Ein perfektes Verbrechen
In einigen Minuten würde sie, wenn alles gutging, ihren Ehemann töten.
Hundert Meter unterhalb des Gipfels verengte sich der gewundene Pfad gefährlich. An dieser Seite fiel der Berg nicht mehr sanft ab, sondern endete jäh in einem Steilhang.
Ein falscher Schritt, und man stürzte in den Tod. Kein Baum, kein Busch, kein Felsvorsprung, an dem man sich hätte festhalten können; aus der Felswand ragten nur spitze Zacken, die einen Körper in Stücke reißen würden.
Gabrielle verlangsamte ihren Schritt und sah sich aufmerksam um. Niemand auf dem Pfad hinter ihnen, kein Wanderer in den angrenzenden Tälern. Nirgendwo ein Zeuge also. Nur eine Handvoll Schafe, die fünfhundert Meter südlich auf den Wiesen weideten und gierig mit gesenkten Köpfen fraßen.
»Na, meine Alte, müde?«
Sie verzog das Gesicht, als ihr Mann sie so nannte. »Meine Alte«, das sollte er lieber nicht sagen, wenn er seine Haut retten wollte!
Er hatte sich besorgt umgedreht, da sie stehen geblieben war.
»Halt noch ein bisschen durch. Wir können hier nicht stehen bleiben, es ist zu gefährlich.«
Gabrielle frohlockte innerlich bei jedem Wort des Mannes, der bald tot sein würde. »Wenn du wüsstest, wie recht du hast! Pass nur schön auf, sonst musst du noch dran glauben, mein Alter!«
Eine gleißende Sonne lastete bleiern auf ihnen und gebot den Almen Stille. Kein Windhauch streifte die Matten, als wollte das überhitzte Gestirn alles, was es berührte, Pflanzen wie Menschen, in eine mineralische Substanz verwandeln, alles Leben vernichten.
Gabrielle holte ihren Mann wieder ein und murmelte missmutig:
»Nur zu, weiter, es geht schon.«
»Bist du dir auch sicher, Liebling?«
»Wenn ich’s doch sage.«
Hatte er ihre Gedanken gelesen? Verhielt sie sich ungewollt anders als sonst? Sie musste ihren Plan um jeden Preis ausführen und versuchte daher, seine Bedenken mit einem Lächeln zu zerstreuen.
»Ich bin wirklich froh, wieder hier oben zu sein. Als Kind bin ich oft mit meinem Vater hierhergekommen.«
Er ließ seinen Blick über die schroff abfallenden Hänge gleiten: »Wow, wie klein man sich hier fühlt!«
Ihre innere Stimme keifte: »Gleich bist du noch kleiner.«
Sie setzten ihren Aufstieg fort. Er vorn, sie hinten.
Nur nicht die Nerven verlieren. Nicht zögern, ihn einfach stoßen, wenn es so weit war. Ohne Vorwarnung. Seinen Blick meiden. Die richtige Bewegung abpassen. Nachhelfen, nichts sonst. Gabrielle hatte den Entschluss schon seit langem gefasst, jetzt gab es kein Zurück mehr.
Er näherte sich unaufhaltsam der gefährlichen Biegung. Gabrielle ging schneller, ohne dass er es bemerkte. Sie folgte ihm hastig, angespannt, atmete kaum, durfte keinen Verdacht wecken und wäre beinahe auf einem losen Stein ausgerutscht. »Oh nein«, lachte es in ihr auf, »nicht du! Du wirst doch jetzt nicht verunglücken, jetzt, wo die Lösung so nah ist.« Ein kurzer Augenblick der Schwäche, aus dem sie eine ungeheure Kraft schöpfte; sie stürzte sich auf den Rücken vor ihr und verpasste ihm einen heftigen Stoß mit der Faust.
Der Mann strauchelte, verlor das Gleichgewicht. Sie trat ihn in die Waden und versetzte ihm so den Gnadenstoß.
Er knickte ein, verlor den Halt und stürzte ins Leere. Entsetzt drückte Gabrielle sich rückwärts an den Hang, um nicht selbst zu fallen und nicht zu sehen, was sie vorsätzlich getan hatte.
Es zu hören reichte …
Der Widerhall eines schon fernen Schreies, grauenvoll, angsterfüllt, dann ein Aufprall und noch einer, begleitet von Schmerzensschreien, gefolgt von weiteren Geräuschen, etwas zerbrach, zerriss, Steine rollten, und dann mit einem Mal Totenstille.
Endlich! Geschafft. Sie war frei.
Ringsum boten die Alpen ihre grandiose, friedfertige Landschaft dar. Am wolkenlosen Himmel glitt ruhig ein Vogel über die Täler. Kein Sirenenton, der sie anklagte, kein Polizist, der mit Handschellen kam. Die Natur grüßte sie, souverän, heiter, gab sich als verständige Komplizin.
Gabrielle löste sich von der Felswand und beugte sich über den Abgrund. Mehrere Sekunden vergingen, ehe sie den zerschmetterten Körper entdeckte. Er lag an einer anderen Stelle als erwartet. Es war vorbei! Gab hatte aufgehört zu atmen. Alles war ganz einfach. Sie empfand nicht die leiseste Schuld, nur Erleichterung. Im Übrigen fühlte sie sich dem Menschen, der dort unten lag, schon längst nicht mehr verbunden.
Sie setzte sich und pflückte eine blassblaue Blume, nahm sie in den Mund, kaute daran. Jetzt würde sie Zeit zum Faulenzen haben, zum Meditieren und musste nicht immerzu daran denken, was Gab tat oder ihr verheimlichte. Es war wie ein Neuanfang.
Wie viele Minuten mochte sie so dagesessen sein?
Der Klang einer Glocke, wenn auch durch die Entfernung gedämpft, riss sie aus ihrer Verzückung. Die Schafe. Ja, sie musste zurück nach unten, musste Theater spielen, Alarm schlagen. Verfluchter Gab! Kaum war er nicht mehr da, musste sie ihm schon wieder ihre Zeit opfern, sich für ihn anstrengen, sich zwingen! Würde er sie jemals in Ruhe lassen?
Sie richtete sich auf, beruhigt, stolz auf sich selbst. Das Wichtigste war getan, jetzt galt es nur noch ein paar Dinge zu erledigen, und sie hatte ihren Frieden.
Auf dem Rückweg rief sie sich alles noch einmal ins Gedächtnis. Es war seltsam, sich daran zu erinnern. Sie hatte den Plan in einer Zeit gefasst, als Gabs Gegenwart für sie zu einer Bürde wurde. In einer anderen Zeit. Einer Zeit, die bereits lange hinter ihr lag.
Sie ging leichten Schritts, schneller als sie hätte gehen sollen, denn wenn sie nach Atem rang, würden ihr die Leute eher Glauben schenken. Sie musste ihre Euphorie zügeln, ihre Freude unterdrücken angesichts dieser drei Jahre angestauter Wut, die jetzt der Vergangenheit angehörten. Drei Jahre, in der die tiefe, heftige Empörung sich wie ein Pfeil in ihr Hirn eingegraben hatte. Gab würde ihr nicht mehr mit diesem »meine Alte« kommen, sie nicht mehr mit diesem mitleidigen Blick kränken, den er bekam, sobald er die Hand nach ihr ausstreckte, würde nicht mehr vorgeben, sie seien glücklich. Er war tot. Hallelujah. Es lebe die Freiheit.
Nach zwei Stunden Fußmarsch bemerkte sie Wanderer und eilte auf sie zu.
»Hilfe! Mein Mann! Bitte helfen Sie mir! Hilfe!«
Es hätte nicht besser kommen können. Sie stürzte, als sie auf die Leute zulief, verletzte sich, brach in Tränen aus und erzählte, was vorgefallen war.
Ihre ersten Zuschauer gingen ihr problemlos auf den Leim und glaubten ihr jedes Wort, ihre Geschichte und ihren Kummer. Sie teilten sich in zwei Gruppen. Die Frauen begleiteten Gabrielle hinunter ins Tal, während die Männer sich auf die Suche nach Gab machten.
Im Hotel Bellevue war das Personal offenbar bereits telefonisch unterrichtet, denn alle erwarteten Gabrielle mit betretenen Mienen. Ein bleichgesichtiger Gendarm informierte sie, dass ein Hubschrauber mit Rettungshelfern an Bord auf dem Weg zum Unfallort sei.
Bei dem Wort »Rettungshelfer« erschauderte sie. Glaubten die Leute etwa, ihn lebend zu finden? Hatte Gab seinen Sturz womöglich überlebt? Sie dachte an seine Schreie, daran, wie sie verhallten, an die Stille, und ihr kamen Zweifel.
»Sie … Sie glauben, dass er vielleicht noch lebt?«
»Wir hoffen es, Madame. War er in guter physischer Verfassung?«
»In bester, aber er ist immerhin mehrere hundert Meter tief gestürzt und auf die Felsen aufgeschlagen.«
»Wir haben schon die erstaunlichsten Fälle erlebt. Solange wir nichts Genaues wissen, chère Madame, müssen wir optimistisch bleiben.«
Ausgeschlossen! Entweder war sie verrückt oder er. Sprach dieser Mann etwa so, weil er etwas wusste, oder war es nur das übliche stereotype Gerede? Zweifellos Letzteres … Gab konnte unmöglich überlebt haben. Und selbst wenn er wie durch ein Wunder mit dem Leben davongekommen war, musste er sich alle Knochen gebrochen haben, unter Schock stehen, durch innere und äußere Blutungen gelähmt sein; er war gewiss außerstande sich zu artikulieren! Sofern er nicht schon tot war, würde er in den nächsten Stunden sterben. Hatte er noch irgendetwas zu den Sanitätern sagen können, ehe man ihn hoch in den Hubschrauber zog? Hatte er sie womöglich verraten? Unwahrscheinlich. Hatte er überhaupt etwas mitbekommen? Nein. Nichts. Nein, nein und tausendmal nein.
Sie vergrub ihren Kopf in den Händen, und die Anwesenden dachten, sie verberge ihre Tränen und bete. In Wirklichkeit aber verfluchte sie den Gendarm. Obgleich sie sich ihrer Sache eigentlich sicher war, kamen ihr jetzt doch noch Zweifel, dank dieses Idioten. Und nun zitterte sie vor Angst!
Plötzlich legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Sie sprang auf.
Der Chef der Rettungsmannschaft sah sie an wie ein geprügelter Hund.
»Sie müssen jetzt stark sein, Madame.«
»Was ist mit ihm?«, rief Gabrielle voller Angst.
»Er ist tot, Madame.«
Gabrielle stieß einen markerschütternden Schrei aus. Zehn Personen eilten zu ihr, um sie zu beruhigen und zu trösten. Sie schrie und schluchzte ungeniert, ließ ihren Gefühlen freien Lauf. Uff, er hatte es nicht geschafft, würde nicht ein Sterbenswörtchen sagen, dieser Blödmann vom Dienst hatte ihr für nichts und wieder nichts einen Schreck eingejagt!
Das allgemeine Bedauern war groß. Was für ein erhebendes Gefühl, die Mörderin zu sein und für das Opfer gehalten zu werden. Sie gab sich der Situation voll und ganz hin, bis zum Abendessen, das sie selbstverständlich verweigerte.
Um einundzwanzig Uhr erschien nochmals die Polizei und erklärte, man müsse sie befragen. Sie hatte zwar damit gerechnet, gab sich aber überrascht. Noch vor ihrer Tat hatte sie sich genau überlegt, was sie aussagen würde. Sie durfte nicht den geringsten Zweifel an einem Unfall aufkommen lassen und musste den Verdacht, der üblicherweise zunächst auf sie, als Ehefrau des Toten fiel, zerstreuen.
Man nahm sie mit in ein rosa verputztes Polizeirevier, wo sie ihre Version der Ereignisse erzählte, während sie ein Kalenderblatt mit drei entzückenden Kätzchen betrachtete.
Obgleich die Männer, die sie verhörten, sich für diese oder jene Frage entschuldigten, antwortete Gabrielle so, als käme ihr selbst nicht eine Sekunde lang in den Sinn, dass man sie auch nur ansatzweise verdächtigen könnte. Alle waren von ihr eingenommen, sie unterzeichnete das Protokoll und kehrte ins Hotel zurück, um eine ruhige Nacht zu verbringen.
Am nächsten Tag trafen ihre beiden Töchter und ihr Sohn in Begleitung der jeweiligen Partner ein. Und mit einem Mal wurde ihr die Sache unangenehm. Angesichts des Kummers ihrer Kinder, die sie liebte, verspürte sie echte Gewissensbisse, sie bereute zwar nicht, Gab umgebracht zu haben, schämte sich aber, dass sie ihnen solchen Schmerz zufügte. Wie schade, dass er auch ihr Vater gewesen war! Zu dumm, dass sie ihre Kinder nicht von einem anderen Mann empfangen hatte, um ihnen die Tränen für diesen da zu ersparen … Nun ja, zu spät. Sie flüchtete sich in eine Art verstörter Stummheit.
Der einzige praktische Nutzen, den Gabrielle aus der Gegenwart ihrer Kinder zog: Sie nahmen ihr den Gang ins Leichenschauhaus ab und identifizierten den Toten. Was sie zu schätzen wusste.
Sie versuchten auch, Artikel in der Lokalpresse abzufangen, die über den tragischen Absturz berichteten, nicht ahnend, dass Schlagzeilen wie ›Tödlicher Unfall eines Wanderers‹ oder ›Opfer mangelnder Vorsicht‹ Gabrielle frohlocken ließen, da sie ihr nicht nur Gabs Tod, sondern auch ihre eigene Unschuld schwarz auf weiß bestätigten.
Ein Detail allerdings missfiel Gabrielle: Als ihre älteste Tochter mit rot verweinten Augen aus dem gerichtsmedizinischen Institut zurückkam, glaubte sie der Mutter ins Ohr flüstern zu müssen: »Weißt du, selbst im Tod ist Papa noch sehr schön.« Was fiel der Kleinen ein? Ob Gab schön war oder nicht, ging einzig sie etwas an. Und sonst niemanden! Hatte sie nicht schon genug gelitten deshalb?
Nach dieser Äußerung zog sich Gabrielle, bis nach der Beerdigung, in sich selbst zurück.
Als sie in ihr Haus nach Senlis zurückkehrte, fanden sich Nachbarn und Freunde ein, um Gabrielle ihr Beileid auszusprechen. Zunächst hocherfreut, empfand sie es bald als lästig, ein und dieselbe Geschichte wieder und wieder erzählen zu müssen und von ihren Besuchern die immergleichen echohaften Plattitüden zu hören. Ihr trauriger, resignierter Gesichtsausdruck verriet nicht, dass sie innerlich vor Zorn kochte: Wozu hatte sie sich ihres Mannes entledigt, wenn sie pausenlos von ihm reden musste? Zumal sie darauf brannte, endlich nach oben in den dritten Stock gehen zu können, um dort die Mauer zu durchbrechen, sein Versteck zu durchsuchen und herauszufinden, was sie so gequält hatte. Wenn man sie doch nur endlich allein ließe!
Ihr herrschaftliches Stadthaus, nahe dem Befestigungswall, glich mit seinen vielen, von Kletterrosen überwucherten Türmchen, Zinnen, Schießscharten, steinernen Balkons, Schmuckrosetten, geschwungenen Treppen und bunten gotischen Fenstern einem Märchenschloss. Mit der Zeit hatte Gabrielle anhand der Kommentare ihrer Besucher gelernt, den Grad ihrer Unbildung zu bestimmen. Sie unterteilte sie in vier Kategorien, vom Kulturbanausen bis zum Langweiler. Der Kulturbanause beäugte ihr Gemäuer feindselig und grummelte: »Ganz schön alt«; der Kulturbanause, der sich für kultiviert hielt, murmelte: »Mittelalter, oder?«; der wirklich kultivierte Kulturbanause aber ließ sich nicht täuschen: »Nachempfundenes Mittelalter, 19. Jahrhundert, stimmt’s?«; und zu guter Letzt rief der Langweiler: »Viollet-le-Duc!«, bevor er sich über jedes einzelne Bauelement ausließ, das der berühmte Architekt und seine Werkstatt verfälscht, wiederhergestellt oder erfunden haben konnten, und damit allen auf die Nerven ging.
Ein solcher Wohnsitz war nicht ungewöhnlich in Senlis, einer nördlich von Paris gelegenen Kleinstadt im Departement Oise, die auf ihrer Anhöhe zahlreiche historische Bauten versammelte. Neben Steinen aus der Zeit Jeanne d’Arcs und Gebäuden aus dem 17. und 18. Jahrhundert gehörte Gabrielles Haus zu den weniger stilvollen. Es war erst anderthalb Jahrhunderte alt, somit neueren Datums, und über seine Ästhetik ließ sich streiten. Dessen ungeachtet lebte Gabrielle, seit sie es von ihrem Vater geerbt hatte, zusammen mit ihrem Mann dort, und es belustigte sie, dass seine Mauern sie als »neureich« brandmarkten, zumal sie selbst sich nie für reich oder neu gehalten hatte.
Im dritten Stock dieses Hauses, das Alexandre Dumas und Sir Walter Scott geradezu entzückt hätte, befand sich ein Raum, der Gab gehörte. Nach der Hochzeit war man übereingekommen, dass er, obgleich er unter ihrem Dach wohnte, seine eigenen vier Wände haben sollte, die ausschließlich von ihm genutzt und ihm nicht von Gabrielle streitig gemacht werden konnten; sie hatte dort nur Zutritt, um Gab zu holen, wenn er sich verspätete, ansonsten musste sie ihnen fernbleiben.
Es gab dort nichts Außergewöhnliches – Bücher, Pfeifen, Landkarten, Globen –, und der Komfort beschränkte sich auf einige wenige ramponierte Ledersessel. In einer der dicken Wände allerdings befand sich eine von einer Klappe verschlossene Öffnung. Gab hatte vor zwanzig Jahren einige Ziegel entfernt und sie dort angebracht. Wann immer er etwas dahinter verstaute, verputzte er die Oberfläche anschließend neu, um die Nische vor fremden Blicken zu schützen. Aufgrund dieser Vorsichtmaßnahmen wusste Gabrielle, dass sie nicht neugierig sein konnte, ohne dass Gab ihr auf die Schliche kam. Und so hatte sie Gabs Geheimnis immer respektiert, zunächst aus Liebe und später aus Angst. Er machte sich oft einen Spaß daraus, sie auf die Probe zu stellen, und amüsierte sich auf ihre Kosten …
Jetzt aber hielt sie nichts mehr davon ab, die Wand zu durchbrechen.
In den ersten drei Tagen wollte Gabrielle weder zum Hammer noch zum Brecheisen greifen, es hätte sich nicht geschickt, davon abgesehen, dass sie in Anbetracht des Besucherstroms gar keine Zeit dazu hatte. Als am vierten Tag Telefon und Türglocke endlich verstummten, nahm sie sich vor, ihre Neugierde nach einem kurzen Besuch in ihrem dreihundert Meter entfernten Antiquitätengeschäft zu stillen.
Unmittelbar an der städtischen Ausfallstraße wies ein Schild mit der Aufschrift ›G. und G. de Sarlat‹ in goldenen Lettern dezent auf einen Antiquitätenhandel hin, wie man ihn in der Region schätzte, mit anderen Worten, auf einen Ort, an dem man sich sowohl nach größeren Stücken – Buffets, Tischen und Schränken – zur Möblierung weitläufiger Zweitwohnsitze umsehen konnte als auch nach Nippes – Lampen, Spiegeln und kleinen Figuren –, um bereits bestehende Interieurs auszuschmücken. Man war hier auf keinen besonderen Stil spezialisiert, die meisten aber waren vertreten, einschließlich geschmackloser Imitationen, vorausgesetzt, sie waren älter als hundert Jahre.
Gabrielle erkundigte sich zunächst bei den beiden Angestellten, welche Stücke während ihres verhängnisvollen Urlaubs in Savoyen verkauft worden waren, und suchte dann ihre Buchhalterin auf. Nach einer kurzen Unterredung machte sie einen kleinen Gang durch ihr Geschäft, wo sich, kaum war in den umliegenden Straßen publik geworden, dass sich die ›arme Madame Sarlat‹ dort aufhielt, die Klatschbasen eingefunden hatten.
Als Gabrielle unter ihnen auch Paulette entdeckte, zuckte sie zusammen.
»Mein armes Schätzchen«, rief Paulette aus, »so jung und schon Witwe!«
Paulette suchte nach einem Aschenbecher, um ihre von einem orangefarbenen Lippenstift verschmierte Zigarette abzulegen, wurde nicht fündig und trat sie mit ihrem grünen Absatz aus, stellte sich theatralisch in Positur und ging mit weitgeöffneten Armen auf Gabrielle zu.
»Mein armer Liebling, wie unglücklich ich bin, dich so unglücklich zu sehen.«
Gabrielle ließ sich zitternd umarmen.
Paulette war nach wie vor das einzige weibliche Wesen, das sie fürchtete, denn sie besaß die Gabe, in anderen zu lesen. Bei vielen als die Frau mit der bösen Zunge verrufen, vermochte Paulette mit einem Laserstrahl – ein durchdringender Blick aus vorquellenden Augen – in fremde Hirne zu sehen, um anschließend Sätze zu äußern, die den guten Ruf eines Menschen für immer ruinieren konnten.
In ihrer Umklammerung drohte Gabrielle an einigen der gelben, durch jahrzehntelanges Färben und Dauerwellen brüchig gewordenen Haarsträhnen Paulettes zu ersticken, hielt dann aber tapfer dem vor Make-up dunkel glänzenden Gesicht stand.
»Sag, hat die Polizei dich verhört? Sie haben dich gefragt, ob du ihn umgebracht hast, stimmt’s?«
»Da haben wir’s«, dachte Gabrielle, »sie ahnt bereits, dass ich es war. Sie verliert keine Zeit, geht gleich zum Angriff über.«
Gabrielle nickte und senkte den Kopf. Paulette reagierte mit einem Aufschrei:
»Diese Mistkerle! Dir so was anzutun! Dir! Ausgerechnet dir, du warst doch ganz verrückt nach deinem Gab, hast ihm dreißig Jahre lang die Füße geküsst! Hättest dich jeder Operation unterzogen, dich glatt in eine Maus oder einen Mann umwandeln lassen, hätte er dich drum gebeten! Diese Mistkerle! Wundert mich kein bisschen! Diese elenden Mistkerle! Weißt du, was die mir angetan haben, mir? Als ich meinen zweiten Jungen, den Romuald, noch bei mir hatte, musste ich eines Tages mit ihm ins Krankenhaus. Der Kleine war hingeknallt, als er aus der Badewanne stieg, und überall grün und blau; ja, und da kommt doch die Polizei in die Notaufnahme und fragt mich, ob ich den Jungen nicht misshandelt habe! Ja! Und dann haben sie mich mit aufs Revier geschleift! In Gewahrsam genommen! Mich! Ganze achtundvierzig Stunden lang. Mir, der Mutter, wollten sie was anhängen, wo ich mein Kind doch selbst ins Krankenhaus gebracht hatte! Diese Schweine! Und das Gleiche haben sie jetzt mit dir gemacht?«
Gabrielle begriff, dass Paulette sie nicht im Geringsten verdächtigte, sondern sich auf ihre Seite stellte. Selbst ein ehemaliges Opfer, zeigte sie ihr lediglich ihre Anteilnahme. Jede von der Polizei verhörte Frau wurde, analog zu ihrem eigenen Fall, unweigerlich zu einem unschuldigen Opfer.
»Ja. Sie haben mich noch am selben Abend verhört.«
»Diese Hunde! Und wie lange!«
»Mehrere Stunden!«
»Saubande! Mein armer Schatz, das macht einen fertig, was?«
Paulette zog ihre Freundin, der sie die gleiche innige Liebe entgegenbrachte, die sie für sich selbst empfand, erneut stürmisch an die Brust.
Erleichtert erlaubte ihr Gabrielle, noch einen Augenblick lang auf die Polizei zu schimpfen, ehe sie zurück nach Hause ging, um die Sache mit Gabs Versteck in Angriff zu nehmen.
Um zwölf Uhr mittags erklomm sie, mit dem entsprechenden Werkzeug in der Hand, die Stufen und begann, den Verputz abzuschlagen. Die Klappe sprang auf und gab einen Hohlraum frei, in dem sich vier übereinandergestapelte Schachteln befanden.
Gabrielle rückte einen Beistelltisch heran und stellte die Schachteln darauf. Wenn sie auch nicht wusste, was sie enthielten, so sagten sie ihr doch etwas: Es waren Blechschachteln für Konfekt, auf deren Etiketten, obgleich von der Zeit und der Feuchtigkeit stark mitgenommen, noch immer ›Madeleines de Commercy‹ zu lesen war, ›Bêtises de Cambrai‹, ›Coussins de Lyon‹ und der Namen eines anderen Naschwerks dieser Art.
Sie war gerade dabei, die erste Schachtel zu öffnen, als an der Haustür geläutet wurde.
Unverrichteter Dinge zog sie die Zimmertür hinter sich zu, wobei sie den Schlüssel im Schloss stecken ließ, und ging in der festen Absicht nach unten, sich des Störenfrieds schnell zu entledigen.
»Polizei, Madame! Dürfen wir eintreten?«
Auf der Außentreppe standen mehrere streng aussehende Männer.
»Selbstverständlich. Was wollen Sie?«
»Sind Sie Gabrielle de Sarlat, die Ehefrau des verstorbenen Gabriel de Sarlat?«
»Ja.«
»Wenn Sie uns bitte folgen wollen.«
»Weshalb?«
»Man erwartet Sie auf dem Polizeirevier.«
»Wenn man mich zum Unfall meines Mannes vernehmen will, so ist das bereits durch Ihre Kollegen aus Savoyen geschehen.«
»Es geht inzwischen um etwas anderes, Madame. Sie stehen im Verdacht, Ihren Mann getötet zu haben. Ein Hirte hat gesehen, wie Sie ihn in den Abgrund gestoßen haben.«
Nach zehn Stunden in Polizeigewahrsam war sich Gabrielle nicht mehr sicher, wen sie mehr verabscheute, den Kommissar oder ihren Anwalt. Den Kommissar hätte sie vielleicht noch entschuldigen können … Wenn er sie quälte, dann nur, weil er seine Arbeit tat, nicht mehr und nicht weniger, er war aufrichtig bemüht, sie als Schuldige zu überführen. Ihr Anwalt hingegen beunruhigte sie, denn er wollte wissen. Sie aber bezahlte ihn, damit er glaubte, nicht damit er wusste! Sie bezahlte ihn für seine juristischen Kenntnisse, seine Erfahrung vor Gericht, seine Fähigkeit als Verteidiger. Ob er die Wahrheit kannte oder nicht, war ihr einerlei.
Sobald sie allein waren, hatte sich Maître Plissier, ein braunhaariger, gutaussehender Vierzigjähriger mit wichtigtuerischem Gehabe, über sie gebeugt und ihr mit einer schneidenden Stimme, wie wir sie von heldenhaften Cowboys in synchronisierten amerikanischen Western kennen, gesagt:
»Ich möchte jetzt, dass Sie mir, einzig und allein mir, die Wahrheit anvertrauen, Madame Sarlat. Sie wird nicht nach außen dringen. Haben Sie Ihren Mann in den Abgrund gestoßen, ja oder nein?«
»Warum sollte ich das getan haben?«
»Antworten Sie mir nicht mit einer Frage. Haben Sie ihn gestoßen?«
»Wie ich bereits sagte: Warum sollte ich das getan haben? Man bezichtigt mich einer Tat, die keinerlei Sinn macht. Ich habe meinen Mann geliebt. Wir haben dreißig glückliche gemeinsame Jahre verbracht. Wir haben drei Kinder, die das bezeugen können.«
»Wir könnten auf Handlung im Affekt plädieren.«
»Affekt? Leidenschaft? Mit achtundfünfzig? Nach dreißig Jahren Ehe?«
»Warum nicht?«
»Wenn man sich mit achtundfünfzig Jahren noch liebt, Monsieur, dann weil man sich liebhat, man macht sich nichts mehr vor, das Ganze ist eine eher harmonische als leidenschaftliche Angelegenheit, ohne Exzesse, ohne Dramen.«
»Madame Sarlat, bitte erzählen Sie mir nicht, was ich zu denken habe, sagen Sie mir lieber, was Sie denken. Vielleicht waren Sie eifersüchtig.«
»Lächerlich.«
»Hat er Sie betrogen?«
»Ziehen Sie ihn nicht durch den Schmutz.«
»Wer beerbt Ihren Mann?«
»Niemand. Er war mittellos. Das ganze Vermögen gehört mir. Zudem hatten wir Gütertrennung.«
»Sein Name lässt immerhin auf eine gute Familie schließen …«
»Jawohl, Gabriel de Sarlat, so etwas beeindruckt die Leute. Sie glauben, ich hätte ein Vermögen geheiratet, dabei war es nur ein Adelsprädikat. Mein Mann besaß nicht einen Heller und hat nie wirklich gewusst, wie man zu Geld kommt. Unser Vermögen stammt von mir, genauer von meinem Vater, Paul Chapelier, dem Dirigenten. Durch das Hinscheiden meines Mannes verbessert sich meine finanzielle Lage nicht; sie verschlechtert sich höchstens. Er transportierte die Antiquitäten, die wir im Laden verkauften, für gewöhnlich mit seinem Lieferwagen, und wenn ich weitermachen will, muss ich eine Kraft zusätzlich einstellen.«
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
»Ich tue nichts anderes, Monsieur.«
»Maître …«
»Machen Sie sich nicht lächerlich. Ich habe keinerlei Nutzen durch den Tod meines Mannes. Für ihn wäre mein Tod vielleicht von Vorteil gewesen.«
»Hat vielleicht er versucht, Sie in dieser Absicht in den Abgrund zu stoßen?«
»Sind Sie verrückt?«
»Überlegen Sie. Wir könnten diese These glaubhaft vertreten. Auf dem Bergpfad beschließt er, sich Ihrer zu entledigen, um in den Besitz Ihres Geldes zu kommen. Sie verteidigen sich, stoßen ihn zurück. Aus Notwehr.«
»Gütertrennung! Er hätte nichts bekommen bei meinem Tod, nicht mehr als ich bei seinem. Warum erfinden Sie solche Szenarien?«
»Weil jemand Sie gesehen hat, Madame! Der Hirte, der dort seine Herde hütete, gibt zu Protokoll, dass Sie sich auf Ihren Mann gestürzt und ihn in die Tiefe gestoßen haben.«
»Er lügt.«
»Warum sollte er lügen? Was hätte er davon?«
»Also, das ist schon merkwürdig … Wenn ich Ihnen sage, dass es für mich keinerlei Grund gibt, meinen Mann, den ich liebe, zu töten, bezweifeln Sie das, dem Hirten hingegen glauben Sie unter dem Vorwand, dass er keinerlei Grund hätte zu lügen. Sie messen mit zweierlei Maß! Für wen arbeiten Sie eigentlich? Für den Hirten oder für mich? Wirklich unglaublich! Ich kann Ihnen hundert Gründe nennen, weshalb Ihr Hirte lügt: Er möchte sich interessant machen, der Held seines Kantons werden, sich durch mich an einer oder mehreren Frauen rächen, er möchte Unruhe stiften, aus purer Lust, Unruhe zu stiften! Wie weit war er überhaupt entfernt? Fünfhundert Meter? Achthundert Meter? Zwei Kilometer?«
»Madame de Sarlat, versuchen Sie jetzt nicht statt meiner das Plädoyer zu halten. Die Zeugenaussage des Hirten belastet uns schwer: Er hat Sie gesehen!«
»Ja und? Ich habe ihn nicht gesehen.«
Maître Plissier schwieg und sah Gabrielle eindringlich an, er setzte sich neben sie und strich sich sorgenvoll über die Stirn.
»Darf ich das als Geständnis betrachten?«
»Was?«
»Bevor Sie Ihrem Mann den Stoß versetzten, haben Sie sich umgesehen und niemanden bemerkt. Das genau haben Sie mir hiermit doch gesagt, oder?«
»Monsieur, ich versuche, Ihnen klarzumachen, dass ich mich nach dem Sturz meines Mannes umgesehen und laut gerufen habe, weil ich nach Hilfe suchte. Ihr großartiger Hirte hat sich weder gezeigt noch reagiert. Das ist doch irgendwie seltsam! Wenn er die Bergwacht alarmiert hätte oder zu meinem Mann gegangen wäre, dann vielleicht … Wenn er mich belastet, dann doch wohl eher, um sich selbst zu schützen, oder?«
»Wovor?«
»Unterlassene Hilfeleistung für eine Person in Gefahr. Ich spreche da primär von meinem Mann. Und in zweiter Linie von mir.«
»Keine schlechte Idee, um den Sachverhalt zu verdrehen, dennoch behalte ich diese Art der Argumentation mir vor. Wenn Sie sich so äußerten, wirkte das fragwürdig.«
»Ach ja? Man bezichtigt mich einer abscheulichen Tat, aber ich darf keinen zu schlauen Eindruck erwecken, wirklich reizend!«
Gabrielle tat verärgert, im Grunde aber war sie zufrieden. Sie wusste jetzt, wie sie ihren Anwalt manipulieren konnte.
»Ich werde ihn vor Gericht schleppen, diesen Hirten, und zwar höchstpersönlich!«
»Im Augenblick sind eher Sie die Person, gegen die ermittelt wird, Madame.«
»Ich bin stundenlang bergab gerannt, ehe ich auf Wanderer stieß und Hilfe holen konnte. Ihr Hirte, wenn er meinen Mann hat abstürzen sehen, warum ist er ihm da nicht zu Hilfe geeilt? Warum hat er niemanden benachrichtigt? Hätte er rechtzeitig gehandelt, wäre mein Mann vielleicht noch am Leben …«
Verärgert, dass sie die Arbeit ihres Anwalts erledigen musste, beschloss sie, sich aufs Weinen zu verlegen, und schluchzte gute zehn Minuten lang.
Als sie damit fertig war, entschied Maître Plissier sichtlich betroffen, ihren Worten fortan Glauben zu schenken. Sie aber verachtete ihn nur noch mehr für diesen plötzlichen Gesinnungswandel. Sich von ein paar Schluchzern so täuschen zu lassen, was für ein Dummkopf! Wenn Männer es mit einer resoluten Frau zu tun haben, sind sie im Grunde überall auf der Welt gleich hilflos.
Der Kommissar kam zurück und nahm sein Verhör wieder auf. Er stellte ihr die gleichen Fragen wie der Anwalt, und Gabrielle gab die gleichen Antworten, nur in einem weniger harschen Ton.
Da der Kommissar ausgefuchster war als der Anwalt und Motive materieller Art bereits ausgeschlossen hatte, kam er erneut auf die Beziehung von Gabrielle und Gab zu sprechen.
»Seien Sie aufrichtig, Madame Sarlat, wollte Ihr Mann Sie vielleicht verlassen? Hatte er eine Geliebte? Mehrere? War Ihre Ehe so intakt wie früher? Gab es nichts, das Sie ihm hätten vorwerfen können?«
Gabrielle begriff, dass ihr Schicksal von dieser Grauzone abhing, und entschied sich für eine Taktik, die sie bis zum Schluss beibehielt.
»Ich werde Ihnen die Wahrheit sagen, Herr Kommissar. Gab und ich waren das glücklichste Paar auf dieser Welt. Er hat mich nie betrogen. Ich habe ihn nie betrogen. Versuchen Sie jemanden zu finden, der das Gegenteil behauptet. Es wird Ihnen nicht gelingen. Nicht nur, dass ich meinen Mann mehr als alles auf der Welt geliebt habe, ich werde auch nicht über seinen Tod hinwegkommen.«
Wenn Gabrielle in diesem Augenblick gewusst hätte, wohin diese Verteidigungstaktik sie wenige Monate später führen sollte, vielleicht wäre sie nicht ganz so stolz auf ihren Einfall gewesen …
Zweieinhalb Jahre.
Gabrielle wartete zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft auf ihren Prozess.
Ihre Kinder versuchten mehrmals, eine vorläufige Freilassung unter Berufung auf die Unschuldsvermutung zu erwirken. Der Richter aber lehnte aus zwei Gründen ab, einem wesentlichen und einem unwesentlichen: Der erste war die belastende Zeugenaussage des Hirten, der zweite betraf die wachsenden Polemiken in den Zeitungen hinsichtlich der Laxheit von Richtern und Staatsanwälten.
Obgleich der Gefängnisalltag hart war, behielt Gabrielle ihre Zuversicht. So, wie sie darauf gewartet hatte, von ihrem Mann befreit zu werden, wartete sie jetzt darauf, dass man sie von dieser Anklage freisprach. Sie war schon immer geduldig gewesen – eine unerlässliche Eigenschaft, wenn man im Antiquitätenhandel arbeitete – und war entschlossen, sich durch dieses Missgeschick nicht entmutigen zu lassen.
In ihrer Zelle dachte sie oft an die Schachteln, die sie auf dem Beistelltisch zurückgelassen hatte, die Schachteln, die Gabs Geheimnis enthielten … Welche Ironie! Was hatte sie nicht alles getan, um an sie heranzukommen, und dann war sie, sie hatte die Hand bereits auf dem Deckel gehabt, davon abgehalten worden. Sobald die Richter sie reingewaschen hätten, würde sie dem Geheimnis dieser Konfektschachteln auf die Spur kommen. Als Belohnung sozusagen.
Maître Plissier zufolge ließ sich ihr Verfahren gut an: Die Ermittlungen verliefen zu ihren Gunsten; alle Zeugen, mit Ausnahme des Hirten, traten als Entlastungszeugen auf und saßen hinter der Bank der Verteidigung; und je weiter die Verhöre fortschritten, umso überzeugender wirkte Gabrielle auf die Anwesenden, vom Kommissar bis hin zum Untersuchungsrichter.
Da Gabrielle sich bestens aufs Lügen verstand, genügte es, die Wahrheit zu sagen. Das hatte sie von ihrem Vater, Paul Chapelier, gelernt, den sie als Kind auf seinen Tourneen begleitete. Wenn der talentierte Dirigent seine Musiker nicht selbst dirigierte, wohnte er anderen Konzerten bei. Aufgrund seiner Berühmtheit sah er es als seine Pflicht an, am Ende der Darbietung hinter die Kulissen zu gehen und die Künstler zu beglückwünschen. Bestrebt, die Kollegen, mit denen er bereits gespielt hatte oder noch spielen könnte, nicht zu kränken, äußerte er sich stets nur zu dem, was ihm gefallen hatte, er vermied negative Kritik, kaprizierte sich auf das Positive, und war auch nur ein winziges Detail des Lobes würdig, nahm er sich dessen an, unterstrich es, hob es hervor. Er log somit nie, es sei denn, weil er etwas bewusst nicht sagte. Die Musiker empfanden ihn als aufrichtig. Sie deuteten seine Worte nach Belieben. Die Selbstgefälligen sahen in ihm den leidenschaftlichen Bewunderer, und die Scharfblickenderen schätzten seine Höflichkeit. Paul Chapelier sagte mehr als einmal zu seiner Tochter: »Für einen guten Lügner ist mein Gedächtnis nicht gut genug.« Da er nur die Wahrheit sagte und es wohlweislich vermied, Ärger zu erregen, war es ihm gelungen, sich nie in Widersprüche zu verwickeln und in einem nichtsdestotrotz menschenfresserischen Milieu Freundschaften zu schließen.
Gabrielle machte während ihrer zweieinhalbjährigen Untersuchungshaft von seiner Methode Gebrauch. Wenn sie von Gab sprach, dann immer nur von der glücklichen gemeinsamen Zeit, der Zeit intensiver gegenseitiger Liebe. Er hieß Gabriel, sie Gabrielle; zusammen wurden sie Gab und Gaby. Die Zufälle des Lebens und das Standesamt machten ihnen ein seltenes Geschenk; nach ihrer Hochzeit konnten sie den, bis auf eine Silbe, gleichen Namen tragen: Gabriel(le) de Sarlat. Wie Gabrielle erklärte, drückte dieser gleichlautende Name die Kraft ihrer Zweisamkeit aus, die Beständigkeit ihrer Verbindung. Den Beamten, die bezahlt wurden, um sie anzuhören, erzählte Gabrielle von ihrer Liebe auf den ersten Blick für diesen jungen Mann, den sie für schüchtern hielt und der in Wirklichkeit nur gut erzogen war. Sie erzählte von ihrer langen Liebelei, von ihren Eskapaden und wie er schließlich bei ihrem Künstlervater, den er bewunderte, verlegen um ihre Hand anhielt; sie erzählte von der Trauungszeremonie in der Kirche La Madeleine in Paris, wo ein ganzes Symphonieorchester aufspielte, und beschwor, ohne dass man sie danach gefragt hätte, die unvermindert starke Anziehungskraft von Gabs makellosem, elegantem Körper, dem Fett und überschüssige Kilos auch jenseits der fünfzig nichts anhaben konnten, als sei Schlankheit eine aristokratische, gleichsam mit dem Adelsprädikat angeborene Qualität. Sie betete ihr Glück herunter wie einen endlosen Rosenkranz: die Kinder, die Hochzeiten der Kinder, die Geburten der Enkel und, ungeachtet der Zeit, die verging, ein Mann, innerlich wie äußerlich intakt und mit einem intakten Blick auf sie, stets um sie bemüht, ein Mann, der sie achtete und begehrte. Hin und wieder fiel ihr auf, dass sie bei ihren Zuhörern ein gewisses Unbehagen auslöste, eine an Eifersucht grenzende Irritation; bis der Untersuchungsrichter eines Tages ungehalten seufzte:
»Was Sie mir da erzählen, Madame, ist zu schön, um wahr zu sein.«
Sie betrachtete ihn mitleidig und murmelte:
»Sagen Sie lieber, es ist zu schön für Sie, Monsieur.«
Verlegen insistierte er nicht weiter. Zumal alle, die dem Ehepaar nahestanden – Kinder, Schwiegersöhne und Schwiegertöchter, Freunde und Nachbarn –, deren idyllische Liebe bestätigten. Um das Ermittlungsverfahren abzuschließen, bestand die Beschuldigte zweimal erfolgreich den Test mit dem Lügendetektor.
Die Haft hatte bei Gabrielle zur Vereinsamung geführt, der sie nur durch die Flucht in ihre Erinnerungen entkam. Daher nahm Gab einen immer wichtigeren und wahnhafteren Platz in ihrem neuen Leben als Gefangene ein. Entweder sprach sie über ihn, oder sie dachte an ihn. Gleich ob sie allein oder in Gesellschaft war, er war zugegen, er und nur er, freundlich, tröstlich. Treu.
Das Problem war, dass sie schließlich selbst glaubte, was sie sagte. Da sie die letzten drei Jahres ihres Lebens mit Gab verheimlichte und nur jene siebenundzwanzig glücklichen Jahre offenlegte, verstand Gabrielle immer weniger, was passiert war, was sie so verändert hatte. Sie konnte sich kaum noch an den »Auslöser« erinnern, an diesen Satz, der sie hatte aufhorchen lassen … Besser, sie dachte nicht mehr daran, wozu auch! Die Gaby, die aufgrund des »Auslösers« fähig gewesen war, ihren Mann zu töten, diese Frau, die Mörderin, durfte es bis zum Freispruch nicht mehr geben; und somit ertränkte Gabrielle sie in einem Brunnen des Vergessens, verdrängte alle Beweggründe, die sie veranlasst hatten, Gab umzubringen, und verbannte diesen Bereich aus ihrem Kopf.
Da sie fortgesetzt an Gab dachte, wurde sie wieder zu der liebevollen und geliebten Gabrielle, außerstande, Hand an ihren Mann zu legen. Wie eine Schauspielerin, die gezwungen ist, sich mit der Person, die sie verkörpert, auseinanderzusetzen, sich schließlich mit ihr identifiziert und atemberaubend echt am Set erscheint, trat Gabrielle bei ihrem Prozess als untröstliche Heldin auf, als Opfer einer infamen Beschuldigung.
Vom ersten Verhandlungstag an zeichnete sich ein Konsens zu ihren Gunsten ab. Am zweiten sprachen die Reporter bereits von einer unbegründeten Anschuldigung. Am dritten weinten wildfremde Menschen heiße Tränen in der letzten Reihe des überfüllten Gerichtssaals und ergriffen Partei für die zu Unrecht beschuldigte Frau. Am vierten erschienen ihre Kinder immer wieder in den diversen Fernsehnachrichten, um ihre Erschütterung und Empörung auszudrücken.
Gabrielle ging durch die Verhöre und wohnte der Befragung der Zeugen mit angespannter Aufmerksamkeit bei; sie achtete darauf, dass nichts, was sie oder die anderen sagten, ihrer Version widersprach. Man hätte glauben können, ein Komponist verfolge, mit der Partitur auf den Knien, gewissenhaft die Proben für die Aufführung seines Werkes.
Wie vorauszusehen, gab der Hirte während seiner Zeugenaussage ein überaus schwaches Bild ab. Sein Französisch war nicht nur rudimentär – und in diesem Land verraten eine fehlerhafte Syntax oder Ausdrucksweise mehr als nur mangelhafte Bildung, sie sind ein verbaler Angriff auf die gesamte Gesellschaft, kommen einer Verhöhnung des nationalen Sprachkults gleich –, und damit nicht genug, dieser Mensch beklagte sich auch noch ausgiebig darüber, dass er das Geld für den Fahrschein »rauf nach Compiègne« hatte vorstrecken müssen. Von Maître Plissier befragt, war er so ungeschickt einzuräumen, dass er Gabrielle de Sarlat »von ihrem Foto in den Zeitungen« her kannte. Und seine Begründung, weshalb er es unterlassen hatte, dem Verunglückten sofort zu Hilfe zu eilen, war schändlich: »Is doch klar, so einer is nach so ’nem Sturz nur noch Matsch, da muss man doch nich hin un nachsehn, ich bin doch nich blöd, ne, wirklich«.
Mit Ausnahme des Hirten bestätigten alle und alles Gabrielles Unschuld. Am vorletzten Tag ließ ihre Anspannung ein wenig nach. Deshalb hatte sie auch nicht damit gerechnet, dass die Aussage des Hausarztes der Familie sie derart erschüttern würde.
Dr. Pascal Racan, ein treuer Freund des Ehepaars Sarlat, erzählte einige harmlose Anekdoten aus dem Leben von Gab und Gaby, darunter auch folgende:
»Ich habe selten ein so liebevolles Paar gesehen. Wenn einer etwas unternahm, dann tat er das nicht für sich, sondern für den anderen. Gaby zum Beispiel wollte ihrem Mann weiterhin gefallen, trieb daher auch Sport und holte sich bei mir Ratschläge zur Ernährung ein. Gab, obgleich schlank, ja, hager, litt an Bluthochdruck und machte sich Sorgen; nicht wegen seiner Krankheit, die man mit Medikamenten gut in den Griff bekommt, sondern wegen der Nebenwirkungen, die sie haben. Wie Sie wissen, verringern Betablocker sowohl die Libido als auch den sexuellen Appetit. Gab sprach häufig mit mir darüber, da er fürchtete, seine Frau könne denken, er begehre sie nicht mehr. Was nicht stimmte, er verspürte nur seltener Lust. Ich habe nie einen Mann erlebt, den dies so beschäftigt hätte. Nie jemanden, der so sehr um seine Gefährtin bemüht war. In solchen Fällen denken die meisten Männer nur an sich selbst und an ihre Gesundheit, und wenn sie feststellen, dass ihr Verlangen nachlässt, kommt ihnen das durchaus gelegen, es verringert die Anzahl ihrer außerehelichen Beziehungen. Sie sind hocherfreut, dass sie weniger aus moralischen als vielmehr aus gesundheitlichen Gründen zur Tugendhaftigkeit angehalten sind. Gab hingegen dachte nur daran, wie Gaby dies aufnehmen würde.«
Als Gabrielle dieses ihr bisher unbekannte Detail hörte, begann sie hemmungslos zu weinen. Sie versprach, sich wieder zu fangen, was ihr jedoch nicht gelang. Daraufhin ersuchte Maître Plissier das Gericht, die Verhandlung zu unterbrechen. Seinem Ersuchen wurde stattgegeben.
Die Leute im Saal glaubten, den Grund für Gabrielles tiefe Erschütterung zu verstehen. Sie gestand Maître Plissier zwar nichts, bat ihn aber, sobald sie wieder sprechen konnte:
»Bitte, ich habe das Gefühl, ich versinke, ich halte das nicht mehr aus … Könnten Sie meine älteste Tochter wohl um einen Gefallen bitten?«
»Selbstverständlich.«
»Sie möchte mir heute Abend die vier Konfektschachteln ins Gefängnis bringen, die sich auf dem kleinen Beistelltisch im Zimmer ihres Vaters befinden. Sie wird verstehen, wovon ich rede.«
»Ich bin nicht sicher, ob sie Ihnen das im Besucherraum übergeben darf.«
»Oh, ich flehe Sie an, ich bin am Ende meiner Kräfte.«
»Aber, aber, ich bitte Sie, nur noch vierundzwanzig Stunden. Morgen ist der letzte Tag, der Tag der Plädoyers. Am Abend wissen wir Bescheid.«
»Ich weiß nicht, was morgen entschieden wird, und auch Sie wissen es nicht, trotz Ihrer Zuversicht und Ihres Talents. Bitte, Maître, ich kann nicht mehr, ich werde noch eine Dummheit begehen.«
»Ich weiß nicht, wie diese Konfektschachteln …«
»Bitte, ich bin am Ende, ich garantiere für nichts mehr.«
Er begriff, dass sie ihm ernsthaft drohte, sich umzubringen. Als er sah, in welcher Verfassung sie war, fürchtete er, sie könnte nicht durchhalten bis zum Ende des Prozesses, den er zu gewinnen glaubte – ein Meilenstein in seiner Karriere –, und er bekam Angst; er durfte jetzt keinen Fehler begehen und schwor, seiner Mandantin höchstpersönlich die Schachteln zu bringen, um die sie bat. Sei’s drum, er nahm das Risiko auf sich!
Zu seiner großen Überraschung, denn er war solche Gefühlsausbrüche von ihr nicht gewohnt, packte ihn Gabrielle bei den Schultern, umarmte und küsste ihn.
Die Verhandlung wurde wieder aufgenommen, aber Gabrielle hörte nicht mehr zu, sie dachte nur noch an die Aussage des Arztes, an die Schachteln und ihr Geheimnis, an den »Auslöser« und an das, was sie seit zweieinhalb Jahren verschwieg.
Als sie wieder im Polizeiwagen saß, der sie zurück ins Gefängnis brachte, streckte sie ihre Beine aus und dachte nach.
Sie hatte so viele Leute über sich und ihn reden hören, ohne dass diese wirklich etwas wussten, dass sie selbst ganz durcheinanderkam.
Warum noch hatte sie ihn umgebracht?
Wegen des »Auslösers« … Sollte sie sich etwa getäuscht haben?
Im Gefängnis bat sie um die Erlaubnis, ausnahmsweise duschen zu dürfen. Aufgrund ihrer guten Führung und der Nachsicht, mit der die Medien über ihren Fall berichteten, wurde ihrem Anliegen stattgegeben.
Sie stahl sich unter das nahezu kochende Wasser. Sich waschen! Sich reinwaschen von dem Unsinn, den sie in den letzten Tagen gesagt oder gehört haben mochte. Sich zurückbesinnen auf das, was passiert war, auf den »Auslöser« …
Den »Auslöser« hatte Paulette verursacht … Als die große schlaksige Frau mit den maskulinen Zügen sich mit ihrem Mann in Senlis niederließ, kam sie häufig in Gabrielles Geschäft, um Möbel und Dekorationsgegenstände für ihr neues Haus auszusuchen. Auch wenn Gabrielle Paulette in ihrer schillernd bunten, an einen brasilianischen Papagei erinnernden Kleidung und wegen ihrer Ausdrucksweise zunächst als vulgär empfand, hatte sie doch ihren Spaß an ihr als Kundin. Sie schätzte ihr loses Mundwerk, ihre freche Schlagfertigkeit und dass es ihr einerlei war, was andere dachten. Sie hatte sie mehrere Male vor ihren Angestellten oder vor entsetzten Kunden in Schutz genommen. Kurz, Paulette stand bei ihr hoch im Kurs, verfügte sie doch zudem über einen ausgeprägten Spürsinn für unsaubere Geschäfte. Misstrauisch und scharfblickend, machte sie Gabrielle nicht nur auf Leute aufmerksam, die mit unechten Opalen handelten, sondern auch auf eine Bande, die alte Kamineinfassungen klaute; vor allem aber kam sie mit einem einzigen Blick den Lastern und Geheimnissen ihrer Mitmenschen auf die Spur, obskuren Fällen von Verderbtheit, von denen Gabrielle entweder nichts wusste oder erst nach Jahren erfahren hatte. Zutiefst beeindruckt von Paulettes seherischen Fähigkeiten, saß sie oft und gern mit ihr zusammen im Laden.
Eines Tages, sie unterhielten sich gerade, bemerkte Gabrielle Paulettes finsteren Blick. Wie ein Vogel verfolgte sie unverwandt aus den Augenwinkeln jede einzelne Bewegung eines Mannes, der hereingekommen war. Das Objekt ihrer Aufmerksamkeit war Gab, den sie noch nicht kannte. Innerlich amüsiert und neugierig, was Paulette zu ihm sagen würde, verschwieg sie ihr, dass dieser Eindringling ihr vergötterter Ehemann war.
Auch wenn sie immerzu weiterplauderten, bemerkte Gabrielle sehr wohl, dass Paulette Gab nicht eine Sekunde lang aus den Augen ließ.
»Was denkst du?«, fragte Gabrielle unvermittelt und blinzelte in Gabs Richtung.
»Der da? Du liebe Güte. Ein ausgemacht falscher Fünfziger. Zu höflich, um ehrlich zu sein. Ein Heuchler vor dem Herrn, schlimmer geht’s nicht.«
Gabrielle war so verwirrt, dass es ihr die Sprache verschlug, bis Gab schließlich auf sie zugeeilt kam, sie küsste und Paulette begrüßte.
Als Letztere ihren Schnitzer bemerkte, reagierte sie umgehend und entschuldigte sich am nächsten Tag bei Gabrielle für ihre Äußerungen über Gab, doch zu spät: Der Wurm saß bereits im Apfel.
Von diesem Augenblick an sah Gaby Gab mit anderen Augen. Wenn Paulette dergleichen sagte, dann hatte sie ihre Gründe: Sie täuschte sich nie! Gaby beobachtete Gab plötzlich wie einen Fremden und bemühte sich, alles, was sie von ihm wusste oder zu wissen glaubte, zu vergessen. Und schlimmer noch, sie versuchte, Paulettes Urteil bestätigt zu sehen.
Was zu ihrer großen Überraschung nicht schwer war.
Gab de Sarlat war galant, höflich und stets hilfsbereit, er kleidete sich nachlässig wie ein Gentleman Farmer, ging regelmäßig in die Messe, neigte nicht sonderlich zu sprachlichen oder gedanklichen Exzessen und konnte ebenso faszinieren wie nerven. Konservativ in dem, was er fühlte, was er sagte und wie er sich gab – ja, selbst in seiner äußeren Erscheinung –, zog er die einen aus dem gleichen Grund an, wie er die anderen abstieß, von denen es allerdings nicht viele gab: Er sah perfekt aus, ideal.
Durch Paulettes unbarmherzigen Instinkt in den Geruch der Fragwürdigkeit gekommen, stellte Gab für Gabrielle mit einem Mal das gleiche Problem dar wie zwei, drei Möbel in ihrem Leben als Antiquitätenhändlerin: Original oder Imitation? Man konnte ihn ebenso für einen ehrenwerten, aufrichtigen, um seinen Nächsten besorgten Mann halten wie für einen Betrüger.
Nach einigen Wochen war Gabrielle davon überzeugt, dass sie mit einem Hochstapler zusammenlebte. Wenn sie Gabs Qualitäten der Reihe nach auflistete und die Karte dann umdrehte, entdeckte sie, was wirklich dahintersteckte. Seine ruhige Ausstrahlung? Der Panzer eines Heuchlers. Seine Zuvorkommenheit? Ein Weg, seine hyperaktive Libido zu kanalisieren und künftige Opfer anzulocken. Sein liebevoller Umgang mit Gabrielles Stimmungsschwankungen? Nichts als abgrundtiefe Gleichgültigkeit. Seine Liebesheirat, die gewagte Verbindung eines Adeligen mit einer Bürgerlichen? Schnöde Berechnung. Sein katholischer Glaube? Ein weiterer Tweedanzug unter dem Deckmantel der Ehrenhaftigkeit. Seine moralischen Werte? Worte, um seine Triebhaftigkeit zu verbergen. Plötzlich schöpfte sie Verdacht, vielleicht war seine Hilfe im Geschäft – die Möbel, die er transportierte, abholte und anlieferte – ja nur ein Alibi, dazu bestimmt, sich den nötigen Freiraum zu schaffen, um unauffälliger seine eigenen Wege gehen zu können? Und wenn er sich bei diesen Gelegenheiten mit seinen Geliebten traf?
Warum ließ sich Gabrielle nach siebenundzwanzig Jahren Liebe und Verlässlichkeit von Misstrauen vergiften? Die boshaften Äußerungen Paulettes erklärten nicht alles; zweifellos war es für Gabrielle mit zunehmendem Alter schwer, die Veränderungen zu akzeptieren, denen ihr Körper unterworfen war, sie kämpfte mit ihrem Gewicht, ihren immer tieferen Falten, fühlte sich häufig erschöpft, und an ihren früher so schönen Beinen platzten die Äderchen … Wenn sie so leicht an Gab zweifelte, dann auch, weil sie an sich selbst zweifelte, an ihrer Anziehungskraft. Sie ereiferte sich, weil er besser alterte als sie, weil er noch immer gefiel, weil ihm die jungen Mädchen spontaner zulächelten als die jungen Männer Gabrielle. In Gesellschaft, auf dem Marktplatz, am Strand oder auf der Straße nahmen ihn die Leute noch immer wahr, Gabrielle hingegen war durchsichtig geworden.
Vier Monate nach Paulettes »Auslöser« konnte Gabrielle Gab nicht mehr ertragen. Und auch sich selbst nicht: Jeden Morgen zeigte ihr der Spiegel eine Fremde, die sie verabscheute, eine füllige Frau mit dickem Hals, die Haut von blauroten Äderchen durchzogen, mit aufgesprungenen Lippen, schlaffen Armen und einem scheußlichen Wulst unter dem Nabel, der, selbst wenn sie hungerte, nicht kleiner wurde. Auch ihre Diäten trugen nicht dazu bei, sie heiterer zu stimmen. Sie machte sich nichts vor, so etwas konnte Gab nicht mögen! Wer könnte das schon? Niemand!
Und so empfand sie jede liebevolle Geste, jedes Lächeln, jede Aufmerksamkeit, jede Freundlichkeit oder Zärtlichkeit, alles, was Gab ihr entgegenbrachte, als eine Kränkung. Was für ein Heuchler! Paulette hatte den Nagel auf den Kopf getroffen: Er war scheinheiliger als scheinheilig, geradezu ein Musterexemplar. Einfach widerwärtig! Ein schmieriger Schönredner!
Ehrlich war er nur, wenn er sie »meine Alte« nannte, auch wenn er dies liebevoll tat. Das, versteh einer warum, das rutschte ihm eben so raus! Und wann immer dies geschah, war Gabrielle voller Hass und zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb.
Sie trug sich mit dem Gedanken an Scheidung. Doch wenn sie sich vorstellte, wie sie vor einem Anwalt oder ihren Kindern die Trennung rechtfertigen sollte, merkte sie, dass es ihr an triftigen Gründen mangelte. Sie würden protestieren: Gab ist wunderbar, wie kannst du nur auf einen so dummen Gedanken kommen? Ihre älteste Tochter würde sie, wie schon die eigenen Kinder, womöglich zum Psychiater schicken. Sie musste die Sache anders angehen.
Gabrielle beschloss, Beweise gegen Gab zu sammeln. »Männer«, hatte die keinen Widerspruch duldende Paulette erklärt, »muss man bis zum Äußersten treiben, um rauszukriegen, wie sie ticken.« Und so wechselte Gabrielle alle fünf Minuten ihre Meinung, wollte erst in dieses Restaurant, dann in jenes, änderte zigmal das Datum oder den Aufenthaltsort für ihre Ferien, ließ ihren Launen die Zügel schießen, um ihn auf Trab zu halten und wütend zu machen. Vergeblich, immer wieder gab er ihren Forderungen nach. Es gelang ihr höchstens, ihm einen Seufzer zu entlocken oder, wie an jenem Abend, als sie so unausstehlich war, in seinen Augen eine leichte Ermüdungserscheinung wahrzunehmen. »Was hat er eigentlich in der Hose?«, hätte Paulette gesagt. Diese Frage stellte sie sich jetzt. Im Bett tauschten sie seit einiger Zeit nur noch Zärtlichkeiten aus, das war alles. Gewiss, ihr Verlangen hatte nachgelassen, früher hatten sie noch und noch miteinander geschlafen, aber nach Jahrzehnten wieder damit anzufangen, war, wie seine Ferien am immergleichen Ort zu verbringen: langweilig. Auch wenn sie sich daran gewöhnt hatte, fragte sie sich doch, ob dieser Friede für ihn nicht eine andere Bedeutung hatte. Was war mit seinen Liefer- und Einkaufsfahrten, nutzte er sie womöglich, um sie zu betrügen? Und so bestand sie darauf mitzukommen. Er war begeistert und während der vielen hundert Kilometer, die sie in diesen Wochen gemeinsam zurücklegten, ein temperamentvoller Unterhalter. Zweimal schlug er ihr vor, anzuhalten und mit ihr zu schlafen, einmal hinten im Wagen und einmal mitten auf einer Wiese. Obgleich sie einwilligte, war sie am Boden zerstört. Das war der Beweis! Der Beweis, dass er auf seinen Fahrten für gewöhnlich seine sexuellen Bedürfnisse stillte.
Sie nahm von ihren gemeinsamen Reisen Abstand, wurde trübsinnig und immer ungeselliger, außer mit Paulette. Die niemals müde wurde, sich über diese hinterfotzigen Männer auszulassen.
»Heutzutage können diese Kretins ihren Frauen nicht mehr so leicht was vormachen. Ein Blick auf die Anrufliste, und sie wissen Bescheid. Ich warte nur, dass die Privatdetektive auf die Straße gehen und gegen die Einbußen protestieren, die sie im Geschäft mit dem Ehebruch durch die Handys haben.«
»Und wenn der Mann kein Handy hat?«, fragte Gabrielle und dachte dabei an Gab, der nicht wollte, dass sie ihm eines schenkte.
»Wenn ein Mann kein Handy hat, ist Vorsicht geboten! Höchste Vorsicht! So einer ist der König der Könige, der Kaiser der Abgefeimten, der Prinz der Betrüger! So einer arbeitet auf die alte Tour, der will nicht, dass man ihm auf die Schliche kommt, er benutzt Telefonzellen, da hinterlässt er keine Spuren. Er weiß, dass der Ehebruch nicht erst mit dem Handy erfunden wurde, und greift weiter auf seine jahrelang bewährten Tricks zurück. So einer ist der James Bond der illegitimen Begattung: Du kannst ihn jagen, kriegst ihn aber nicht. Weidmannsheil!«
Von da an entwickelte Gabrielle eine Obsession hinsichtlich des Verstecks im dritten Stock. Gabs Geheimnisse mussten dort schlummern, ebenso die Beweise für seine Verderbtheit. Wie oft stand sie nicht mit dem Werkzeug in der Hand davor und wollte die Wand durchstoßen; und jedes Mal hielt die Scham sie davon ab. Sie versuchte wiederholt, Gab zu beschwatzen, ihn mit einer Charmeoffensive dazu zu bringen, ihr sein Versteck zu öffnen; jedes Mal kam er mit einer neuen Ausrede: »Da ist nichts drin«, »Du wirst dich nur lustig machen über mich«, »Du findest es noch früh genug heraus«, »Hab ich etwa kein Anrecht auf meine kleinen Geheimnisse?«, »Es hat mit dir zu tun, aber ich möchte nicht, dass du es weißt«. All diese abschlägigen, einander widersprechenden Antworten verärgerten Gabrielle über alle Maßen, bis Gab eines Tages sagte: »Wenn ich gestorben bin, wirst du’s herausfinden, das ist dann immer noch früh genug.«
Diese Äußerung empörte sie! Was, sie sollte zehn, zwanzig, dreißig Jahre warten, um den Beweis zu haben, dass er sich sein Leben lang über sie lustig gemacht und sie ihr Leben mit einem hinterhältigen Aufsteiger verbracht hatte! Wollte er sie etwa provozieren?
»Du bist so still in letzter Zeit, meine Liebe«, sagte Paulette, als sie zusammen Tee tranken.
»Ich behalte meine Probleme für mich. Ich bin so erzogen. Mein Vater hat mir eingetrichtert, dass man nur positive Gedanken äußern soll; die anderen behält man lieber für sich.«
»Was für ein Blödsinn! Du musst dich öffnen, aus dir rausgehen, Schatz, sonst kriegst du noch Krebs. Ich werde nie Krebs kriegen, ich schimpfe und meckre den lieben langen Tag. Ist mir schnurzegal, ob ich die anderen verrückt mache oder nicht: Mir ist lieber, die anderen leiden als ich.«
Und so nahm Gabrielles Plan Gestalt an. Sie musste sich von allen Zweifel befreien, mit anderen Worten, Gab beseitigen. Ein Plan, den sie in den Alpen ausführen würde.
Mit noch feuchtem Haar wurde Gabrielle zurück in ihre Zelle gebracht und warf sich dort auf ihr Bett, um weiter ihren Gedanken nachzuhängen. Das also hatte sich in den letzten drei Jahren ihrer Ehe in ihrem Hirn abgespielt, das also verbarg sie vor allen, so also hatte ihr Leben sein Salz und seinen Sinn verloren und war zu einem nicht enden wollenden Albtraum geworden. Indem sie Gab tötete, hatte sie zumindest gehandelt, hatte dieser unerträglichen inneren Unruhe ein Ende gesetzt. Sie bereute es nicht. Doch die Aussage des Arztes heute Nachmittag hatte sie zutiefst betroffen gemacht: Sie hatte erfahren, warum Gabs Verlangen nicht mehr so stark wie früher war und wie er selbst darunter litt. Das hatte sie in den Grundfesten ihrer Überzeugung erschüttert.
Warum erfuhr sie erst jetzt davon? Sie hatte immer gedacht, er meide sie, um sich seine Kraft für seine Geliebten aufzusparen. Hätte dieser unverantwortliche Dr. Racan nicht früher mit ihr sprechen können?
»Gabrielle de Sarlat, bitte in den Besucherraum. Ihr Anwalt erwartet Sie.«
Es hätte nicht besser kommen können.
Maître Plissier hatte die vier Blechschachteln auf den Tisch gestellt.
»Hier! Und jetzt erklären Sie mir.«
Gabrielle sagte nichts. Sie setzte sich und öffnete begierig die Deckel. Ihre Finger durchwühlten die Papiere in den Schachteln, nahmen ein paar heraus, um sie zu entziffern, dann andere und wieder andere …
Nach einigen Minuten fiel Gabrielle, nach Atem ringend, kraftlos vom Stuhl. Maître Plissier alarmierte die Aufseherinnen, die ihm halfen, die Gefangene bequem hinzulegen, und dafür sorgten, dass sie wieder Luft bekam. Man brachte sie auf einer Bahre in die Krankenstation, wo man ihr ein Beruhigungsmittel verabreichte.
Als sie nach einer Stunde wieder normal atmen konnte, fragte sie nach ihrem Anwalt. Man sagte ihr, er sei mit den Schachteln fortgegangen, um sich auf die Verhandlung vorzubereiten.
Nachdem Gabrielle flehentlich um ein weiteres Beruhigungsmittel gebeten hatte, fiel sie in Ohnmacht, nur um nicht daran denken zu müssen, was die Blechschachteln enthielten.
Am nächsten Tag wurden die Plädoyers gehalten. Gabrielle glich nur noch einem schwachen Abbild ihrer selbst. Sie sah blass und müde aus, wirkte verstört, ihre Augen waren verweint, ihre Lippen blutleer. Hätte sie die Geschworenen milde stimmen wollen, sie hätte es nicht besser machen können.
Der Staatsanwalt hielt eine eher eigenwillige als harsche Anklagerede, die kaum beeindruckte. Anschließend erhob sich mit flatternden Ärmeln Maître Plissier wie ein Solist, den man für sein Bravourstück auf die Bühne gerufen hatte.
»Was ist geschehen? Ein Mann ist in den Bergen umgekommen. Lassen wir den Sachverhalt einmal beiseite und wenden uns den beiden konträren Äußerungen zu, aufgrund derer wir heute hier vor Gericht sind: Ein Unfall, sagt die Ehefrau des Toten. Ein Mord, behauptet ein Fremder, ein Hirte. Doch lassen Sie uns ein wenig Abstand nehmen, lassen Sie uns zurücktreten, weit, immer weiter, bis wir ungefähr da stehen, wo der Hirte stand, wenn es denn möglich ist, aus einer solchen Entfernung noch etwas zu erkennen, und suchen wir jetzt nach den Motiven für einen Mord. Es gibt sie nicht! Es fällt mir im Allgemeinen nicht leicht, meinen Anwaltsberuf auszuüben, denn ich muss Menschen verteidigen, gegen die alles spricht. Im Falle von Gabrielle de Sarlat aber spricht nichts gegen ihre Person, rein gar nichts! Es gibt keinerlei Motive. Weder Geld noch einen Ehekonflikt oder Untreue. Nichts spricht gegen sie. Doch einer klagt sie an. Ein Mann. Nun, ein Mann, der mit Tieren lebt, ein Bursche, der weder lesen noch schreiben kann, einer, der gegen das Schulsystem rebelliert, der unfähig ist, sich in die Gesellschaft einzugliedern, ein Einzelgänger. Kurz, dieser Hirte, ein Angestellter, dem ich leicht etwas zur Last legen könnte, da er von mehreren Arbeitgebern entlassen wurde, ein Arbeiter, der niemanden zufriedenstellt, ein Mann ohne Frau und Kind, kurz, dieser Hirte hat Madame de Sarlat gesehen. Aus welcher Entfernung? Weder aus zweihundert noch aus dreihundert Metern, was die Sicht jedes anderen bereits erschweren würde. Nein, er befand sich, wie die Rekonstruktion des Falles ergab, in einer Entfernung von anderthalb Kilometern. Seien wir doch einmal ehrlich, meine Damen und Herren, was genau sieht man aus einer Entfernung von eintausendfünfhundert Metern? Ich, nichts. Er, ein Verbrechen. Merkwürdig, nicht wahr? Umso mehr als er, der Zeuge dieses angeblichen Anschlags, dem Opfer nicht zur Hilfe eilt, nicht die Bergwacht ruft und nicht die Polizei. Und weshalb? Weil er, wie er behauptet, seine Herde nicht allein lassen kann. Wir haben es hier also mit einem Individuum zu tun, das zusieht, wie ein Mensch ermordet wird, aber an nichts anderes denkt als an das Leben seiner Tiere, die ihm wichtiger sind, obgleich sie doch nur am Grillspieß enden … Ich begreife diesen Mann nicht, meine Damen und Herren. Dies wäre nicht so gravierend, wenn er nicht mit dem Finger auf eine bewundernswerte Frau zeigte, eine unbescholtene Gattin, eine perfekte Mutter, und sie des Letzten, was sie gewollt hätte, beschuldigte, des Mordes an ihrem Gabriel, auch Gab genannt, der Liebe ihres Lebens.«
Er wandte sich abrupt der Geschworenenbank zu.
»Nun, Sie, als Geschworene, mögen jetzt vielleicht einwenden, dass der Schein bisweilen trügt! Selbst wenn jeder diese so starke und sichtbare Liebe bezeugen kann, wissen wir nicht, was in dem Paar vorging. Diese Frau, Gabrielle de Sarlat, war vielleicht krank vor Argwohn, Eifersucht und Zweifel. Wer kann schon beweisen, dass ihr Verhalten gegenüber ihrem Gatten nicht paranoide Züge trug? Zu all den Zeugenaussagen, die Sie hier gehört haben und die nicht im Geringsten Anlass zu einer solchen Vermutung geben, möchte ich, meine Damen und Herren, meine eigene hinzufügen. Wissen Sie, was diese Frau gestern Abend tat? Sie bat mich um einen Gefallen, den einzigen Gefallen in zweieinhalb Jahren Untersuchungshaft! Sie bat mich flehentlich, ihr vier Konfektschachteln zu bringen, Konfektschachteln, in denen sie seit dreißig Jahren die gemeinsamen Briefe und die gemeinsamen Erinnerungen an ihre Liebe verwahrte. Alles ist dort zu finden, angefangen bei den Theater- und Konzertkarten, über die Verlobungs-, Hochzeits- und Geburtstagsmenüs bis hin zu den kleinen Zetteln, die sie einander schrieben und morgens auf den Küchentisch legten – vom Gewöhnlichen bis zum Erhabenen, alles! Über dreißig Jahre lang. Bis zum letzten Tag. Dem Tag, an dem sie in ihre tragischen Ferien aufbrachen. Die Aufseherinnen werden Ihnen bestätigen, dass Madame de Sarlat anschließend stundenlang weinte, im Gedanken an den Mann, den sie verloren hat. Und nun frage ich Sie, und dies ist meine letzte Frage: Verhält sich so ein Mörder?«
Gabrielle brach auf ihrem Stuhl zusammen, während ihre Kinder und die empfindsameren Seelen im Publikum nur mühsam ihre Tränen zurückhalten konnten.
Richter und Geschworene zogen sich zur Beratung zurück.
Im Flur, wo sie neben Maître Plissier auf einer Bank wartete, dachte Gabrielle an die Briefe, in denen sie am Vorabend geblättert hatte. Den Brief, dem sie entnahm, dass Gab sie von Jugend an »meine Alte« genannt hatte. Wie konnte sie das nur vergessen, wie nur glauben, er hätte sie damit grausam verspotten wollen? Den Brief, in dem er sie fünfundzwanzig Jahre zuvor als »meine stürmische, wilde, geheimnisvolle, unberechenbare Frau« bezeichnete. Für »stürmisch und unberechenbar« also hielt er die Frau, die ihn töten sollte, wie recht er doch hatte, der Ärmste. Er hatte sie tatsächlich geliebt, wie sie war! Sie, mit ihrem aufbrausenden Temperament, ihrem Ärger, ihren Wutausbrüchen, ihren Depressionen, ihren Grübeleien, er, der so ruhig und friedlich war, dass ihn diese Gewitterstürme nur amüsierten.
Sie war also das Geheimnis ihres Mannes!
In Gedanken hatte sie ihre Liebe zerstört. Und ihn hatte sie, leider, nicht nur in Gedanken, in den Abgrund gestoßen!
Warum hatte sie Paulettes Äußerungen solche Beachtung geschenkt? Wie nur hatte sie sich auf das Niveau einer so abscheulichen Person begeben können, die einen so engen, boshaften Blick auf die Welt hatte? Nein, Paulette die Schuld zu geben wäre zu einfach. Sie war die Schuldige. Sie, Gabrielle. Sie und niemand sonst. Ihr stärkstes Argument, weshalb sie das Vertrauen in Gab verloren hatte, war: »Ein Mann kann unmöglich ein und dieselbe Frau über dreißig Jahre lang lieben.« Jetzt begriff sie, dass dies reine Projektion war und das Argument in Wahrheit hätte lauten müssen: »Ich bin außerstande, ein und denselben Mann über dreißig Jahre lang zu lieben.« Schuldig, Gabrielle de Sarlat ist schuldig! Die einzig Schuldige!
Klingeln. Unruhe. Aufregung. Die Verhandlung wurde wieder aufgenommen. Es war, als würde das Rennen nach einer Unterbrechung fortgesetzt.
Auf die Frage: »Sind die Geschworenen der Ansicht, dass die Angeklagte ihrem Mann vorsätzlich nach dem Leben getrachtet hat?«, antworteten die Geschworenen einstimmig mit »Nein«.«
Ein Gemurmel der Zustimmung ging durch den Saal.
»Somit wird kein Anklagepunkt gegen Gabrielle de Sarlat aufrechterhalten. Madame, Sie sind frei«, schloss der Richter.
Gabrielle erlebte alles, was nun folgte, in einer Art Nebel. Man umarmte sie, gratulierte ihr, ihre Kinder vergossen Freudentränen und Maître Plissier stolzierte auf und ab. Als Dank erklärte sie ihm, dass sie jedes einzelne Wort seines Plädoyers tief in sich aufgenommen habe: Eine so privilegierte und glücklich verheiratete Frau konnte unmöglich eine solche Tat begehen, dies war undenkbar. Insgeheim aber sagte sie sich, dass dies eine andere Frau war, eine Fremde, eine Person, die nichts mit ihr zu tun hatte.
Denen, die sie fragten, wie sie ihre Zeit in Zukunft zu verbringen gedenke, blieb sie die Antwort schuldig. Sie wusste, dass sie um einen wunderbaren Mann würde trauern müssen. War ihnen etwa entgangen, dass ihr vor zweieinhalb Jahren eine Verrückte den Mann weggenommen hatte? Würde sie ohne ihn weiterleben können? Diesen Akt der Gewalt überleben?
Einen Monat nach ihrer Freilassung verließ Gabrielle de Sarlat ihr Heim in Senlis Richtung Alpen. Sie mietete ein Zimmer im Hôtel des Adrets, unweit vom Hôtel Bellevue, wo sie das letzte Mal mit ihrem Mann abgestiegen war.
Am Abend schrieb sie an dem schmalen Kiefernholztisch neben ihrem Bett einen Brief:
Meine lieben Kinder,
auch wenn man mich in diesem Prozess für unschuldig erklärt und erkannt hat, dass ich einen so wunderbaren Mann, wie Euren Vater Gabriel, den einzigen Mann, den ich je liebte, unmöglich habe töten können, ist es mir umso unerträglicher, ohne ihn weiterzuleben. Bitte versteht meinen Schmerz. Verzeiht mir, dass ich Euch verlasse. Aber ich muss zu ihm.
Tags darauf wanderte sie hinauf zum Col de l’Aigle und sprang von dem Pfad, auf dem sie zweieinhalb Jahre zuvor ihren Mann in den Abgrund gestoßen hatte, in die Tiefe.