrer Heimat erzählte. Teufel, Hexen, Riesen und Zwerge – das waren Hirngespinste, eher Gruselgeschichten von den Gebrüdern Grimm und Ammenmärchen der Urbewohner des Harzes. Mehr nicht!
Mit Maxima, die auf seinem Arm hing wie ein kleines Äffchen, ging er auf seine kopfschüttelnde Frau zu und gab ihr einen Kuss.
„Guten Abend, Schatz. Wie ich sehe, hast du unsere und von meinem Blute abstammende fantasiereiche Tochter anders inspiriert als zum Schlafen.“
„Ach, ihr beiden wieder. Lasst doch den Harz einfach mal auf euch wirken.“ Lisa versuchte ihre Liebsten wie immer zu überzeugen.
Doch umso mehr sie sich verteidigte und ihren geliebten Harz in Schutz nahm, desto mehr wurde sie von Ehemann und Tochter auf die Schippe genommen.
„Komm, Papa, lass mal wirken!“ Maxima presste ihre flachen Hände aneinander und verkörperte eine Meditation und brummte mit tiefer Stimme: „Oooohhhmmmmmm.“ Alle im Zimmer mussten jetzt lachen.
„Ihr seid so blöd!“, warf Lisa wenig beleidigt ein und schob ihren Mann leicht aus Maximas Zimmer hinaus. „So, Schlafenszeit. Licht aus und Feierabend. Heute ärgert mich niemand mehr.“ Lisa blickte noch einmal in ihr altes Zimmer, Richtung Bett, dabei blieb ihr der Blick von Tochter zu Vater nicht verborgen. „Jaja, macht euch nur lustig! Wir werden sehen, wer zuletzt lacht.“ Mit diesen Worten löschte Lisa das Licht und brachte damit alle konsequent zur Ruhe.

»Brutas der Zwergenkönig rief zwei seiner edelsten und mutigsten Lichtritter zu sich. Mit sorgenvoller Miene stand er nun seinen tapfersten Kriegern gegenüber, dicht hinter ihm der einäugige Erbe des Königreiches der Zyklopen, der mit seinen gut zweieinhalb Metern den Zwerg überragte. Brutas konnte man leicht übersehen, würde er nicht einen langen auf den Boden reichenden weißen Bart tragen, und das wasserblaue Mäntelchen, das vor dem braunen Umhang des Thronerben hervorstach.

„Die Zeiten haben sich geändert, liebe Freunde. Mein Ruf nach euch beinhaltet keine guten Nachrichten. Wir stehen vor einem Krieg, der alle anderen Kriege in den Schatten stellen wird. Wappnet euch und schärft den Verstand, der Zyklopenkönig braucht dringend unsere Hilfe.“
Fragende Zwergenaugen schauten den König und den Prinzen an und bohrten nach einem Warum.
„Ihr beide seid von dem weißen Magier auserwählt worden. Aus diesem Grund habe ich euch rufen lassen.“
Einer der gerufenen Zwerge stand bis eben noch bewegungslos neben seinem Freund. Nicht gerade zögerlich kniete er vor seinen König. „Was hat der weiße Magier damit zu tun?“
Aus einiger Entfernung blickte der Zwergenkönig in tannengrüne Augen, die ihn durchdringen wollten und nicht wirklich verstanden, worum es ging.
„Wir waren gezwungen, den Magier zu befragen!“
Fest hafteten zwei standhafte Augenpaare auf den unterschiedlichen Männern, die noch nicht ganz die Dringlichkeit des Königs verstanden.
„Wir brauchen Männer, die rechtschaffend, treu und edelmütig sind und ein unbekümmertes Herz haben.“
Die Zwerge stupsten sich freudig an und fühlten sich durch das Lob des Königs geehrt. Brutas knetete nervös seine groben Zwergenhände und räusperte seine Kehle frei.
„Wir wollten einen kleinen Einblick in die Zukunft haben. Denn es ist kein Auftrag als Friedensbotschafter. Ganz im Gegenteil! Er birgt hinterhältige Gefahren für euch.“
Brutas sah auf seine Fußspitzen herunter, um den fragenden Blick seiner Lichtritter zu durchbrechen. „Die Würfel wurden dann geworfen und die Orakelwürfel sind auf euch beide gefallen. Auf meine mutigsten Männer in Lähis.“ Der Zwergenkönig ging auf seine Zwergenkrieger zu und klopfte jedem Einzelnen anerkennend auf die Schulter. „Zudem sah der blinde weiße Magier in seiner Vision wirklich nur euch beide ganz allein den Hexenstieg aufsteigen. Niemand begleitet euch. Nur euer Vertrauen, die Scharfsinnigkeit und eure Freundschaft.“
Brokk löste sich aus seiner Starre. „Ihr seid vollkommen sicher, dass wir die Auserwählten sind?“
Brutas nickte mit einem ernsten Gesicht, das jegliche Bedenken auslöschte.
„Es gibt an der Weissagung keinen Zweifel. Ihr beide müsst euch auf einen ungewissen Weg machen.“
Die Zwerge verstanden und wollten nun wissen, was ihr Auftrag beinhaltete.
König Brutas wurde sehr leise, so als wollte er das irgendwie nicht aussprechen, was nun aus seinem Mund kam. „Ich muss euch hinausschicken, um die Herrscherin vom Klobenberg zu finden und diese umgehend zu informieren, dass das Schwert der Weisheit in großer Gefahr ist und wir dringender denn je ihre Hilfe benötigen.“
Traurig blickte der Zwerg seinen treuesten Freund an, der dicht hinter ihm stand, um dann seinen Verbündeten aus dem Wald mit inständigem, flehendem Blick und gestrecktem Hals tonlos zu bitten, das Wort weiterzuführen. Denn seine eigenen Wortsilben rückten in seiner Kehle zu einem Kloß eng zusammen. Er konnte die Worte, ohne seinen Kriegern Angst zu machen, nicht mehr aussprechen, weil der weiße Magier ihm offenkundig zu verstehen gab, dass seine tapferen Krieger gefährliche Abenteuer durchleben müssen. Vielleicht war es das letzte Mal, dass er, der Zwergenkönig von Lähis, seine Lichtritter Brokk und Sinith zu sich rufen ließ. Das Ende dieser Mission konnte der weiße Magier nicht voraussagen. Niemand wusste, ob es die Zwerge schaffen würden, die Herrscherin zu finden, oder aber tapfer in einem ungerechten Kampf sterben mussten …
Dem Riesen gingen die Worte auch nicht leichter über die Lippen, denn die Zwerge waren von jeher immer treue und gern gesehene Gesellen in dem berüchtigten Zauberwald der Zyklopen. Der zukünftige König der Einäugigen räusperte sich und ging weit in die Knie, um den zwei Zwergen ins Gesicht zu sehen.
„Brokk.“ Er nickte dem Zwerg freundlich zu und drehte seinen Kopf dem anderen kleinen Mann entgegen. „Sinith! Wir hatten viele Jahre im Wald unsere Ruhe und unseren Frieden, nachdem die böse Brunnen-Walpurga vom Klobenberg durch ihre Nichte ihr Leben verlor. Doch im Laufe der Jahre wurde die Sage über ein magisches Schwert immer lauter. Zuerst schafften wir es noch, dieses Geschwätz als Geschichte und Märchen hinzustellen, aber eine sehr eifrige und intrigante Hexe schaffte es, einem meiner Männer mit einem hinterlistigen Zauber die Zunge zu lösen. Dumm war nur, dass sie etwas erfahren hat, was nicht der Tatsache entspricht. Seit dieser Zeit belagert sie unseren Wald. Die Heerscharen bitterböser Hexen um sie herum werden immer größer und brutaler. Viele Freunde habe ich schon außerhalb des Waldes verloren.“ Sordolax versank in sich und sah viele grausame Bilder von einem unfairen Kampf. Todesschreie hallten in seinem Kopf bitter nach und ließen ihn ungehemmt frösteln.
„Dank einer bösen sowie guten Hexe liegt der einzige und wirkliche Schutz innerhalb des Dickichts, kein Schattenweib kommt dort jemals lebendig wieder heraus.“
Er machte eine kurze Pause und hielt sich sein Vorrecht als Thronerbe vor Augen. Sein Vater überlieferte ihm schon sehr früh die wahre Geschichte des Zauberwaldes, denn eines Tages sollte er nun einmal König sein und seine Aufgaben und Gesetze gut kennen, vor allem aber den Trumpf im Ärmel in Zeiten bitterer Not besonders gut kennen.
„Aber wenn das so ist, also wenn der Wald vor den Hexen sicher ist, dann verstehe ich jetzt die ganze Aufregung nicht!“ Brokk hatte sich leicht verneigt, um dem Königssohn trotz des Einwurfes seinen Respekt zu zollen.
Der nahm es dem kleinen Zwerg auch nicht übel. Hier ging es erst einmal auch nur um die Zwerge, denen eine Bürde auferlegt werden muss, deren Schweregrad nicht zu ermessen ist. Sordolax schnappte schwer nach der Luft, die seine Lungen füllte.
„Selbst wir sind dem Fluch unterlegen. Wir können den Wald nicht verlassen. Eingesperrt wie Tiere in einem Käfig leben wir in unserem eigenen Wald. Ich konnte hierher fliehen, weil ich von meinem Vater ein Zauberpulver bekam, das mir die Möglichkeit schaffte, zu euch zu kommen und um Hilfe zu bitten.“
Sinith und Brokk waren erschüttert. Selbst Brutas legte seine Hände an den braunen Mantel seines Freundes. „Stimmt“, sagte Brokk. „Wir haben uns immer gefragt, wieso die Zwerge den Kontakt zu euch aufrechterhalten und von den Riesen nie einer zu Besuch kam.“
Sinith nickte. „Ja, jetzt wird uns einiges klar! Welche Hexe hat euch denn verflucht?“
Sordolax’ trauriger und verstohlener Blick schweifte weit in die Vergangenheit zurück.
„Den todbringenden Fluch hat vor vielen Jahren die alte Oberhexe Walpurga vom Klobenberg zur Bestrafung ihrer eigenen Hexen selbst ausgesprochen. Die Hexen fürchteten die Umgebung und den Fluch, der nur den Tod nach sich ziehen würde. Mit dem Wald sind wir Riesen auch verflucht worden. Sobald eine verstoßene Hexe in unseren Wald kam, mussten wir sie, ob wir wollten oder nicht, wie eine Ameise zertreten. So war sich Walpurga ihres ungeteilten Gehorsams sicher, denn die Hexen fürchten diese Bestrafung!“
Die beiden Ritter schwiegen und harrten der Worte des künftigen Zyklopenkönigs. Aber sie verstanden immer noch nicht ganz genau, was der König Brutas und der große Prinz von ihnen wollten. Da sie merkten, dass Sordolax mit seiner Geschichte noch nicht zu Ende war, zwangen sie sich, still zu sein und abzuwarten.
„Nur eine konnten wir aus dem Wald entrinnen lassen …! Das hat sich herumgesprochen und nun versuchen die Hexen unseren Wald auszukundschaften, um etwas Wertvolles in Besitz zu nehmen, was sie im Wald vermuten.“
Brokk konnte nicht mehr an sich halten und unterbrach ein weiteres Mal die Rede des großen angehenden Königs aus dem Wald. „Ja, aber …!“ Demütig verneigte er sich vor dem riesigen Königssohn mit dem einen Auge, um ihm damit zu zeigen, dass er auch diesmal nicht vorlaut erscheinen wollte. „Wir helfen ja gerne. Aber wir sind Wichte. Klein an Statur, auch wenn wir kraftvoll unser Eisen bergen und schlagen, sind wir nicht in der Lage, einen Krieg gegen eine oder zwanzig böse Hexen zu führen.“ Er dachte kurz nach und führte weiter aus: „Vielleicht sind es ja auch Hunderte. Die Zahl der Schattenweiber kann keiner genau nennen!“
„Ja, genau!“, warf Sinith treuherzig ein und trampelte unruhig auf seinen kurzen Beinen. „Wir sind klein.“
Sordolax lächelte leicht. „Ich weiß, meine kleinen Freunde. Ich weiß, dass wir euch einer großen Gefahr aussetzen müssen.“ Müde und erschöpft schloss er sein Auge, das als einziges Mahnzeichen noch auf die böse grausame Hand von der Oberhexe Walpurga hinweist. „Aber wenn ich das nicht täte, wären mein Volk, euer Zuhause und der ganze Harz für immer und ewig verloren. Ihr müsst die Herrscherin vom Klobenwald finden und mit ihr das Schwert der Weisheit. Ansonsten sehe ich für uns und alles Lebende und Lebendige hier in den Zauberwäldern vom Harz keine Zukunft mehr.“
Behutsam und fast geräuschlos wurde die schwere Eichentür der Halle des friedlichen Geistes aufgeschoben, in der sie sich versammelt hatten. Diese große Halle wurde liebevoll in der Zwergensprache Rahu genannt, was Friede bedeutete. In diesem besonderen Raum fand die Sonne ein Zuhause, behaupteten die Zwerge selber. Die Halle Rahu war lichtdurchflutet, man konnte über die ganze Zwergenstadt ein Auge haben, wenn die Könige an einer großen Tafel saßen und sich berieten. Egal, welche Sonne wanderte, die Morgige, die im Mittagslauf oder die roten untergehenden Sonnenstrahlen, alle wurden in dieser Halle von wunderbaren zigtausend Jahre alten Bernsteinen, die die Zwerge mühsam in den Bergen gehauen haben, eingefangen und widergespiegelt! Rahu war, wie die Zwerge sie bezeichneten, mit den Tränen des Harzes liebevoll verziert. Und weil die Sonne dort wohnte, hatten in diesem Raum böse Gedanken und Handlungen keinen Zutritt.
Ja, in dieser Halle konnte man sich vor Feinden verstecken, weil sie für böse Herzen unsichtbar schien. Die Tränen des Harzes, das Blut des Waldes und der Bäume bildeten das Herz und die Seele des ganzen Harzes. Aus diesen entwickelte sich der hart gewordene Schatz, nämlich Bernstein und somit die Halle Rahu! Und die Götter des Eisens legten aus tiefer Dankbarkeit für ihre Treue und Loyalität gegenüber den verborgenen Schätzen des Berges auf diesen wunderschönen Raum einen besonderen Segen!
Nur wer die Zwergenstadt mit reinem Herzen besuchen wollte, würde diese Halle auch sehen und betreten. Und so konnte die Halle im Falle eines Krieges der unsichtbare Schutzpanzer für alle Bewohner der Stadt Lähis sein.
Immer weiter öffnete sich die Tür und herein spähte ein freundlicher Zwerg mit einem Mäntelchen der Sonne gleich. „Die Wildschweine Gunduar und Mimur sind gesattelt.“
Brutas machte mit der Hand eine Geste, die zeigen sollte, dass sie noch nicht so weit waren. Der Zwerg an der Tür verstand, verneigte sich ehrfürchtig und zog die Tür wieder geräuschlos ins Schloss.
„Die Wildschweine sind gesattelt? Aber wir haben noch so viele Fragen!“ Brokk wurde sichtlich nervös, auch wenn er der tapferste Lichtkrieger aus Lähis war. Die Kämpfe, die sie mit Zauberwesen ausgefochten hatten, konnte man lange nicht mit denen der Hexen vergleichen. Hexen wollten sie nicht zum Gegner. Weder sie noch ihre hinterlistige Art, nie gab es einen fairen Ausgang. Nie würden sie eine Niederlage akzeptieren, sofern so was überhaupt passiert! Hexen würden erst einen Krieg beenden, wenn nicht einmal mehr eine Spur an die Zauberwesen erinnert.
„Auf welche Hexe müssen wir denn mit großer Vorsicht auf unserer Reise achten? Wie heißt sie?“ Brokk fürchtete sich gerade vor dem unangenehmen Vorgefühl in seinem Bauch. Mit seinem geraden und gestrafften Rücken signalisierte er dem König Heldentum, Furchtlosigkeit und Unerschrockenheit gegenüber dem Namen, welchen er auch immer gleich hören würde.
„Ihr dürft nie laut ihren Namen rufen oder nennen. Sie hört euch und findet euch. Auch ein leises Flüstern bringt nichts. Sie hat das Gehör eines Wolfes – und sie ist auch so flink, wendig und geschickt wie einer! Mit dem Nennen bzw. Hören ihres Namens erspäht sie Feinde und rottet diese aus, bevor sie auch nur eine Chance haben, mit ihr zu kämpfen. Sie hat denjenigen schon getötet, bevor die letzte Silbe ihres Namens ausgesprochen wurde.“
Wenn die beiden bis jetzt dachten, schlimmer kann es nicht mehr kommen, waren sie nun vom Gegenteil überzeugt.
Denn Sordolax’ Worte klangen mehr als warnend. Umsichtig legte er den Zwergen einen klitzekleinen Zettel, der zwischen den groben Fingern des Riesen gar nicht auffiel, vor die Füße. Auf dem Zettelchen stand nun mit noch winzigeren Buchstaben ein Name geschrieben: Fedora-Astarte vom Wurmberg. Den kleinen Männern stockte der Atem. Die gesunde Röte ihrer Wangen wich nun dem Kreideweiß der Sorge. Die Boshaftigkeit dieser Hexe hallte die letzten Jahre weit in andere Länder. Sogar das Nichts wollte sich mit dieser Hexe nicht anlegen.
Wie angewurzelt standen sie mitten in der großen Halle und suchten nach einem Grund, den Weg nicht antreten zu müssen. Sinith sammelte sich als Erster. Er hatte genug gehört und gesehen und war auf keinen Fall lebensmüde.
„Ja dann. Ich glaube, das müsst ihr ohne mich machen. Ich bin klein und mein Herz ist rein …!“ Er drehte sich prompt um und wollte auf seinen kurzen Beinchen schnell das Weite suchen, aber da hielt ihn Sordolax zwischen spitzem Zeigefinger und Daumen an seinem Ledergürtel fest und hängte ihn zappelnd in die Luft.
„Sinith. Du brauchst nichts zu fürchten. Ihr geht nicht ohne Schutzpatrone.“ Er forderte seinen treuen Freund Brutas den Zwergenkönig auf, ein Tuch auf dem Tisch zu entfernen, das Gegenstände freilegte, die vorher mit bloßem Auge nicht zu sehen waren. Noch nicht ganz überzeugt, beäugten die Wichtel kritisch die Sachen auf dem klobigen Holztisch.
Hier lagen das Netz der Unsichtbarkeit und das Horn der Taubheit. Mit großen aufgerissenen Augen begutachteten die Lichtkrieger ihre Waffen. Die beiden trauten ihren Augen nicht. Es waren die Waffen, die man nur aus den Wiegenmärchen der Zwerge kannte. Zauberwaffen, die der Zyklopenkönig angeblich von der Herrscherin vom Klobenberg bekam, weil er ihr das Leben schenkte. Damals wurde sie als junge Hexe von ihrer Tante, der Brunnen-Walpurga vom Klobenberg, zum Sterben in den Wald geschickt. Mit offenen Mündern bestaunten sie die Zauberwaffen, die ihnen zur Verfügung gestellt werden sollten.
„Die Märchensagen sind wahr?“, stotterte Sinith und ging ehrfürchtig und mit großer innerer Rührung auf den Tisch zu. Nun doch unternehmungslustig, nahm er jedes einzelne Teil hintereinander in die Hände. Er staunte nicht schlecht, dass seine Hände vollständig verschwanden, als er das Netz hielt. Auch Brokks Auflehnung gegen die böse Hexe vom Wurmberg löste sich in Wohlgefallen auf.
Erleichtert sah der große zukünftige König, dass Mut und Tapferkeit wieder zu den Zwergen zurückkamen. Mit Stolz betonte er: „Ja, es sind die Geschenke von Nympfjet an meinen Vater.“ Fast zärtlich strich er selbst über die ausgebreiteten Zauberwaffen. Eine Weile begutachteten die Lichtritter ihre Schutzpatrone.
Dem Zyklopenprinzen fiel auf, dass Brokk noch etwas Bestimmtes unter den Dingen suchte. Forschend schob er das Netz noch einmal zur Seite, um das, was er scheinbar vermisste, zu suchen.
Brokk drehte sich nach erfolgloser Suche stirnrunzelnd zu Sordolax um und blickte ihm fest in sein Auge. Er öffnete fordernd seine kleine Zwergenhand mit der Innenfläche nach oben. „Dann …“, sagte er feierlich und lächelte wissend Sinith zu, „dann hast du noch etwas für uns.“ Der Zwerg war nun überzeugt und freute sich mittlerweile auf ein Abenteuer, das mit solchen unterstützenden Gaben nur gut ausgehen konnte. Zweifel und Unentschlossenheit schienen vergessen. Er strotzte nun vor Eifer, die Herrscherin vom Klobenberg zu suchen und ihr eine Botschaft der Treue zu übermitteln. Mit überschlagender Freude in seiner Stimme forderte er mit überzeugtem Ton Sordolax ein weiteres Mal auf: „Dir ist sicherlich entgangen, uns noch etwas zu geben, oder?“
Der Prinz nickte schmunzelnd und zog aus einem Lederbeutel, der an seinem Gürtel hing, ein langes, spitzes Etwas heraus. Andächtige Stille herrschte nun in der Halle des Friedens. Bis ein Wispern, welches wie ein schallender Donner klang, alle in die Gegenwart zurückholte.
„Ich glaub das jetzt nicht“, kam es überrascht von Sinith, als er erkannte, was aus dem Beutel gezogen wurde.
„Der Zahn der Treue!“, flüsterte Brokk triumphierend und stupste Sinith mit dem Ellenbogen in die Seite.
Der Thronerbe vom Zyklopenwald legte fast zärtlich den Zahn in Brokks Hand, der damit die Fläche fast ausfüllte.

„Ihr wisst, was der Zahn bedeutet?“ Unsicherheit hörte man in der Stimme des Prinzen, die aber von den Lichtrittern in ihrem Eifer nicht wahrgenommen wurde.
„Ja natürlich!“, entrüsteten sich beide mit geprellter Brust über die unnötige Frage des Prinzen. „Welcher Zwerg kennt nicht die Geschichte von dem Versprechen, welches sich die kleine Hexe Nympfjet und der Zyklopenkönig gaben“, erläuterte Sinith entschieden weiter.
Die Blicke vom Zwergenkönig und Sordolax kreuzten sich. Besorgt ruhte das Auge auf Brutas dem Zwergenkönig. Der schüttelte wiederum kaum merklich seinen weißen, langen Bart. Was dem Prinzen sagen sollte, dass die kleinen Männer nicht die ganze Wahrheit über den Zahn der Treue wussten. Nur das, was man sich hier in Lähis darüber schon viele Jahre erzählte: Wenn der Zyklopenkönig in Gefahr ist, sollte dieser Zahn der Klobenberg-Herrscherin gebracht werden, damit sie zu Hilfe eilen konnte. Mehr wusste keiner.
Sinith und Brokk sahen sich vielversprechend und unternehmungslustig an und waren außer sich vor Freude. Sie glucksten und kicherten. „Hast du noch Angst davor, zu gehen?“, fragte Brokk Sinith, der von einem Beinchen auf das andere hüpfte.
„Nein, überhaupt nicht!“ Entschlossen packte Sinith seinen Freund an den Schultern. „Jetzt, wo ich weiß, dass unsere Mütter uns keine erfundenen Märchen auftischten, sondern alles wahr und wahrhaftig ist, mache ich mich gerne und schnell auf den Weg, um die Herrscherin vom Klobenberg zu finden.“ Er war von der Fähigkeit, sie zu finden, total überzeugt. Schnell, um keine weitere Zeit zu vergeuden, packten sie ihre Taschen mit den Schutzschilden zusammen.
„Oh Mann, ich glaub das alles nicht! Die schöne Nympfjet gibt es wirklich.“
Verliebt in eine Hexe, die noch niemand wirklich gesehen hatte, schmiedeten sie schon Zukunftspläne.
„Ich werde sie zuerst fragen, ob sie meine Frau werden will.“ Sinith straffte sich und wollte vor Brokk einen Kopf größer wirken.
„Nein, ich! Ich bin drei Tage älter als du.“ Brokk besann sich auf sein Ältestenrecht. „Ich wollte sie schon heiraten, da lag ich noch in den Zwergenwindeln …!“
„Ach nee. Wenn du nur drei Tage älter bist, in welchen Windeln lag ich dann, als ich Nympfjet heiraten wollte? In denen eines Greises?“
Fast schon zickig wie kleine Mädchen wollten sie sich bei Nympfjet gegenseitig ausstechen.
Der Zwergenkönig war etwas beruhigter, da die beiden Lichtritter etwas hatten, womit sie sich von der gefährlichen Aufgabe ablenken konnten. Sei es auch nur, um die Gunst zu erringen, die in jedem Fall etwas zu groß für beide schien …
Zufrieden stellte sich Sordolax zu voller Größe auf, der bis eben immer noch bei den Zwergen kniete. „Dann müsst ihr euch nun sputen. Und achtet darauf, dass der Zahn nicht zu Schaden kommt. Sonst war euer ganzer Weg umsonst!“
Kurz darauf wurden die tapferen Lichtkrieger aus der Zwergenstadt verabschiedet. Die Schultern des Zwergenkönigs wurden noch schwerer, als die beiden auf ihren Wildschweinen davonritten.
„Lass deine Augen nicht trübe werden, mein kleiner Freund. Es ist gut so, dass sie nicht wissen, wie wichtig der Zahn der Treue ist. Es sind manchmal belanglose Gegenstände, die man eher am Herzen aufbewahrt und darauf achtet. Bei Sachen von höchstem Wert und höchster Wichtigkeit ist es manchmal die Sorgsamkeit, die böses Unheil herbeiruft!“«

Lisa stand in ihrer alten Küche mit einer heißen Tasse Tee in der Hand und blickte verträumt und zugleich nachdenklich zu der uralten Eiche im Vorgarten. Sie wusste nicht genau, sollte sie den Baum hassen oder von Herzen lieben. Ihre Empfindungen für die alte Bluteiche waren ganz tief in ihr gespalten. Oft hatte sie das Verlangen, diesen Baum aus dem Garten zu entwurzeln und kurz und klein zu hacken – und dann wieder zu hegen und zu pflegen und sich über die Erhabenheit seiner Krone zu erfreuen. Die gespaltenen Gefühle, die sie für den borkigen Baum bereithielt, erschreckten sie zusehends von Tag zu Tag mehr. Es ist doch nur ein Baum mit dicken, stark verschlungenen Wurzeln tief in der Erde. Mehr nicht, oder? Lisa seufzte unbemerkt. Sie sah fast wie hypnotisiert auf die wuchtige Eiche, die sich mit ihren saftigen und prall gefüllten Blättern im leichten Wind fast tänzelnd hin und her wiegte. Sollte das vielleicht eine Antwort sein auf ihre Bedenken? Wollte die alte Eiche ihr damit sagen, dass sie sich um den Baum keine Sorgen machen muss? Lisa wollte das gerne glauben, um ihre Nerven zu beruhigen. Aber das Für und Wider hielt sich exakt die Waage. Sie war aber auch wunderschön anzusehen, die uralte Eiche. Blutrote Blätter umgaben ihr Haupt. Der dicke, borkige, tief rillige Stamm war felsenfest mit der Erde verbunden. Standhaft, dominant und geheimnisvoll überdachte er stolz den Garten. Doch bei Lisa bedeutete dieser fest mit seinen Wurzeln in dem sandigen Boden verankerte Baum das tiefe ungute Gefühl, dass der Baum ein schreckliches Geheimnis in sich trägt. Vielleicht ist das alles albern und irgendwelchen Hirngespinsten entsprungen, die ihr nur so unruhige Gefühle einreden wollten. Sie wohnte schließlich schon dreißig Jahre neben und mit dieser alten Eiche, die wie sie mit dem Harzer Land verwurzelt war. Aber trotzdem wirkte der Baum auf sie, als könnte er unschöne Geschichten erzählen. Seine Geheimniskrämerei und sein dennoch protziger Stolz ließen ihr schon immer eine Gänsehaut den Rücken rauf und runter huschen.
Lisa wurde abrupt aus ihren nagenden Zweifeln gerissen. Hä? Was war das denn? Sie öffnete die Terrassentür, die von der Küche in den Garten führte, als es hinter der Garage zum zweiten Mal polterte.
„Ppsstt. Nicht so laut, Papa“, hörte sie ihre Tochter Maxima ihren Vater ermahnen. Lisa schmunzelte und schüttelte ihren Kopf.
„Die hecken doch schon wieder etwas aus.“ Amüsiert ging Lisa in die Hocke, um die beiden zu beobachten. Ihre beiden Strolche benahmen sich auch passend wie welche. Wie Einbrecher auf spitzen Zehenspitzen liefen sie über den Rasen und suchten für irgendetwas ein kuscheliges Plätzchen.
„Hier, Mia“, rief Maximas Papa mit kräftigem Flüstern seiner Tochter zu. „Den stellen wir hierhin.“ Maxima rannte gebückt auf ihren Vater zu und kicherte.
„Ja, der Platz ist toll. Und der andere, wo soll der denn hin?“
„Da, unter die Tanne am Jägerzaun. Und vergiss nur nicht, ihm sein Namensschild umzuhängen.“ Er beobachtete seine Tochter, wie sie wie ein Wiesel unter die stacheligen Nadeln kroch und den bunten Zwerg unter piksenden Ästen platzierte.
„Wie heißen die Vögel noch mal?“
„Sinith und Brokk!“ Maxima kugelte sich bald vor Freude an der ganzen Sache. Auf das Gesicht ihrer Mutter war sie ungemein gespannt. Auf allen vieren kam sie unter der Tanne hervor und puhlte sich die abgefallenen Nadeln aus der Handfläche.
„Vögel. Das sollte Mama mal hören, die würde uns gleich wieder ermahnen, dass man Harzwesen nicht beleidigt!“ Mit erhobenem Zeigefinger und verstellter Stimme äffte sie die mahnende Strenge ihrer Mutter nach.
„Unter den Wesen des Harzes, Mia, gibt es feinfühlige, hilfsbereite und freundliche. Aber auch welche, die dir schaden können. Also sei auf der Hut und geh mit der Natur liebevoll und dankbar um. So bist du dir der Hilfe von Elfen und Waldgeistern sicher!“
Maximas Papa schüttelte verständnislos den Kopf. „Dass deine Mutter dich nicht noch ermuntert hat, die alte Eiche jeden Morgen zu umarmen, wundert mich gerade etwas!“ Etwas nüchterner und nachdenklicher erwähnte er noch: „Ich glaube, die hat als Kind ein Trauma erlebt und verarbeitet das auf diese Weise mit erfundenen Geschichten über den Harz!“
Lisa stand nun belustigt hinter der Außenmauer der Garage und verfolgte das bunte Treiben ihrer beiden Komiker. „Aha, ich leide demzufolge an einem Trauma und einer Kindheitspsychose? Diese Ganoven“, wisperte Lisa. „So sieht das also aus, wenn meine Familie sich hinter meinem Rücken lustig macht. Na wartet, das gibt eine Retourkutsche. Von wegen Trauma!“ Ebenso geräuschlos löste sich Lisa aus ihrem Versteck und betrat von vorn wieder das Haus. Sie tat für Vater und Tochter, die fast auf dem Fuße folgten, sehr beschäftigt mit ihrem liegen gebliebenen Haushalt.
„Na, ihr beiden! Wie war euer Tag?“ Wie immer begrüßte Lisa ihre kleine Familie liebevoll. Aber sie dachte im Moment ganz anders. Denn der Satz lautete übersetzt so: Na, ihr ausgekochten Schweinebacken. Ich weiß ganz genau, was ihr Neunmalklugen als Überraschung in den Garten gestellt habt! Mit gekräuselten Lippen wartete Lisa ihre Reaktion ab, vielleicht auch eine Spur von schlechtem Gewissen.
„Och. War nix Besonderes!“, schwindelte Maxima und pellte sich eine Banane auf.
„Wo wart ihr so lange? Gab es was Interessantes, was euch beide aufgehalten hat?“ Lisa stellte gekonnt ihre Fragen mit eine Prise fraulicher List. Und behielt ihre Verräter ganz fest im Auge.
„Nö.“ Ihr Mann wühlte im Obstkorb nach Obst, das er eh nicht essen wollte, um seiner Lisa ausweichen zu können.
Am liebsten hätte sie ihm gesagt: Im Obst wühlen, das machen nur gestörte und traumatisierte Kinder, die früher gezwungen wurden, Obst zu essen. Sie tatschte ihm auf die Hand, lächelte vielsagend und sprach erst einmal gar nichts. Sie wollte sich ja nicht verraten. Sie sah ihre Schauspieler ein zweites Mal fest und fragend an, aber die aufgesetzte Fassade blieb standhaft und der Mund geschlossen. Nicht einmal einen verräterischen Blickkontakt führten sie zueinander. Lisa schüttelte unmerklich den Kopf und sagte zu sich: „Ich habe tatsächlich Attentäter im Haus.“
„Hast du gerade was gesagt?“, fragte ihr Mann und sah in einen leeren Kochtopf.
„Nö. Nur, dass ich euch gefragt habe, ob ihr was gesehen oder sogar etwas Schönes für mich gekauft habt!“
„Ach Mama, was sollen wir dir schon kaufen. Du hast doch alles!“ Maximas Papa zeigte mit dem Zeigefinger zur Bestätigung in die Luft. Das oberflächliche Geplänkel hätte jetzt Stunden gefüllt. Lisa aber hatte vorerst genug von der Geheimniskrämerei und von ihren Mutter-in-den-Rücken-Fallenden, sie drehte sich gerissen grinsend von den beiden weg und wollte sich später dann nett von ihnen hinters Licht führen lassen.
„Ich mach schon einmal Abendessen. Geht erst mal Händewaschen. In einer halben Stunde bin ich so weit.“ Lisa drängte sie förmlich, die Küche zu verlassen. Sie verfolgte nun nämlich auch einen spontanen Gedanken, den sie vor dem Essen noch ausführen wollte. Die zwei sollten jetzt ganz schnell aus ihrem Sichtkreis verschwinden, damit sie ungehindert in den Garten gehen konnte.
Wie ihr mir, so ich euch! Ihr durchtriebenen Schlitzohren, dachte sie heimtückisch und plante eine Vereitelung! Lisa konnte es kaum abwarten, dass ihre kleine Familie in der ersten Etage verschwand. Für Lisas Ermessen dauerte das fast eine kleine Ewigkeit, als Maxima ihren Vater zum Fangenspielen aufforderte, der gerade noch vor dem Abendbrot einen Abstecher in sein Büro machen wollte.
„Ich bin Erster!“ Maxima stürmte an ihrem Vater vorbei, stupste ihn an und überholte ihn gekonnt frech. Ihr Vater versuchte noch krampfhaft, ihren langen Pferdeschwanz zu greifen, fasste aber ins Leere.
„Warte, Fräulein, gleich habe ich dich.“ Laut polternd trappelten sie die Treppe nacheinander rauf.
Lisa lauscht die Treppe hoch, um auch sicher zu sein, dass sie im Badezimmer beschäftigt waren. Sie stellte sich auf die unterste Stufe und horchte, oben ging es aber so laut her, das wäre auch eine Stufe tiefer nicht zu überhören gewesen. Prima, dachte sie sich. Die zwei sind mit Quietschen und Schreien erst einmal beschäftigt! Blitzschnell wandte sie sich um und lief durch die Hintertür raus in den Garten. Sie brauchte nicht lange zu suchen. Rote Zipfelmützen von zwei kleinen Wichteln stachen ihr sofort ins Auge. Ach Gott, die waren ja so was von herzallerliebst, schnuckelig und zuckersüß …! Vorsichtig nahm sie nacheinander die Zwerge weg. Noch etwas unentschlossen, mit den kleinen Zwergen im Arm, drehte sie sich ein paarmal im Kreis.
„Na gut, meine Kleinen“, säuselte Lisa. „Jetzt bekommt ihr einen anderen Standort. Mal sehen, was Maxima und mein Mann dazu sagen, wenn ihr plötzlich nicht mehr dort anzutreffen seid, wo ihr ursprünglich gestanden habt.“ Lisa hätte sich kringelig lachen können, aber sie musste sich beeilen, bevor sie von ihrem Mann und ihrer Tochter im Garten erwischt wurde. Doch die Zeit, die Porzellanfiguren zu begutachten, die nahm sie sich noch. Liebevoll strich sie die Namen der Zwerge mit dem Zeigefinger nach. Sogar an die Namen haben sie gedacht, diese Schlawiner. Fast zärtlich stellte Lisa die Wichtel weiter zurück in den nach hinten verlaufenden großen Garten, unter die Holunderbüsche. So ist es gut. Zufrieden mit dem neuen Platz machte sich Lisa wieder zügig in ihre Küche zurück. So als wäre nie etwas gewesen, stellte sie sich direkt wieder an ihren Herd und kochte die leckere Henkersmahlzeit für die Verschwörer fertig!
Ein Rumsen und Poltern zeigte Lisa an, dass sich ihre beiden Banausen gut gelaunt hinter ihr an den Tisch setzten und nach Hunger schrien. Genüsslich und mit knisternder Spannung, jeweils den anderen genau beobachtend, ließen sie sich das Abendbrot schmecken.
Irgendwann unterbrach Lisas Ehemann das Schweigen und gegenseitige Belauern. „Schatz, was hältst du davon, wenn wir uns nach dem Essen im Garten noch ein bisschen den Wind um die Nase wehen lassen?“ Maximas Vater zwinkerte verschwörerisch seiner Tochter zu. Lisa war gar nicht überrascht über die Abgebrühtheit ihrer Lieben, sie so plump nach draußen zu locken!
Mit verschlagenem Blick machte sie einen Gegenvorschlag. „Ja, aber nur, wenn ich euch eine Sage erzählen darf!“
Maxima verdrehte die Augen, schaute ihren Vater fragend an und signalisierte: Ey, so war das aber nicht abgesprochen!
Er grinste über beide Ohren bei dem Gedanken, dass seine Frau die Erste und Einzige war, die man wegen Sagen und Mythen eines Tages verhaften würde. „Schatz, wir lieben dich wirklich, aber kannst du heute nicht einmal eine Pause machen?“
„Nein!“, sagte Lisa bestimmt. „Ich habe die Zwergengeschichte noch nicht zu Ende erzählt.“ Sie räumte schnell die Teller vom Tisch, damit sie sich durch ihr verschmitztes Lächeln um die Mundwinkel nicht verriet. Sie hörte ein leises Seufzen und verzweifeltes Stöhnen von ihrer Tochter, das Lisas Mitleid wecken sollte. Aber sie blieb hart in ihrem von Lügen und Intrigen schmerzhaft getroffenen und zudem verwelkten Mutterherz. Und freute sich auf zwei ganz dümmliche Gesichter unter dem funkelnden Sternenhimmel …
Wenig später, nachdem der Abwasch gemeinsam erledigt wurde, gingen alle drei geschlossen in den Garten und genossen wie Theaterkünstler die gesunde und klare Abendluft. Und den natürlich noch nie gesehenen und voll übersäten Sternenhimmel! Sie taten so, als würden sie das alles zum ersten Mal erleben. Sie liefen im Garten von einer Ecke in die andere, wie bei einem Schaufensterbummel in der Stadt! Streckten ihre Köpfe wieder gegen den Himmel und jauchzten ein schmachtendes lang gezogenes Ooohhh! Sie befühlten die Blätter der Bäume und strichen über den bereits mit Tau benetzten Rasen. Und das alles, als wäre es wirklich das erste Mal. Wenn man sie so beobachtete, könnte man ihnen das tatsächlich abnehmen, dass sie von einer anderen Welt stammen und noch niemals die Erde in ihrer wunderbaren Pracht gesehen haben.
Bis Lisa durch die Weite des Gartens lugte und rote Zipfelmützen in der Nähe vom alten Schuppen erblickte. „Seid mal ruhig“, forderte sie ihre kleine Familie auf. „Hört ihr das auch?“
Maxima tat jetzt ganz neugierig. „Nee, was denn?“
„Zwergensprache. Wenn ihr jetzt ganz leise seid, dann könnt ihr sie bestimmt hören. Vielleicht sogar sehen!“ Auf Zehenspitzen schlich Lisa über den Rasen, bis sie gekonnt einen glucksenden Freudenschrei von sich gab. „Tatsache, guckt mal, dahinten sind Zwerge. Jetzt nicht hektisch werden, sonst erschrecken sie sich.“
Lisa empfand pure Lust, diesen beiden Krötenköpfen eins auszuwischen. Mit innerlicher Genugtuung ging sie rücksichtsvoll auf die Zwerge zu, um sie ja nicht zu verscheuchen. Hinter ihrem Rücken blieb ihr das aufgeregte Tuscheln nicht verborgen.
„Hast du die Vögel doch noch woanders hingestellt?“, flüsterte Maximas Vater überrascht. Irritiert und verwirrt schüttelte Mia ihren Kopf mit den gebundenen Zöpfen.
„Wann denn, Papa? Wir sind zusammen ins Haus. Hast du das vergessen?“ Wie angewurzelt blieben sie an Ort und Stelle im Garten stehen und grübelten über ihren verlorenen Geisteszustand.
„Die Vögel können sich doch nicht von allein durch den Garten getragen haben!“
„Sag nicht immer Vögel. Das sind Zwerge, Papa, Zwerge!“, betonte sie abermals genervt. Maximas Abenteuerlust, ihrer Mutter Streiche zu spielen, wich einer gewissen Ehrfurcht.
Inzwischen war Lisa bei den Zwergen angekommen und rief. „Oh, seht mal, die haben sogar Namensschilder umhängen. Brokk und Sinith. Wie die sich wohl hierher verlaufen haben. Ausgerechnet in unseren Garten! Die müssen bestimmt große Abenteuer bewältigen und brauchen Nahrung für die Reise.“
Lisas Ehemann Lorenz und Maxima standen immer noch wie angewurzelt und schienen in ein Streitgespräch verwickelt. „Ich habe die Zwerge nicht angefasst, Papa.“
„Ja, ich auch nicht. Mir ist das jetzt hier auch einfach zu dumm. Ich geh in mein Arbeitszimmer, da brauch ich mir über Wanderzwerge keine Gedanken machen.“ Leicht angesäuert drehte er sich um und stolzierte ins Haus.
„Weißt du, was Zwerge am liebsten essen …?“ Mit großen Schritten und den Porzellanwaren auf dem Arm machte sich Lisa wieder auf den Rückweg zu ihrer vom Vater im Stich gelassenen Tochter.
„Nein, Mama. Oh menno auch! Ich will das auch gar nicht wissen. Ich hatte heute genug Budenzauber um mich herum. Ich habe die Nase gestrichen voll von dem Zwergenmist. Ich geh ins Bett. Gute Nacht.“ Sie rollte genervt ihre Augen und ließ ihre Mutter im Garten und mit ihrer Frage nach dem Lieblingsessen der Zwerge einfach zurück.
Doch Lisa störte das nicht. Sie gab sich selber die Antwort. „Brot. Köstlich durchgebackener Sauerteig mit einer guten Handvoll grobem Salz …!“ Sie schmuste mit den Zwergen an ihrer Wange. „Gell, so schnell steht man allein da. Da wollte man mich veräppeln und jetzt ist man selbst verkohlt worden – und aufs Tiefste beleidigt. Tja, meine lieben Zwerge, wenn ich euch einen Rat geben darf, dann den: Machen zwei dasselbe, ist es noch lange nicht das Gleiche …“

»Brokk und Sinith waren nun schon vier Vollmonde unterwegs. Die Nächte wurden nachts schon kälter. Das Laub regnete in Regenbogenfarben von den Bäumen. Die Zwerge hatten es dadurch einfacher, sich bei drohender Gefahr schneller mit ihren Wildschweinen zu verstecken.
Ihr Weg verlief bisher ruhig, gestaltete sich aber durch die vielen Steine sehr schwierig und für die kurzen Beinchen der Zwerge äußert mühsam. Sie mussten von dem Eisenberge aus Thale über das Bodetal, das von unbändigen mächtigen dunklen Schieferbrocken umgeben war.
Am Hexenstieg wollten die beiden Gesellen etwas ruhen und vom gebackenen Maize, einem kräftigenden Malzbrot aus Sauerteig und grobem Salz, abbeißen. Sie hungerten schon den ganzen Tag, um nicht die kostbare Zeit mit unnötiger Rast zu verplempern. Aber nun kam der Hunger und die Nacht brach herein, sodass sie ihr Nachtlager aufschlagen mussten! Sie sattelten ihre Wildschweine ab, suchten umliegendes Feuerholz zusammen, stapelten es für ein großes Feuer aufeinander und zündeten es an. Als der Platz ein bisschen später im warmen Feuerlicht erstrahlte und die beiden in wohlige Wärme einwickelte, machten sie es sich, so gut es ging, gemütlich.
Sinith streckte seine Beinchen aus und sah Brokk zu, wie er die Maize in gleichmäßige Stücke brach. „Meinst du nicht, dass es Zeit wird, unsere Pausen und Mahlzeiten unter dem Schutz des Netzes der Unsichtbarkeit einzunehmen?“ Unsicher lagen seine Augen auf dem Hexenstieg, der am Hang des Berges schon gespenstisch wie eine Schlange nach oben verlief. „Wir kommen dem Hexenberg immer näher und mit jedem Schritt werde ich unruhiger!“

Brokk steckte sein Brot auf einen Stock und legte ihn zum Rösten in die Flammen. Seine Fäuste in die Hüften gestützt, blickte er in den Schatten werfenden Wald, aus dem die Uhus und Eulen abwechselnd mit großen wachen Augen die Nacht beobachteten. Eifrig und hungrig drehte er sich seinem schon knusprigen Brot im Feuer wieder zu, bevor es zu Kohle wurde.
Weil er an das Brot dachte, vergaß er, Sinith eine beruhigende Antwort zu geben, der ihn beobachtete, wie er einen weiteren Stock mit noch mehr Maize bestückte. Dabei löste sich aus Brokks Brustpanzer der Zahn der Treue, der an einem Band befestigt war und nun silbrig glänzend am Hals hing. Mit dem Schaukeln des Zahnes machte sich in Siniths Bauch ein komisches Gefühl breit. „Du sagst gar nichts! Ich denke, wir sollten nicht mehr ausruhen, ohne das Netz über uns zu werfen.“
Brokk schüttelte seinen langen, braunen Zwergenbart. „Ich glaube, wir haben noch Zeit. Die Hexen sind noch nicht in der Nähe!“
Sinith teilte nur ungern diese Meinung. Irgendwas fühlte sich hier und an diesem Abend anders an. Seine Gedanken machten ihn unsicher und ließen ihn das Kommende fürchten. Er fuhr auch gleich erschreckt zusammen, als eine Eule durch etwas aufgescheucht wurde und die schwarze Dunkelheit mit ihrem Schrei weckte. Nein, er war nicht derselben Meinung wie sein bester Freund. Ihm saß ein ungutes Gefühl im Nacken, seitdem sie am Hexenstieg lagen. „Ich möchte nicht länger als nötig hier verweilen. Der Platz strahlt Böses aus“, sagte Sinith nachdenklich und legte sich auf die Seite, um ein klein wenig zu schlafen. Lange lag er da und konnte kein Auge zumachen. Immer wieder blinzelte er erschrocken zum dunklen Wald. Zu sehr hatte ihn das Gefühl überkommen, dass sich zwischen den Bäumen ein Schatten löste, um sich sofort wieder mit der Finsternis zu vereinen. Mit diesen Gedanken wurde er dann doch noch vom Schlaf übermannt und fiel in unruhige, wirre Träume.
Mal sah er sich in Lähis mit seinen Freunden am Stammtisch sitzen oder auch mit Mimur über weite Felder reiten. Er fühlte sich wohl und sicher, denn Sinith befand sich in seiner Heimat und somit geborgen. Bis ihn ein dunkler Schatten verfolgte. Immer schneller kam er auf den kleinen Zwerg zu, der panisch auf der Stelle lief und nicht vorwärtskam. Er wollte schreien, doch aus seinem Mund kam kein Laut. Immer hysterischer schrie er, doch keiner konnte seine Hilferufe hören. Der dunkle Schatten verschlang hungrig jeden Schrei von Sinith. Andere Zwerge liefen an ihm vorbei, die ihn nicht zu sehen schienen. Keiner nahm Notiz von dem Zwerg, der sich in großer Not befand. Der Schatten holte Sinith ein und umkreiste ihn. Er hüllte alles um ihn herum in tiefes Schwarz. Sinith wusste aber, dass er seine Augen offen hielt. Er bemühte sich, etwas Angenehmes und Warmes für seine Augen zu finden. Aber der Schatten schien alles bedeckt zu haben. Nur tiefe schwarze Dunkelheit herrschte. Wohin er sich auch in Panik drehte und wendete, es gab nichts Helles und Schönes mehr. Er weiß nicht, wie lange es dauerte, dass er aus diesem Nichts wieder herauskam und wie sich dieses dunkle Etwas mit einem Mal so schnell auflöste. Doch teilte es sich und wurde von einem verhungernden Erdboden aufgesaugt.
Dann konnte sich Sinith plötzlich selber erkennen. Er sah sich nun am Feuer liegen. Eine Frau in einem in Fetzen gerissenen schwarzen langen Kleid schwebte über ihm und nahm ihm seine Luft zum Atmen und die Sonne zum Leben. Der Zwerg fing an zu frieren. Der Schatten der Frau kroch flüsternd wieder aus der Erde zurück, schlängelte sich unter die schwebende Hexe und rieb sich an ihr. In ihren Augen leuchtete ein Feuer: „Excipite anima eius“, befahl sie und ihr eigener Schatten suchte sich durch den geöffneten Mund des Zwerges den Weg zu seiner Seele. Ohne Unterlass kroch das Dunkle tief in sein Innerstes und brachte eisige Kälte in sein warmes Blut. Sinith konnte seine Augen nicht von dem Feuer in ihren Augen abwenden. Wie gefesselt hielt er ihrem zwingenden Blick stand. Ihre pechschwarzen Haare und ihr Kleid flatterten von der enormen Magie, die sie umgab, und mit der sie sich waagerecht über Sinith hielt. Sie stimmte summend ein Lied an. Trotz der aufsteigenden Dunkelheit um und in Sinith sagte etwas in ihm, dass er ihr ruhig vertrauen konnte. Es zwang ihn förmlich, das Gute in der dunklen Frau zu sehen! Der Lichtritter war nicht mehr fähig, sich zu wehren. Er wollte nicht mehr um sein Leben schreien. Warum auch? Es fühlte sich doch so wundervoll an, was sie mit ihm tat. Die schwarze Frau schwebte schweigend über Sinith. Er lockerte sich und ließ es zu. Sie lächelte gewinnend und sang nun auch noch mit betörender Stimme einen Vers:
Kleiner Mann,
ich weiß, dass du meinen Namen nennen kannst,
löse deine Zunge und schicke mir durch deinen Munde
den süßen Klang des Namens, den ich ersehn,
um dir dein Leben zu nehmen.
Sprich meinen Namen, laut und schrill …,
du weißt doch, dass ich deine Seele will!
Der kleine Lichtritter fühlte sich geschmeichelt und betört von dem lüsternen Klang der Frauenstimme. Es hörte sich lieblich und weich in seinem Kopf an. Warum sollte er auch nicht ihren Namen nennen? Seine Zunge wollte sich gerade gehorsam lösen, als er ein panisches Schreien von ganz weit her vernahm …
„Sinith. Sinith wach auf. Wach sofort auf.“ Mit weinerlichem Ton schüttelte Brokk seinen Freund hektisch und schon rabiat, um ihn aus seinen fesselnden bösen Träumen zu holen. „Sinith, bitte, bitte, komm zurück!“
Sinith fühlte sich gestört. Es war doch gerade alles so angenehm, er fühlte sich getragen und empor gehoben, ja schwerelos sogar. Er wollte dem Rufen nicht folgen. Aber das Schreien wurde zum Kreischen und widerwillig gab die Leichtigkeit, die von ihm Besitz ergriffen hatte, wieder den Platz in seinem Körper frei! Mit flatternden Lidern war er wieder in der Gegenwart angekommen. Benommen und ganz verschwommen nahm er die Umrisse von seinem Kameraden wahr, der völlig aufgelöst neben ihm hockte. Es dauerte eine kleine Weile, bis ihm bewusst wurde, was gerade im Traum geschah und was sich im Leben wirklich abspielt. „Brokk. Die Hexe …“ Er stöhnte, sah sich hektisch um und fasste sich an die Kehle, als wollte er den Schatten ertasten, der durch seinen Schlund schleichend in den Körper kroch. Er fühlte sich nach dem Erwachen irgendwie anders, konnte jedoch nicht erklären, warum. Aber etwas war in seinem Innersten nicht mehr so, wie es sein sollte! „Ich habe ihre Aura gesehen, Brokk!“ Brokk sah Sinith tief in die Augen und erschrak. Es kam ihm so vor, als huschte ein Schatten von einem Auge zum anderen. Das war doch jetzt eine Irreführung seiner überreizten Nerven, oder? Wie sollte sich auch etwas in den Augen von Sinith versteckt haben? Brokk verwarf diese kuriosen Gedanken. Damit leider auch die Tatsache, dass die Augen immer der Spiegel der innewohnenden Seele ist.
Brokk umarmte seinen Freund fest und hielt ihn eng umschlungen, vielleicht auch aus großer Sorge, dass er ihm fortlaufen könnte. „Mensch, was machst du denn für Sachen?“ Erschöpft sackte er in sich zusammen. Dem älteren Zwerg standen vor grenzenloser Furcht die Augäpfel aus den Höhlen. Er hörte Sinith im Schlaf murmeln und als er sah, wie dieser sich anstrengte, etwas über seine Lippen zu bringen, was beider Leben hätte kosten können, blieb dem Zwerg bald das Herz stehen und ließ in seinem langen Bart eine graue Strähne wachsen.
Dicht aneinander gedrückt hockten sie zitternd da. Nun wurde Sinith erst richtig bewusst, in welch großer Gefahr er sich gerade befunden hatte. Kaum merklich flüsterte Sinith ängstlich ins Ohr seines treuen Kameraden: „Wirf das Netz … schnell!“
Doch Brokk konnte ihn beruhigen. „Das habe ich schon, als ich dich sprechen hörte. Wir sind hier drunter sicher.“
„Sie war hier.“ Fassungslos griff sich Sinith an seinen Kopf. „Hier drin.“ Er erinnerte sich an das schreckliche Bild, wie die Hexe über ihm schwebte und ihn aufforderte, ihren Namen zu rufen. Der kleine Lichtritter musste sich zwingen, seinen Atem und seinen Herzschlag wieder in den Takt zu bringen. „Ich habe sie gesehen. Sie ist fürchterlich. Alles, was man sich über Hexen erzählt, ist nichts gegen sie …!“
Brokks Ängste um seinen besten Freund wurden gewaltiger. Denn wenn sie es einmal geschafft hat, in seine Gedanken einzudringen, wird sie es wieder versuchen. Er sah dem Auftrag, die Herrscherin vom Klobenberg zu finden, mit großen Schwierigkeiten entgegen. Fast liebevoll nahm er seinen Freund ein weiteres Mal in den Arm, dabei blieben Brokk die dunklen Ringe nicht verborgen, die sich unter den Augen seines Freundes zeigten.
Ohne seine Lippen zu bewegen, flüsterte Sinith Brokk zu: „Fedora-Astarte vom Wurmberg ist eine scharfzüngige Hexe! Und das teuflischste Schattenweib, was je im Harz gelebt hat. Es gibt keine zweite unter den Hexen, die so zynisch, verleumderisch, bissig, böswillig und sarkastisch ist wie sie. Ihre Zunge ist schärfer als ein zweischneidiges Schwert, was sich in deinen Mund bohrt, um alles, was sie hören will, aus deiner Zunge herauszuschneiden. Ihre Seele ist schwärzer wie Kohle und ihr Gesicht verwandelt sich in viele.“ Sinith schlug seine kleine, aber kräftige Hand vor den Mund, um mit dieser Geste seine Lippen für immer zu versiegeln.
Die Zwerge fingen an zu frieren und zogen zum Schutz ihre Mäntel enger an den Körper. Jetzt wurde ihnen zum ersten Mal wirklich klar, in welcher Gefahr sie sich befanden!
„Sobald es zum Tag dämmert, machen wir uns auf den Weg. Wir müssen schnellstens den Hexenstieg hinter uns lassen!“, gab Brokk unmissverständlich zu verstehen. Er war genauso verwirrt wie sein Freund. Denn nicht nur Sinith schleppte eine Last mit sich herum. Auch Brokk merkte, dass der Zahn der Treue schwer wie Blei um seinen Hals hing. Der Zahn trieb ihn an. Das Relikt schien es wirklich sehr eilig zu haben und zudem rief es verzweifelt nach Hilfe …

um den Zyklopenwald herum und in der Luft lauerten unzählige Hexen und warteten nur darauf, hineinzukönnen, um die einäugige Sippe, die sich darin befand, zu vernichten. Sie flogen auf ihren Besen über den Wald und erschreckten die Bewohner mit ihrem grellen, spitzen und schrecklichen Lachen.
Die Hexe Isis, die die Rücksichtslose genannt wurde, aber auch die Schattenhafte, weil sie dunkel und undurchsichtig war und keine Gnade kannte, bewegte sich kampflustig am Waldrand und wartete als Vertraute und Handlangerin auf die Oberhexe Fedora. Diese Hexe wusste, was sie wollte. Geradlinig verfolgte sie ihr Vorhaben, egal, was es war. Und was auch immer Fedora-Astarte vom Wurmberg von ihr verlangte, es wurde gewissenlos und grausam ausgeführt.
Mit Adleraugen verfolgte Isis den Flug der Oberhexe, die ihren Besen direkt auf die wartende Hexe zusteuerte. Mit einem geübten Sprung fegte sie von ihrem Besen runter, der etwas in der Höhe zum Stillstand kam, um sich dann an einem Baum abzustellen.
„Ich grüße dich, Isis. Wie ich sehe, hast du alle Hexen zusammengerufen.“ Wohlwollend und sorgfältig schätzte sie die Lage um den Wald ein. Ihre Kehle gab ein böses Glucksen von sich. „Von den Missgeburten hier wird keiner mehr lebendig rauskommen. Ich verstehe sowieso nicht, warum Walpurga den Riesen nur ein Auge verpasst hat, statt sie gleich ganz auszurotten. Unnützes Gesocks.“
Sie änderte ihre Haltung und zeigte ihr wahres grässliches Gesicht. Ihre Nase wuchs und ihre Gesichtshaut wurde knorpelig und mit Warzen übersät, die Finger spindeldürr mit gelben langen Krallen. Aus der geraden Haltung, die sie gerade noch einnahm, krümmte sich ein runder buckeliger Rücken.

„Ich hasse die menschliche Fassade“, krächzte sie zwischen ihren faulen, abgebrochenen Zahnstumpen. Angestrengt reckte sie sich und ihre Knochen knackten geräuschvoll, als sie sich etwas aufrichtete. „Hol sie her. Alle. Ich habe etwas zu verkünden!“ Sie befahl Isis, den fliegenden Hexen über dem Wald ein Zeichen zu geben.
Die Schattenhafte verbeugte sich leicht, drehte sich zur Seite, streckte ihre Hand mit ihrem Zauberstab und murmelte: „Foederis.“Aus ihrem Zauberstab kam ein feuerroter Lichtstrahl und forderte alle Hexen umgehend auf, sich am Boden zu versammeln. Die bösartigen Frauen vernahmen den Ruf, versetzten ihre Besen in hohe Geschwindigkeit und flogen der Lichtsäule mit grausamer Freude und grellem Jauchzen entgegen. Alle Hexen, eine nach der anderen, setzten ihre verkümmerten nackten Füße auf den Boden und verharrten mit ehrfürchtigem Abstand in einer demütigen und kriechenden Haltung vor Fedora. Hässliche und stinkende Schattenweiber versammelten sich umgehend.
Fedora wartete für ihr ungestümes Wesen sehr geduldig, bis auch die letzte Hexe ihre krüppelhaften Füße auf dem Rasen abgestellt hatte. Isis schlich hinter Fedora her und lauerte auf das, was Fedora so Wichtiges verkünden wollte.
„Ich grüße euch, Schwestern!“ Fedora ging in krummer Haltung vor ihren Hexenweibern auf und ab.
„Wir grüßen dich, ehrfürchtige Fedora-Astarte vom Wurmberg.“
Mit fiesem Grinsen lauschte sie dem Chor und genoss ihre Stellung, die sie mit ihrer Verschlagenheit und hinterlistiger Durchtriebenheit nicht einmal hart erarbeiten musste. Nein, es war vorauszusehen, dass Fedora die Nachfolgerin von der Brunnen-Walpurga vom Klobenberg wurde und deren Platz als gefürchtete Oberhexe einnahm.
„Wir haben eine kleine Planänderung!“, säuselte sie mit der falschen gespaltenen Zunge einer giftigen Schlange. Fedora legte ihre gelben Augen auf die Reihen der vor ihr stehenden Hexen, die mit widerlichen Fratzen und gierigem Kampfgeist nach Fedoras Worten lechzten. Unter ihnen war nicht eine mit nur annähernd menschlichen Zügen. Sie haben sich den Gesichtern der Oberhexe angepasst. Nur bei gerissenen Täuschungsmanövern nahmen sie freundlichere Gestalten an. Ansonsten genossen sie ihre verbogenen, verkrüppelten und mit Pilz befallenen Glieder.
„Ich habe die Befürchtung, dass sich das magische Schwert nicht hier in diesem Wald befindet. Ein Vögelchen zwitscherte es mir verräterisch ins Ohr.“ Fedora spuckte die Worte förmlich aus. Und die Hexen krümmten sich wie unter starken Schmerzen und sogen die Luft scharf durch ihre verrottenden Zähne.
Isis stellte sich hinter Fedora und fiel ihr ins Wort: „Wir haben auch noch keinen Weg gefunden, wie wir aus dem Zyklopenwald herauskommen können. Jede Hexe, die hinein ist, kam nicht wieder. Wir wissen nicht, welchen Zauber Walpurga auf diesen Wald gelegt hat!“
„Wie viele sind in dem Wald verendet?“
„Vierundzwanzig.“
„Das ist noch nicht zu bedauern, Isis.“ Die alte Hexe blinzelte Isis gleichgültig an, stieß sie zur Seite und wandte sich skrupellos und kalt von Isis ab. Fedora streckte ihre lange Nase in den Wind und schnüffelte nach anhaftender Feigheit an ihren Hexen rum. Mit Genugtuung erkannte sie Entschlossenheit und widerliche Boshaftigkeit an den Weibern.
„Ich brauche fähige Hexen, die mich begleiten. Wer ist bereit?“ Fedora wartete erst gar nicht eine freiwillige Meldung ab. Sie tippte die Teufelsweiber mit ihren langen krakeligen Fingern an. „Du. Du. Und du!“ Die Hexen, die Fedora ausgesucht hatte, traten einen Schritt vor und sie begutachtete kritisch ihre Auswahl. Beijanna, Lupina, Pinella. Schwärzere Weiber hätte sie jetzt nicht aussuchen können. Ihre Blutlinie reichte bis zur Hexenverbrennung im Mittelalter zurück. Viele weibliche Ahnen haben sich auf dem Scheiterhaufen wiedergefunden, weil man ihnen vorwarf, sich mit dem Teufel eingelassen zu haben. Fedora amüsierte der Gedanke. Jede Hexe war Luzifer in Wollust und Leidenschaft verfallen. Die Frucht seiner Lenden reicht bis in die heutige Zeit. Wenn das nicht so wäre, gäbe es keine Hexen mehr im Harz, nur noch die, die mit Walpurga in der Teufelsmauer verewigt waren. Mit dem Gedanken an die alte Oberhexe stieg wieder uralter Hass gegen diese auf. Obwohl Walpurga schon viele Jahre in der Teufelsmauer verweilte, herrschte immer noch ein Machtkampf zwischen ihr und der nachtragenden Fedora.
„Ja, liebe Brunnen-Walpurga vom Klobenberg, deine Dünkelhaftigkeit gegenüber Luzifer, unserem großartigen Meister, hat gegen seine Lenden nicht gewirkt. Er kannte genug Hexen, mit denen er sich ausgiebig vermählen konnte. Und seine Frucht sollte sich mehren. Was sie auch hat!“ Sie grinste verschlagen und ihre gelben Augen rollte sie dabei ihren Weibern entgegen. Fedora sah in das Gesicht jeder einzelnen Hexe, die vor ihr stand. Sie konnte die schwarze Blutlinie fast buchstäblich erfassen. Die Mütter der vor ihr stehenden bösen listigen Hexen, deren Mütter usw. hatten an ihre Nachkommenschaft unter wütenden Zungen des Feuers einen Fluch ausgesprochen. Nie würde aus dieser Blutlinie eine das Wort Gnade kennen. Fedora war zufrieden mit ihrer Wahl.
Sie wandte sich wieder den Frauen zu und zeigte mit ihren dürren verbogenen Krallen auf die Hexe Sojana, die wegen ihrer Größe und Schmächtigkeit von den anderen fast verdeckt wurde. „Du da!“ Fedora forderte die Hexe auf, aus den Reihen vorzutreten. „Du bist doch die Feuerhexe? Oder täusche ich mich? Zeig deine menschliche Seite.“ Fedora zeigte in einem strengen Ton ihre Ungeduld an, damit die Hexe sofort ihrer Aufforderung nachkam. „Los, zeig dich!“
Zum Vorschein kam eine traumhaft schöne Hexe mit rotgold-braunem schimmerndem Haar. Ihre Augen stachen in grellem Türkis hervor. Ihr Körper geschmeidig und biegsam wie ein Panther. Ihre Lippen leuchteten rot und voll und luden zum Küssen ein. Sie war entzückend, gefällig und gewinnend. Fedora umkreiste sie wie eine schwarze Witwe ihr Opfer.
„Man sagt, Luzifer hat dich im Feuer gezeugt. Ich muss sagen, deine Anmut ist tatsächlich genauso heiß.“ Die Hexenweiber lachten bitterböse auf. „Ich werde dich gebrauchen können. Deine Gefälligkeiten werden mir Tor und Tür öffnen.“ Die letzten Worte betonte sie besonders laut und wieder ertönte böses schallendes Gelächter, das bis tief in den Zyklopenwald drang.
„Macht euch bereit, Hexen. Wir gehen auf Jagd. Auf Zwergenjagd. Denn ich glaube zu wissen, dass zwei dieser Minikreaturen nicht einfach nur so meinen Weg kreuzten. Nein, sie haben eine Aufgabe zu erfüllen. Und das werde ich persönlich aus ihnen herauskitzeln.“ Sie verzerrte ihr Gesicht zu einer noch böswilligeren Fratze, die sie eh schon besaß, und lachte hämisch. „Die dummen Wichtel führen starke Magie mit sich. Sehr starke. Und ich weiß, dass sie das nicht einmal wissen!“ Sie lachte gemein und sie lachte schadenfroh über die ahnungslosen Zwerge. Sie stoppte herrisch mit einer energischen Handbewegung ihr eigenes dreckiges Lachen und sagte: „Zudem werden wir auch einer alten Freundin von Walpurga einen Besuch abstatten. Ich schwöre bei meiner Nase …“ Sie kratzte sich auf dem langen Nasenrücken und puhlte selbstvergessen an einer dicken Warze, ehe sie ihren Gedanken weiter ausführte: „… und schwöre auch bei Luzifer, dass da noch jemand anderes zu finden ist.“
Als sich die Oberhexe mit ihren auserwählten schmierigen Schönrednerinnen aufmachen wollte, fragte eine der Hexen, die zurückbleiben sollte: „Was ist mit uns?“
Fedora schritt wieder zurück und stützte das widerlich verkorkste Gesicht des Weibes auf ihren knochigen Finger und antwortete gewissenlos: „Das ist eine gute Frage, meine Schönheit.“ Sie drehte sich im Kreis und meinte schrill zu allen gewandt: „Ihr werdet die Zyklopenriesen so lange in den Wahnsinn treiben, bis ihr Auge von allein ausblutet. Treibt sie in den Wahnsinn und rottet sie somit endgültig aus.“ Grauenhaftes Gelächter einer Hundertschaft von Hexen legte sich wie eine Mauer über die Baumspitzen des Waldes. Das spitze Gekreische ging direkt ans Herz und tat weh.
Der alte Zyklopenkönig, Vater von Sordolax und dem rechtmäßigen Erben des Zyklopenwaldes, lag auf seinem Krankenlager schwach und mutlos da. Auf seinen Tod wartend, hörte er das schrille Lachen, das vom Waldrand durch das dichte Geäst der Büsche und Bäume klang. Es verhieß ihm nichts Gutes. Durch das Fenster seiner monströsen Baumhütte konnte er sehen, dass der volle Mond gerade von schwarzen Wolken überzogen wurde und sich verfinsterte. Die dunkle Zeit der Hexen war gekommen. Niemand konnte sie jetzt noch aufhalten, es sei denn, die Zwerge schafften es …
Der alte König knetete nervös und unruhig seine tauben Hände, in denen die Tage mit wärmendem Blut zu Ende gingen. „Sinith, Brokk, beeilt euch, die Zeit drängt!“, flehte er zum finster gewordenen Mond und schloss müde sein Auge …

Den Hexenstieg zu bezwingen, stellte sich für die beiden kleinen Zwerge als Herausforderung dar. Sinith hatte seit Nächten nicht mehr durchschlafen können. Mit der schleichenden Dunkelheit kam die verfluchte Hexe in seine Gedanken und forderte ihn auf, ihren Namen zu nennen.
Und umso länger sie sich auf dem Hexenstieg befanden, umso schwerer fühlte sich der Zahn der Treue um Brokks Hals an. Es artete zu einer schweren Last aus, den Zahn zu tragen. Doch Brokk war schlau. Er vermutete jemand ganz anderen dahinter und glaubte zu wissen, wer diesen Zahn für sich gewinnen wollte. Aus diesem Grund ertrug er den vermutlichen hinterhältigen Angriff der bösen Hexe mit Fassung und ganzem Stolz. Doch er irrte sich gewaltig. Nicht die Hexe zerrte am Zahn, sondern der Ruf nach Rettung! Was Brokk niederdrückte, war die Last der Trauer und der unsagbaren Angst, für immer verloren zu haben. Doch woher sollte er das denn auch wissen?
Brokk fühlte sich durch die Bürde immer mehr für alles verantwortlich und hielt besonders tapfer die schweren stummen Schreie aus, die ebenfalls bis hin in seine unruhigen Träume hallten. Nicht nur Sinith kämpfte mit einer schleichenden Ermüdung. Auch an Brokk zerrten unsichtbare Kräfte. Der heldenhafte Zwerg wusste, dass er jetzt für beide die Kraft aufbringen musste, um sie sicher und unbeschadet zur Herrscherin vom Klobenberg zu bringen. Auch wenn sein Herz beim Anblick seines besten Freundes fast vor Traurigkeit blutete und er am liebsten wieder nach Hause gehen würde, sagte er sich zur Aufmunterung: Alles muss und alles geht! Er seufzte bei den schwerfälligen Gedankengängen und meinte freudiger: „Lass uns eine kleine Rast einlegen, Sinith! Gunduar und Mimur können noch schnell frisches Wasser aus der Bode schlecken und wir unsere Wasserflaschen auffüllen!“
Sinith hing auf seinem treuen Wildschwein Mimur schon wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Erschöpft und völlig übermüdet lagen die Zügel nur locker in der Hand. „Ich weiß nicht, ob wir wirklich Pause machen sollen. Wenn wir den Hexenstieg passiert haben, sind wir dem Hexenberg noch näher und die Gefahr, von diesen Schattenwesen gesehen zu werden, ist noch größer.“ Ihm reichten die Angriffe, die er des Nachts auszuhalten hatte. Fedora bedrängte ihn von Schlaf zu Schlaf mehr, ihren Namen zu nennen. Ihn wunderte es nur, warum es noch nicht zu einem tätlichen Angriff kam … Was hielt sie davon ab, ihm und seinem Freund umgehend den Garaus zu machen?
Brokk führte Gunduar entschlossen vom Weg ab. Er stieg von seinem Wildschwein und zog ihn Richtung Bode, zum klaren Wasser. Sinith seufzte leise, ließ sich dann aber auch gezwungenermaßen zu einem kleinen Verschnaufpäuschen überreden. Er war so entsetzlich müde und schlapp, dass er die starke Befürchtung hegte, die nächsten Wochen nicht mehr aufzuwachen, wenn er seiner Müdigkeit jetzt nachgeben würde! Erschöpft stellte er seine müden Beine auf den Boden und tätschelte den Rüssel seines treuen Wildscheins Mimur. Mit kräftigem Bürsten rieb er das borstige Fell ab und gab ihm eine Handvoll Trüffel, die das Schwein dankbar annahm. Sinith folgte Brokk und führte Mimur auch an das klare Wasser, um ihn saufen zu lassen.
Im Augenwinkel bekam er mit, dass sich Brokk das klare Nass mit einer Hand an die Lippen führte. Der Zahn der Treue wedelte an seinem Band über das Wasser und leuchtete silbrig hin und her. Er dachte gerade noch, dass es besser wäre, wenn er den Zahn nicht so öffentlich tragen würde, als plötzlich und blitzschnell ein großer Wildlachs aus der Bode schoss, umgehend nach dem Zahn schnappte und Brokk mit in die Tiefe der Bode zog. Sinith fühlte sich wie in Trance versetzt. Er schrie außer sich und stürzte zum Fluss, um im klaren Wasser nach seinem Freund zu sehen, der mit hoher Geschwindigkeit in das dunkle Grün des Bodegrundes gezogen wurde. Ängstlich und nach Hilfe rufend rannte der kleine Zwerg das unendliche Ufer hin und her. Er sprang selbst ins kalte Wasser und tauchte nach seinem Freund, aber er bemühte sich vergeblich. Immer wieder setzte er zum Tauchen an. Schwamm am schlammigen Boden entlang, bis ihn der Druck in seinen Lungen dazu zwang, an der Oberfläche geräuschvoll Luft zu holen. Er wiederholte das Auf- und Abtauchen unzählige Male. Aber alle Mühen schienen umsonst. Sein bester Freund war schon in den Tiefen der Bode verschollen. Keuchend und erschöpft, schwer nach Sauerstoff atmend, kraulte er ans Ufer zurück und zog sich mit allerletzter Kraft an Land. Er versuchte sich noch auf seine Beine zu stellen, die ihm aber den Gehorsam verweigerten. Sie ließen ihn hart und schonungslos auf die Knie fallen, sodass er wie ein gefällter Baum nach vorn umkippte.
„Brokk!“, flüsterte er noch schlaff und ermüdet, bevor ihn tiefes Schwarz umgab …
Hab einen süßen Traum, gib anderem keinen Raum.
Sieh mir ins Gesicht, gib anderem kein Gewicht.
Wie sooft, bat ich dich um meinen Namen,
doch du willst ihn mir nicht sagen.
Nun löse ich deine Zunge, ganz langsam in deinem Munde.
Nicht hier und nicht jetzt, ich lache zuletzt.
Du bist ein böser Zwerg, ich warte auf dich,
am Fuße vom Hexenberg.
Nimm weiter den Stieg,
auf mich wartet dann ein großer Sieg.
Denn dort wirst du ihn mir sagen,
meinen glorreichen Namen!
Sinith sah sich im Traum hin und her winden. Seine Augen kniff er fest zusammen, damit er der bösen Hexe nicht in die Augen schauen musste. Er wollte nicht das Feuer in ihren Pupillen ansehen, das ihm jede Nacht vormachte, warm und erquickend zu sein. Wie jede Nacht schwebte sie über dem Zwerg und sang mit betörenden Lauten aus ihrer uralten Kehle. Sie war immer schön anzusehen. Anmutig erschien sie in seinen Träumen, sobald es dunkel wurde, und machte mit ihrem zauberhaften Gesang dem naiven Zwerg den Hof. Er versuchte sich äußerlich zu wehren, denn er fühlte sich stark und nicht wankelmütig. Seine Augen verfielen ihrem Liebreiz nicht. Egal, wie sie auftrat, er öffnete nicht einen seiner äußerlichen Sinne, um für sie anfällig zu werden. Das zeigte er mit uneingeschränktem Kampfgeist, wenn sie in seinen Träumen erschien. Doch Sinith befürchtete besitzergreifenden Verrat an einer ganz anderen Stelle in ihm. Er ahnte, seitdem die Hexe bei der ersten Begegnung ihren Schatten in ihn schickte, dass in seinem kleinen Körper irgendetwas nicht mehr zusammengehörte. Seine Seele teilte sich langsam, aber sicher in zwei Hälften. Sein Unterbewusstsein, was ihm jede Nacht in einem versteckten Winkel in seinem Körper leidenschaftlich zusah, war dabei, sich in die gewissenlose Hexe zu verlieben.«

Maxima fragte ihre Mama: „Seit Tagen stehst du am Fenster und beobachtest die alte Eiche. Was ist mit dem Baum?“ Maxima lugte hinter ihrer Mutter vor, die wie fanatisch auf die alte Bluteiche stierte und sich nicht abwenden konnte.
„Dahinter verstecken sich bestimmt wieder irgendwelche Harzwesen, die Unheil verkünden!“ Lisas Ehemann Lorenz verbarg sein grinsendes Gesicht schnell hinter seiner Tageszeitung.
„Du meinst, da könnten sich Geister drin versteckt haben?“ Maxima stimmte in die Verschwörungstheorie ihres Vaters sofort mit ein. „Welche denn diesmal …? Elfen hatten wir noch nicht!“, stellte sie naserümpfend fest.
„Stimmt. Riesen auch noch nicht.“
Lisa hörte auf das Gerede hinter ihr schon gar nicht mehr. Sie konzentrierte sich voll und ganz auf den Baum. Und somit wurde die Flachserei der beiden hinter ihrem Rücken vollständig ausgeblendet. Lisas Augen suchten forschend und sorgfältig die Baumkrone ab. „Da sind doch Augenpaare drin!“, bemerkte sie entsetzt. „Sechs. Ich sehe sechs grässlich gelbe Augenpaare.“ Den zweiten Satz murmelte Lisa leider zu laut für gewisse Ohren.
Sofort stürmte Maxima wieder hinter ihre Mutter und wollte auch die Augenpaare in der alten Eiche zählen. „Ich sehe gar nichts.“ Enttäuscht plättete und verbog sie ihre Nase an der Glasscheibe der Hintertür. Lisa nahm den Blick nicht eine Sekunde vom Baum weg. Sie war von einem Augenpaar förmlich gefesselt: Gelblich funkelnde Augen, die unfreundlich und herzlos auf Lisa wirkten, lösten einen eisigen Kälteschauer über ihrem ganzen Körper aus und ließen ihr die feinen Härchen im Nacken hoch stehen.

„als Sinith erwachte, war es schon dunkle, tiefe Nacht. Die Hexe gab ihm klar und deutlich zu verstehen, dass sie am Fuße vom Hexenberg ihren Namen hören will. Das bedeutete, dass ihm nicht mehr allzu viel Zeit blieb, bis sie ihn wieder angreifen würde. Doch reichte die Zeit, um ihnen etwas Ruhe zu verschaffen, solange sie sich auf dem Hexenstieg befanden?
Er setzte sich erleichtert auf, als ihm bewusst wurde, dass er von ganz allein und ungeschoren wieder aus seinem Traum zurückfand. Vielleicht hatte sie aber auch nur ihren Plan und ihre Taktik geändert.
Allein? Stimmt, Brokk verschwand ja in der Bode.
Bis eben. Denn als er sich auf seinem Lager umdrehte, fiel ihm auf, dass er an einer ganz anderen Stelle am Ufer der Bode von der Dunkelheit übermannt wurde. Jetzt kam er aber an einer ganz anderen zu sich. Er war gar nicht mehr allein. Sein Herz stolperte, weil er seinen liebsten Freund im warmen Feuerschein erblickte, der in sich gekehrt nah am Feuer hockte, um seine triefend nasse Kleidung zu trocknen. Auch Siniths nasse Kleider hingen zum Trocknen überall verteilt. Sein bester Freund hatte ihn mal wieder gerettet, ihn in eine dicke Decke eingehüllt, und alles gut geschützt unter dem Netz der Unsichtbarkeit. Sinith konnte sich auf seinen Freund blind verlassen. Nie würde er ihn im Stich lassen, obwohl er sich dieses Mal selbst in großer Gefahr befand. Stumm hafteten seine müden Augen auf seinem Freund, der in einer unglücklichen Haltung am Feuer kauerte und ihm das Gefühl gab, dass das Abenteuer, die Herrscherin vom Klobenberg zu finden, zu Ende geht! Siniths kraftlose Augen ruhten von Weitem auf dem geknickten Zwerg am Feuer. Brokk hatte sich irgendwie aus den Fluten gerettet. Aber wie konnte er sich überhaupt aus dieser Misere befreien? Ganz egal, er war da …! Und welchen Ängsten sich Brokk stellen musste, das wusste er auch nicht. Das sollte jedoch erst einmal alles nebensächlich sein. Wenn Brokk es für wichtig erachtet, dann würde er es Sinith schon erzählen. Jetzt fühlte sich der kleine Zwerg total glücklich, seinen besten Freund wieder bei sich zu haben und ihn am Feuer zu sehen, an dem er sich wärmte.
Eine ganze Weile machte er sich nicht bemerkbar, um die gebrochene Haltung seines Freundes an der Feuerstelle einordnen zu können. Er hatte ihn noch niemals mit hängenden Schultern gesehen. Dafür war er ein zu stolzer Zwerg. Immer die Brust raus und den Rücken gerade. Immer mit der Weisheit behaftet: Alles muss und alles geht!
„Brokk!“, rief er ganz leise. „Ich habe gedacht, dass ich dich nie wieder sehe. Ich bekam solche Angst. Und dann kroch auch wieder die Hexe in meinen Kopf! Ich werde langsam wahnsinnig.“ Mit Absicht verschwieg der kleine Zwerg seinen schweren Verdacht, dass sein Unterbewusstsein anders auf die Hexe reagiert wie er, weil sein Inneres sich teilt. So wie Brokk am Lager kauerte und traurig in die gefräßigen Feuerzungen blickte, war es wohl auch angebracht, etwas länger die Ahnung oder in der Zwischenzeit wirkliche Tatsache für sich zu behalten und darüber zu schweigen.
„Was ist passiert, Brokk?“ Mit dieser Frage riss Sinith seine Augen weit auf. Er war doch zu neugierig, um darauf zu warten, dass sein Freund ihm alles von allein erzählte. „Sag schon. Müssen wir umkehren?“
Brokk starrte weiter in die Flammen und suchte nach den passenden Worten, um Sinith nicht noch mehr zu belasten. Er hatte schon jede Nacht mit der Hexe zu kämpfen, graue Schatten im Gesicht zeugten von seinem Elend. Die rosigen Wangen, die einen Zwerg zierten, wichen einem farblosen krank aussehenden Grau. Und die dunklen, fast schon schwarzen Ringe unter den Augen gaben ihm das Aussehen einer Maske, wie bei einem Sterbenden.
Brokk holte Luft und atmete diese wieder schwer aus. „Ich habe den Zahn der Treue verloren. Der riesige Fisch hat ihn mir am Grund der Bode zwischen festsitzenden Algen vom Hals gerissen und ist davon geschwommen.“ Mit diesen Worten sackte der kleine tapfere Lichtritter aus Lähis noch weiter in sich zusammen. Sekunden herrschte mehr als Schweigen unter den Freunden. Das Knistern des Feuers, das am trockenen Holz seinen Hunger stillte, hallte wie laute Trommelschläge in den Ohren der Zwerge. Nah am Waldrand schrie ein Kauz in die umfassende Stille, um ihr ein Ende zu setzen. „Ich bin dauernd wieder aufgetaucht, um dann erneut ganz schnell dem Fisch hinterherzuschwimmen. Das habe ich vor lauter Verzweiflung immer und immer wiederholt. Ich kenne in der Bode nun jeden Stein und jede Pflanze. Aber den Fisch habe ich nicht mehr gesehen.“
„Meinst du …?“ Sinith wollte die Frage nicht aussprechen. „Könnte es sein, dass die Hexe den Zahn hat?“
„Nein, ich glaube nicht. Der Fisch war auf Beute aus. Er wurde vom Glitzern und Wedeln angelockt und biss einfach zu.“ Er schwieg kurz und erzählte weiter: „Außerdem hätte es sich die Hexe nicht nehmen lassen, mir den Zahn höchstpersönlich vom Hals zu reißen. Und nicht einen dummen Fisch vorgeschickt.“
Sinith schluckte schwer und wusste nun nicht genau, ob er erleichtert darüber sein sollte, dass ein verfressener Fisch den Zahn gestohlen hat und nicht die alte böse Hexe. Etwas ratlos sah er zu Brokk. „Und nun?“
„Ich habe nicht die leiseste Ahnung.“ Brokk zuckte mit seinen hängenden Schultern und streichelte ruhelos seinen rotbraunen langen Bart, der mit einer weißen Strähne unterbrochen wurde, die von seinem besten Freund nicht einmal wahrgenommen wurde. „Was meinst du, Sinith, sollen wir aufgeben und den Harz und seine Lebewesen ihrem Schicksal überlassen?“ Brokk musterte seinen Freund ausgiebig. Wenn Sinith jetzt sagen würde: „Ich kann nicht mehr!“, würde Brokk es ihm nicht einmal verübeln. Denn sein Freund sah inzwischen schon nicht mehr so aus, wie er ihn eigentlich kannte!
Umso mehr überraschte es ihn, als Sinith voller Eifer aufsprang und sagte: „Nein, niemals. Zwerge geben nicht auf, auch wenn die Hand, die sich nach ihnen ausstreckt, noch so grausam ist.“ Voller Mut und Tatendrang suchte er nach dem Horn der Taubheit und griff an das Netz der Unsichtbarkeit. Er nahm das Horn und hockte sich feierlich vor Brokk. „Wir suchen die Herrscherin vom Klobenberg und wir werden sie bis zum nächsten vollen Mond finden. Mit diesen mächtigen Waffen ist der Weg zu schaffen!“
„Was ist mit dem Zahn der Treue? Wir können doch ohne den Zahn nicht vor die Herrscherin treten. Das ist das Zeichen und unsere Kennung, dass wir auch wirklich vom Zyklopenkönig geschickt wurden – und keine Feinde sind!“ Matt und mutlos sagte Brokk weiter: „Sordolax mahnte uns, gut auf den Zahn aufzupassen. Denn ohne ihn ist unsere Reise wirkungslos.“
Sinith überlegte kurz und meinte: „Ach Donnerblitz! Dann muss sie uns eben einfach so glauben und uns folgen! Es ist doch nur ein Zahn, oder?“ Fragend blickte er in Brokks ratloses Gesicht.
Der zuckte mit den Schultern und erwiderte: „Ja, du hast recht. Es ist ja nur ein alberner Zahn.“
Die Zwerge sattelten ihre Wildschweine und machten sich weiter auf den Weg, dem Hexenstieg entgegen. So leicht, wie sie sich das dachten, war es aber nicht. Denn sie hatten nicht die letzten weisen Worte von Sordolax, dem zukünftigen Zyklopenkönig, gehört, die er seinem Freund, dem Zwergenkönig, noch zuraunte, als die Lichtkrieger bereits auf die Wildschweine stiegen: „Es ist gut so, dass sie nicht wissen, wie wichtig der Zahn der Treue ist. Es sind manchmal belanglose Gegenstände, die man eher am Herzen aufbewahrt und darauf achtet. Bei Sachen von höchstem Wert und Wichtigkeit ist es manchmal die Sorgsamkeit, die böses Unheil herbeiruft!“«

Lisa hatte einen Großeinkauf hinter sich und Tüten, Taschen und Kisten mussten aus dem Auto getragen werden. Sie schleppte einige Tüten vor die Tür und stellte sie dort ab, um die nächsten zu holen. Dabei rief sie zum Fenster hoch: „Kann mir jemand mal helfen?“ Sie wartete kurz auf eine Reaktion, doch außer einer unverkennbaren Stille der Trägheit kam zu Lisa nichts zurück. Sie seufzte und ärgerte sich über ihre Familienmitglieder. „Faule Bande auch“, grummelte sie und stapelte auch die anderen Einkäufe vor die Tür. Dann schloss sie die Tür auf und stieß mit dem Fuß dagegen und griff stöhnend ein zweites Mal nach den Taschen und Tüten.
Mit dem ersten Schritt ins Haus ließ sie auch vor Schreck sofort wieder alles aus den Händen fallen und gab einen schrillen verkrampften Ton von sich. Lisas faule Bande schlug tatsächlich in diesem Moment, angelockt durch pure Neugier, die durch den spitzen Aufschrei ausgelöst wurde, auf. Unter normalen Umständen hätte sie sich jetzt schwarzgeärgert, aber in Anbetracht der Situation sagte sie lieber gar nichts. Synchron und fast schon wie abgesprochen, steckten ihr Mann Lorenz und ihre Tochter Maxima die Köpfe aus unterschiedlichen Zimmern, um die verstörte Lisa zu bewundern.
„Boah, cool!“ Erstaunt musterte Mia ihre Mama, die wie angewurzelt auf der Türschwelle stand.
„Steht dir gut, Schatz. Ist das zurzeit wieder Mode? Sieht mir nur nicht ganz altersgerecht aus.“
Lisa fasste sich vorsichtig und mit zitternden Fingern an ihr Haar und fühlte, dass es wie bei einem Stachelschwein in die Höhe und nach allen Seiten abstand. „Was habt ihr gemacht?“ Lisa stotterte erschrocken vorwurfsvoll.
Vater und Tochter blinzelten sich wieder grinsend an und hatten natürlich auch gleich eine plausible Erklärung für die abstehenden Haare. „Du hast ein Magnetfeld ausgelöst. Was hast du für Schuhe an? Eine elektrische Aufladung kann durch irgendetwas nicht abfließen. Und darum stehen dir die Haare zu Berge. Komm doch noch einen Schritt weiter ins Haus, vielleicht stehst du auf diesem weißen leichten Baustoff, der deinen Körper isoliert, und die überschüssigen Elektronen können nicht ablaufen. Wer weiß schon, was hier alles so verbaut ist. Komm, geh weiter, dann werden wir ja sehen.“
Lisa tat, was ihr Mann sagte, und prompt legten sich die Haare wieder ab, aber nicht direkt in ihre vorherige alte Frisur. Nein; so ein bisschen sah sie schon noch aus wie Struwwelpeter, aber das schien jetzt nebensächlich zu sein.
„Siehst du, Schatz, für alles gibt es eine Erklärung. Schuld sind nicht immer Geister, die im Haus umherspuken, oder grimmige Hexen, die einen verfluchen wollen.“ Und wieder gab es für Lisa ein belustigtes Lächeln und die unbegrenzte Aufmerksamkeit bekamen nun unerklärte Magnetfelder.
„Cool.“ Maxima stürzte postwendend hinter ihrem schlauen Papa her. Äußerst interessiert und höchst engagiert stürmte sie das Arbeitszimmer ihres Vaters, welches genau gegenüber von ihrem Zimmer lag. „Papa, in der Schule nehmen wir gerade das Lorentzfeld durch. Kannst du mir was dazu sagen?“
Mit diesen Worten und dem lauten Knall einer zugeschlagenen Tür ließ man die verdatterte und verunsicherte Lisa wieder allein mit ihrem Einkauf in der noch weit geöffneten Haustür stehen. Mit ungläubigem Kopfrollen suchte sie noch zaghaft nach Hinweisen, warum sie mit einem Mal nicht wie immer durch ihre Tür durfte. Achselzuckend sah sie auf den Flur, wo eben noch belustigte Gesichter aus den Türen lugten – und ihr bewusst wurde, dass sie von ihrer treulosen Familie ein weiteres Mal im Stich gelassen wurde. „Das glaub ich jetzt nicht …! Hey, was ist mit meinen Einkaufstüten? Hallo, und was ist mit mir?“
Angesäuert griff sie zum dritten Mal nach ihren Tüten und versprach sich, dass sie ihrer ungläubigen Familie gegenüber nie wieder auch nur die kleinste Äußerung über eine Sage aus dem Harz tätigen würde. Die dachten doch tatsächlich inzwischen schon, dass sie es langsam mit einer Verrückten zu tun hatten. Lisa hätte sich jetzt unbändig in ihren Unmut hineinsteigern können. Sie ist nun mal mit Sagen und Mythen aufgewachsen. Es hat ihr auch nicht geschadet, ganz im Gegenteil, aus ihr wurde eine bildreiche Erzählerin für besonders gute Nachtgeschichten. Sie gestikulierte bei ihren Gedanken zur Unterstützung mit Kopf, Schultern und Händen. Nun war die Zeit gekommen, dass es keine Geschichten mehr geben wird, weil diese wohl unter diesem Dach nicht geschätzt wurden. Basta und Punkt. Aus und vorbei.
Wütend wie eine wildgewordene Furie lief sie von der Eingangstür zur Küche und wieder zurück. Ruppig griff sie nacheinander ihre achtlos fallen gelassenen Tüten und stampfte wutschnaubend mit dem Einkauf in ihre Küche.
„Tja. Siehst du Schatz, es gibt für alles eine Erklärung!“ Lisa wollte sich eigentlich wieder beruhigt haben. Aber die unangebrachten Sätze ihres Mannes hallten in Lisa nach. Sie war so aufgebracht und verärgert, dass sie das Sortieren der Lebensmittel nur mit lautem Knallen der Schranktüren schaffte und ihren Mann ab heute bis ins Unendliche nur noch so was von doof fand, dass ihn die Schweine beißen sollten.
Als sie sich mit dem Wegräumen der vielen Tüten dann doch langsam wieder abregte und einen üppigen frischen Wildlachs zum Einfrieren eintütete, drehte sie den Rücken gegen die alte Eiche. Sofort machte sich ein starkes Brennen in ihrem Nacken bemerkbar, das sie zuerst für einen Stich oder Biss hielt. Aber diese Vermutung verflog mit dem Blick auf die alte Eiche. Denn der Baum sah Lisa mit wachsenden, großen gelben Augen an und versprach ihr Unheil. Starr vor Schreck fasste sie auf ihre Tischplatte, um nicht den Halt zu verlieren.
Mit der abgestützten Hand spürte sie auf einmal, dass sich irgendetwas darauf bewegte. Sie war nun knapp davor, ganz und gar die Fassung zu verlieren. Es liefen wild Tausende Viecher auf ihr herum. Lisa hätte doch zuerst nach unten schauen sollen, es wäre angebrachter gewesen. Sie stand nämlich mitten in ihrer Küche auf einem Nest mit roten Ameisen, die schnell und wendig unter ihre Hosenbeine liefen und sie in die Beine bissen! Je wilder sich Lisa bewegte, umso höher wurde der Ameisenhaufen unter ihren Füßen. Blitzschnell bildeten die Insekten eine Straße und liefen am Tischbein hoch, um sich schnurstracks an den Fisch zu machen. Sie hatten es direkt auf den Fisch abgesehen. Lisa verkniff sich diesmal ein Aufschreien, es brachte eh nichts. Sie erschlug mit einer zusammengefalteten Zeitung die Krabbelviecher auf dem Tisch und trampelte wie eine Wahnsinnige auf den vielen Ameisen herum, die ihre Füße belagerten.
„Nicht meinen Fisch, ihr widerlichen Kreaturen.“ Lisa trampelte unaufhörlich auf die Holzdielen in der Küche und schlug unermüdlich mit der Zeitung nach den Ameisen, die sich auf unerklärliche Weise zu vermehren schienen. Mit Ameisengift und Staubsauger versuchte sie dem Angriff Herr zu werden. Wenig später hatte sie es auch geschafft, erschöpft und siegreich hockte sie sich auf einen ihrer Stühle. Die Beine fest an ihren Körper gezogen, damit diese nicht zwischen den erschlagenen, zertrampelten und noch zahllos daliegenden toten Ameisen standen, und sortierte ihre wirren Gedanken.
Nein, das wäre nicht die richtige Beschreibung. Sie marterte förmlich ihr Gehirn nach Erinnerungen, die das, was gerade passierte, erklären könnten. Ich werde doch wohl nicht verrückt werden? Lisa suchte verzweifelt nach Antworten und vor allen Dingen nach Erklärungen. Was war die letzte Zeit alles geschehen? Das Magnetfeld an der Haustür mag ja noch physikalisch erklärbar sein. Bei dem Ameisenhaufen kam schon der Verdacht, dass es nicht mit rechten Dingen zuging. Aber wie ließen sich die unheimlichen gelben Augen in der alten knöchernen Eiche deuten, die über sich hinaus wuchsen und ihr sagten, dass sie sich vorsehen sollte? Lisa hatte kein gutes Gefühl. Denn dieses Gefühl teilte ihr unverfroren mit, dass es unmissverständlich mit der Vergangenheit, also ihrer Kindheit zu tun hat.

Sinith und Brokk nahmen den Hexenstieg zu Fuß. Die Wildschweine Gunduar und Mimur liefen am Waldrand entlang und genossen die Bucheckern und Kastanien, die am Weg verstreut lagen. Sie plauderten über dies und das und sangen übermütig und froh gelaunt Zwergen-Wanderlieder. Obwohl sich die körperliche Erschöpfung bei den Zwergen immer mehr zeigte, hüteten sie ihre gute Laune!
Von Weitem sahen sie eine alte Frau, die merkwürdig lächelnd direkt auf sie zukam. Sie trug einen schweren Korb auf dem Rücken, der schon mit Feuerholz überfüllt war. Um die Last schleppen zu können, stützte sie sich auf einem großen dicken Gehstock ab. Schon aus der Ferne rief sie: „Ihr solltet nicht diesen Weg gehen, es wird bald dunkel und diesem Stieg sagt man nichts Erfreuliches und Schönes nach!“ Die Alte wies auf die Legenden des Weges überfreundlich hin und versteckte dabei unter einem wollenen Kopftuch ihr scheinheiliges bewusstes Grinsen. Denn insgeheim sagte sie zu sich: Geht nur, ihr Wichte, lauft in euer Verderben! Die Zwerge aber ahnten nichts Böses und sahen nur, dass die Alte schwer an dem Korb zu schleppen hatte. Behäbig kam sie immer näher. Sie schien sehr alt und gebrechlich zu sein. Und unter der schweren Bürde des Korbes schienen ihre Knochen zu krächzen. Tatsächlich hörten sie die entsetzlichen Schreie der überlasteten und betagten Knochen des alten Mütterchens, was sofort großes Mitleid bei den hilfsbereiten Zwergen auslöste.
Umso näher das Weib kam, desto unruhiger wurden aber die Wildschweine. Sinith und Brokk konnten sie kaum noch bändigen. Sie zerrten an den Zügeln, die die Zwerge schon vorsichtshalber in die Hände genommen hatten. Sie bockten und weigerten sich, auch nur einen Meter weiterzugehen. Gunduar stemmte seine Hufe in den Waldboden und schnaufte wie ein Stier. Mimur kniff mit seiner Schnauze in den Mantel von Sinith, der das Wildschwein sofort zur Ruhe aufforderte.
Aber die Zwerge wunderten sich trotzdem nicht darüber, warum ihre treuen Weggefährten so aufgeregt und störrisch waren. „Sssccchhh, ruhig!“, beruhigte Sinith den aufgeregten Mimur. „Es ist doch nur ein altes freundliches Mütterchen aus dem Wald.“
Die gelben Augen der Alten wanderten wohlwollend zu den gut genährten Wildschweinen. Abwechselnd starrte sie die unruhigen Tiere an und zischelte hinterlistig: „Euch werde ich mir bald schmecken lassen. Ihr werdet mir auf meinem Teller einen sehr netten Anblick bieten.“
Sinith und Brokk bekamen von dem Zwischenfall nichts mit. Sie versuchten weiterhin die Eber zu zügeln, die jetzt sprunghaft das Weite suchen wollten. „Der Pfad hier runter ist sehr schwierig. Sie tragen sehr viel Holz. Wir legen bei der Lichtung dort am Bergsprung eine Rast ein. Möchten Sie sich nicht zu uns ans Feuer setzen und sich etwas ausruhen?“ Die Alte tat Brokk unendlich leid. Es betrübte ihn, dass sie sich im hohen Alter noch mit sperrigem und unhandlichem Feuerholz abmühen musste. In Lähis war alles ganz anders. Da brauchten sich die vergreisten Zwerge um nichts mehr kümmern. Sie konnten sich den ganzen Tag lang an ihren fleißigen Nachkommen erfreuen. Sie lehrten den winzigen Windelzwergen unaufhörlich Weisheiten und erzählten die Sagen und Mythen, die sie selber als kleine Zwerge über den Harz hörten.
„Ihr wollt also weiterhin beherrscht den Pfad hochgehen?“ Gierig lauschte sie nach der Antwort.
„Uns bleibt nichts anderes übrig. Es gibt dorthin, wo wir hinmüssen, außer diesem Weg keinen anderen!“
Selbstgespräche führend frohlockte das alte Weib innerlich. „Kommt nur. Es wird mir eine Ehre sein, euch aus eurer Hülle zu pellen.“ Die Fingernägel der Alten veränderten sich zu scharfen spitzen Krallen. Sie hatte Mühe, ihr wahres Ich unter Kontrolle zu halten. Zu gerne hätte sie diesen nervigen Zwergen auf der Stelle den Garaus gemacht. „Wo wollt ihr denn mit dem Aufstieg beginnen? Ihr müsst auf der Hut sein. Wie heißt doch gleich die Hexe, die einem das Fürchten lehrt?“ Bei dem letzten Satz sog sie scharf die nebelige Luft durch ihre ranzigen Nasenlöser, die den Nebel des Atems wieder zurückgaben und ihr ein angemessenes fürchterliches Aussehen verliehen, als sie ihren Jubel über das Gelingen ihres Täuschungsversuchs feierte. Der Tod ist euch nun sicher, dachte sie hinterhältig. Sie lechzte förmlich nach dem Klang des Namens. Sie freute sich darauf, den tapferen Lichtrittern das noch pochende Herz aus der Brust zu reißen! Ihr Speichel sammelte sich unaufhörlich in den Mundwinkeln bei dem Gedanken an die warmen Herzen in ihren verdorrten Händen. Sie vergaß sich.
„Gute Frau.“ Sinith drehte sich unsicher um und spähte in den Wald. „Diesen Namen darf keiner nennen. Seien Sie sehr vorsichtig. Die erste Silbe des Namens ist schon tödlich!“
„Ach, das sind doch Ammenmärchen.“ Ihre Augen funkelten Sinith nun herausfordernd an. „Das wirst du doch nicht glauben?“ Sie massierte sich ihre Stirn und es schien so, als würde sie krampfhaft den Namen der Hexe in ihrem senilen Kopf suchen. „Jaja. Mein Gedächtnis lässt nach. Wie heißt die doch gleich noch mal? Nun sag ihn schon!“ Sie provozierte Sinith mit ihrer Frage, um ihn zum Sprechen zu bewegen. Ihre Augen nahmen eine gefährliche Farbe an und ihr Mund verzog sich zu einer fiesen Linie.
Gunduar und Mimur rochen die Mordlust der bitteren Hexe und fingen an zu zerren und zu ziehen. Sie stießen mit ihren Hauern den bewegungslosen Zwerg von der Alten weg und grunzten laut zur Warnung. Ganz versessen auf das Ende des Zwerges achtete die Oberhexe Fedora-Astarte vom Wurmberg nicht mehr auf ihre Tarnung.
„Cantate me canticum nomen meum.“ Sie grub sich nun mit ihrem Geist und bohrenden Blicken tief hinab in die Seele von Sinith. Dort versteckt und zusammengekauert saß jetzt etwas, was ihn aufforderte, ihren Namen zu singen. Von einer Sekunde auf die andere fühlte sich der Lichtritter fast schwerelos. Seine Augen konnten sich nicht mehr von der Hexe abwenden. Er besaß keinen eigenen Willen mehr, keine Kraft, sich gegen sie zu wehren. Flüsternd machte sie sich nun in seinem Unterbewusstsein bemerkbar. Denn sie war sich verdammt sicher, dass sie dort, tief im Inneren, schon sehnsüchtig von einem geteilten Zwerg erwartet wurde! Und so war es auch. „Sag ihr ihren Namen. Hör auf sie … Sie ist so wunderschön! Sag ihr, was sie hören möchte … Sprich ihren Namen …“ Der kleine Zwerg wurde von dieser Stimme eingelullt und in einer apathischen Trance gefangen. Die böse Hexe und seine innere Stimme, beide zusammen, nötigten den Lichtritter auf freundliche, aber gefährliche Weise, die Oberhexe beim Namen zu rufen. Sinith fühlte sich glücklich und erleichtert, als er seine Zunge lockerte. Und schon stotterte er vor sich hin. „Nur noch aussprechen, mehr nicht … Dann ist alles vorbei … Mehr will sie doch gar nicht!“
„Komm schon, zier dich nicht!“ Die Hexe baute sich bedrohlich auf, um Sinith sofort zu töten, sobald er ihren Namen nannte. Sinith setzte an.

Brokk erkannte nun endgültig, dass in dem alten Weib die Oberhexe Fedora-Astarte vom Wurmberg steckte. Er lief unbemerkt zu Gunduar und holte das Horn der Taubheit aus der Satteltasche und blies wie ein Wahnsinniger in das Horn. Es schallte den ganzen Hexenstieg empor und holte jede einzelne versteckte Hexe aus ihrem Unterschlupf, die sich dicht bei der Oberhexe aufhielt. Sie krümmten sich vor Schmerzen und hielten sich ihre tauben Ohren. Die Hexen kreischten so schrill und hell, sodass aus Brokks linkem Auge ein feines Rinnsal mit Blut lief. Sie verloren durch den Ton des Horns jede Orientierung, sodass der Zwerg unbeobachtet das Netz der Unsichtbarkeit über Sinith, die Wildscheine und sich selbst auswerfen konnte. Ohne Unterlass blies und blies er, bis ihm die Lippen schmerzten und ihm die Luft zum Atmen fehlte.
Starr vor Schreck und bewegungsunfähig hockte er neben seinem Freund und verfolgte den Werdegang der erniedrigten Hexe! Sein Herz klopfte zum Zerspringen, während er die Hexe Fedora beobachtete. Unter dem Schutz des Netzes war er der einzige Augenzeuge und konnte ohne Weiteres die Verwandlung der Oberhexe überwachen. Was er da sah, erschien ihm schauriger und abstoßender als das unwürdigste Gewürm unter Tage in den Bergen. Er konnte die ganze geballte Brutalität, Grausamkeit und Härte in ihrem Gesicht erkennen. Brokk sah mit Bestürzung und Schaudern zu, wie sie sich wieder gemächlich sammelte und sich wie besessen auf die Ohren klopfte, um den Stöpsel der Taubheit zu entfernen. Dabei schrie sie ihre brodelnde Wut gegen die Zwerge erbarmungslos in den Wald.
Eine Hexe stürzte auf ihrem Besen auf die erboste Oberhexe zu und wurde schroff hinuntergestoßen. „Wo warst du, Isis?“, schrie sie die Hexe an, aber nicht nur wegen des Taubheitsgefühls. Fedora-Astarte hielt die andere Hexe mit ihren bewarzten und räudigen Krallen an den Haaren fest und drückte sie zornig in die Knie. „Wage es nie wieder, nicht in meiner Nähe zu sein, wenn ich es angeordnet habe.“ Fedoras Stimme überschlug sich bald vor lauter Zorn und spuckte Isis mit jedem Wort fauligen Speichel entgegen. Die Schattenhafte hegte unbändigen Groll gegen Fedora, die sich erdreistete, sie immer wieder zu demütigen. Schon lange wetteiferte Fedora mit der treu ergebenen Hexe. Waghalsig und vermessen bestand sie jedes grausame Abenteuer, was Fedora anzettelte und ihr dann auftrug zur Erledigung. Nie hörte sie auch nur einmal ein Lob von der Oberhexe. Im Gegenteil: Immer wieder musste sie körperliche Gewalt einstecken. Sie war der Prellbock für Fedoras schlechte Laune und sehr oft gerade so dem Gnadentod in der Teufelsmauer entkommen.
Isis hatte es satt, die Launen ertragen zu müssen, und schürte schon länger einen Plan gegen die bitterböse Oberhexe. Sie konnte sich bis jetzt nicht durchringen, aus Angst, Fedora könnte ihr auf die Schliche kommen. Aber die grenzenlose Gewalt gegen Isis wurde von Tag zu Tag maßloser. Sie musste handeln, und das schnell.
Brokk saß immer noch still und schweigend unter dem Netz und sah dem Machtkampf der Hexen zu! Er hat den gefährlichen Hass und die feste Entschlossenheit der Hexe Isis, gegen die Oberhexe Fedora anzugehen, in ihrem Gesicht gesehen. Nichts würde sie in diesem Vorhaben mehr aufhalten …

„Ich glaub’s ja jetzt nicht! Die Wurmberghexe?“ Ida nahm Frowins Hand fest in ihre und knetete sie nervös. „Was man von diesem bösen Weibsbild alles so hört. Dagegen war die Brunnen-Walpurga fast schon gutherzig gewesen.“ Ida überschlug sich bald und verschluckte sich vor Aufregung, sodass Frowin ihr den Rücken klopfen musste.
Nach dem siegreichen Kampf gegen die Brunnen-Walpurga hatten sich Frowin und Ida dem modernen weltlichen Leben etwas mehr angepasst. Zumindest, was ihre Berufe anging. Frowin hat sich mit der weißen Magie zum beliebten Naturheiler im Harz und der Umgebung entwickelt. Und Ida machte ihre Leidenschaft zu ihrem Beruf, sie wurde im wahrsten Sinne des Wortes eine zauberhafte Köchin mit einem eigenen Restaurant, das den Namen Zur zauberhaften Hexenküche trägt. Niemand von den Urlaubern oder Harzbewohnern ahnte auch nur einen Bruchteil davon, wie nah der Name des Restaurants in Wirklichkeit der Wahrheit kam.
Nympfjet hingegen war eine liebevolle Herrscherin auf dem Klobenberg geworden und bewachte mit Argusaugen das Erbe ihrer Eltern. Seit dreißig Jahren herrschte Frieden unter den Hexen. Nun neigten sich diese friedvollen Tage dem Ende entgegen. Durch die Wälder des Harzes donnerte ein Aufstand der Hexen, angeführt von einer Gnadenlosen. Nympfjet hörte des Nachts die Wälder um ihr Leben jammern. Und der Wind sowie die Waldgeister trugen ihr unverkennbar zu, was die böse und grausame Oberhexe wollte.
Ida hatte recht. Von dieser Hexe berichtete man sich nichts Gutes. Ihre Seele war mit der schwarzen Magie verheiratet. Nympfjets Tante Walpurga besaß schon den Ruf, grausam zu sein, aber diese Hexe wollte man nicht einmal als Feindin benennen wollen!
Fürsorglich ging die kleine Hexe in Lisas altem Kinderzimmer auf und ab. Maxima schlief seelenruhig in ihrem Bett und bekam dank des Schlafzaubers „Somnia“ auch nicht das Entfernteste mit.
Nympfjet verwandelte mit einer Handbewegung das Zimmer umgehend in eine wohlige Stube mit einem wärmenden Kamin in der Ecke, vor dem drei bezogene Stühle standen, auf denen sie in der Nacht gerne saßen und alles beredeten. Bis heute erzählten sie sich gute Dinge. Lustiges aus der Zauberküche von Ida oder eingebildete Krankheiten aus Frowins Praxis. Nette Erzählungen, die den Abend der Freunde unbekümmert und entspannt ausklingen ließen. Sie waren in den Hunderten von Jahren mehr als Freunde geworden und wie Geschwister zusammengewachsen.
„Was will die hier?“, fragte Ida, während sie es sich in einem der großen Sessel bequem machte. Nympfjets smaragdgrüne Augen blickten zaghaft über Ida hinweg und ruhten sanft auf dem Schwert ihrer Mutter. Ida folgte dem Blick. „Nein“, schrie sie fassungslos, „nicht das Schwert der Weisheit!“
Die kleine Hexe schritt auf die Glasvitrine zu, in der auf kobaltblauem Samt das Schwert ihrer geliebten Mutter lag. Der Ruf des Schwertes ist glorreich, wer es benutzt, hat alle Weisheit der Welt sowie ewiges Leben. Der Hüter kann Schaden begrenzen, Zerstörtes wieder herrichten. Nur verlorene Seelen, die vermag auch das magische Schwert nicht wieder zurückzuholen! Kein Feind kann sich ihm in den Weg stellen, ohne sein Leben zu verlieren. Der Besitzer hat alle Macht der Welt. Ob zum Guten oder zum Bösen. Und seit man die Geschichte des Klobenberges zurückverfolgen kann, ist das Schwert immer in Form eines Besens der neuen Herrscherin vom Klobenberg übergeben worden. Damit aber auch eine große Verantwortung gegenüber dem ganzen Reich – dem Harz! Sie musste, ob vom Norden in den Süden, über den Osten bis hin zum Westen, alles liebevoll verwalten. Sie schlichtete Unruhe und Streit unter den Harzwesen. Und ließ reichlich Nahrung unter der Sonne und dem Regen wachsen und ernten. Nympfjet verwaltete ihr Erbe und ihre Berufung mit Leib und Seele. Aber sie ist nicht nur Herrscherin. Nein, sie ist auch eine liebevolle Hexe. Und in diesem Sinne lebt sie mit Frowin und der Mutter Natur. Mit dem Zauberer heilte sie fürsorglich und gewissenhaft kranke Menschen, wenn er mit seinem Latein am Ende war und nicht mehr allein weiter wusste.
Zusammen bereiteten sie die Heilkräuter aus seinem großen Anbau auf dem Klobenberg zu und stellten Salben, Tinkturen, Säfte und vieles mehr aus heimischen Kräutern her. Sie genoss die Arbeit als Heilerin.
Vor einem Monat erst, bevor der Mond voll und klar am Himmel stand, kam Herr Polterfuß, ein alter ansässiger Bauer, mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Frowin in die Praxis. Sein rechter Fuß war angeschwollen und schon leicht verformt. Von Weitem sah Nympfjet schon, dass ihm das Gehen sehr schwer fiel. Die kleine Hexe half ihm dann die Stufen ins Haus hoch.
„Ach, Herr Polterfuß, Sie haben Ihrem Namen wieder alle Ehre gemacht, was?“ Sie lächelte den wohlgenährten Mann an und drohte mit ihrem Zeigefinger.
„Ach Kindchen, es war Schlachtfest, die vielen Leckereien auf dem Tisch, was hat ein alter Mann, wie ich es bin, denn noch außer dem Genießen von fettem Fleisch?“
Nympfjet seufzte. „Gicht hat er. Der Gute!“ Kopfschüttelnd darüber, wie leichtsinnig er mit seiner Krankheit umging, schob sie ihn ins Behandlungszimmer.
„Ich habe solche Schmerzen, mein Mädchen!“, stöhnte und jammerte er.
„Die Schmerzen sind nicht das Schlimmste. Und wohl auch noch nicht genug! Die Nieren, Herr Polterfuß. Wie oft habe ich Ihnen gesagt, dass die Schädigung der Nieren weitaus gefährlicher ist. Die Vergiftung passiert schmerzlos und schleichend!“ Nicht ganz mitleidig sah sie auf den wimmernden alten Mann. „Ihr Körper ist so was von sauer, wie Ihre Frau, wenn Sie einen Becher Bier zu viel haben.“
„Ach, die kriegt sich wieder ein“, winkte er verharmlosend ab und grinste verschämt.
„Ja, das ist wohl wahr. Und das von ganz allein. Aber Ihr Körper nicht. Der muss jetzt entsäuert werden. Die Nieren müssen wir unterstützen. Sonst sehe ich für Sie schwarz!“
Sie füllte ihm später zu gleichen Teilen Mädesüß (auch bekannt unter Wiesenkönigin) und Geißbart in ein Tütchen. Und gab ihm außerdem noch dasselbe, mit Alkohol angesetzt als Tinktur, in einem Fläschchen mit. „Davon bitte jeden Tag 50 Tropfen. Und Finger weg vom Schweinefleisch. Strenge Diät ist angesagt“, ermahnte sie den alten Mann, der sie wissend anlächelte.
Ja, so waren die letzten Jahre unbekümmert vergangen. Sie konnten entspannt sein. Es war ein gutes Leben.
Nun sollte eine neue Ära beginnen. Die Absicht von Fedora-Astarte vom Wurmberg erschien durchsichtig. Nympfjet brauchte keine hellseherischen Fähigkeiten, um zu wissen, was die grausame Hexe mit dem Schwert vorhatte und welch grausame Absichten sie hegte.
„Wie nah befindet sie sich schon am Klobenberg?“ Fassungslos darüber, dass es sich um Fedora-Astarte vom Wurmberg handelt, gegen die sie kämpfen sollen, wollte Ida trotzdem mutig alles Überschaubare wissen.
„Das kann ich euch noch nicht sagen. Man munkelt, dass sie das Schwert an einer ganz anderen Stelle vermutet!“
„Das Biest ist schlau. Sie wird schon wissen, wo es liegt und in welcher Hand es sich befindet.“ Der Zauberer Frowin sprach direkt aus, was Nympfjet auch vermutete. „Was ist mit Lisa und ihrer Familie?“, fragte er und zeigte mit einem Kopfnicken auf die fest schlafende Maxima, die sich im Traum irgendetwas schmecken ließ.
Nympfjet schluckte schwer und setzte sich zwischen die beiden auf ihren weich gepolsterten alten Stuhl. Ja, Lisas Familie war auch Nympfjets Familie. Dreißig lange Jahre verhielt sie sich still und lebte bei ihnen. Alles bekam sie mit. Es gab keine Geheimnisse in dieser Familie, Nympfjet wusste alles. Sie liebte Lisa in der Zwischenzeit wie ihre eigene Tochter. Und Maxima. Ja, Maxima machte Lisa alle Ehre. Ungläubig bis dorthinaus.
Frowin der weiße Zauberer ließ die kleine Hexe nicht aus den Augen. Sie erschien anmutiger denn je, noch reifer und schöner geworden; ihr Gang stolz und gerade und ihre weiche liebliche Stimme immer noch singend und betörend für die Ohren. Die Statur wirkte mädchenhaft zart und ließ sie seit Jahrhunderten aussehen, wie Lisa es gerne einmal betonte, wie zwölf Jahre.
Nympfjets Freunde trauten sich nicht zu atmen. Die kleine Hexe wirkte sehr angespannt und konzentriert. Ihre Augen funkelten in einem noch dunkleren Grün, als sie sagte: „Aus diesem Grund werden wir unweigerlich kämpfen müssen. Das Schwert darf nicht in falsche Hände geraten. Das Wohl des ganzen Harzes sowie das Leben unserer kleinen Lisa und ihrer Familie zwingt uns dazu.“ Nympfjet stand von ihrem Stuhl auf und legte ihre kleine Hand auf Idas Schulter. „Ich bin ehrlich. Fedora ist dem Haus schon verdammt nahe …“
Die kleine Hexe unterbrach sich selbst. Sie räusperte sich und zog ihre Stirn kraus und wurde noch nachdenklicher.
„Ich glaube …“, setzte sie knapp an und stockte im Satz erneut. Mit ihrem feinen Zeigefinger klopfte sie sich im Takt auf ihre wohlgeformten Lippen.
Ihre Freunde sahen sich fragend an und bekamen ein komisches kribbelndes Gefühl im Bauch. Tonlos fragte Frowin Ida: „Was hat sie?“ Ida zuckte ahnungslos ihre Schultern und verfolgte Nympfjet mit ihren Augen.
Nympfjet überlegte inzwischen laut vor sich hin, sie brummte wie eine Hummel und ging im Zimmer auf und ab. Aus ihrer Kehle erklangen nicht zusammenhängende „Ahhhs“, „Neees“ und auch ein „Nein, auch nicht“, als sie das Zimmer spirituell und geistig umlief. Sie wiederholte das so lange, bis ihr klar war, was sie ihren verdatterten Freunden, die sie inzwischen schon für etwas verwirrt hielten, zur Klärung ihres Geisteszustandes mitteilen sollte: „Wir haben Besuch im Haus. Stark an Magie und uns fast gleich. Die Energie um uns herum hat sich verändert – nicht unangenehm. Sie hat sich nur verändert und will mir persönlich etwas mitteilen.“
Etwas irritiert, weil sie Nympfjets Gedankensprung zuerst nicht begreifen konnten, denn eben waren sie ja noch bei Fedora-Astarte vom Wurmberg, warfen sich Ida und Frowin achselzuckende Blicke zu. Bis Ida ihren Kopf gegen die Zimmerdecke drehte. „Berta etwa?“ Sie lachten alle auf. Ja, Berta lebte so viele Jahre bei ihnen. Ihre stürmische Art und Weise brachte immer Aufregung in die Freundschaft der Zauberer. Ehrlich gesagt, fehlte sie ihnen schon unglaublich. Berta war nicht nur aufbrausend, sondern auch sehr mütterlich und fürsorglich, ein Mensch eben, und als dieser konnte die gute alte Berta vieles anders sehen. Ganz im Gegensatz zu ihnen, die schon immer mit Magie und Zauberei zu tun hatten.
Nympfjet musste Bertas Anwesenheit leider verneinen! Keine Berta. Es war etwas von starker Magie und strahlte enorme Wichtigkeit im Haus aus. Und es will dringend zu ihr … „Ich weiß nicht, was es ist oder sein könnte. Ich kann es einfach nicht aufspüren.“ Nympfjet verzweifelte bald an der ergebnislosen Suche. „Mal ist es ganz laut und fast schon zum Greifen nahe. Und dann wird es auf einmal wieder im Keim erstickt!“
Die drei verweilten einige Minuten schweigend und überlegten mit Nympfjet, was sich im Haus befinden könnte und die Herrscherin vom Klobenberg ausfindig machen wollte.
„Goethe vielleicht?“
Die kleine Hexe errötete leicht und senkte verlegen ihre Augenlider. „Ach, das wäre schön …! Aber um seine Aura wirkte andere Magie, wenn ihr versteht, was ich damit meine.“
Sie lächelten sich allesamt wissend an und machten sich dann über andere Sachen mehr Gedanken als um den Zauber, der sich im Haus befand. Irgendwann würde sich das schon noch aufklären.
„Hast du schon was veranlasst?“ Diese Frage kam von Frowin und Ida wie aus einem Munde. Wie sooft grinsten sie sich an und machten „Ooohhh!“ Sie fanden es sehr lustig, wenn sie geistig verbunden waren. Nympfjet verstand nicht gleich die in den Raum geworfene plumpe Frage. „Wir meinen einen Schutzzauber für die Bewohner“, kam es wieder aus einem Munde.
„Natürlich. Ich habe schon gleich einen Schutzpatron um das Haus gelegt, nachdem die Geister der Winde mir den Namen von Fedora-Astarte vom Wurmberg ins Ohr flüsterten. Er ist mächtig.“ Nympfjet musste verschmitzt schmunzeln. „Lisa hat er schon die Haare zu Berge stehen lassen.“
Bei dem Gedanken an die alte Lisa lächelten sich Frowin und Ida ein weiteres Mal an. Zu gut konnten sie sich noch an das vorlaute Mädchen erinnern, das später tapfer und mutig der Brunnen-Walpurga vom Klobenberg entgegentrat. Alle Augen gingen nun zu Maxima, die hinten im Zimmer süße Träume träumte.
„Sie ist noch frecher!“
„Ja, sie glaubt das nicht, was sie sieht. Genau wie ihre Mutter einst.“
„Und dann trifft sie ausgerechnet auf Fedora-Astarte, das scheußliche Weibsbild.“
Nympfjet nickte. „Kommt bitte mit“, sagte die kleine Hexe daraufhin feierlich. Sie folgten ihr schnell. Die zwei Hexen und der Zauberer stellten sich in ein Hexenpentagramm, das leuchtend weiß auf dem Dielenboden sichtbar wurde. Weiß ist die Farbe der Reinheit und Treue, die Nympfjet und ihre Freunde auszeichnete. Es gab im ganzen Harz keinen zweiten Hexenzirkel, der nur annähernd die Liebe, die Reinheit und die Kraft der Klobenberg-Herrscherin und ihrer loyal ergebenen und innig verbundenen Freunde veranschaulichte und widerspiegelte. Sie nahmen sich an ihren Händen und verbanden sich mit der Kraft des Pentagramms und sangen im Chor ihre weisen Ahnen an:
Alles wird neu,
wir bleiben uns treu,
Weisheiten für die Ewigkeit verfasst,
doch vom Bösen gehasst!
Wir rufen gemeinsam die alten Ahnen,
die uns führen sollen auf gerechten Bahnen.
Hexerei und Schattenkrieg,
der Klügere hat Macht und den Sieg.
Mit diesem Spruch verabschiedeten sich die Freunde. Jeder wird sich nun seine eigenen Gedanken machen und wissen, dass die Zeit des Friedens bald ein Ende hat. Und dieses Wissen wird alle die nächste Zeit nicht ruhig schlafen lassen. Erst recht, da es sich auch noch um Fedora-Astarte vom Wurmberg handelt, lässt die Todesangst noch größer werden! Im Geiste wird jeder von ihnen den Kampf der Kämpfe ausfechten. Aber jeder von den dreien weiß auch, Kampfgetümmel lockt immer stärkere und bösere Schattenweiber an. Selbst wenn man mächtige Magie zur Hand hat, die einen Schutzzauber verhängen kann – jeder Kämpfer trifft einmal auf seinen Meister. Also muss man in den Kampf fortwährend mehr Energie einbringen, um wie in diesem Fall gegen die Hexe noch stärkeren Schutz zu liefern. Werden Frowin, Ida und Nympfjet nun auf ihren Meister treffen und an ihre magischen Grenzen stoßen …?
