Die Heilung
»Wie wunderbar, eine hübsche Frau an meinem Bett …«
Als er diese Worte zum ersten Mal murmelte, glaubte sie, sie hätte sich verhört, und ärgerte sich über sich selbst. Wie konnte sie nur das Gestammel eines Patienten für ein Kompliment halten? Wenn ihr Unbewusstes ihr jetzt wieder einen Streich spielte, war sie reif für den Psychoanalytiker. Ihre Komplexe durften sie keinesfalls auch noch am Arbeiten hindern! Es reichte schon, dass sie sie am Leben hinderten …
Verstimmt versuchte Stéphanie in den folgenden Stunden, wann immer die Arbeit es zuließ, nachzuvollziehen, was der Kranke in Zimmer 221 tatsächlich gesagt haben könnte. Den Anfang des Satzes – Wie wunderbar – hatte sie wohl richtig verstanden, aber die Fortsetzung? – eine hübsche Frau … Hübsch? Kein Mensch hatte Stéphanie je als hübsche Frau bezeichnet. Und zu Recht, wie sie fand.
Als die junge Krankenschwester das Hôpital de la Salpêtrière an diesem Tag verließ, hatte sie noch keine Antwort gefunden. Nachdenklich ging sie unter einem regenschweren, fast schwarzen Himmel zwischen jäh aufragenden Wohntürmen vor sich hin, an deren Fuß die von mickrigen Akazien gesäumten Avenuen sich leer und öde ausnahmen. Sie bewohnte im Süden von Paris ein Einzimmerapartement, in Chinatown, einem Stadtviertel mit graugrünen Mauern und roten Ladenschildern. In diesen Straßen mit den vielen Asiaten kam sie sich plump vor neben den kleinen, zarten Frauen, die wie geschäftige Ameisen ihrer Arbeit nachgingen. Ihre Formen nahmen sich neben den grazilen Gestalten runder aus, als sie waren, und obgleich nicht übermäßig groß, wirkte sie riesig.
Zu Hause konnte sie sich auf keines der abendlichen Programme konzentrieren, die der Fernseher unermüdlich ausspie, und warf die Fernbedienung in die Ecke. Warum, zum Teufel, konnte sie an nichts anderes mehr denken?
»Wie wunderbar, eine hübsche Frau an meinem Bett!« Meine arme Stéphanie, du suchst nach einem Satz, der sich hinter einem anderen verbirgt, weil du dir so den Satz, der dir gefallen hat, noch einmal sagen kannst, aber diesen Satz hat er gar nicht gesagt. So kommst du nicht weiter, du wiederholst dich nur, schmeichelst dir, hätschelst dich.
Daraufhin stopfte sie eine große Ladung Wäsche in die Maschine – was ihr immer half – und begann die »Liegengebliebene« zu bügeln. Da im Radio unaufhörlich Chansons aus ihrer Kindheit gespielt wurden, stellte sie den Ton lauter und machte sich, mit dem Eisen in der Hand, einen Spaß daraus, die bekannten Refrains laut mitzusingen.
Um Mitternacht – sie hatte es auf mehrere gebügelte Stapel gebracht und so viel gesungen, dass sich ihr der Kopf drehte und es ihr vor den Augen flimmerte – ging sie im Glauben, alles vergessen zu haben, beruhigt ins Bett.
Doch als sie am nächsten Tag über die Schwelle von Zimmer 221 trat, zitterte sie.
Die Schönheit dieses Mannes verstörte Stéphanie.
Karl Bauer lag seit einer Woche auf der Intensivstation und tauchte langsam aus einem Schock auf. Er hatte sich bei einem Autounfall eine schwere Wirbelsäulenverletzung zugezogen, die Ärzte bezweifelten, dass er je wieder gesunden würde, wollten sich aber nicht festlegen. Sie stimulierten seine Nerven und versuchten, das genaue Ausmaß seiner Schädigung zu ermitteln.
Obgleich er unter einem Laken lag und ein Verband seine Augen verdeckte, verwirrte Stéphanie alles, was sie von seinem Gesicht oder seinem Körper sah. Angefangen bei seinen Händen, langen Männerhänden, elegant, mit ovalen, fast perlmuttfarbenen Nägeln, Hände, wie geschaffen, um wertvolle Dinge zu halten oder Haare zu liebkosen … Dann seine Farben, seine dunkle Haut, das Braun seiner Körperbehaarung, das seine festen Muskeln dunkler erscheinen ließ, das schimmernde Schwarz seiner Locken. Und seine Lippen, so voll und schön geschwungen, dass sie sie unwiderstehlich anzogen … Vor allem aber seine Nase, scharf geschnitten, gerade, kräftig und so männlich, dass Stéphanie sie nicht ansehen konnte, ohne ein Kribbeln im Unterleib zu verspüren.
Er war großgewachsen, und man hatte aus dem Keller ein Spezialbett für ihn holen müssen. Obgleich er sich nicht bewegen konnte, war Stéphanie von seiner Größe beeindruckt, sie schien ihr wie die Bestätigung seiner starken Männlichkeit.
»Er gefällt mir dermaßen, dass ich nicht mehr klar denken kann. Wenn er hässlich wäre, hätte ich ihn gestern bestimmt nicht falsch verstanden.«
Heute würde sie genau hinhören. Während sie seine Infusionen kontrollierte und seine Tabletten zählte, wachte er auf und spürte, dass jemand im Raum war.
»Sind Sie es?«
»Guten Tag, ich bin Stéphanie.«
Seine Nasenflügel bebten. Da er sie nicht sehen konnte, nahm sie die Gelegenheit wahr und betrachtete deren kurioses Eigenleben.
»Waren Sie nicht schon gestern Morgen hier?«
»Ja.«
»Ich freue mich, dass Sie hier sind, Stéphanie.«
Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
Stéphanie stand still da, gerührt, dass jemand, der so schwer verletzt war, jemand, der solche Höllenqualen litt, überhaupt das Feingefühl hatte, sich zu bedanken. Dieser Patient war anders als die anderen.
»Vielleicht war es das, was er gestern zu mir gesagt hat«, dachte sie, »etwas Nettes, etwas, worauf ich nicht gefasst war. Ja, so wird es gewesen sein.«
Beruhigt nahm sie das Gespräch wieder auf, redete lebhaft über dies und jenes, über die Therapien, die man bei ihm anwenden wollte, seinen Tagesablauf und dass er ab morgen Besuch empfangen durfte. Nach zehn Minuten Geplauder dachte Stéphanie, sie hätte wieder zu einem normalen Verhalten ihm gegenüber gefunden. Doch als sie ihn dann deutlich vernehmbar sagen hörte: »Wie wunderbar, eine hübsche Frau an meinem Bett …«, erstarrte sie.
Diesmal war sie sicher: Sie hatte richtig verstanden. Nein, sie war nicht verrückt. Es waren dieselben Worte, gestern wie heute. Und er meinte sie damit.
Stéphanie beugte sich über Karl, um in seinem Gesicht zu lesen: Es drückte wohliges Behagen aus, bestätigte gleichsam, was er gesagt hatte; seine Lippen wölbten sich sinnlich; sie hatte fast den Einruck, dass er sie vergnügt ansah, trotz seiner verbundenen Augen.
Was tun? Sie war außerstande, die Unterhaltung fortzuführen. Sollte sie auf sein Kompliment eingehen? Was würde er entgegnen? Und wohin würde sie das führen?
Fragen über Fragen, ihr schwirrte der Kopf, sie verließ eilig das Zimmer.
Draußen auf dem Flur brach sie in Tränen aus.
Als Marie-Thérèse, eine schwarze Kollegin aus Martinique, Stéphanie am Boden fand, half sie ihr wieder auf, drückte ihr ein Taschentuch in die Hand und nahm sie mit in einen ruhigen kleinen Raum, in dem Verbandmaterial lagerte.
»Nun sag schon, Kleines, was ist mit dir?«
Diese unerwartete Fürsorge ließ Stéphanie nur noch heftiger an der rundlichen Schulter ihrer Kollegin schluchzen; und sie hätte endlos weitergeweint, hätte nicht der Vanilleduft von Marie-Thérèses Haut beruhigend auf sie gewirkt, ein Duft, der sie an glückliche Kindertage erinnerte, an Geburtstage bei ihren Großeltern oder an abendliche Joghurtgelage bei ihrer Nachbarin Emma.
»Also, sag, was bereitet dir solchen Kummer?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ist er beruflicher oder privater Art?«
»Beides«, stöhnte Stéphanie und schniefte.
Sie schnäuzte sich kräftig, als Zeichen, dass sie sich wieder gefangen hatte.
»Danke, Marie-Thérèse, es geht schon wieder.«
Auch wenn ihre Augen für den Rest des Tages trocken blieben, ging es ihr nicht wirklich besser, zumal sie nicht verstand, was eigentlich mit ihr los war.
Im Alter von fünfundzwanzig hatte Stéphanie eine Ausbildung als Krankenschwester absolviert, aber sie wusste nicht um ihren eigenen Wert. Warum? Es mangelte ihr an Selbstvertrauen, ihre Mutter hatte immer nur einen distanzierten und abwertenden Blick für ihre Tochter gehabt. Wie hätte sie sich selbst Bedeutung beimessen können, wenn die Person, die sie zur Welt gebracht hatte und hätte lieben sollen, sie herabsetzte? Léa hielt ihre Tochter tatsächlich weder für hübsch noch für intelligent und hatte sich auch nie gescheut, dies laut zu sagen, wobei sie jedes Mal hinzufügte: »Was wollen Sie, darf ich, nur weil ich Mutter bin, die Dinge etwa nicht beim Namen nennen?« Die Tochter hatte in leicht abgewandelter Form die Meinung ihrer Mutter übernommen. Auch wenn Stéphanie, was die Intelligenz betraf, ihrer Mutter – die kein Diplom besaß und nach wie vor Kleider verkaufte, während sie selbst das Abitur bestanden hatte und einen Pflegeberuf ausübte – längst das Gegenteil bewiesen hatte, so hatte sie sich doch die ästhetischen Vorstellungen der Mutter zu eigen gemacht. Da eine schöne Frau eine schlanke Frau war, mit schmalen Hüften und festen, runden Brüsten, wie Léa, war Stéphanie keine schöne Frau; sie gehörte eher, wie ihre Mutter immer wieder erklärte, in die Kategorie der Dicken. Sie wog zwölf Kilo mehr als sie, war aber nur sieben Zentimeter größer!
Daher war Stéphanie auch nie auf Léas Vorschläge, »sich zurechtzumachen«, eingegangen, sie wollte nicht noch lächerlicher erscheinen, als sie schon war. Obgleich überzeugt, dass Spitzen, Seide, Zöpfe, Chignons, Locken, Schmuck, Armreifen, Ohrringe oder Ketten an ihr so schockierend aussehen würden wie an einem Transvestiten, wusste sie, dass sie physiologisch gesehen eine Frau war, hielt sich selbst aber nicht für femininer als ein Mann. In der weißen Krankenhauskluft fühlte sie sich wohl, und wenn sie Hose und Kittel zurück in ihren Spind hängte, wurden sie lediglich durch deren schwarze oder marineblaue Entsprechung ersetzt und die Gesundheitssandalen gegen plumpe weiße Basketballschuhe ausgetauscht.
Was war ihr in Zimmer 221 widerfahren? Freude oder Verzweiflung? Freude, weil man sie für hübsch hielt? Verzweiflung, weil sie das nur für einen Blinden war?
Ihre Erschütterung – und das begriff sie, als sie unter ihre Bettdecke schlüpfte – hatte in Wirklichkeit vor allem mit dem Schock zu tun: Karl Bauers Worte hatten Stéphanie zurückversetzt auf den Marktplatz der Verführung, dieses weite sonnige Rund, auf dem die Frauen Männern gefielen, sie, die sich davon ausgeschlossen glaubte, im Abseits lebte und beschlossen hatte, weder Blicke noch Liebeserklärungen zu provozieren. Stéphanie war eine anständige junge Frau, wenn man denn jemanden, der keine Ausschweifungen kennt, »anständig« nennen kann. Ihre Komplexe ließen sie enthaltsam leben, sie wagte nichts, mied Feste, Bars und Nachtclubs. Sie mochte hin und wieder für die Dauer eines Films oder eines Romans von einer Liebschaft träumen, doch stets in dem Bewusstsein, dass dies der Phantasie vorbehalten war. Im wirklichen Leben gab es so etwas nicht.
»Jedenfalls nicht in meinem Leben.«
Wie ein alter Mensch, der sich mit seinem Ruhestand abgefunden hatte, empfand sie sich selbst als zurückgezogen lebend, außer Reichweite, mit einem Körper, der tot war, oder so gut wie, und jetzt sprach man ihr plötzlich von ihrem Charme und brachte sie aus dem Konzept. Damit hatte sie nicht gerechnet, es kam zu plötzlich, war zu viel.
Am nächsten Morgen, auf dem Weg zur Arbeit, beschloss sie, Karl, wenn er wieder damit anfinge, eine Abfuhr zu erteilen.
Die Krankenhausroutine war ihr Leben. Sobald sie durch das Portal der wie eine Kaserne bewachten Salpêtrière trat, befand sie sich in einer anderen Welt, einer Stadt in einer Stadt, ihrer Stadt. In dem abgeschlossenen Bereich mit seinen hohen Mauern, der diese Krankenhausstadt schützte, gab es alles: einen Zeitungskiosk, ein Café, eine Kapelle, eine Apotheke, eine Kantine, Sozialdienste, Verwaltungsbüros, Versammlungsräume, darüber hinaus zahlreiche Gebäude für die verschiedenen Krankheiten; in den Parkanlagen Bänke für müde Spaziergänger, hier und da ein Blumenbeet und Vögel, die über den Rasen hüpften; die Jahreszeiten kamen und gingen wie anderswo auch, der Winter brachte seinen Schnee, der Sommer seine Gluthitze; Feiertage kennzeichneten den Wechsel der Jahreszeiten, Weihnachtsbäume, Johannisnächte; Menschen kamen hierher, um geboren zu werden, zu genesen und zu sterben, darunter hin und wieder sogar Berühmtheiten. Ein Mikrokosmos in der Megalopolis. Stéphanie existierte dort nicht nur, sondern erwies sich auch als nützlich. Die Stunden waren dicht gedrängt, angefüllt mit der Pflege der Patienten, Temperaturmessen, Visiten und Gängen zum Stationszimmer: Wozu brauchte sie ein anderes Leben, ein Leben anderswo?
Das Gefühl, nützlich zu sein, machte sie stolz. Und mit diesem Stolz kompensierte sie, was ihr fehlte. »Ich habe keine Zeit, um mich mit mir zu beschäftigen, ich habe zu viel zu tun«, sagte sie sich immer, kaum wurde sie sich ihrer Einsamkeit bewusst.
»Guten Tag, Stéphanie«, begrüßte Karl sie lächelnd, obwohl sie gerade erst hereingekommen war und noch kein Wort gesagt hatte.
»Guten Tag. Heute dürfen Sie endlich Besuch empfangen.«
»Ich befürchte es.«
»Warum? Freut Sie das nicht?«
»Das wird was geben!«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Von Ihrer Warte aus wird es wahrscheinlich eher amüsant. Für sie oder mich, weniger.«
»Wen meinen Sie mit ›sie‹?«
»Ahnen Sie das nicht?«
»Nein.«
»Nun, dann gedulden Sie sich, Sie werden auf Ihre Kosten kommen.«
Stéphanie beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen, und wandte sich ihrer Arbeit zu.
Er grinste.
Je mehr sie sich an seinem Bett zu schaffen machte, umso breiter wurde sein Grinsen.
Sie hatte sich zwar geschworen, ihn nichts zu fragen, konnte dann aber nicht mehr an sich halten und platzte heraus:
»Warum grinsen Sie so?«
»Eine hübsche Frau kümmert sich um mich …«
»Was wissen Sie schon? Sie können mich doch gar nicht sehen!«
»Ich höre Sie und ich rieche Sie.«
»Wie bitte?«
»An Ihrer Stimme, an Ihren Bewegungen, an der Luft, die Sie mit ihren Gesten verdrängen, und insbesondere an Ihrem Geruch merke ich, dass Sie eine hübsche Frau sind. Ich weiß es einfach.«
»Schmeichler! Und wenn ich nun eine Warze auf der Nase habe oder ein Muttermal?«
»Das würde mich wundern.«
»Wetten, dass?«
»In Ordnung: Haben Sie eine Warze auf der Nase?«
»Nein.«
»Ein Muttermal?«
»Auch nicht.«
»Na also«, schloss er zufrieden darüber, dass er recht hatte.
Stéphanie lachte auf und verließ das Zimmer.
Anders als am Tag zuvor, war sie heute in guter Stimmung, hatte ihre Heiterkeit wiedergefunden.
Am Nachmittag, als sie von einem Zimmer ins andere ging, verstand sie plötzlich, was Karl – zu komisch, dass er sich mit einem K statt mit einem C schrieb – am Morgen gemeint hatte. Im Warteraum beäugten sich sieben junge Frauen, eine prachtvoller als die andere, voller Hass; sie wirkten wie konkurrierende Models bei einem Casting. Nicht eine von ihnen war offiziell mit Karl liiert, bis auf die große Rothaarige, eine auffallend schöne Frau, die sich vor der Oberschwester mit dem Titel Ex-Ehefrau brüstete und als Erste zu Karl vorgelassen wurde. Die sechs anderen Geliebten zuckten die Schultern, als sie die Rote aufstehen und gehen sahen, und fuhren fort, sich unfreundlich zu mustern. Hatten sie gerade erst voneinander erfahren? Waren sie seine Geliebten in Folge, oder hatte er sie alle gleichzeitig gehabt?
Stéphanie richtete es so ein, dass sie möglichst oft bei den Damen vorbeikam, ihre Neugier aber blieb ungestillt. Wenn sie aufstanden, um zu Karl zu gehen, verfuhren sie alle nach dem gleichen Schema; kaum waren sie auf dem Flur, streiften sie in Sekundenschnelle ihre üble Laune ab, setzten ein schmerzlich besorgtes Gesicht auf, hatten Tränen in den Augen und ein Taschentuch in der Hand. Was für Heuchlerinnen! Wann übrigens spielten sie? Wenn sie sich in Anwesenheit der anderen beherrschten oder wenn sie sich zitternd ihrem Geliebten näherten? Waren sie jemals aufrichtig?
Die Letzte betrat Karls Zimmer um sechzehn Uhr und kam eine Minute später schreiend wieder heraus:
»Er ist tot! Mein Gott, er ist gerade gestorben!«
Stéphanie stürzte aus dem Schwesternzimmer und eilte an Karls Bett, fühlte seinen Puls, sah auf die Monitore und rief:
»Beruhigen Sie sich! Er ist eingeschlafen, das ist alles. Die vielen Besuche haben ihn erschöpft. In seinem Zustand …«
Die Geliebte setzte sich und presste, als könnte sie das beruhigen, die Knie zusammen. Biss in ihren Daumennagel, der lang und rot war, und schimpfte:
»Diese Schlampen, das haben sie absichtlich getan! Sie haben ihn fertiggemacht, damit nichts für mich bleibt.«
»Ich bitte Sie, Mademoiselle, offenbar ist Ihnen nicht bewusst, dass Sie es hier mit einem Schwerverletzten zu tun haben. Sie denken nur an sich und Ihre Rivalinnen, das ist unerhört!«
»Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Werden Sie bezahlt, damit Sie sich um ihn kümmern oder damit Sie uns Moralpredigten halten?«
»Damit ich mich um ihn kümmere. Und deshalb muss ich Sie auch bitten, diesen Raum zu verlassen.«
»Scheren Sie sich zum Teufel! Ich habe vier Stunden gewartet.«
»Nun gut. Dann rufe ich eben den Sicherheitsdienst.«
Die Drohung wirkte, das Supermodel gab klein bei, erhob sich und schwankte schimpfend auf hohen Plateauabsätzen davon.
Stéphanie rief ihr heimlich »Schnepfe« hinterher, um sich dann sogleich Karl zu widmen. Sie stellte sein Bett höher, schüttelte seine Kopfkissen auf, überprüfte die Tropfinfusion und war alles andere als böse, ihn wieder für sich zu haben.
»Endlich kann ich in Ruhe arbeiten«, seufzte sie.
Und nicht einen Moment lang kam ihr in den Sinn, dass sie soeben wie eine eifersüchtige Frau reagiert hatte.
Am nächsten Tag empfing Karl sie mit einem Grinsen.
»Na, haben Sie sich gestern gut amüsiert?«
»Was gab es denn so Amüsantes?«
»Dass diese Frauen, die sich hassen, einander gegenübersitzen und geduldig warten mussten. Ich habe es, offen gesagt, bedauert, dass ich hier war und nicht im Warteraum. Sind sie sich in die Haare geraten?«
»Nein, aber die Stimmung war eisig. Haben Sie mitbekommen, wie ich die Letzte fortgeschickt habe?«
»Die Letzte? Nein. Wer kam nach Dora?«
»Eine Brünette mit Plateauabsätzen.«
»Samantha? Oh, das tut mir leid, die hätte ich gern gesehen.«
»Sie konnten nicht.«
»Was war mit mir?«
»Sie waren eingeschlafen! Sie dachte, Sie seien gestorben.«
»Samantha übertreibt immer.«
»Ich habe mir erlaubt, ihr das zu sagen.«
Während sich Stéphanie um Karl kümmerte, schossen ihr tausend Fragen durch den Kopf. Mit welcher der sechs Geliebten war er zurzeit zusammen? Gab es eine, die er liebte? Was erwartete er von einer Frau? Wechselte er so schnell von einer zur anderen, weil für ihn nur das Aussehen zählte und sonst nichts? Ging es ihm immer nur um Erotik und nie um eine dauerhafte Beziehung? Ergriff er die Initiative bei den Frauen? Verließ er sich dabei weitgehend auf sein Äußeres, seinen verführerischen Charme? Was für ein Liebhaber war er wohl?
Als hätte er gespürt, dass sie etwas beschäftigte, rief Karl:
»Sie kommen mir heute so bedrückt vor!«
»Ich? Oh, nein.«
»Oh, doch. Probleme mit Ihrem Mann?«
»Ich bin nicht verheiratet.«
»Mit Ihrem Partner?«
»Da ist kein Partner.«
»Mit Ihrem Freund?«
»Ja, genau. Probleme mit meinem Freund!«
Sie hatte nicht den Mut, einem Mann, der sie für bezaubernd hielt, zu gestehen, wie hoffnungslos einsam sie war, und beschloss daher, einen Verlobten zu erfinden. Zumindest hier, in Zimmer 221, sollte sie eine normale Frau sein.
»Was hat er denn getan?«
»Hm? Oh, nichts … Nichts Bestimmtes … Ich frage mich … Ich frage mich nur, ob er nicht fremdgeht …«
»Sie sind eifersüchtig?«
Stéphanie wusste nicht, was sie sagen sollte. Eine solche Frage war für sie nicht nur ungewohnt, sondern sie hatte soeben auch bemerkt, dass sie auf Karl eifersüchtig war.
Sie schwieg. Er lachte.
»Dann sind Sie also eifersüchtig!«
»Wer ist das nicht?«
»Ich. Aber das tut hier nichts zur Sache. Reden wir lieber von Ihnen. Wie heißt er denn?«
Stéphanie hätte gern geantwortet, aber ihr kamen nur Hundenamen in den Sinn, Rex, Titus, Médor, Tommy … Sie presste ein verzweifeltes »Ralf!« hervor.
Natürlich auch ein Hundename. Sie kannte einen Dobermann, der so hieß, hoffte aber, dass Karl nichts merkte. Ralf, ein Mensch konnte doch schließlich Ralf heißen, oder?
»Ralf ist ausgesprochen dumm, falls Sie meine Meinung interessiert.«
Uff, er hatte ihre Lüge geschluckt …
»Sie kennen ihn nicht.«
»Wenn einem eine so prächtige Frau begegnet, die so wundervoll riecht wie Sie, dann zieht man doch als Erstes mit ihr zusammen. Und Sie haben mir eben gesagt, dass Sie nicht zusammenleben.«
»Das dürfen Sie ihm nicht vorwerfen! Vielleicht bin ja ich es, die nicht möchte …«
»Sie möchten nicht?«
»Nein.«
»Ich kann nur wiederholen, Ralf ist ein Idiot. Er verdient Sie nicht. Fremdgehen bei einer Frau, die so gut riecht …«
Stéphanie geriet in Panik. Ich rieche? Fünfundzwanzig Jahre lang war sie nicht ein einziges Mal auf die Idee gekommen, dass ihr ein Geruch anhaften könnte … Instinktiv schnupperte sie an ihrem Arm. Was hatte sie für einen Geruch? Sie roch nichts. Was meinte er? Sie benutzte weder ein Parfüm noch ein Eau de Toilette. Ihre Seife? Der Duft war im Nu verflogen … Das Waschpulver? Der Weichspüler? Nein, das gesamte Krankenhauspersonal ließ die Wäsche in ein und derselben Wäscherei waschen. Ihr Geruch? Ihr Eigengeruch? Roch sie gut oder schlecht? Und vor allem, wonach?
Sie konnte sich nicht länger als dreißig Sekunden zurückhalten, dann fragte sie atemlos:
»Wonach rieche ich? Nach Schweiß?«
»Sie machen mir vielleicht Spaß! Nein, ich habe keine Ahnung wie Ihr Schweiß riecht. Und das ist gut so, er muss göttlich riechen, das würde mich viel zu sehr aufregen.«
»Sie scherzen wohl?«
»Ich versichere Ihnen, Sie haben einen berauschenden Duft an sich, und wenn Ralf Ihnen das nie gesagt hat, dann ist er ein unverbesserlicher Idiot.«
Als sie am Abend wieder in ihrem Apartement war, wollte Stéphanie der Sache auf den Grund gehen.
Nachdem sie die Vorhänge zugezogen hatte, legte sie ihre Kleider ab und versuchte, sich selbst zu riechen. Sie schnüffelte an jedem nur erreichbaren Teil ihres Körpers und machte vor und nach dem Duschen die abenteuerlichsten Verrenkungen. Vergebens.
Obgleich sie sich nackt nicht ausstehen konnte, zog sie sich nicht wieder an und probierte es mit einer anderen Methode: Sie versuchte ihren Geruch, den sie beim Gehen hinterließ, durch eine abrupte Kehrtwendung aufzufangen. Kaum hatte sie drei Schritte getan, drehte sie sich blitzschnell um, hielt die Nase in den von ihr verursachten Luftzug und kam sich dabei wie eine Ballerina vor. Auch wenn ihr Unterfangen alles andere als erfolgreich war, bereitete es ihr doch ein großes Vergnügen, so umherzuspazieren, mit nackten Schenkeln und Brüsten.
Zum Abendessen zog sie, eingeschüchtert durch die Förmlichkeit von Teller und Besteck, einen Bademantel über; öffnete ihn während des Essens jedoch immer weiter, bis sie ihn schließlich in der Hoffnung, doch noch etwas von ihrem Geruch zu erhaschen, ganz abstreifte.
Schließlich nahm sie sich ihren Wandschrank vor, roch an der Wäsche, die sie getragen und nicht getragen hatte, und begann wieder von vorn … Sie bemerkte etwas, einen Hauch nur, einen zarten Duft, bereits verflogen, als sie dachte, sie hätte ihn festgehalten.
Sie beschloss, nackt schlafen zu gehen. So könnte sie, wenn sie aufwachte, ihren Geruch in den Laken finden. Als sie sich eine Stunde lang unruhig hin und her gewälzt und sich befühlt und abgetastet hatte, kam sie zu dem Schluss, dass Nacktheit sie wahnsinnig machte, zog ihren Pyjama an und versank in einen Dämmerschlaf.
Am nächsten Tag betrat sie leise Karls Zimmer und näherte sich wortlos seinem Bett.
Nach dreißig Sekunden lächelte er. Eine Minute später murmelte er ein klein wenig unsicher:
»Stéphanie?«
Sie hätte das Spiel gern noch etwas hinausgezögert, doch eine Injektionsnadel auf ihrem Metalltablett kam ins Rollen und verriet sie.
»Ja.«
Er seufzte erleichtert.
»Wie lange sind Sie schon hier?«
»Seit einer Minute. Ich wollte Sie nicht aufwecken.«
»Ich habe nicht geschlafen. Jetzt begreife ich auch, warum ich immerzu an Sie denken musste.«
Sie plauderten, während Stéphanie den Zustand ihres Patienten überprüfte. Sie wollte etwas Neues mit ihm ausprobieren. Da sie bemerkt hatte, dass er lächelte, sobald sie mit ausgebreiteten Armen hinter ihm stand, kam sie näher und beugte sich so weit über ihn, dass ihre Brüste auf der Höhe seines Gesichts waren. Gewonnen! Karls Gesicht strahlte vor Freude. Daraus schloss sie, dass er nicht log: Sie verströmte tatsächlich einen Duft, der Karl entzückte.
Zum Spaß versuchte sie es noch einmal, ging noch näher an ihn heran. Bis ihr Haar seine Wangen streifte. Was würden ihre Kollegen denken, wenn sie sie so über ihn gebeugt sähen? Sollten sie doch! Sie jedenfalls war überglücklich, dieses wunderschöne Gesicht vor Freude strahlen zu sehen.
Als sie ihm schließlich ihr Dekolleté vor die Nase hielt und erklärte, sie müsse sich jetzt um die anderen Patienten kümmern, murmelte er, wie einer Ohnmacht nahe:
»Wie wunderbar, von einer so hübschen Frau …«
»Sie übertreiben, ich bin keine Traumfrau, weit gefehlt!«
»Eine Traumfrau ist nicht die, von der eine Frau träumt, sondern es ist die Frau, die ein Mann sieht.«
Samstag und Sonntag hatte sie frei. Sie vermisste Karl und durchlebte die unterschiedlichsten Stimmungen. Zum einen spazierte sie weiter nackt durch ihre Wohnung, um sich mit dem vertraut zu machen, was sie bisher nicht gewusst hatte: Ihr Körper duftete. Zum anderen weinte sie bittere Tränen, da ein wagemutiger Ausflug in einen Laden mit chinesischen Seidenkleidern ihren Traum zunichtegemacht und sie jäh in die Wirklichkeit zurückversetzt hatte: Nichts passte ihr, sie war dick und hässlich.
Daher schloss sie sich, um sich nicht länger fremden Blicken auszusetzen, in ihrer Wohnung ein, aß Konserven und sprach nur mit ihrem Fernseher. Warum waren die anderen Männer nicht so feinsinnig wie Karl? Warum räumte diese Gesellschaft dem Gesichtssinn einen höheren Stellenwert ein als den anderen Sinnen? In einer anderen Welt, der Geruchswelt, war sie schön. In einer anderen Welt konnte sie bezaubern. In einem Zimmer, das sie kannte, war sie »eine so hübsche Frau«. Sie erwartete den Montagmorgen wie eine Befreiung.
»Ist dir eigentlich klar, was du da redest, meine arme Stéphanie? Eine Augenweide bist du nur für einen gelähmten Blinden! Vergiss es!«
Nach der Euphorie kam die Depression.
Und so schwankte sie zwei Tage lang zwischen Verzückung und Jammer, Begeisterung und Selbstmitleid. Daher sagte sie, als man sie am Sonntagabend aus dem Krankenhaus anrief und bat, am nächsten Morgen früher zu kommen, beflissen zu.
Im Morgengrauen kam das Pflegepersonal zum Schichtwechsel in der Cafeteria bei einem Cappuccino zusammen, für die einen war es der letzte für die anderen der erste, der Tagesdienst löste den Nachtdienst ab. Es gab einen Augenblick der Unbestimmtheit in den Gebäuden, blau und grau, wie ein schwebendes Schweigen, dann geschah die Veränderung: Während man einen bitteren Schluck zu sich nahm, ein paar Worte wechselte, war es plötzlich Tag geworden, mit dem Geräusch der Rollwagen, mit Türenschlagen und Schritten, dem Kommen und Gehen in jedem Stockwerk und brummenden Staubsaugern im Treppenhaus, im Erdgeschoss öffnete die Aufnahme ihre Schalter. In den Fluren herrschte ein anderer Rhythmus, es war Zeit, die Patienten zu wecken, die Temperatur zu messen, Tabletten auszuteilen, und Tassen und Unterteller klapperten.
Um halb acht kam Stéphanie fröhlich in Karls Zimmer gestürmt.
»Guten Morgen!«
»Was? Sie, Stéphanie, schon?«, fragte der Mann mit den verbundenen Augen erstaunt.
»Ja, ich bin’s. Eine meiner Kolleginnen ist krank. Ich weiß, die Leute sind immer überrascht, wenn eine Krankenschwester oder ein Arzt Probleme mit ihrer Gesundheit haben. Ich übernehme ihren Dienst.«
»Und ich übernehme meinen: Ich spiele den Kranken. Das mache ich doch nicht schlecht, oder?«
»Sie machen das sehr gut.«
»Leider …«
»Ich wollte damit sagen, dass Sie sich nie beklagen.«
»Wozu auch?«
Der Morgennebel hing noch an den Fensterscheiben.
Stéphanie notierte seine Temperatur, wechselte den Infusionsbeutel, stellte die Infusion neu ein und gab ihm eine Spritze. Dann steckte sie ihren Kopf in den Flur und rief nach der Schwesternhelferin.
»Madame Gomez, kommen Sie bitte und helfen Sie mir beim Waschen!«
Hinter ihr wandte Karl heftig ein:
»Das werden Sie mir doch nicht antun?«
»Was?«
»Mich waschen!«
Stéphanie ging zu ihm, sie verstand nicht.
»Doch, warum?«
Er verzog das Gesicht, war verärgert, wandte seinen Kopf nach rechts und nach links, als suchte er nach Hilfe.
»Also das … das gefällt mir gar nicht!«
»Machen Sie sich keine Sorgen, ich bin das gewohnt.«
Da Madame Gomez hereinkam, ließ er es dabei bewenden. Stéphanie dachte, sie hätte ihn beruhigt und griff zu Handschuhen und Flüssigseife.
Madame Gomez schlug das Laken zurück und deckte ihn auf; Stéphanie konnte nicht umhin, sie war seltsam berührt. Dieser Mann war schön. Ganz und gar schön. Alles an diesem Körper gefiel ihr. Und alles verwirrte sie.
Obgleich er schwer verletzt war und sich nicht bewegen konnte, wirkte er nicht wie ein Invalide.
Sie wandte ihren Blick ab. Zum ersten Mal dachte sie, dass sie nicht das Recht hatte, einen Mann in seiner Nacktheit ohne dessen Zustimmung zu betrachten; im Nachhinein empfand sie die gleichgültige Handbewegung, mit der Madame Gomez das Laken rasch aufgedeckt und Karl entblößt hatte, als brutal.
Wo sollte sie beginnen?
Auch wenn sie die Handgriffe wie im Schlaf beherrschte, weil sie sie schon unzählige Male ausgeführt hatte, war sie durch Karls Gegenwart verunsichert. Sie würde seine Schenkel, seinen Oberkörper, seinen Bauch und seine Schultern berühren. Für gewöhnlich wusch sie einen Patienten, wie sie ein Wachstuch mit einem Schwamm abwischte. Bei ihm aber war es anders, er verunsicherte sie. Wäre er nicht hier im Krankenhaus, hätte sie ihn niemals nackt zu Gesicht bekommen. Selbst wenn er ihr einen exquisiten Duft zusprach, hätte er sie doch nie zur Geliebten genommen, oder?
Bedenkenlos hatte Madame Gomez auf ihrer Seite begonnen, ihn zu waschen.
Stéphanie wollte nicht, dass man ihre Skrupel bemerkte, und machte sich ebenfalls an die Arbeit. Doch war sie dabei sehr viel sanfter und einfühlsamer.
»Was tust du da, du Idiotin?«, dachte sie. »Er ist gelähmt. Gelähmt! Das heißt, er spürt deine Hand gar nicht. Ob du ihn zwickst oder streichelst, ist einerlei, er spürt nichts.«
Durch diesen Gedanken ermutigt, konzentrierte sie sich ganz auf ihre Tätigkeit, wollte zum Ende kommen; doch war sie so unvorsichtig, sein Gesicht zu betrachten, und bemerkte, dass er die Zähne zusammenbiss, sein Kiefer verspannt war und ihn Schauer überliefen. Als sie seinen Hals abrieb, murmelte er leise:
»Tut mir leid.«
Sie spürte die Not in seinen Worten und befahl Madame Gomez nachzusehen, wer in Zimmer 209 geläutet hatte.
»Den Rest schaffe ich allein, Madame Gomez.«
Als sie allein waren, beugte sie sich über ihn und fragte ihn behutsam.
»Was tut Ihnen leid? Was?«
»Es tut mir leid«, wiederholte er und warf den Kopf hin und her.
Sie fragte sich, was mit ihm sein mochte, ließ ihren Blick über seinen Körper gleiten und begriff plötzlich, was ihm so zu schaffen machte.
Sein Geschlecht hatte sich aufgerichtet.
Stéphanie konnte nicht anders, als dieses feste, von einer zarten Haut umhüllte Glied zu bewundern, dessen Erektion ihm alle Ehre erwies und das ihr zugleich kraftvoll und zart schien; dann wandte sie sich wieder ihrer Tätigkeit zu, schüttelte ihre Gedanken ab, begriff, dass sie Karl beruhigen musste.
»Machen Sie sich keine Sorgen. Wir sind daran gewöhnt. Es geschieht unwillkürlich, ist ein Reflex.«
»Nein!«
»Doch, seien Sie unbesorgt, ich kenne mich aus damit.«
Er entgegnete zornig:
»Nein, das tun Sie nicht! Nicht die Spur! Und erzählen Sie mir nichts von wegen ›unwillkürlich‹ und ›Reflex‹ … Vom Kinn an abwärts bin ich taub, spüre nichts. Wenn Ihre Kollegin Antoinette sich um mich kümmert, bin ich entspannt und muss die Zähne nicht zusammenbeißen. Warum? Weil Antoinette oder Madame Gomez nicht so riechen wie Sie. Ich habe versucht, Sie zu warnen …«
»Aber … das ist doch nicht schlimm …«
»Wenn das nicht schlimm ist, was ist dann schlimm?« Seine Stimme klang gebrochen.
»Es muss Ihnen nicht peinlich sein, mir ist es auch nicht peinlich«, log sie.
»Es ist Ihnen nicht peinlich? Danke! Jetzt begreife ich endlich, dass ich nur noch ein Krüppel bin!«
Stéphanie bemerkte, dass der Verband um seine Augen feucht wurde. Tränen! Am liebsten hätte sie Karl an sich gedrückt und getröstet, aber das durfte sie nicht. Wenn man sie so überraschte, ein nackter Mann in den Armen einer Krankenschwester, und er in diesem Zustand! Davon abgesehen, dass sie alles nur noch schlimmer machte, wenn sie ihn mit ihrem Duft umgab …
»Mein Gott, was habe ich getan, was habe ich bloß getan?«, rief sie.
Etwas ging vor in Karl. Er begann heftig zu zucken. Stöhnte. Stéphanie wollte schon nach Hilfe rufen, als ihr klarwurde, was sich abspielte.
»Sie … Sie lachen?«
Er nickte und schüttelte sich nur so.
Als sie sah, dass sein Geschlecht immer kleiner wurde, je mehr er sich erheiterte, war Stéphanie erleichtert und musste, von ihm angesteckt, selbst glucksend lachen.
Sie bedeckte ihn mit einem Laken und setzte sich so lange neben ihn, bis er wieder zu Atem gekommen war.
Als er sich schließlich beruhigt hatte, fragte Stéphanie:
»Was war denn so lustig?«
»Man hätte meinen können, es sei Wunder was passiert, als Sie riefen ›Mein Gott, was habe ich bloß getan?‹, dabei haben Sie mich nur erregt. Ist das nicht eine absurde Situation?«
Sie lachten wie verrückt.
»Spaß beiseite. Das tun wir Ihnen jetzt nicht mehr an. Das mit dem Waschen lassen wir. Verstehen Sie?«
»Ich verstehe.«
In Wirklichkeit aber war Stéphanie sich nicht sicher, ob sie selbst verstanden hatte; sie wusste nur, dass sie diese Fähigkeit besaß, diese neue, umwerfende Fähigkeit, bei einem Mann Verlangen zu wecken. Was sage ich? Bei diesem Mann, diesem Mann hier, diesem hinreißenden Mann, diesem Frauenschwarm mit diesen bildschönen Geliebten, die sich alle um ihn stritten! Sie, die Dicke, die von der Natur so stiefmütterlich Behandelte!
Für den Rest des Tages mied sie Zimmer 221, den befremdlichen Blicken nach, schienen ihre Kollegen zu ahnen, was dort vorgefallen war. Sie selbst fühlte sich ungewollt anders, zeigte sich redseliger, war überschwänglicher als sonst, bekam beim geringsten Anlass rote Wangen.
»Nun mal ehrlich, Stéphanie, bist du verliebt?«, fragte Marie-Thérèse in ihrem fröhlichen singenden Akzent, mit den gerollten Rs und den lustvoll in die Länge gezogenen Vokalen.
Stéphanie, der siedend heiß wurde, antwortete nicht, lächelte und flüchtete in die Apotheke.
»Sie hat sich verliebt«, schloss Marie-Thérèse und schüttelte den Kopf.
Doch Marie-Thérèse täuschte sich: Stéphanie hatte sich nicht verliebt, sie war Frau geworden, das war alles.
Als sie sich an diesem Abend auszog, mied sie nicht wie sonst den Spiegel, sondern baute sich vor ihm auf.
»Du gefällst! Du kannst gefallen!«
Sie teilte dies ihrem Körper mit wie eine gute Nachricht oder eine Auszeichnung.
»Dieser Körper erregt einen Mann«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild.
Ihr Spiegelbild sah nicht sehr überzeugt aus.
»Doch!«, beharrte sie. »Erst heute Morgen …«
Sie erzählte ihrem Abbild, was am Morgen vorgefallen war, schilderte ihm in allen Einzelheiten, was ihr Duft alles vermochte …
Anschließend schlüpfte sie in ihren Bademantel, aß zu Abend und hüpfte in ihr Bett, um immer wieder daran zu denken.
Am Dienstag, im Morgengrauen, verhandelte Stéphanie im Umkleideraum mit Madame Gomez, damit sie im Austausch gegen kleine Gefälligkeiten und nichts ahnend das Waschen des Patienten in Zimmer 221 alleine übernahm.
Als Karl dann gewaschen war, ging sie zu ihm.
»Danke, dass Sie nicht gekommen sind«, seufzte er.
»Das höre ich zum ersten Mal!«
»Seltsam, oder? Es gibt Leute, vor denen man sich nicht schämt, und andere, vor denen man sich schämt. Die einen sind einem gleichgültig, die anderen nicht. Wahrscheinlich, weil man ihnen gefallen möchte.«
»Sie wollen mir gefallen?«, fragte Stéphanie und schluckte. Während sie auf seine Antwort wartete, spürte sie, wie ihr flau wurde.
»Ja, das würde ich gern, hätte es zumindest gern gewollt.«
»Gewonnen! Sie gefallen mir.«
Sie kam näher und streifte flüchtig seine Lippen.
»Träume ich, oder haben Sie mich gerade geküsst?«, rief er.
»Sie träumen.«
Den ganzen Tag über bewahrte sie die Erinnerung an diese Berührung auf ihrem Mund. Wie konnte etwas nur so schön sein?
Obgleich sie sich bemühte, die andern Patienten nicht zu vernachlässigen, verbrachte sie mehr Zeit in Karls Zimmer – oder aber die Zeit dort verging schneller. Sobald sie über die Schwelle von 221 trat, überschritt sie eine unsichtbare Grenze und fand sich in einer anderen Welt wieder.
Gegen Mittag, als Karl und Stéphanie gerade zwanglos plauderten, wechselte er unvermittelt das Thema:
»Was tragen Sie eigentlich, wenn Sie nicht im Krankenhaus sind?«
Kurz entschlossen entschied sie, die Tatsachen zu leugnen – die unförmigen Kleider, die im Umkleideraum oder in ihrem Wandschrank auf sie warteten –, und sagte:
»Röcke.«
»Ah, umso besser.«
»Ja, Röcke und Blusen. Wenn möglich aus Seide. Manchmal auch einen Rock mit Kostümjacke. Und im Sommer leichte Kleider …«
»Hübsch. Und im Winter?«
Stéphanie errötete, es war ungeheuerlich, was sie ihm da alles erzählte.
»Ich trage gern Leder. Aber kein Biker-Leder, elegantes Leder, glamourös, chic; verstehen Sie, was ich meine?«
»Ja, das gefällt mit sehr! Wie schade, dass ich Sie nicht sehen kann.«
»Wir arbeiten hier in Hose und Bluse. Nicht sehr sexy.«
»Selbst an Ihnen nicht?«
»Selbst an mir nicht.«
»Das bezweifle ich. Na ja, das holen Sie dann draußen nach.«
»Genau … das hole ich nach …«
Am Nachmittag, als Stéphanie das Krankenhaus verließ, beschloss sie, die Lügen vom Morgen wahrzumachen und sich in den Kaufhäusern am Boulevard Haussmann umzusehen.
Und so nahm sie die Metro, was sie selten tat, da sie meist zu Fuß ging. Seit einigen Jahren wohnte sie »hinter dem Krankenhaus«. Jemand, der sich in Paris nicht auskennt, wird dieses »hinter dem Krankenhaus« kaum verstehen, denn die Salpêtrière hat zwei wichtige Eingänge, jeweils an einem der beiden Boulevards, die am Komplex des Krankenhauses entlangführen: Wie also kann der eine vorn und der andere hinten sein? Um das zu verstehen, muss man sich die besondere Geometrie von Paris vergegenwärtigen, einer kreisförmig gebauten Stadt, die dennoch eine Vorder- und eine Rückseite aufweist. Alles, was dem Zentrum und der Nôtre-Dame zugewandt ist, ist »vorn«, was zur Périphérique, der Ringautobahn, schaut, »hinten«. Da Stéphanie in Chinatown, in einem der Wohntürme, unweit der Banlieue wohnte, wohnte sie somit »hinten«.
Sich unter die Erde zu begeben und in einen überfüllten Metrowagon zu quetschen, dort zwischen Schweiß und Lärm im eigenen Saft zu schmoren, unter Gedränge und Gestoße wieder auszusteigen, um es mit den Menschenmassen draußen aufzunehmen, kam für sie bereits einem Abenteuer gleich. Nachdem sie mehrmals in den falschen Häusern gestrandet war, da die einzelnen Filialen der Kaufhauskette auf dieses oder jenes Produkt spezialisiert waren, landete sie schließlich in der Abteilung »Frauenmode«. Sie war beeindruckt.
Sie überwandt ihre Scheu und ließ sich von den Verkäuferinnen beraten; nach einigen Fehlgriffen fand sie vier Kleidungsstücke, die in etwa dem entsprachen, was sie Karl beschrieben hatte, und die ihr, zu ihrem großen Erstaunen, nicht einmal schlecht standen …
Als Stéphanie am Mittwochmorgen in den Umkleideraum kam, trug sie ein Lederkostüm; ihre Kolleginnen geizten nicht mit Komplimenten. Errötend schlüpfte sie in die übliche Bluse, sie fühlte sich irgendwie anders als sonst und vergaß absichtlich die beiden obersten Knöpfe zu schließen.
Im Zimmer der Oberschwester erfuhr sie, dass Karl Bauer, der Patient von Zimmer 221, in die Chirurgie gebracht und an den Augen operiert werden sollte.
Sie traf einen freudestrahlenden Karl an.
»Stellen Sie sich vor, Stéphanie, ich werde endlich wieder sehen können!«
Stéphanie schluckte schwer. Sehen, schön und gut, aber nicht sie! Das wäre eine Katastrophe, das Ende dieses Traums, der Tod ihrer Beziehung …
»He, he Stéphanie, hören Sie mich? Sind Sie noch da?«
Sie zwang sich, fröhlich zu klingen.
»Ja, ich höre Sie. Es würde mich freuen, wenn Sie wieder sehen könnten. Unglaublich freuen. Wirklich. Für Sie.«
Und zu sich selbst sagte sie: »nicht für mich«.
Sie wollte aber um keinen Preis, dass er ihre Verbitterung spürte, und gab sich alle Mühe, Karls naive Begeisterung zu teilen.
Nachmittags, um vier Uhr, als sie Dienstschluss hatte, brachte man Karl zur Anästhesie in den Operationssaal.
Am Donnerstag, nach einer unruhigen Nacht, machte sie sich bedrückt auf den Weg ins Krankenhaus.
Es regnete.
Paris wachte am frühen Morgen lärmend aus seiner nächtlichen Erstarrung auf. Die Straßen gehörten den Riesen, die sich tagsüber verbargen, den Lastern und Müllwagen. Fahrzeuge, die sie im Vorbeifahren bespritzten.
Die Sonne schien nicht heller als der Mond. Unter den vibrierenden Brücken der Hochbahn ging sie im Trockenen. »Was soll’s!«, murmelte sie vor sich hin. »Er wird fassungslos sein, wenn er mich sieht, ganz gleich, ob ich trocken oder nass bin! Also muss ich mich auch nicht zurechtmachen.« Während sie auf das glänzende Straßenpflaster blickte, dachte sie, dass sie von jetzt an wieder in ihren unattraktiven Körper zurückkehren würde, ihren Körper, der niemandem gefiel. Ein kurzer Traum, ihre Schönheit! Ein Picknick im Grünen! Die Auszeit von ihrer Hässlichkeit hatte nicht lange gewährt …
Zugleich machte sie sich Vorhaltungen, dass sie traurig war. Wie egoistisch! Statt an ihn zu denken, an sein Glück, dachte sie nur an sich selbst. Eine armselige Liebende, eine übelwollende Frau und eine schlechte Krankenschwester, sie war ein Ausbund an Fehlern. Genau genommen ein einziger Fehler.
Erschöpft, kraftlos stieß sie die Krankenhaustür auf, mit hängenden Schultern und niedergedrückt von einer, wie ihr schien, hoffnungslosen Niedergeschlagenheit.
Noch nie war ihr der finstere Flur, der zu Zimmer 221 führte, so lang vorgekommen.
Draußen prasselte der Regen schräg gegen die Fensterscheiben.
Als sie über die Schwelle trat, fiel ihr sofort auf, dass Karls Augen noch immer verbunden waren. Als sie näher kam, fuhr er zusammen.
»Stéphanie?«
»Ja. Wie geht es Ihnen?«
»Ich glaube, die Operation ist misslungen.«
Das Blut schoss ihr in die Ohren. Sie war glücklich, er würde sie nicht sehen, niemals! Jetzt war sie bereit, ihm ihr ganzes Leben zu widmen, sofern er es wünschte. Ja, sie wollte für immer die Krankenschwester dieses Mannes werden, vorausgesetzt, er sagte ihr in seiner Blindheit hin und wieder, wie schön sie war.
In den folgenden Stunden mobilisierte sie ihre ganze Energie, um ihn aufzuheitern, die Energie einer Frau, die einen Fehlschlag erlitten und wieder Hoffnung gefasst hatte. Dank dieser uneingeschränkt positiven Haltung war sie ihm über eine Woche lang eine wertvolle Stütze.
Eines Tages – es war ein Mittwoch – seufzte er:
»Wissen Sie, worunter ich hier am meisten leide? Dass ich keine Frauenschuhe mehr höre.«
»Das erlauben die Vorschriften nicht.«
»Wie soll ich je wieder gesund werden bei solchen Vorschriften! Das Geräusch von Pantoffeln und Holzpantinen trägt nicht zu meiner Genesung bei. Ich möchte nicht nur wie ein menschliches Wesen behandelt werden, sondern auch wie ein Mann.«
Ihr wurde mulmig, denn sie ahnte, dass sie es nicht übers Herz bringen würde, ihm abzuschlagen, worum er sie gleich bitten würde.
»Bitte, Stéphanie, könnten Sie die Vorschriften nicht für ein paar Minuten vergessen und für mich, nur für mich, Ihre Frauenschuhe tragen anstelle Ihrer Arbeitsschuhe?«
»Aber … aber …«
»Wird man Sie deswegen feuern?«
»Nein …«
»Ich bitte Sie inständig: Machen Sie mir diese Freude.«
»Ich werde darüber nachdenken.«
Stéphanie dachte in der Tat nach, jedoch vor allem darüber, welche Schuhe sie tragen könnte. Mit ihren üblichen Sportschuhen würde sie Karl kaum glücklich machen.
Während ihrer Arbeitspause erkundigte sie sich bei den besonders schicken Kolleginnen, die ihr einige Geschäfte nannten.
Da die Krankenschwestern mehrheitlich aus Martinique stammten, begab sich Stéphanie nach Dienstschluss in den Untergrund, nahm die Metro und fand sich im Norden von Paris wieder, in Barbès, dem afrikanischen Viertel der Hauptstadt, wo es in den Schaufenstern in Hülle und Fülle schmale, elegante Schuhe zu moderaten Preisen gab.
Sie war mehrmals nahe daran kehrtzumachen, da sich manche Geschäfte mit ihren aufreizenden, aggressiven Kleidern vulgären Zuschnitts eindeutig an Prostituierte wandten.
Sie ging, wie man ihr geraten hatte, in den »Grand Chic parisien«, ein Geschäft, das mit seiner Neonbeleuchtung, seinen aufgetürmten Schuhschachteln, seinen ramponierten, zerschlissenen Sitzbänken und dem zusammengestückelten Linoleumboden seinem Namen nicht mehr ganz gerecht wurde.
Obgleich zum Kauf entschlossen, war sie so wenig darauf erpicht, diese hochhackigen Dinger anzuprobieren, wie bei den Hirten in den Landes Schafe zu hüten. Mit Hilfe der Verkäuferin fand sie dann doch noch eine Absatzhöhe, die es ihr erlaubte, sich halbwegs sicher zu bewegen, und beschloss, zwei Paar zu kaufen.
»Was halten Sie von diesen hier?«
Stéphanie ging in dem besagten Paar kurz auf und ab.
»Nein, die gefallen meinem Mann bestimmt nicht.«
»Mag er keine Lackschuhe?«
»Er ist blind. Nein, ich meine eher, wie sie sich anhören … bei denen hier denkt man an die Schuhe von einem Kommunionkind … meine müssen sich sexy anhören.«
Erfreut brachte die Verkäuferin einige elegant geschwungene Modelle.
»Genau, die sind es«, sagte Stéphanie, verblüfft, wie perfekt Laufgeräusch und Form übereinstimmten. »Jetzt brauche ich nur noch die richtige Farbe.«
»Die Farbe ist kein Problem, die sehen ja nur Sie.«
Daran hatte Stéphanie nicht gedacht, und so entschied sie sich für ein Modell, das sie in zwei Farben kaufte, in Rot und in Schwarz. Bei den karmesinroten Pumps allerdings zögerte sie kurz. Sollte sie diese Schuhe wirklich nehmen, wann würde sie die je tragen? Aber dank Karl gönnte sie sich dieses Vergnügen, freute sich wie ein kleines Mädchen, das davon träumt, in die verführerischen Kleider seiner Mutter zu schlüpfen.
Am Donnerstag verstaute sie ihre Einkäufe in einer alten Sporttasche und begab sich ins Krankenhaus.
Um zehn Uhr zehn, als sie sicher war, dass kein Arzt mehr vorbeikommen würde, flüsterte sie Karl ins Ohr:
»Ich habe meine Schuhe mitgebracht.«
Sie ging noch einmal hinaus, stellte ihre Pantinen so hin, dass sie, falls man sie störte, schnell hineinschlüpfen konnte, und zog die schwarzen Pumps an.
»Na, dann wollen wir mal!«
Sie ging zum Bett und begann mit ihrer Arbeit. Die spitzen Absätze ihrer Schuhe klapperten energisch über den Boden, zitterten, wenn sie stehen blieb, oder glitten sanft dahin.
Karl strahlte von einem Ohr zum anderen.
»Wie wunderbar.«
Plötzlich verspürte Stéphanie Lust, das karmesinrote Paar auszuprobieren.
»Warten Sie, ich habe noch andere dabei. Sie unterscheiden sich nicht groß, aber …«
Diesmal zog sie, nur für sich, die Schuhe aus rotem Ziegenleder an und fuhr amüsiert und beschwingt mit ihrer Arbeit fort.
Unvermittelt fragte Karl:
»Ist der Riemen schmaler?«
»Nein.«
»Sieht man mehr von den Füßen? Sind sie weiter ausgeschnitten?«
»Nein.«
»Sind sie aus Schlangenleder?«
»Nein.«
»Und was für eine Farbe haben sie? Sind sie vielleicht zufällig rot?«
Stéphanie bejahte verblüfft. Bei dem Autounfall war nicht nur Karls Sehnerv beschädigt worden, er trug auch noch einen dicken Verband über den Augen. Wie also …
Fast erschrocken eilte sie zur Tür, zog die Stöckelschuhe aus, die Arbeitsschuhe wieder an und verstaute die beiden neuerworbenen Paare in ihrer Tasche.
»Danke«, flüsterte Karl, »Sie haben mich verwöhnt.«
»Wie haben Sie das erraten?«
»Ich konnte den Unterschied zwar nicht sehen, aber Sie konnte ich spüren. Sie waren ganz anders in diesen Schuhen: Sie haben sich anders bewegt, haben sich in den Hüften gewiegt. Ich wette, das ist das Paar, das Sie anziehen, wenn Sie Ralf gefallen wollen. Stimmt’s?«
»Hm …«
»Ich mag auch Ihre Stimme sehr, sie ist voll, wohlklingend und sinnlich. Seltsam, eigentlich haben eher schwarze Frauen eine so kehlige Stimme. Sie sind doch nicht schwarz, oder?«
»Nein, aber ich habe einiges gemeinsam mit meinen Kolleginnen aus Martinique.«
»Ja, auch das höre ich. Ein kräftiges breites Becken, eine göttlich glatte Haut. Oder täusche ich mich?«
»Woher wissen Sie das?«
»Ihr wiegender Gang in den Pumps und, wie gesagt, Ihre Stimme. Sehr schlanke Frauen haben selten eine hübsche Stimme. Als bräuchte eine volle Stimme einen entsprechenden Resonanzkörper … und ein breites Becken, damit sie gut sitzt, harmonisch klingt … Sagt man nicht von manchen Stimmen, sie seien voluminös? Wenn Stimmen das sind, dann auch die Frauen, denen sie gehören. Einfach wunderbar!«
»Sie glauben, was Sie mir da erzählen?«
»Aber natürlich! Eine Stimme braucht Fülle und Klang. Und wenn keine Fülle da ist und kein Resonanzkörper, bleibt die Stimme trocken. Wie die Frau. Oder?«
»Als ich Ihre Geliebten neulich sah, dachte ich, Sie schwärmen nur für schlanke Frauen.«
»Das hat sich so ergeben: Ich bin Fotograf von Beruf und arbeite für meine Modeaufnahmen oft mit Models zusammen. Aber ich liebe Frauen so sehr, dass ich sie liebe, wie sie sind, ganz gleich ob schlank oder üppig.«
Da Freitag war, begann ein freies Wochenende für Stéphanie. Drei Tage ohne ihn. Wie sollte sie das aushalten?
Sie beschloss, etwas für ihn zu tun: Opferte mehrere Stunden ihrer Zeit einem Schönheitssalon, leistete sich einen Friseurbesuch und schaffte es, einen Maniküre-Termin zu bekommen, und als sie wieder zu Hause war, öffnete sie ihren Wandschrank und nahm ihre Kleider sorgfältig unter die Lupe.
»Was würde ihm gefallen? Was nicht? Ich mache zwei Stapel.«
Sie zwang sich, nicht zu schummeln, leerte ihre Regale und lieferte am Samstag mehrere Säcke beim Roten Kreuz ab.
Am Sonntag beschloss sie, noch einmal nach Barbès zu fahren, um ihren leergeräumten Wandschrank neu zu bestücken und darüber nachzudenken, was Karl ihr zum Thema rundliche Frauen erzählt hatte. Wenn er sie mochte, dann sollte auch ihr es gelingen, ihm zu gefallen. Sie setzte sich in ein Straßencafé und betrachtete das Kommen und Gehen.
Welch ein Unterschied zwischen Barbès und Chinatown! Die beiden Stadtviertel trennten Welten! Wie sich allein schon die Straßen unterschieden, die asiatischen und die afrikanischen, und nicht nur durch ihre Gerüche – statt der grünen und gelben von Chinatown, einer Mischung aus Kräutern und Wurzeln, herrschten hier in Barbès die scharlachroten, würzigen, scharfen vor, Lammbraten und gegrillte Merguez. Und das Leben in den Straßen – überfüllte Trottoirs in Barbès, leere Straßen in Chinatown – und nicht zu vergessen: die Frauen … Die Frauen unterschieden sich durch ihre Größe, ihre Haltung, ihre Kleidung und ihr Verständnis von Weiblichkeit. Die in Barbès betonten ihre Formen durch Lycra oder hüllten sich in prachtvolle, weite, farbenfrohe Boubous, in denen sie noch üppiger wirkten, während sich die Frauen in Chinatown hinter weichen Westen verschanzten, jede Andeutung einer Brust unter einer geraden, männlichen Reihe von Knöpfen verbargen und ihre Hüften und Schenkel in langweiligen Hosen.
Die majestätischen afrikanischen Frauen in ihren weiten Roben oder hautengen Trikots zogen mit ihrem wiegenden Gang die begehrlichen Blicke der Männer auf sich. Nicht eine Sekunde zweifelten sie an ihren verführerischen Reizen. Nicht eine Sekunde sahen sie Augenzwinkern und Pfiffe als spöttisch an. Sie schlenderten ruhig, selbstsicher und stolz dahin, so überzeugt von ihrem unwiderstehlichen Charme, dass sie sich stets als Gewinner fühlten. Prachtvolle Geschöpfe in Stéphanies Augen, wie auch in denen der Männer ringsum.
Wenn ihre Mutter jetzt, in diesem Augenblick neben ihr säße, würde Léa sicher seufzen, als müsse sie eine Parade von Sturmpanzern über sich ergehen lassen, einen Besuch in einer Einrichtung für Behinderte oder ein Walfischballett. Stéphanie begriff, dass der abwertende Blick, den sie für sich selbst hatte, auf ihre narzisstische Mutter zurückging, die sich für den Inbegriff von Schönheit hielt. Und so hatte es auch nichts geholfen, dass sie von Léa weg ins chinesische Viertel gezogen war, wo sie sich unter hinreißenden, aber ätherischen Wesen wiederfand, die ihre Komplexe nur noch verstärkten.
Eine schmale, anämische Rothaarige ging vorbei, sie sah aus wie Léa. Stéphanie lachte: eine Libelle inmitten von Murmeltieren, nichts weiter! Hier, unter diesen Riesinnen mutete diese Schlankheit wie Dürre an, und der flache Bauch ließ die Knochen hervortreten.
Stéphanie kam zu dem Schluss, dass Attraktivität zutiefst relativ war, und kehrte beglückt vor sich hin summend nach Hause zurück. In der Avenue de Choisy, zwischen dem Tang Supermarkt und der Maison du Canard Laqué empfand sie sich angesichts ihrer Größe und ihrer Ausstrahlung mit einem Mal als durchaus passabel.
In ihrem Standspiegel entdeckte sie eine neue Frau. Ihr Abbild war sich, bis auf Kleidung, Frisur und Haltung, nahezu gleichgeblieben, aber ein inneres Leuchten, ein plötzliches Vertrauen hatten sie verändert und eine schöne, üppige, vollbusige junge Frau aus ihr gemacht. Sie dankte Karl und wartete ungeduldig auf den nächsten Tag.
Als Stéphanie am Montag durch die Tür von Zimmer 221 trat, war sie verärgert über die Ärzte dort – sie musste an sich halten, um sie nicht, wie vor ein paar Tagen die Geliebte, zu vertreiben, damit sie mit Karl allein sein konnte –, doch dann schrillte die Alarmglocke bei ihr: Etwas stimmte nicht. Stéphanie schlich in das Zimmer, drückte sich hinter den Assistenzärzten an die Wand und hielt sich, wie es einer Schwester ansteht, bescheiden im Hintergrund.
Professor Belfort, ein Mann mit behaarten Unterarmen und einem papierenen Mundschutz unter dem Kinn, schien beunruhigt. Nachdem er einige Male mit seinen Assistenten getuschelt hatte, zog er sich mit der gesamten Mannschaft zur Beratung zurück, da er, wie auch andere Kapazitäten in der Salpêtrière, besser mit Krankheiten umgehen konnte als mit Patienten.
Stéphanie folgte der Gruppe. Als man die Testergebnisse durchsprach, vernahm sie voller Entsetzen, wie ernst Karls Zustand war. Nach mehreren Wochen Krankenhausaufenthalt schätzten die Ärzte Karls Überlebenschancen nicht viel höher ein als zum Zeitpunkt seiner Einlieferung. Alle Hoffnung richtete sich jetzt auf die Operationen, die Professor Belfort in Kürze vornehmen wollte.
Stéphanie empfand nicht nur Schmerz, sondern auch tiefe Scham. In diesem Zimmer 221, in das sie Tag für Tag eilte, um dort höchst magische Momente zu erfahren, durchlebte Karl seine schlimmsten Augenblicke, vielleicht seine letzten. An sein Bett gefesselt, den Körper an Gummischläuche und Infusionsbeutel angeschlossen, allein in einem winzigen Raum, auf Gedeih und Verderb Assistenzärzten und Medizinstudenten ausgeliefert, die analysierten und kommentierten, war er seiner Freiheit beraubt, tat nichts mehr, erlebte nichts mehr, überlebte einzig mit Hilfe von Apparaten. Wie hatte sie so nur egoistisch sein können? Sie fand sich monströs, so unreif, eitel und kokett wie Karls Geliebte.
Um sich zu bestrafen, verzichtete sie an diesem Tag darauf, ihn zu besuchen, und sorgte dafür, dass sich statt ihrer jemand anders um ihn kümmerte.
Als Stéphanie am Dienstag wieder zu Karl kam, fand sie ihn sehr schwach. Schlief er? Sie trat näher und beugte sich über sein Gesicht, aber seine Nasenflügel zeigten keinerlei Reaktion. Schließlich flüsterte sie:
»Karl, ich bin’s, Stéphanie.«
»Ah, endlich …«
Seine Stimme kam von weither und zitterte vor Erregung. Er machte einen mitgenommenen Eindruck.
»Vier Tage ohne Sie, das ist zu lang.«
Obgleich er sie nicht sehen konnte, wandte er sich ihr zu.
»Ich habe die ganze Zeit an Sie gedacht. Ich habe auf Sie gewartet.«
»Jeden Tag?«
»Jede Stunde.«
Er klang ernst, aufrichtig. Sie begann zu weinen.
»Verzeihen Sie mir. Ich gehe nicht wieder weg von Ihnen.«
»Danke.«
Sie wusste, dass dieser absurde Dialog alles andere als professionell war: Sie durfte solche Versprechen nicht machen, und ein Patient durfte sie nicht einfordern. Allerdings dachte sie darüber nach, was sie eigentlich verband. Auch wenn man nicht sagen konnte, dass sie sich liebten, so konnte man zumindest annehmen, dass sie einander brauchten.
»Tun Sie mir einen Gefallen, Stéphanie.«
»Ja, Karl, was möchten Sie?«
»Nehmen Sie einen Spiegel und beschreiben Sie mir Ihre Augen.«
»Was für eine dumme Idee«, dachte sie bedauernd, »ich habe ja nur ganz gewöhnliche braune Augen.« Er hätte lieber ihre Mutter fragen sollen, die so stolz auf ihre blauen Augen war.
Stéphanie holte einen runden Vergrößerungsspiegel, setzte sich an sein Bett und betrachtete ihr Spiegelbild.
»Das Weiße in meinen Augen ist sehr weiß.«
»So wie Eiweiß?«
»Eher wie ein Emailweiß, es sieht tief aus, dickflüssig, wie eine Creme, die sich auf dem Herd verfestigt hat.«
»Sehr gut. Und weiter …«
»Ein schwarzer, leicht gekrümmter Rand grenzt die Iris ein und hebt die Farbnuancen hervor.«
»Ah … erzählen Sie schon.«
»Da gibt es Braun, Schwarzbraun, Beige, Gelbrot, Rot und hin und wieder ein Tüpfelchen Grün. Es ist alles viel farbiger, als man denkt.«
»Gott ist in den Details. Und die Pupillen?«
»Sehr schwarz, sie reagieren sehr stark. Werden rund, ziehen sich zusammen, erstarren und weiten sich. Sehr geschwätzig, diese Pupillen, sehr expressiv.«
»Phantastisch … Und jetzt Ihre Augenlider.«
Das Spiel ging weiter. Wimpern, Augenbrauen, Haaransatz, Ohrläppchen … Vom Blick eines Blinden geführt, entdeckte Stéphanie die unendliche Vielfalt der sichtbaren Welt, den ungeahnten Reichtum ihres Körpers.
Im Umkleideraum, sie war schon im Gehen begriffen, bemerkte sie vor ihrem Spind einen in elegantes blassgrünes Papier eingeschlagenen Strauß rosa- und malvenfarbener Pfingstrosen. Sie hob ihn auf, um ihn am Empfang abzugeben, da sie nicht eine Sekunde lang dachte, er könnte für sie sein, als eine Karte herausfiel, auf der in kunstvoller Schrift geschrieben stand: »Für Stéphanie, die wunderbarste aller Krankenschwestern«.
Wer verehrte sie so? Sie wühlte in dem Seidenpapier, in das der Strauß eingeschlagen war, tastete die Blüten ab, suchte zwischen den Stielen – vergeblich: Sie fand weder eine Unterschrift noch sonst einen Hinweis.
Zu Hause stellte sie das Geschenk, überzeugt, dass es von Karl war, ihrem Bett gegenüber in eine Vase, damit sie es betrachten konnte.
Am nächsten Tag erwartete sie bereits im Morgengrauen ein neuer Strauß vor ihrem Spind – wieder Pfingstrosen, doch diesmal gelb und rot. Die gleichen galanten Zeilen. Die gleiche Zurückhaltung vonseiten des Absenders.
Stéphanie begab sich umgehend nach oben in Zimmer 221, und während sie sich mit Karl unterhielt, versuchte sie herauszufinden, ob er tatsächlich der generöse Absender war. Da nichts in seinen Worten darauf schließen ließ, fragte sie unvermittelt:
»Sind Sie derjenige, bei dem ich mich für den Strauß gestern und heute bedanken muss?«
»Es tut mir leid, aber auf die Idee bin ich nicht gekommen. Nein, ich war es nicht.«
»Sie schwören es?«
»Zu meiner großen Schande.«
»Aber wer dann?«
»Was? Sie haben keine Vorstellung, wer Ihnen den Hof machen könnte?«
»Nicht die geringste.«
»Frauen sind verrückt! Man muss ihnen erst mühsam die Augen öffnen, damit sie uns sehen … Zum Glück für die Männer hat die Natur Blumen erfunden …«
Stéphanie schmollte, eher verstimmt als erfreut, zumal sie weiter mit Geschenken bedacht wurde: Jeden Tag lag ein neues Blumengebinde vor ihrem Spind.
Was wiederum dazu führte, dass Stéphanie unweigerlich ihre Augen aufmachte, sich die Männer an ihrem Arbeitsplatz in der Salpêtrière näher besah und erstaunt feststellte, dass viele ihr zulächelten.
Anfangs war sie erschrocken. Was? Sie war von so vielen Verführern umgeben, so vielen Männern, die sie ansahen, wie man eine Frau ansieht? Hatte sie diese Männer vorher etwa nicht bemerkt? Oder bemerkten diese Männer sie erst seit der Geschichte mit Karl? Erschüttert, nahezu schockiert, wusste sie zunächst nicht recht, ob sie sich weiter wie früher verhalten sollte – gesenkten Hauptes umhergehen, fremden Blicken ausweichen, zurückhaltend lächeln – oder doch lieber wie jetzt, zugewandt und entspannt, und auf diese Weise, wo auch immer sie hinging, über Blicke oder einen kleinen Schwatz auf vielfältige Weise mit anderen in Kontakt kam.
So sah sie dann auch in einer Gruppe von Sanitätern Raphaels Gesicht. Es ist schwierig zu sagen, was genau ihr zunächst auffiel: der brennende Blick des jungen Mannes oder die Pfingstrose, die er an seinem Kittel trug. Stephanie zuckte zusammen, sie begriff, dass dies ein Zeichen war und sie ihren namenlosen Verehrer gefunden hatte.
Sie verlangsamte ihren Schritt, schlug die Augen nieder, suchte vergeblich nach Worten, doch dann kamen ihr Zweifel, wahrscheinlich war alles nur ein Missverständnis, und so ging sie wieder schneller, lief davon.
Doch Raphael lief ihr immer wieder mit seinen Kollegen über den Weg; und wenn sie sich flüchtig ansahen, ging es ihr jedes Mal durch und durch.
Was tun? Wie sich verhalten? Stéphanie wusste nicht, wie sie reagieren sollte, zumal sie von dem jungen Mann nichts erwartete, er war ihr lästig. Konnte sie zu ihm gehen und ihm sagen: »Danke, aber jetzt ist es genug«?
Auf dem Weg zur Kantine erklärte ihr Marie-Thérèse, wie sie die Sache sah.
»Also, wenn du mich fragst, dieser Sanitäter, dieser Raphael, der verschlingt dich förmlich mit seinen Blicken.«
»Ach, wirklich? Er ist gar nicht mal so übel …«
»Machst du Witze? Er ist der hübscheste Kerl im ganzen Krankenhaus. Hat Wimpern wie eine ägyptische Prinzessin, so lang. Wir alle sind verrückt nach ihm. Wenn du ihn kriegst, werden wir grün vor Neid.«
»Ich? Wieso ich?«
»Die Blumen! Das weiß doch jeder inzwischen, Schätzchen. Er ist total verrückt nach dir.«
»Findest du ihn nicht zu jung?«
»Zu jung für wen? Er ist so alt wie du.«
Marie-Thérèse hatte recht. Seit Stéphanie entdeckt hatte, dass sie auf Karl, einen Mann von vierzig, durchaus verführerisch wirken konnte, hielt sie sich automatisch für älter, rechnete sich den Vierzigjährigen zu und hatte es daher zunächst auch für gewagt, ja, sogar anstößig gehalten, auf die Avancen eines jungen Mannes einzugehen.
Die Woche war hektisch. Stéphanie verbrachte nicht zu viel Zeit bei Karl, der sich einer weiteren Operation unterzogen hatte und rasch ermüdete; zudem hatte sie zufällig mitbekommen, wie er sich in Gegenwart anderer Krankenschwestern verhielt, und begriff, dass er, wenn sie bei ihm war, sämtliche Kräfte mobilisierte, um einen witzigen, geistreichen und verwirrenden Eindruck zu hinterlassen, und sich dabei überanstrengte. Außerdem fürchtete sie, Raphael auf den Fluren in die Arme zu laufen.
Obgleich sie freihatte, ging Stéphanie am folgenden Wochenende ins Krankenhaus. Sie zog ihre schönsten Sachen an, überzeugt davon, dass Karl dies wahrnehmen würde. Sie ging sogar so weit, ihre kürzlich erstandene Spitzenunterwäsche einzuweihen. Als sie jedoch einige der ehemaligen Geliebten im Wartezimmer entdeckte, machte sie auf dem Absatz kehrt, tauschte ihre indische Seidenbluse und ihren Jerseyrock gegen den vorgeschriebenen Kittel mit Hose aus und begab sich anschließend als Krankenschwester wieder nach oben.
Ihren verblüfften Kollegen erklärte sie, sie würde gegenüber, in der Abteilung für Augenheilkunde, Überstunden machen, und schlüpfte in einem unbeobachteten Moment rasch in Zimmer 221. Die letzte Geliebte war gerade gegangen, und Karl kam auf sie zu sprechen.
»Haben Sie bemerkt? Meine Besucherinnen werden von Woche zu Woche weniger. Solange ich gesund war und es mir gutging, sie über mich lachen konnten und ihren Spaß mit mir hatten, war ich ihnen wichtig.«
»Nehmen Sie ihnen das übel?«
»Nein. Zweifellos haben sie mir gefallen, weil sie sind, wie sie sind, nämlich gierig, darauf aus zu erobern, zu verführen und zu leben.«
»Wie viele sind denn heute gekommen?«
»Zwei. Nächste Woche ist es bestimmt nur noch eine. Sie haben sich arrangiert, sie, die sich nicht ausstehen können. Um auf dem Laufenden zu bleiben und mich so selten wie möglich besuchen zu müssen, wechseln sie sich jetzt ab. Lustig, was? Im Grunde können sie es kaum noch abwarten, sie wollen mich unbedingt beweinen, sie werden umwerfend sein auf meiner Beerdigung. Und aufrichtig. Doch, doch, wirklich.«
»Sagen Sie so etwas nicht, Sie werden wieder gesund! Wir werden kämpfen, gemeinsam, damit Sie wieder auf die Beine kommen.«
»Daran glauben meine Geliebten nicht …«
»Ich möchte mich über diese Frauen nicht einmal lustig machen. Es muss nicht schwer sein, sich in Sie zu verlieben: Sie sind so schön.«
»Männliche Schönheit allein ist wertlos. Nicht Schönheit macht einen Mann attraktiv, sondern dass er eine Frau davon überzeugen kann, dass sie an seiner Seite schön ist.«
»Blablabla!«
»Schönheit ist wertlos, ich sage es Ihnen. Ein perfektes Äußeres ist ausgesprochen lästig, es steht einem nur im Weg.«
»Nun machen Sie aber einen Punkt!«
»Also gut, passen Sie auf: Sie halten mich für gutaussehend, was empfinden Sie dabei? Vertrauen oder Misstrauen?«
»Verlangen.«
»Danke. Und jetzt seien Sie ehrlich: Vertrauen oder Misstrauen?«
»Misstrauen.«
»Da haben wir’s. Erstes Misstrauen: Die Leute glauben, dass ein gutaussehender Mann nicht aufrichtig ist. Zweites Misstrauen: Ein gutaussehender Mann weckt Eifersucht. Ich habe immer nur eifersüchtige Frauen gekannt.«
»Hatten sie Grund dazu?«
»Bei der ersten Eifersuchtsszene, ja. Dann aber nicht mehr. Da sie mich verdächtigten, noch bevor ich etwas getan hatte, sah ich mich gezwungen, Ihnen durch mein Verhalten recht zu geben.«
Sie lachten, entspannt.
»Ich werde Ihnen erklären, warum man nie eifersüchtig sein sollte, Stéphanie. Wenn Sie zu jemandem eine besondere Beziehung herstellen, ist diese Beziehung nicht austauschbar. Oder glauben Sie etwa, ich könnte ein Gespräch, wie wir es im Augenblick führen, mit jemand anderem haben?«
»Nein.«
»Also müssen Sie einsehen, dass es in unserer Beziehung für Sie keine Rivalin gibt.«
Sie lächelte, näherte ihre Lippen den seinen und flüsterte:
»Vielleicht keine Rivalin, aber einen Rivalen.«
Er erschauderte.
»Wen?«
»Den Tod. Er könnte mir eines Tages dieses Einzigartige nehmen, das ich mit Ihnen erlebe.«
»Dann verabscheuen Sie den Tod also?«
»Warum bin ich wohl Krankenschwester? Warum glauben Sie, kümmere ich mich so um Sie? Ich möchte Ihnen helfen, wieder gesund zu werden.«
Sie schwiegen eine ganze Weile, einander sehr nah. Dann küsste Stéphanie ihn hastig und eilte davon.
Am Montagmorgen wartete im Umkleideraum kein Blumenstrauß auf Stéphanie, sondern Raphael. Mit der verwegenen Kühnheit der Schüchternen in den Augen hielt er ihr unbeholfen einen Rosenstrauß hin.
»Guten Tag, ich heiße Raphael.«
»Ich weiß.«
»Ich bin derjenige, der … seit … Sie wissen schon …«
»Ja, ich weiß.«
Sie forderte ihn auf, sich auf die Bank neben den langen Ausguss zu setzen.
»Du bist schön.«
Als Stéphanie ihn hörte, wurde ihr bewusst, dass sie nicht mehr in der Welt der Blinden war; jemand, der sehen konnte, hatte ihr das gesagt, ein Sehender mit weit offenen Augen.
»Raphael, ich bin nicht frei.«
Das Gesicht des jungen Mannes nahm einen schmerzlichen Ausdruck an.
»Das kann nicht sein«, sagte er leise.
»Doch, ich bin nicht frei.«
»Heiratest du?«
Verblüfft, dass er sie so unumwunden fragte, entgegnete Stéphanie tonlos:
»Vielleicht. Es ist nichts geplant. Ich … Ich liebe ihn. Es … es ist wie eine Krankheit.«
Um ein Haar hätte sich Stéphanie verraten und von Karl erzählt, kam dann aber vorsichtshalber rasch wieder auf sich zu sprechen; ihr Kollege sollte nichts merken. Sie sagte:
»Da hast du’s, ich bin krank nach ihm. Ich weiß nicht, wann ich wieder gesund werde und ob überhaupt.«
Er überlegte. Suchte dann ihren Blick.
»Stéphanie, ich kann mir denken, dass ich nicht der Einzige bin, der an dir interessiert ist, ich vermute, dass es da auch noch andere gibt, wahrscheinlich ist die Welt voller Männer, die mit dir leben möchten. Trotzdem bin ich hierhergekommen, mit meinen Blumen, um dich zu fragen, ob ich nicht doch ein Chance habe, eine klitzekleine Chance.«
Stéphanie dachte an die zurückhaltenden ärztlichen Prognosen, an die Unruhe, die sie jeden Morgen überkam, wenn sie das Zimmer betrat, in dem Karl in seiner ganzen Hinfälligkeit lag … Außerstande weiterzusprechen, brach sie in Tränen aus.
Peinlich berührt rutschte Raphael auf seinem Platz hin und her, stammelte Stéphanies Namen und überlegte verzweifelt, womit er ihren Tränenfluss stoppen könnte. Unbeholfen legte er seinen Arm um ihre Schultern und forderte sie auf, sich an ihn zu lehnen. Sie schluchzte, und er lächelte, denn zum ersten Mal nahm er ihren Duft wahr und berauschte sich daran. Und Stéphanie, die an seine Brust gesunken war, bemerkte, dass er nicht wie die meisten Sanitäter nach kaltem Zigarettenrauch roch, sondern eine unglaublich weiche Haut hatte, die den verlockenden Duft von Haselnüssen verströmte. Verwirrt richtete sie sich auf. Versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen, sie dachte an die Operationen, von denen Professor Belfort gesprochen hatte, und stellte sich vor, wie sie Karl helfen würde, aufzustehen und seine ersten Schritte zu machen … Sie schüttelte den Kopf, sah ihrem seufzenden Gegenüber fest in die Augen und sagte:
»Vergiss mich.«
»Gefall ich dir nicht?«
»Du verstehst mich nicht, Raphael, du wirst mich nie verstehen!«
Als Stéphanie durch die Tür von Zimmer 221 trat, knöpfte sie ihren Kittel oben ein wenig auf und stellte fest, dass Karl immer bleicher und magerer wurde. Wie gewöhnlich ließ er sich nicht anmerken, was ihn bedrückte. Als sie ihm eine neue Urinflasche unter das Laken schob, erkannte sie seine Beine kaum wieder, so dünn waren Schenkel und Waden geworden. Wenn Professor Belfort ihn doch endlich operieren würde, es ging um sein Leben …
»Nun, Stéphanie, was ist, Sie erzählen gar nichts mehr von Ralf …«
»Es ist aus.«
»Umso besser, er war ein Idiot. Und wer ist Ihr neuer Freund?«
Am liebsten hätte Stéphanie laut gerufen: »Das sind Sie, Sie Dummkopf, ich liebe nur Sie, keiner bedeutet mir so viel wie Sie!« Aber sie wusste, dass sich das nicht mit ihrer Beziehung vereinbaren ließ, er hielt sie für unabhängig, erfüllt und glücklich. Und so antwortete sie:
»Raphael.«
»Was für ein Glück er hat, dieser Raphael! Weiß er das überhaupt?«
Stéphanie ließ noch einmal Revue passieren, was sie gerade mit Raphael erlebt hatte, und sagte:
»Ja, ich denke schon.«
Karl nahm diese Information zur Kenntnis und wusste, was er davon zu halten hatte.
»Umso besser. Ich möchte, dass Sie mir jetzt etwas versprechen, Stéphanie … wollen Sie das?«
»Ja.«
»Kommen Sie näher, ganz nah, diese Art Bitte kann ich nur flüstern und mich dabei besser an Ihrem Duft erfreuen.«
Stéphanie näherte ihr Ohr Karls feingeschwungenen Lippen und lauschte aufmerksam. Kaum war er fertig, protestierte sie:
»Nein! Ich will nicht! Sagen Sie so etwas nicht!«
Er insistierte. Sie legte ihr Ohr erneut an seine Lippen, und während ihr die Tränen über die Wangen liefen, nickte sie zustimmend.
Die Ärzte versuchten die entscheidende Operation. Stéphanie ging vor der Patientenschleuse auf und ab und flehte, obgleich sie nicht gläubig war, zum Himmel, er möge sie gelingen lassen. Professor Belfort kam händereibend aus dem Operationstrakt. Er sah zufrieden aus. Für Stéphanie ein gutes Zeichen.
Nach vier Tagen aber verschlechterte sich Karls Zustand. Er fiel während der Nacht ins Koma, und am Morgen des fünften Tages waren sich die Ärzte nicht mehr sicher, ob sie ihn noch würden retten können. Stéphanie versuchte, ihre Verzweiflung zu verbergen, biss die Zähne zusammen und kämpfte mit ihren Kolleginnen gegen den Tod an, der unaufhaltsam um Zimmer 221 schlich.
Am späten Nachmittag musste sie in eine Abteilung am anderen Ende des Krankenhausgeländes gehen.
Der Himmel war frühlingshaft blau, klar und wolkenlos. Frische Luft füllte ihre Lungen. Die Vögel jubilierten, als verkündeten sie eine frohe Nachricht.
Eine Glocke schlug zur halben Stunde.
Stéphanie ertappte sich dabei, dass sie noch immer hoffte. Sie beeilte sich, wollte schnell wieder auf die Intensivstation zurück.
Als sie dort ankam, spürte sie, dass etwas nicht stimmte.
Am Ende des Flurs schlug das Pflegepersonal die Tür zu seinem Zimmer zu und lief geschäftig hin und her.
Sie begann zu rennen und stürzte zu Karl hinein.
Er war soeben gestorben.
Sie lehnte sich gegen die Wand und sank langsam zu Boden. Blieb dort mit gespreizten Beinen sitzen, wortlos, stumm, tränenüberströmt.
Ihre Kollegen warfen ihr einen missbilligenden Blick zu: Ein Profi darf sich nie von seinen Gefühlen überwältigen lassen, andernfalls kann er seinen Beruf nicht mehr ausüben.
Erschüttert fielen ihr plötzlich Karls Worte an ihrem Ohr ein: Das Versprechen!
Sie sprang auf, rannte, sich die Augen trocknend, den Flur entlang, hinunter ins Erdgeschoss, in die Notaufnahme, direkt zu Raphael, der dort mit anderen Sanitätern zusammenstand und rauchte.
»Bist du fertig, hast du Dienstschluss?«
»In zehn Minuten.«
»Dann lass uns zusammen gehen! Gehen wir zu dir.«
Er war so überrascht, dass er nicht gleich reagierte. Sie verstand sein Zögern falsch und insistierte:
»Jetzt oder nie!«
»Dann jetzt!«, rief Raphael und schnippte seine Zigarette fort.
Er nahm sie bei der Hand und brachte sie zurück in den Umkleideraum. Auf dem Weg dorthin verspürte sie das Verlangen, sich zu erklären:
»Du musst verstehen, ich komme zu dir … weil … weil …«
»Ich hab verstanden. Du bist wieder gesund?«
»Ja, genau. Ich bin wieder gesund.«
Eine Stunde nach Karls Tod löste Stéphanie ihr Versprechen ein und gab sich Raphael hin. Sie liebte ihn ungestüm und leidenschaftlich. Nicht einen Augenblick lang kam Raphael auf den Gedanken, sie könnte noch Jungfrau sein. Aber während sie sich von Raphael umarmen ließ und er es war, dem sie ihre Beine öffnete, war es doch Karl, zu dem sie sagte: »Ich liebe dich.«