Die Träumerin von Ostende

Ich glaube, ich habe nie jemanden gekannt, der so anders war, als er zunächst wirkte, wie Emma van A. Bei unserer ersten Begegnung vermittelte sie den Eindruck einer fragilen, unauffälligen Frau, so farblos, spröde und durchschnittlich, dass man sie auf der Stelle hätte vergessen können. Doch eines Tages kam ich mit ihrer Wirklichkeit in Berührung, und rätselhaft, herrisch, brillant, widersprüchlich und beharrlich wie sie war, ließ sie mich nicht mehr los, nahm mich für immer im Gespinst ihres verführerischen Charmes gefangen.

Manche Frauen sind wie eine Falle, in die man gerät. Manchmal möchte man sich nicht einmal mehr daraus befreien. Emma van A. hält mich in einer solchen Falle gefangen.

 

Alles begann im März, einem kühlen, zögerlichen Monat März, in Ostende.

Ich hatte immer von Ostende geträumt.

Wenn ich reise, üben Namen eine stärkere Anziehungskraft auf mich aus als Orte. Höher als Kirchtürme, erklingen sie schon von fern, sind über Tausende von Kilometern zu hören, lösen mit ihrem Klang Bilder aus.

Ostende …

Konsonanten und Vokale zeichnen einen Plan, ziehen Mauern hoch, schaffen eine bestimmte Atmosphäre.

Trägt der kleine Marktflecken den Namen eines Heiligen, siedelt ihn meine Phantasie um eine Kirche herum an, erinnert sein Name an einen Wald – wie Boisfort – oder an Felder – wie Champigny –, überzieht Grün die Gassen; verweist er auf ein Material – wie Pierrefonds –, kratze ich im Geist am Putz, um die Steine hervorzuheben; gemahnt er an ein Wunder – wie Dieulefit –, stelle ich mir einen Ort auf einem steilen, die Landschaft überragenden Fels vor. Nähere ich mich einer Stadt, habe ich zunächst ein Rendezvous mit einem Namen.

Ich hatte schon immer von Ostende geträumt.

Und das Träumen hätte mir vollauf genügt, wenn nicht das jähe Ende einer Beziehung mich hätte das Weite suchen lassen. Nichts wie weg! Fort aus diesem Paris voller Erinnerungen an eine verlorene Liebe. Rasch, ein Tapetenwechsel, andere Luft …

Der Norden schien mir geeignet, dort waren wir nie zusammen gewesen. Und kaum entfaltete ich die Landkarte, zogen mich über dem Blau der Nordsee auch schon sieben Buchstaben unwiderstehlich an: Ostende. Nicht nur der Klang faszinierte mich, ich erinnerte mich zudem, dass eine Freundin eine gute Unterkunft vor Ort kannte. Ein paar Anrufe, und die Sache war geregelt, ein Quartier reserviert, das Gepäck im Wagen verstaut, und ich machte mich auf den Weg nach Ostende, als erwartete mich dort mein Schicksal.

Da der Name mit einem O des Erstaunens begann, besänftigt durch das folgende S, assoziierte ich sogleich begeistert einen glatten, endlosen Sandstrand … Und da die Etymologie des Namens eine »nach Westen hin ausgerichtete« Stadt nahelegte, schloss ich, dass ihre dem Meer zugewandten Häuser allabendlich von der untergehenden Sonne in rotes Licht getaucht wurden.

Als ich eintraf, war es bereits dunkel, und ich wusste nicht recht, was ich von der Sache halten sollte. Zwar stimmte die Wirklichkeit Ostendes in einigen Punkten mit meinem Traum von Ostende überein, widersprach ihr aber zugleich aufs heftigste: Obwohl sich dieser Ort am Ende der Welt, nämlich in Flandern, befand, zwischen einem Wellen- und einem Feldermeer, obwohl er einen weiten Strand zu bieten hatte und einen nostalgisch anmutenden Deich, machte er doch deutlich, wie stark die Belgier ihre Küste, unter dem Vorwand, sie der Allgemeinheit zugänglich machen zu wollen, verschandelt hatten. Gebäudekomplexe höher als Ozeandampfer, geschmacklose, nach Gesichtspunkten der Rentabilität konzipierte nullachtfünfzehn Unterkünfte, kurz, ein urbanes Chaos, das jene unternehmerische Gier verriet, die darauf abzielte, der Mittelklasse während der Urlaubszeit das Geld aus der Tasche zu ziehen.

Glücklicherweise stammte das Haus, in dem ich eine Etage gemietet hatte, noch aus dem 19. Jahrhundert, es war eine Villa aus der Zeit Leopolds II., des »Baukönigs«. Damals nichts Besonderes, war sie heute etwas Außergewöhnliches. Inmitten neu hochgezogener Bauten, beredten Beispielen geometrischer Einfallslosigkeit – simple, in gleichförmige Würfel unterteilte Stockwerke, die wiederum in Appartements unterteilt waren, Appartements, versehen mit scheußlichen Rauchglasfenstern, allesamt symmetrisch und von einer Nüchternheit, dass einem schlecht werden konnte –, wirkte dieses Haus wie ein Solitär und zeugte von architektonischem Gestaltungswillen; es hatte sich mit Bedacht herausgeputzt, Größe und Form seiner Öffnungen variiert, wagte sich hier in einem Balkon vor, da in einer Terrasse, dort in einem Wintergarten, spielte mit hohen, mittelhohen und niedrigen Fenstern und machte sich, wie eine Frau, die sich ein Schönheitspflästerchen auf die Stirn klebt, einen Spaß daraus, sich unter seinem Schieferdach mit einem Ochsenauge zu schmücken.

Eine Rothaarige um die fünfzig mit einem breiten, blaurot geäderten Gesicht verstellte die geöffnete Tür.

»Was willst du?«

»Wohnt hier Madame Emma van A.?«

»Geeenau«, brummte sie mit einem kräftigen flämischen Akzent, der ihre Vierschrötigkeit noch unterstrich.

»Ich habe bei Ihnen den ersten Stock für vierzehn Tage gemietet. Meine Freundin aus Brüssel müsste Sie benachrichtigt haben.«

»Aber ja, natürlich! Du wirst schon erwartet! Ich sag meiner Tante gleich Bescheid. Aber kommen Sie doch bitte rein, na komm schon.«

Mit ihren rauen Händen entriss sie mir die Koffer, knallte sie in der Eingangshalle auf den Boden und schob mich mit barscher Liebenswürdigkeit Richtung Salon.

Vor dem Fenster zeichnete sich die Silhouette einer zierlichen Frau in einem Rollstuhl ab, dem Meer zugewandt, dessen dunkle Tinte der Himmel trank.

»Tante Emma, dein Mieter.«

Emma van A. wandte sich um und sah mich an.

Andere hätten ihre Gäste mit einem einnehmenden Lächeln willkommen geheißen, sie aber musterte mich nur streng. Emma van A. war von durchscheinender Blässe, ihre Haut eher gealtert als faltig, ihr schwarz-weißmeliertes Haar wirkte weniger grau als vielmehr stark gesträhnt, ihr Gesicht war lang und schmal, ihr Hals zart. War es das Alter? War es eine Angewohnheit? Sie hielt ihren Kopf so zur Seite geneigt, dass er mit einem Ohr fast die linke Schulter berührte und ihr Kinn stark nach rechts oben zeigte. Schief und aufmerksam, wie sie dasaß, schien sie gleichermaßen zu lauschen wie zu beobachten.

Ich musste das Schweigen irgendwie brechen.

»Guten Tag, Madame, ich freue mich sehr, dass ich bei Ihnen unterkommen kann.«

»Sie sind Schriftsteller?«

Jetzt verstand ich, warum sie mich so prüfend angesehen hatte: Sie fragte sich, ob ich aussah wie einer, der Romane schrieb.

»Ja.«

Sie seufzte wie erleichtert. Offensichtlich hatte die Tatsache, dass ich Autor bin, sie dazu veranlasst, mir ihr Haus zu öffnen.

Ihre Nichte, die hinter mir stand, begriff, dass der Eindringling seine Aufnahmeprüfung bestanden hatte, und posaunte lautstark:

»Na, dann werd ich mal gehen und die Zimmer weiter herrichten, in fünf Minuten bin ich so weit.«

Während sie sich entfernte, sah ihr Emma van A. wie einem treuen, aber dummen Hund hinterher.«

»Bitte verzeihen Sie, Monsieur, meine Nichte weiß nicht, wie man sich siezt. Im Niederländischen gebraucht man nur das Du.«

»Schade, dass man sich um das Vergnügen bringt, vom Du zum Sie übergehen zu können.«

»Am schönsten wäre es doch, eine Sprache zu sprechen, die nur das Sie kennt, oder?«

Warum hatte sie das gesagt? Befürchtete sie etwa, ich könnte allzu vertraulich werden? Ich blieb etwas verlegen stehen. Sie bat mich, Platz zu nehmen.

»Seltsam. Ich verbringe mein Leben inmitten von Büchern, bin aber nie einem Schriftsteller begegnet.«

Ich sah mich kurz um und fand ihre Worte bestätigt: Tausende Bücher füllten die Regale des Salons, ja, reichten selbst bis ins Speisezimmer hinein. Damit ich mir ein besseres Bild davon machen konnte, glitt sie leise wie ein Schatten mit ihrem Rollstuhl zwischen den Möbeln hindurch und knipste matt leuchtende Lampen an.

Obgleich ich nichts mehr genieße als die Gegenwart bedruckten Papiers, überkam mich in dieser Bibliothek, ohne dass ich recht wusste weshalb, eine gewisse Befangenheit. Die Bände sahen vornehm aus, waren sorgsam in Leder oder Leinen gebunden, Verfasser und Titel in goldenen Lettern eingeprägt; unterschiedlich groß standen sie dicht beieinander, weder wahllos noch übertrieben symmetrisch angeordnet, einem Gleichmaß folgend, das von einem ausgewogenen Geschmack zeugte, und dennoch … Sind wir so sehr an kartonierte Ausgaben gewöhnt, dass in Leder gebundene Bücher uns verunsichern? Machte es mir etwas aus, dass ich darunter keinen meiner bevorzugten Einbände sah? Es fiel mir schwer, meine Irritation in Worte zu fassen.

»Sie müssen verzeihen, aber ich habe keinen Ihrer Romane gelesen«, sagte sie, meine Befangenheit falsch deutend.

»Ich bitte Sie. Wer kennt schon alles? Zudem erwarte ich das gar nicht von den Leuten, mit denen ich verkehre.«

Beruhigt hörte sie auf, an dem Korallenarmband zu drehen, das ihr schmales Handgelenk umschloss, und lächelte die Wände an.

»Dabei verbringe ich meine gesamte Zeit mit Lesen. Ja, lese oft sogar ein und dasselbe Buch mehrmals. Große Werke erschließen sich einem ja eigentlich erst richtig beim dritten oder vierten Mal, nicht wahr?«

»Wodurch zeichnet sich für Sie ein großes Werk aus?«

»Ich überspringe jedes Mal eine andere Passage.«

Sie griff nach einem in granatrotes Leder gebundenen Band, den sie, sichtlich bewegt, einen Spaltbreit öffnete.

»Die Odyssee zum Beispiel. Welche Seite ich auch immer aufschlage, es ist ein Hochgenuss. Mögen Sie Homer, Monsieur?«

»Aber … ja.«

Ihre Pupillen weiteten sich, und ich begriff, dass sie meine Antwort als leicht dahingesagt, wenn nicht als flapsig empfand. Und so bemühte ich mich, etwas genauer zu werden.

»Ich habe mich oft mit Odysseus identifiziert, er erweist sich eher als listenreich denn als intelligent, er kehrt ohne Eile nach Hause zurück und verehrt Penelope, ohne auch nur eine der hübschen Frauen zu verschmähen, die ihm während seiner Reise begegnen. Er ist eigentlich so wenig tugendhaft, dieser Odysseus, dass ich mich ihm nahe fühle. Für mich ist er modern.«

»Wie kann man nur glauben, Amoralität sei zeitgebunden, das ist geradezu naiv … In jeder Generation bilden sich die jungen Leute ein, sie seien es, die das Laster erfunden hätten. Wie vermessen! Was für eine Art Literatur schreiben Sie eigentlich?«

»Meine. Sie lässt sich nicht einordnen.«

»Ausgezeichnet.« Ihrem schulmeisterlichen Ton entnahm ich, dass sie mich erneut einer Prüfung unterzog.

»Darf ich Ihnen eines meiner Bücher schenken?«

»Ah, Sie haben Ihre Bücher dabei?«

»Nein. Aber ich bin sicher, dass in den Buchhandlungen von Ostende …«

»Ach ja, die Buchhandlungen …«

Sie sprach dieses Wort aus, als hätte man sie soeben an etwas weit Zurückliegendes, bereits Vergessenes erinnert.

»Sie müssen wissen, Monsieur, diese Bibliothek, sie gehörte meinem Vater. Er hat Literatur unterrichtet. Seit meiner Kindheit lebe ich umgeben von diesen Publikationen ohne das Verlangen, seine Sammlung zu erweitern. Sie beinhaltet so viele kleine Schätze, die ich noch nicht gehoben habe. Sehen Sie nur, gleich hinter Ihnen, George Sand, Dickens … einige Bände habe ich noch immer nicht gelesen. Desgleichen Victor Hugo.«

»Ist es nicht bezeichnend für das Genie Victor Hugos, dass sich bei ihm immer eine Seite findet, die man noch nicht gelesen hat?«

»Richtig. Deshalb lebe ich auch so und nicht anders, umgeben und behütet von Giganten! Und deshalb gibt es hier auch keine … Neuerscheinungen.«

Nach kurzem Zögern war ihr das Wort ›Neuerscheinungen‹ so widerwillig über die gespitzten Lippen gekommen, als handele es sich um etwas Vulgäres, wenn nicht Obszönes. Während ich ihr zuhörte, wurde mir bewusst, dass es tatsächlich ein Terminus aus der Geschäftswelt war, geeignet für einen Modeartikel, nicht aber für ein literarisches Werk; und ich begriff, dass ich in ihren Augen lediglich ein Autor von ›Neuerscheinungen‹ war, ein Lieferant gewissermaßen.

»Waren die Romane von Daudet und Maupassant, als sie herauskamen, nicht auch ›Neuerscheinungen‹?«, fragte ich.

»Die Zeit hat ihnen ihren Platz zugewiesen«, entgegnete sie, als hätte ich mir soeben eine Frechheit erlaubt.

Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass jetzt sie die Naive sei, da ich mich aber nicht befugt fühlte, meiner Gastgeberin zu widersprechen, beschränkte ich mich darauf, den Grund für mein Unbehagen festzustellen: Diese Bibliothek atmete nicht, sie war seit vierzig oder fünfzig Jahren zu einem Museum erstarrt und würde sich nicht weiterentwickeln, solange ihre Eigentümerin sich weigerte, ihr auch nur einen Tropfen frischen Blutes zu injizieren.

»Verzeihen Sie meine Indiskretion, Monsieur: Sind Sie alleinstehend?«

»Ich bin hierhergekommen, um mich von einer Trennung zu erholen.«

»Oh, das tut mir leid … aufrichtig leid … ich tue Ihnen weh, indem ich Sie wieder daran erinnere … bitte verzeihen Sie.«

Ihre Wärme, ihr Erschrecken, ihre plötzliche Nervosität bezeugten ihre Aufrichtigkeit, sie machte sich tatsächlich Vorwürfe, dass sie meinen Kopf in einen Eimer voll unangenehmer Erinnerungen getaucht hatte. Sie stammelte verwirrt:

»Ostende ist perfekt bei Liebeskummer …«

»Nicht wahr? Glauben Sie, dass ich mich hier davon erhole?«

Sie sah mich mit gerunzelten Brauen an.

»Davon erholen? Sie hoffen, sich davon zu erholen?«

»Ja, dass ich diese Trennung verschmerze.«

»Und Sie glauben, Sie schaffen es?«

»Ja, das glaube ich.«

»Seltsam«, murmelte sie und musterte mich so eingehend, als nähme sie mich zum ersten Mal wahr.

Ihre Nichte, die mit ihrem Gewicht die letzten Treppenstufen in Schwingung versetzte, platzte atemlos herein, verschränkte ihre kurzen Arme über der unförmigen Brust und schmetterte mir triumphierend entgegen:

»Fertig, du kannst einziehen! Du hast oben alle Zimmer für dich. Such dir eins aus. Kommen Sie bitte mit.«

»Gerda wird Ihnen alles zeigen, cher Monsieur. Seit ich gesundheitliche Probleme habe, bewohne ich nur noch das Erdgeschoss. Daher kann ich Ihnen auch die erste Etage überlassen, fühlen Sie sich dort ganz wie zu Hause. Sie können sich alle Bücher nehmen, die Sie vorfinden, vorausgesetzt, Sie stellen sie wieder zurück an ihren Platz.«

»Danke.«

»Gerda wird Ihnen am Morgen Ihr Frühstück bringen, sofern Sie nicht zu früh aufstehen.«

»Halb zehn wäre mir recht.«

»Wunderbar. Dann wünsche ich Ihnen also einen guten Abend, Monsieur, und einen angenehmen Aufenthalt.«

Woher kam die plötzliche Eingebung? War sie nicht die Art Frau, die einen Handkuss erwartete? Gut gedacht: Kaum ging ich auf sie zu, hielt sie mir auch schon ihren Handrücken entgegen, und ich beugte mich, comme il faut, darüber.

Die Nichte beobachtete uns wie zwei Clowns, zuckte die Schultern, griff nach den Koffern und begann, die lackierte Holztreppe zu erklimmen, die unter ihren Schritten bebte.

Ich war im Begriff, den Salon zu verlassen, als mich die Stimme Emma van A.s zurückhielt:

»Monsieur, Ihre Worte gehen mir nicht aus dem Kopf, Sie sagten eben, Sie glaubten, über diese Trennung hinwegzukommen. Verstehen Sie meine Reaktion nicht falsch: Ich bin ganz auf Ihrer Seite. Ich wünsche es Ihnen. Ja, es würde mich sogar sehr freuen.«

»Danke, Madame van A., auch ich wäre sehr froh.«

»Es ist nämlich so, wenn Sie über eine Trennung hinwegkommen, dann war die ganze Sache es auch nicht wert.«

Ich war perplex.

Sie musterte mich eingehend und erklärte dann in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete:

»Eine Liebe, über die man hinwegkommt, war nicht die Liebe.«

Daraufhin setzte sie mit ihren Händen die Räder ihres Rollstuhls in Bewegung und stand innerhalb von drei Sekunden wieder so am Fenster, wie ich sie anfangs angetroffen hatte.

Die obere Etage war mit sicherem Geschmack eingerichtet, üppig möbliert, mit einer weiblichen Note und von altmodischem Charme.

Nachdem ich mir alles angesehen hatte, wählte ich das »Blaumeisenzimmer« aus, das wegen der Wandbespannung so hieß, ein Stoff im japanischen Stil, dessen verblichene Farben von einem subtilen Raffinement zeugten. Allerdings tat ich mich etwas schwer, zwischen all dem Nippes Platz für meine eigenen Sachen zu finden, aber dieser ganze Zierrat machte, wie eine barocke Muschelskulptur, nur in verschwenderischer Fülle Sinn.

Gerda empfahl mir einige Restaurants, vertraute mir einen Schlüsselbund an und verabschiedete sich, um mit dem Rad die zehn Kilometer zurückzulegen, die sie von ihrem Heim trennten.

Ich entschied mich für den der Villa Circé am nächsten gelegenen Gasthof und hob mir den Gang durch die Stadt für den folgenden Tag auf. Berauscht von der Meeresluft schlief ich, kaum hatte ich mich auf meinem Bett ausgestreckt, unter den schweren Daunendecken ein.

 

Am Morgen, nach einem üppigen, von Gerda servierten Frühstück – Champignons, Eier, Kartoffelkroketten –, traf ich, wie erwartet, Emma van A. auf ihrem Platz vor dem Fenster an.

Da meine Vermieterin mich nicht hatte kommen hören und das Tageslicht grell ins Zimmer fiel, konnte ich ihre Züge und ihr Verhalten eingehender betrachten.

Auch wenn sie nichts tat, schien sie dennoch etwas zu beschäftigen. Ihre Augen verrieten die unterschiedlichsten Gefühle, Gedanken furchten und entspannten ihre Stirn, ihre Lippen hielten eine Wörterflut zurück, die es nach außen drängte. Ausgestattet mit einem überreichen Innenleben, verbrachte Emma van A. ihre Tage zwischen den aufgeschlagenen Seiten eines Romans auf ihren Knien und einer Fülle von Träumen, die sie überkamen, sobald sie den Kopf hob und hinaus auf die Bucht sah. Es war, als zögen dort zwei einzelne Schiffe vorüber, das Schiff ihrer Gedanken und das Schiff ihres Buches: Von Zeit zu Zeit, wenn sie den Blick senkte, vermischten sich beider Kielwasser für einen Augenblick und verbanden ihre Wellen miteinander, ehe Emma van A.s Schiff alleine weiterfuhr. Sie las, um nicht abzudriften, und nicht, um eine geistige Leere zu füllen, sondern um eine übermächtige schöpferische Kraft zu begleiten. Literatur als Aderlass gegen ein Fieber …

Emma van A. musste sehr schön gewesen sein, selbst noch im Alter. Doch vor kurzem hatte eine Krankheit – eine Gehirnblutung, wie Gerda sagte – sie von einer Antiquität zum Trödel herabgestuft. Seither schwanden ihre Muskeln, und ihr schlanker Leib war mager geworden. Sie wirkte so leicht, als seien ihre Knochen porös, ja, zerbrechlich. Ihre von Arthrose in Mitleidenschaft gezogenen Gelenke erschwerten ihr jede Bewegung, doch loderte ein solches Feuer in ihr, dass sie dem keinerlei Beachtung schenkte. Ihre Augen waren nach wie vor bemerkenswert: groß, hell und blau, ein Blau, durch das die Wolken des Nordens zogen.

Mein Gruß riss sie aus ihren Grübeleien, sie sah mich verstört an. Als hätte sie etwas bis ins Innerste aufgewühlt. Dann aber lächelte sie, ein offenes Lächeln, das nichts Künstliches hatte, ein Lichtstreif über der rauen See.

»Ah, guten Tag. Haben Sie gut geschlafen?«

»So gut, dass ich es gar nicht weiß. Und jetzt sehe ich mir Ostende an.«

»Wie ich Sie beneide … Einen schönen Tag, Monsieur.«

Ich schlenderte mehrere Stunden durch Ostende, wobei ich nie länger als zwanzig Minuten in den Seitenstraßen verweilte, sondern immer wieder, wie eine von der Seeluft angezogene Möwe, zur Promenade oder auf den Deich zurückkehrte.

Die Nordsee zeigte sich austernfarben, grünbraun die Wellen, perlmuttweiß die Schaumkronen, und spielte mit zarten erlesenen Farbnuancen, die mich ausruhen ließen von meinen leuchtend hellen Erinnerungen ans Mittelmeer: ungetrübtes Blau, gelber Sand, beides von so lebhafter und einfacher Farbgebung wie eine Kinderzeichnung. Mit seinen gedämpften Tönen, die an jenen jodhaltigen Genuss erinnerten, wie man ihn beim Verzehr von Meeresfrüchten in einer Brasserie verspürt, wirkte dieses Meer zudem auch salziger.

Obgleich ich nie zuvor in Ostende gewesen war, rief es Erinnerungen in mir wach, und ich gab mich Kindheitsgefühlen hin. Mit bis zu den Knien aufgekrempelter Hose setzte ich meine Füße dem prickelnden Sand aus, ehe ich sie zur Belohnung ins Wasser tauchte. Wie früher ging ich bis zu den Waden in die Wellen, wagte mich dann aber nicht weiter. Und wie früher kam ich mir winzig vor angesichts der unendlichen Weite von Himmel und Meer.

Um mich herum kaum eine Menschenseele. Bis auf ein paar alte Leute. Lieben sie die Küste deshalb so? Weil sie beim Baden alterslos sind? Weil sie die Genügsamkeit wiederentdecken, die einfachen Freuden der Kindheit? Weil, während Häuser und Handel dem Wandel unterworfen sind, Sand und Wellen unberührt davon bleiben, ewig und rein? Der Strand ist ein geheimer Garten, dem die Zeit nichts anhaben kann.

Ich kaufte mir Krabben, die ich in ein Pappschälchen mit Mayonnaise tunkte und im Stehen aß, anschließend setzte ich meinen Spaziergang fort.

Wieder zurück in der Villa Circé, gegen achtzehn Uhr, war ich wie berauscht von Sonne und Wind und hatte den Kopf voller Träume.

Emma van A. wandte sich nach mir um, lächelte, als sie mich im Zustand seliger Trunkenheit sah, und fragte mich mit einem Augenzwinkern:

»Na, wie war’s, haben Sie Ostende erkundet?«

»Ja, es war herrlich.«

»Wie weit sind Sie gegangen?«

»Bis zum Hafen. Denn, um ehrlich zu sein, hätte ich nicht die Möglichkeit, die Segel zu streichen, könnte ich hier nicht bleiben.«

»Ach tatsächlich? Sie bleiben also nur unter der Voraussetzung, dass sie jederzeit wieder fortkönnen? Das ist typisch Mann.«

»Sie haben es erkannt. Die Männer fahren zur See, und die Frauen …«

»… werden Seemannsfrauen! Und dann Seemannswitwen.«

»Worauf wartet man denn so, wenn man ein Leben lang in einer Hafenstadt am Ende der Welt wohnt?«

Sie hatte das Provokante meiner Frage durchaus verstanden, sah mich freundlich an und ermunterte mich stumm fortzufahren. Was ich denn auch tat:

»Wartet man auf eine Abreise?«

Sie zuckte verneinend die Schultern.

»Oder eher auf eine Rückkehr?«

Ihre großen graublauen Augen musterten mich eindringlich. Ich glaubte, darin etwas wie einen Vorwurf zu erkennen, aber ihre feste Stimme belehrte mich eines Besseren:

»Man erinnert sich, Monsieur, man erinnert sich.«

Dann blickte sie hinaus aufs Meer. Und wieder so in Gedanken versunken, als wäre ich nicht mehr vorhanden; sie sah so unverwandt in die Ferne, wie ich auf ein unbeschriebenes Blatt Papier, und erging sich ganz in ihren Träumereien.

Woran erinnerte sie sich? Nichts unter diesem Dach verriet etwas von ihrer Vergangenheit, alles gehörte früheren Generationen an: Bücher, Möbel, Bilder. Ich hatte den Eindruck, dass sie, wie eine Elster, mit einem gestohlenen Schatz hierhergekommen war, ihn abgeladen und sich damit begnügt hatte, Vorhänge und Wandbespannungen zu erneuern.

Wieder auf meiner Etage, fragte ich ihre Nichte:

»Gerda, Ihre Tante hat mir verraten, dass sie ihre Tage damit verbringt, sich die Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Was, glauben Sie, ruft sie sich ins Gedächtnis?«

»Keine Ahnung. Sie hat nie gearbeitet. Sie ist eine alte Jungfer.«

»Sind Sie sich da so sicher?«

»Darauf kannst du Gift nehmen. Tante Emma und ein Mann? Die Ärmste, nie im Leben. Das wissen alle in der Familie. Bei dem Wort Mann oder Ehe macht sie dicht wie eine Muschel.«

»Eine geplatzte Verlobung? Ein Verlobter, der im Krieg gefallen ist? Eine gescheiterte Beziehung, ein persönliches Drama, das sie nicht vergessen kann, Wehmut?«

»Nicht mal das! Früher, als die Familie noch größer war, da haben Onkel und Tanten immer wieder versucht, ihr eine gute Partie anzudienen. Ja, absolut akzeptable Anwärter. Eine Pleite nach der anderen, ob du’s glaubst oder nicht!«

»Seltsam …«

»Allein zu bleiben? Aber ja! Also, ich könnte so was nicht … Ich hab zwar nicht gerade den schönsten Ehemann von der Küste erwischt, aber immerhin ist er da und hat mir meine Kinder geschenkt. Ein Leben wie meine Tante? Da bring ich mich lieber gleich um.«

»Aber sie wirkt nicht gerade unglücklich.«

»Also, das muss man ihr lassen: Sie beklagt sich nie. Selbst jetzt, wo sie immer schwächer wird und ihre Ersparnisse wie Butter dahingeschmolzen sind, sie beklagt sich einfach nie! Nein, sie schaut zum Fenster raus, sie lächelt, sie träumt. Man kann sagen, auch wenn sie nicht gelebt hat, so hat sie doch geträumt …«

Gerda hatte recht. Emma lebte anderswo, nicht unter uns. Lag in der Haltung ihres Kopfes – seitwärts geneigt auf einem grazilen Hals – nicht etwas Nachdenkliches, das den Eindruck vermittelte, ihre Träume könnten vielleicht zu schwer wiegen?

Seit diesem Gespräch nannte ich sie heimlich die Träumerin … die Träumerin von Ostende.

 

Tags darauf hörte sie mich herunterkommen und lenkte ihren Rollstuhl in meine Richtung.

»Möchten Sie Kaffee mit mir trinken?«

»Gern.«

»Gerda! Bring uns bitte zwei Kaffee.«

Sie flüsterte mir zu:

»Ihr Kaffee ist wie Spülwasser, so schwach, dass er nicht einmal einem Neugeborenen schadet.«

Gerda brachte uns stolz zwei dampfende Schalen, als käme unser Verlangen, bei ihrem Gebräu zu schwatzen, einer Huldigung ihrer Kochkünste gleich.

»Madame van A., was Sie mir da am ersten Abend gesagt haben, hat mir zu denken gegeben.«

»Was?«

»Ich komme schnell über das hinweg, was mich aus Paris vertrieben hat: Demnach ist das Ende dieser Beziehung auch kein großer Verlust. Erinnern Sie sich, Sie sagten mir, man käme nur über etwas hinweg, was keine Bedeutung habe, nicht aber über eine große Liebe.«

»Ich habe einmal gesehen, wie ein Blitz in einen Baum einschlug. Ich fühlte mich dem Baum sehr nah. Es gibt Augenblicke, in denen man brennt, sich verzehrt, ein starkes, wunderbares Gefühl. Doch zurückbleibt nur Asche.«

Sie wandte sich dem Meer zu.

»Ein Baumstumpf, selbst wenn er noch lebt, kann nie wieder ein richtiger Baum werden, das gibt es nicht.«

Mit einem Mal kam es mir vor, als sei sie, hier in ihrem Rollstuhl, dieser Baumstumpf im Boden …

»Ich habe das Gefühl, Sie sprechen von sich«, sagte ich sanft.

Sie fuhr zusammen. Eine plötzliche Unruhe, nahezu panisch, durchzuckte ihre Finger und beschleunigte ihren Atem. Um die Contenance nicht zu verlieren, griff sie nach ihrer Schale, trank, verbrannte sich und schimpfte auf den zu heißen Kaffee.

Ich tat, als hätte ich ihr Ablenkungsmanöver nicht bemerkt, und kühlte ihren Kaffee mit ein wenig Wasser.

Als sie sich wieder erholt hatte, sagte ich jedoch:

»Madame, denken Sie bitte nicht, ich wollte Sie ausfragen, ich respektiere Ihr Geheimnis, ich möchte Ihnen keinesfalls zu nahe treten.«

Sie nahm einen Schluck und sah mich, um sich meiner Aufrichtigkeit zu vergewissern, forschend an; ich hielt ihrer Prüfung stand. Überzeugt neigte sie schließlich den Kopf, und als sie »danke« murmelte, klang ihre Stimme anders.

Es war jetzt an der Zeit, ihr eines meiner Bücher zu schenken, das ich am Vortag in der Stadt gekauft hatte. Ich zog es aus meiner Gesäßtasche.

»Hier bitte, ich habe Ihnen einen Roman mitgebracht, den ich für meinen besten halte. Ich wäre überglücklich, wenn Sie ihn gelegentlich lesen würden und er Ihnen auch noch gefiele.«

Sie unterbrach mich verblüfft.

»Ich? Aber … das ist unmöglich …«

Sie griff sich ans Herz.

»Sie müssen verstehen, ich lese nur Klassiker. Ich lese keine … keine … keine …«

»Neuere Literatur?«

»Ja, keine Neuerscheinungen. Ich warte.«

»Worauf?«

»Dass sich der Ruf des Autors bestätigt, dass sein Werk für wert befunden wird, einer zeitlosen Bibliothek anzugehören, dass …«

»Dass er stirbt, ist es das?«

Es war mir ungewollt herausgerutscht. Dass Emma van A. mein Geschenk ablehnte, empörte mich.

»Nur zu, sagen Sie es schon: Die besten Autoren sind bereits tot! Seien Sie versichert, auch ich werde irgendwann sterben. Irgendwann wird auch mir die Ehre des Hinscheidens zuteil, und am nächsten Tag lesen Sie mich dann vielleicht!«

Weshalb regte ich mich eigentlich so auf? Was machte es schon aus, ob diese alte Jungfer mich bewunderte oder nicht? Weshalb buhlte ich um ihr Interesse?

Sie setzte sich in ihrem Stuhl zurecht, versuchte, sich so gerade wie möglich aufzurichten, und musterte mich, obwohl sie kleiner war als ich, von oben herab:

»Monsieur, mit Rücksicht auf mein Alter und auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, seien Sie nicht anmaßend: Ich werde diese Erde aller Wahrscheinlichkeit nach vor Ihnen verlassen, und zwar bald. Und mein Tod wird mich nicht talentierter machen, als ich bin. Was übrigens auch für Sie zutrifft.«

Sie drehte ihren Rollstuhl energisch um und schlängelte sich zwischen den Möbeln der Bibliothek hindurch.

»Es ist traurig, aber so ist es nun einmal: Wir kommen nicht zusammen.«

Sie stoppte die Räder des Rollstuhls vor dem riesigen Fenster, das aufs Meer hinausging.

»Manchmal leben Menschen, die geschaffen sind, sich zu entflammen, nicht die große, ihnen bestimmte Leidenschaft, weil der eine zu jung und der andere zu alt ist.«

Und mit gebrochener Stimme fügte sie hinzu:

»Schade, ich hätte Sie gern gelesen …«

Sie war aufrichtig bekümmert. Wirklich, diese Frau brachte mich ganz aus dem Konzept. Ich ging zu ihr.

»Madame van A., wie konnte ich mich nur so ereifern, was für eine idiotische Idee, dieses Geschenk, und dann wollte ich es Ihnen auch noch aufdrängen. Entschuldigen Sie.«

Sie wandte sich mir zu, und ich bemerkte Tränen in ihren sonst so trockenen Augen.

»Am liebsten würde ich Ihr Buch verschlingen, aber ich kann nicht.«

»Warum?«

»Stellen Sie sich vor, es gefiele mir nicht …«

Allein der Gedanke ließ sie vor Entsetzen erschaudern. Ihre Heftigkeit rührte mich. Ich lächelte ihr zu. Sie bemerkte es und erwiderte mein Lächeln.

»Es wäre entsetzlich, Sie sind so sympathisch.«

»Wäre ich Ihnen nicht mehr sympathisch, wenn ich ein schlechter Schriftsteller wäre?«

»Nein, Sie würden lächerlich. Ich räume der Literatur einen so hohen Stellenwert ein, dass ich es nicht ertragen könnte, wenn Sie mittelmäßig wären.«

Sie war zutiefst aufrichtig, zitterte geradezu vor Aufrichtigkeit.

Mir war zum Lachen. Warum machten wir es uns wegen ein paar Seiten so schwer? Es war irgendwie rührend.

»Ärgern wir uns nicht mehr, Madame van A. Ich nehme meinen Roman zurück, und wir sprechen über etwas anderes.«

»Selbst das ist nicht möglich.«

»Was ist nicht möglich?«

»Sprechen. Ich kann nicht sprechen, wie ich möchte.«

»Wer hindert Sie daran?«

Sie zögerte, sah sich hilfesuchend um, ließ ihren Blick über die Bücherregale gleiten, als suchte sie dort Halt, war nahe daran zu antworten, hielt inne und stieß schließlich erschöpft hervor:

»Ich.«

Sie seufzte und sagte noch einmal bekümmert:

»Ja, ich …«

Plötzlich sah sie mir fest in die Augen, und dann brach es aus ihr hervor:

»Wissen Sie, ich war einmal jung, ich war verführerisch.«

Warum sagte sie mir das? Was hatte das mit unserem Gespräch zu tun? Ich war perplex.

Und wieder sagte sie mit einem Kopfschütteln:

»Ja, ich war hinreißend. Und man hat mich geliebt!«

»Dessen bin ich sicher.«

Sie warf mir einen abschätzigen Blick zu.

»Nein, Sie glauben mir nicht!«

»Doch …«

»Was soll’s. Es ist mir einerlei, was andere von mir denken oder gedacht haben. Und nicht nur das, ich bin auch verantwortlich für all die Unwahrheiten, die man sich über mich erzählt hat. Ich selbst bin schuld daran.«

»Was hat man denn über Sie gesagt, Madame van A.?«

»Nun ja, eben nichts.«

Und nach einer Weile.

»Nichts. Absolut nichts.«

Sie zuckte die Schultern.

»Hat Gerda nicht mit Ihnen darüber gesprochen?«

»Worüber?«

»Über dieses Nichts. Meine Familie glaubt, mein Leben sei leer gewesen. Geben Sie es zu …«

»Äh …«

»Da haben wir’s, sie hat’s gesagt! Mein Leben ist nichts. Und doch war es reich, mein Leben. Die anderen irren gewaltig mit ihrem Nichts.«

Ich trat näher.

»Wollen Sie mir davon erzählen?«

»Nein. Ich habe es versprochen.«

»Wie bitte?«

»Ich habe es versprochen. Es ist ein Geheimnis.«

»Versprochen? Wem? Wozu?«

»Antworten heißt, Verrat begehen …«

 

Diese Frau erstaunte mich: Was für ein Temperament in diesem alten Fräulein schlummerte, welche Heftigkeit, wie wach sie war, wie intelligent, sie benutzte Worte wie Faustschläge.

Und wieder wandte sie sich mir zu.

»Wissen Sie, ich bin geliebt worden wie selten jemand. Und ich habe geliebt. Ebenso intensiv. Oh, ja, ebenso intensiv, sofern es denn möglich war …«

Ihr Blick verschleierte sich.

Ich legte meine Hand auf ihre Schulter, um sie zu ermutigen.

»Eine Liebesgeschichte zu erzählen ist nicht verboten.«

»Mir schon. Denn die Personen, die damit zu tun haben, sind zu wichtig.«

Ihre Hände schlugen auf ihre Knie, als befehle sie denen zu schweigen, die sprechen wollten.

»Wozu habe ich denn all die Jahre geschwiegen, wenn ich das Schweigen jetzt plötzlich breche? Hm? Die ganze Mühe, all die Jahre, umsonst?«

Ihre knotigen Finger griffen nach den Rädern ihres Rollstuhls, versetzten ihnen einen kräftigen Schubs, und sie verließ den Raum, um sich in ihrem Schlafzimmer einzuschließen.

 

Als ich aus der Villa Circé trat, begegnete ich Gerda auf dem Trottoir. Sie war damit beschäftigt, den Abfall zu trennen und in verschiedene Mülltonnen zu verteilen.

»Sind Sie wirklich sicher, dass Ihre Tante nie eine große Leidenschaft hatte?«

»Hundertprozentig. Wir haben sie oft damit aufgezogen. Wär da was gewesen, hätte sie’s längst erzählt, schon allein, um ihre Ruhe zu haben!«

Mit entsetzlichem Getöse presste sie die drei Plastikflaschen auf die Größe von Korken zusammen.

»Ich muss noch einmal darauf zurückkommen, Gerda, denn ich bin davon überzeugt.«

»Da sieht man, dass du dein Brot mit Lügenmärchen verdienst, Junge. Was für eine blühende Phantasie!«

Ihre plumpen Hände zerrissen die Verpackungskartons, als wären sie aus Zigarettenpapier. Plötzlich hielt sie inne und sah zwei Möwen nach, die über uns hinwegflogen.

»Also, da du nun mal nicht lockerlässt; mir fällt da Onkel Jan ein. Ja. Der mochte Tante Emma sehr. Einmal hat er mir was Komisches erzählt: Sämtliche Männer, die versuchten, Tante Emma den Hof zu machen, ergriffen nach kurzer Zeit die Flucht.«

»Und weshalb?«

»Na, weil sie eine böse Zunge hatte.«

»Sie und böse?«

»Das hat er gesagt, der Onkel Jan. Das Resultat siehst du ja! Keiner hat sie gewollt.«

»Wenn man analysiert, was euer Onkel Jan da erzählt hat, dann war eher sie es, die keinen wollte.«

Die Nichte staunte, auf diesen Gedanken war sie nicht gekommen. Ich fuhr fort:

»Wenn sie sich Männern gegenüber so anspruchsvoll gegeben hat wie gegenüber Schriftstellern, dann hat bestimmt keiner Gnade vor ihr gefunden. Da ihr keiner gut genug war, hat sie alles getan, um sie zu entmutigen. In Wirklichkeit wollte Ihre Tante unabhängig bleiben!«

»Möglich«, räumte die Nichte widerwillig ein.

»Und was, wenn sie sich die Männer nur vom Leib gehalten hat, um den Platz des Mannes zu verteidigen, den sie schützte, der einzige, von dem sie nie gesprochen hat?«

»Tante Emma? Ein Doppelleben? Hm … die Ärmste …«

Gerda brummte skeptisch. Ihre Tante interessierte sie einzig als Opfer, ihr Mitgefühl war nicht frei von Geringschätzung; sobald man Gerda Anlass zur Vermutung gab, dass hinter Emmas Verhalten ruhige Überlegung und Einfallsreichtum stecken könnten, verlor sie das Interesse. Rätsel weckten ihre Neugier nicht und Erklärungen nur, sofern sie abwertend waren. Gerda gehörte zu den Menschen, die Verständnis mit Herabsetzung verwechselten, alles Romantische oder Erhabene war für sie nichts als Schall und Rauch.

Am liebsten wäre ich den ganzen Tag umhergestreift, aber das Wetter machte mir einen Strich durch die Rechnung. Nicht nur ein feindseliger Wind störte mich bei meinen Gedanken, nein, die düsteren, tiefhängenden Wolken regneten auch noch dicke, kalte Tropfen ab.

Nach zwei Stunden flüchtete ich mich zurück in die Villa. Als ich durch die Tür trat, überfiel mich eine völlig aufgelöste Gerda:

»Meine Tante ist im Krankenhaus, sie hatte einen Herzanfall!«

Ich fühlte mich schuldig. Sie war so außer sich gewesen, als ich sie verlassen hatte, dass ihr die Erregung aufs Herz geschlagen sein musste.

»Was sagen die Ärzte?«

»Ich hab auf dich gewartet, damit ich ins Krankenhaus kann. Dann mach ich mich jetzt mal auf den Weg.«

»Möchten Sie, dass ich Sie begleite?«

»He, sie ist krank, nicht ich. Und hast du etwa ein Fahrrad? Das Krankenhaus ist nicht gleich nebenan. Warte hier. Ist besser so. Ich bin bald zurück.«

Ich nutzte ihre Abwesenheit und sah mir den Salon näher an. Um mich von meiner Unruhe abzulenken, studierte ich den Inhalt der Regale. Wenn dort Klassiker der Weltliteratur standen, dann sicher auch Gesamtausgaben von Autoren, die ihre Glanzzeit gekannt hatten und nach denen heute kein Hahn mehr krähte. Daher begann ich über die Vergänglichkeit des Erfolgs nachzusinnen, die Unbeständigkeit jeden Ruhms. Keine schönen Aussichten. Wenn ich heute Leser hatte, hätte ich sie dann auch noch morgen? In ihrer Verblendung glauben die Schriftsteller allen Ernstes, sie könnten der Sterblichkeit entkommen, wenn sie etwas hinterließen; aber ist dieses Etwas von Dauer? Wenn ich einen Leser des 21. Jahrhunderts zu erreichen vermag, erreiche ich dann auch einen Leser des 23. Jahrhunderts? Ist diese Frage an sich nicht schon überheblich? Sollte ich sie mir verbieten? Sollte ich mich nicht freimachen von diesem Anspruch? Einfach in der Gegenwart leben, nur in der Gegenwart, mich erfreuen an dem, was ist, und nicht auf das hoffen, was sein wird?

Mir war nicht bewusst, dass diese Überlegungen meine Besorgnis hinsichtlich Emmas Gesundheit noch verstärkten, ich versank in eine Art Dämmerzustand, der mich die Zeit vergessen ließ.

Ich schreckte auf, als Gerda die Eingangstür hinter sich zuschlug und laut rief:

»Alles halb so schlimm. Sie ist aufgewacht. Die erholt sich wieder. Ist noch mal gutgegangen!«

»Gott sei Dank! Blinder Alarm also?«

»Ja, die Ärzte behalten sie noch eine Weile zur Beobachtung da, dann krieg ich sie wieder zurück.«

Ich betrachtete Gerdas stämmige Gestalt, ihre Schultern waren so breit wie ihr Becken, ihr Gesicht sommersprossig, ihre Arme kurz.

»Sie hängen sehr an Ihrer Tante?«

Sie zuckte die Schultern und entgegnete, als sei dies offensichtlich:

»Die Arme, sie hat ja nur mich!«

Daraufhin drehte sie sich um, ging und machte sich lautstark an ihren Kochtöpfen zu schaffen.

 

Die folgenden Tage waren ziemlich unangenehm. Gerda ließ nur spärlich durchsickern, wie es um ihre Tante stand, die nicht zurückkam. Und dann wurde zu allem Überfluss, als fehlte Ostende der Schutz durch Emma van A.s schwachen Körper, die Stadt auch noch von Touristen erstürmt.

Die Osterfeiertage eröffnen – was ich nicht wusste – in den Urlaubsorten des Nordens für gewöhnlich die Saison, und ab Karfreitag wimmelten Straßen, Läden und Strände von Besuchern, die ein buntes Kauderwelsch sprachen: Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch, Spanisch, Türkisch, Französisch und Niederländisch, das weiterhin vorherrschte. Paare und Familien trafen in Horden ein, ich hatte noch nie so viele Kinderwagen auf einmal gesehen, es war, als hätte man es mit einem Zuchtbetrieb zu tun; obgleich das Thermometer nicht mehr als siebzehn Grad anzeigte und ein unvermindert frischer Wind wehte, bedeckten Tausende Leiber die Strände. Die Männer, mutiger als die Frauen, boten ihre Oberkörper der bleichen Sonne dar; wenn sie ihre Kleider ablegten, dann eher um sich durch ihre Kühnheit hervorzutun als durch ihre Schönheit; das männliche Geschlecht nahm an einem Wettbewerb teil, der das weibliche außer Acht ließ; die langen oder halblangen Hosen behielt man vorsichtshalber an, denn der männliche Mut beschränkte sich auf die Brust. Ich, der ich meine Sommer am Mittelmeer verbracht hatte, war erstaunt, nur zwei Hautfarben zu sehen, Weiß und Rot, Braun schien so gut wie nicht vorzukommen. Unter diesen nordischen Menschen war niemand braun: Entweder waren sie blass, oder sie hatten einen Sonnenbrand. Zwischen Blässe und Scharlachrot trugen einzig die jungen Türken – nicht ganz unbefangen – einen karamellfarbenen Teint zur Schau. Aus diesem Grund blieben sie auch zusammen.

Ich konnte mich kaum bewegen zwischen all diesen Leuten und den Hunden, die nicht an den Strand durften und an ihren Leinen zerrten, um sich zum Sand vorzukämpfen, zwischen den Mieträdern, die nicht vorwärtskamen, und den Tretautos, die erst recht nicht weiterkamen – ein Chaos, das mich wie eine Invasion anmutete. Mit welchem Recht aber sprach ich von Invasion? Wie kam ich dazu, die anderen als Barbaren zu bezeichnen? Schließlich hatte ich ihnen nur ein paar Tage voraus. Reichte es etwa, bei Emma van A. zu wohnen, um sich als Einheimischer zu betrachten? Wie auch immer, ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, als hätte man mir mit meiner Vermieterin zugleich mein Ostende genommen.

Daher war ich auch überglücklich, als ich den Krankenwagen hörte, der sie zurück in die Villa Circé brachte.

Die Sanitäter setzten sie in ihrem Rollstuhl in der Eingangshalle ab, und während Gerda mit ihrer Tante sprach, hatte ich den Eindruck, dass sich die alte Dame entsetzlich langweilte, zumal sie mir von Zeit zu Zeit einen Blick zuwarf, der mich zum Bleiben ermutigte.

Als Gerda in der Küche verschwand, um Tee zu kochen, wandte sich Emma van A. mir zu. Etwas an ihr war anders. Sie wirkte entschlossen. Ich ging zu ihr.

»Wie war es in der Klinik?«

»Keine besonderen Vorkommnisse. Doch ja, am unangenehmsten war für mich Gerdas Stricknadelgeklapper an meinem Bett. Geistlos, oder? Gerda sollte lieber ein Buch nehmen, wenn sie nichts zu tun hat, stattdessen fuchtelt sie mit einer Häkelnadel herum oder malträtiert Wolle. Wie ich sie verabscheue, diese fleißigen Lieschen. Sie sind auch den Männern ein Gräuel. Denken Sie nur an Nordirland, an die Bäuerinnen von den Aran Inseln! Ihre Männer kommen so gut wie nie zurück, und wenn, dann nur zusammen mit dem Strandgut, vom Wasser ausgespuckt, vom Salz zerfressen, erkennbar nur noch am Muster ihrer Pullover! Tja, so ergeht es den Stricklieseln: Sie ziehen nichts als Leichen an. Ich muss mit Ihnen reden.«

»Natürlich, Madame. Hätten Sie lieber, dass ich anderswo wohne, bis Sie wieder ganz hergestellt sind?«

»Nein. Im Gegenteil. Ich lege Wert darauf, dass Sie bleiben, denn ich möchte mich mit Ihnen unterhalten.«

»Nur zu gern.«

»Darf ich Sie einladen, mit mir zu essen? Gerdas Küche ist zwar nicht besser als ihr Kaffee, aber ich werde sie bitten, eines der beiden Gerichte zu machen, auf die sie sich versteht.«

»Mit Vergnügen. Ich bin froh, Sie wieder gesund zu sehen.«

»Ach, ich bin nicht gesund. Dieses verflixte Herz wird mich über kurz oder lang im Stich lassen. Daher möchte ich auch mit Ihnen reden.«

Voller Ungeduld erwartete ich das Abendessen. Meine Träumerin hatte mir mehr gefehlt, als ich mir eingestehen wollte, und ich spürte, dass sie in der Stimmung war, sich mitzuteilen.

Um zwanzig Uhr, sobald sich Gerda mit ihrem Rad auf den Nachhauseweg gemacht hatte und wir gerade bei der Vorspeise saßen, beugte sich Emma zu mir.

»Haben Sie schon einmal Briefe verbrannt?«

»Ja.«

»Was haben Sie dabei empfunden?«

»Ich war zornig, dass ich dazu gezwungen war.«

Durch meine Antwort ermutigt, entgegnete sie mit funkelnden Augen:

»Genau. Einmal, es ist dreißig Jahre her, war auch ich gezwungen, die Worte und Fotos, die mit dem Mann zu tun hatten, den ich liebte, in den Kamin zu werfen. Ins Feuer, und ich habe zugesehen, wie die fassbaren Spuren meines Schicksals darin zu Asche wurden; auch wenn ich weinte, während ich dieses Opfer brachte, ging es mir nicht wirklich nahe: Mir blieben ja meine Erinnerungen, und zwar für immer; ich sagte mir, dass niemand meine Erinnerungen je verbrennen könnte, niemals.«

Sie sah mich traurig an.

»Ich habe mich geirrt. Am Donnerstag, als ich diesen dritten Herzanfall hatte, entdeckte ich, dass meine Krankheit im Begriff ist, meine Erinnerungen auszulöschen. Und dass der Tod diese Arbeit zu Ende führen wird. Folgendes: Im Krankenhaus habe ich beschlossen, mit Ihnen zu reden. Ihnen alles zu erzählen, nur Ihnen.«

»Warum mir?«

»Sie schreiben.«

»Sie haben mich nicht gelesen.«

»Nein, aber Sie schreiben.«

»Möchten Sie, dass ich aufschreibe, was Sie mir anvertrauen?«

»Auf keinen Fall.«

»Was dann?«

»Sie schreiben … das bedeutet, Sie sind auf andere neugierig. Und was ich brauche, ist ein wenig Neugierde, mehr nicht.«

Ich lächelte und berührte leicht ihre Hand.

»Wenn das so ist, bin ich einverstanden.«

Sie lächelte ihrerseits, verlegen über meine Vertraulichkeit. Nach einem Hüsteln strich sie mit dem Fingernagel über den Rand ihres Tellers, senkte die Lider und begann zu erzählen.

 

»Eines Morgens, vor mehr als fünfzig Jahren, wachte ich in der festen Überzeugung auf, dass mir etwas Wichtiges widerfahren würde. Eine Vorahnung, eine Erinnerung? Ich wusste es nicht. Erhielt ich eine Botschaft aus der Zukunft, oder folgte ich einem halbvergessenen Traum? Jedenfalls hatte ein Raunen des Schicksals meinen Schlaf genutzt und diese Gewissheit in mir hinterlassen: Etwas würde geschehen.

Sie wissen, wie dumm uns solche Eingebungen machen: Man will unbedingt herausbekommen, was passieren wird, kann es kaum noch erwarten und vertut sich dabei gewaltig. Beim Frühstück legte ich mir somit allerhand zurecht: Mein Vater kam zurück aus Afrika, wo er wohnte; der Postbote brachte mir einen Brief von dem Verleger, der meine Jungmädchengedichte veröffentlichen wollte, oder aber ich traf meinen besten Freund aus Kindertagen wieder.

Der Tag torpedierte meine Illusionen. Der Briefträger ignorierte mich. Nicht ein Mensch läutete an der Tür. Und auch das Schiff aus dem Kongo brachte meinen Vater nicht mit in seiner Fracht.

Kurz, ich empfand meine morgendliche Begeisterung inzwischen als reichlich übertrieben und dachte schon, ich sei verrückt. Am Nachmittag, ich hatte schon so gut wie aufgegeben, machte ich mit Bobby, dem Spaniel, den ich damals hatte, einen Strandspaziergang; und auch dort sah ich, trotz allem, aufmerksam aufs Meer hinaus, man wusste ja nie … Ein starker Wind wehte, kaum ein Schiff fuhr, und der Strand war menschenleer.

Ich ging langsam vor mich hin, entschlossen, meine Enttäuschung mit Ermüdung zu bekämpfen. Mein Hund, der begriff, dass sich der Spaziergang hinziehen würde, stöberte ein vergessenes Spielzeug auf, um sich mit mir die Zeit zu vertreiben.

Er rannte zu einer Düne, wohin ich den Ball geworfen hatte, als er mit einem Mal, als hätte ihn etwas gestochen, zurückwich und zu bellen begann.

Ich versuchte vergeblich, ihn zu beruhigen, untersuchte die Ballen seiner Pfoten, fand nichts, machte mich laut über ihn lustig und ging den Ball schließlich selbst holen.

Da tauchte ein Mann aus dem Gebüsch auf.

Er war nackt.

Als er mein Befremden sah, riss er mit kräftiger Hand ein Büschel Gras aus und bedeckte damit sein Geschlecht.

»Mademoiselle, ich flehe Sie an, haben Sie keine Angst.«

Ich hatte keine Angst, im Gegenteil. Er wirkte so stark auf mich, so männlich, so überaus begehrenswert, dass es mir den Atem verschlug.

Flehentlich streckte er seine Hand nach mir aus, wie um mich zu beruhigen.

»Bitte, könnten Sie mir helfen?«

Ich bemerkte, dass sein Arm zitterte.

»Ich … ich habe meine Kleider verloren …«

Nein, er zitterte nicht, ihn fröstelte.

»Ist Ihnen kalt?«, fragte ich.

»Ein wenig.«

Seine zurückhaltende Äußerung ließ auf eine gute Erziehung schließen. Ich überlegte rasch, was zu tun sei.

»Möchten Sie, dass ich Ihnen etwas zum Anziehen hole?«

»O ja, bitte …«

Ich überschlug kurz, wie viel Zeit ich dazu benötigte. »Das Problem ist, ich brauche zwei Stunden, eine für den Hinweg und eine für den Rückweg; bis dahin sind Sie zu Eis erstarrt. Zumal der Wind zunimmt und es dunkel wird.«

Ohne länger zu zögern, knotete ich den Umhang auf, den ich anstelle eines Mantels trug.

»Hören Sie, legen Sie sich das um und kommen Sie mit. Das ist die beste Lösung.«

»Aber … aber … Sie werden sich erkälten.«

»Gehen wir, ich habe immer noch mein Kleid und einen Pullover, wohingegen Sie nichts haben. Jedenfalls kommt es nicht in Frage, dass ich mit einem nackten Mann an meiner Seite den Strand entlanglaufe. Entweder Sie nehmen meinen Umhang, oder Sie bleiben hier.«

»Ich warte.«

»Was für ein Vertrauen«, sagte ich lachend, da mir plötzlich die Komik der Situation aufging. »Und wenn ich nun nicht wiederkomme?«

»Das werden Sie nicht tun.«

»Woher wissen Sie das? Hat Ihnen vielleicht irgendwer verraten, wie ich für gewöhnlich mit nackten Männern verfahre, die ich im Gebüsch aufspüre?«

Jetzt lachte er seinerseits laut auf.

»Einverstanden. Ich nehme Ihren Umhang gern an, danke.«

Ich ging zu ihm, damit er seine Hände nicht heben und sein Geschlecht entblößen musste, und hängte ihm das wollene Kleidungsstück um die Schultern.

Erleichtert hüllte er sich darin ein, obgleich es seinen großen Körper kaum bedeckte.

»Ich heiße Guillaume«, rief er, als sei es an der Zeit, sich vorzustellen.

»Emma«, erwiderte ich. »Reden wir nicht lange und gehen so schnell wie möglich zu mir, bevor wir bei diesem Wetter noch zu Eis erstarren. Einverstanden?«

Wir kämpften gegen den Wind an.

Hat man beim Gehen erst einmal eine bestimmte Richtung eingeschlagen, ist nichts unangenehmer als diese Art der Fortbewegung. Während zielloses Flanieren Vergnügen bereitet, kommt einem jedes zielgerichtete Gehen endlos vor.

Glücklicherweise ist dem seltsamen Paar, das wir abgaben, niemand begegnet. Da wir schwiegen, wurde ich mit jeder Minute unsicherer, ich wagte meinen Weggefährten kaum anzusehen, ich fürchtete, der Wind könnte den Stoff lüften und mein Blick als anzüglich verstanden werden. Daher schritt ich, mit verkrampften Schultern und steifem Nacken, kräftig aus.

Kaum waren wir heil in der Villa Circé angelangt, hüllte ich ihn fest in die Decken aus dem Salon und begab mich eilig in die Küche, um Wasser aufzusetzen. Ich mimte die gute Hausfrau, ich, mit meinen zwei linken Händen. Während ich Gebäck auf einen Teller legte, ging mir kurz durch den Kopf, dass ich ausgerechnet an einem Tag ohne Personal einen Unbekannten mit in mein Haus brachte, dann aber ärgerte ich mich über dieses kleinliche Misstrauen und kehrte rasch mit meinem Tablett und dem dampfenden Tee in die Bibliothek zurück.

Er erwartete mich lächelnd und vor Kälte zitternd, zusammengerollt auf dem Sofa.

»Danke.«

Wieder fielen mir sein klares Gesicht auf, seine hellen Augen, sein langes gelocktes, goldenes Haar, seine vollen Lippen und sein weicher Hals mit dem kräftigen Ansatz. Einer seiner Füße schaute unter der Decke hervor, und ich bemerkte, dass sein Bein glatt, schlank und unbehaart war wie antiker Marmor. Mein Salon beherbergte eine griechische Statue, den von Kaiser Hadrian abgöttisch verehrten Antinous, jenen prachtvollen jungen Mann, der sich einst aus Schwermut in die Wasser des Nils gestürzt hatte. An diesem Nachmittag war er unversehrt den grünen Fluten der Nordsee entstiegen. Mich schauderte.

Er missverstand meine Reaktion.

»Sie frieren wegen mir! Es tut mir aufrichtig leid.«

»Nein, nein, nicht der Rede wert. Ich mache gleich ein Feuer an.«

»Möchten Sie, dass ich Ihnen helfe?«

»Finger weg! Solange Sie nicht herausgefunden haben, wie man sich in diese Decken hüllt, ohne Gefahr zu laufen, sich schämen zu müssen, rate ich Ihnen, brav auf meinem Sofa sitzen zu bleiben.«

Ich tat mich sonst schwer mit dem Feueranzünden, aber jetzt ging es wie von selbst, und die Flammen leckten schnell an den Holzscheiten, während ich uns Tee einschenkte.

»Ich schulde Ihnen eine Erklärung«, sagte er, den ersten Schluck genießend.

»Sie schulden mir nichts, und im Übrigen habe ich etwas gegen Erklärungen.«

»Was ist Ihrer Meinung nach geschehen?«

»Ich weiß es nicht. Sagen wir einmal, Sie sind heute Nachmittag geboren worden, als sie dem Wasser entstiegen.«

»Oder aber?«

»Sie waren gerade mit einer Fracht Sklaven Richtung Amerika unterwegs, als Piraten angriffen und das Schiff vor Ostende sank; aber Sie, Sie konnten sich wie durch ein Wunder Ihrer Ketten entledigen und bis ans Ufer schwimmen.«

»Warum bin ich versklavt worden?«

»Ein furchtbares Missverständnis. Ein Justizirrtum.«

»Ah, ich sehe, Sie sind auf meiner Seite.«

»Voll und ganz.«

Erheitert zeigte er auf die vielen Bücher, die uns umgaben.

»Sie lesen?«

»Ja, ich habe vor einigen Jahren das Alphabet gelernt und mache hin und wieder Gebrauch davon.«

»Diese lebhafte Phantasie haben Sie doch nicht zusammen mit dem Alphabet erworben …«

»Man hat sie mir so oft vorgehalten, meine Phantasie. Als wäre sie ein Makel. Wie denken Sie darüber?«

»Bei Ihnen finde ich sie wunderbar«, flüsterte er mit einem verwirrenden Lächeln.

Ich verstummte. Meine Inspiration hatte mich schlagartig verlassen und wich einer inneren Unruhe. Was zum Teufel stellte ich da mutterseelenallein in meinem Haus mit einem Unbekannten an, den ich nackt im Gebüsch angetroffen hatte? Logischerweise hätte ich Angst haben müssen. Tief in meinem Inneren hatte ich das Gefühl, einer Gefahr zu trotzen.

Ich versuchte, das Ganze etwas nüchterner anzugehen.

»Wie lange haben Sie da eigentlich in den Dünen nach jemandem Ausschau gehalten?«

»Stunden. Bevor Sie kamen, hatte ich es bereits bei zwei Spaziergängerinnen versucht. Sie haben die Flucht ergriffen, ehe ich ihnen auch nur irgendetwas hätte erklären können. Ich habe sie erschreckt.«

»Ihre Aufmachung vielleicht?«

»Ja, meine Aufmachung. Dabei ging es doch nun wirklich nicht noch einfacher.«

Wir lachten herzlich.

»Es ist alles meine Schuld«, fuhr er fort. »Ich habe mich für einige Wochen nicht weit von hier mit meiner Familie einquartiert, und heute Mittag verspürte ich das Verlangen, baden zu gehen. Ich habe meinen Wagen hinter den Dünen geparkt, an einer Stelle, die man ohne weiteres wiedererkennen konnte, und dann, da weit und breit kein Mensch zu sehen war, aber wirklich kein Mensch, habe ich meine Kleider unter einen Stein gelegt und bin lange geschwommen. Als ich wieder an Land kam, habe ich weder den Stein noch meine Kleider oder meinen Wagen finden können.«

»Davongeflogen? Gestohlen?«

»Ich bin nicht sicher, ob ich nach dem Schwimmen an derselben Stelle gelandet bin, denn ich habe alles nur vage wiedererkannt. Was ähnelt Sand mehr als Sand?«

»Und einem Fels mehr als ein Fels?«

»Genau! Daher habe ich Ihnen auch nicht vorgeschlagen, meinen Wagen hinter den Dünen zu suchen, denn ich habe nicht die geringste Ahnung, wo er ist.«

»Zerstreut?«

»Ich konnte ihm einfach nicht widerstehen, diesem Verlangen, nackt im Meer zu treiben. Diese grenzenlose Weite.«

»Ich kann Sie verstehen.«

Und es stimmte: Ich verstand ihn. Er musste, wie ich, eine einsame Seele sein, um in der Natur so überschwänglich zu fühlen. Dennoch beschlich mich ein Zweifel.

»Hatten Sie die Absicht zurückzukommen?«

»Als ich ins Wasser ging, ja. Als ich schwamm, nein. Ich wünschte, es würde nie aufhören.«

Er sah mich aufmerksam an und fügte langsam hinzu:

»Ich bin nicht selbstmordgefährdet, wenn das der Sinn Ihrer Frage war.«

»Das war er.«

»Ich flirte mit der Gefahr, ich vibriere, wenn ich mich in Gefahr begebe, eines Tages werde ich zweifellos etwas definitiv Unbedachtes tun, aber ich verspüre keinerlei Verlangen zu sterben.«

»Eher ein Verlangen zu leben?«

»Richtig.«

»Und zu fliehen …«

Gerührt über meine Bemerkung, zog er die Decke ein Stück höher um sich, als wollte er sich vor meinem Scharfblick, der ihm peinlich war, schützen.

»Wer sind Sie?«, fragte er.

»Was glauben Sie?«

»Meine Retterin«, murmelte er lächelnd.

»Und was noch? Lassen Sie uns doch einmal sehen, wie es um Ihre Phantasie bestellt ist.«

»Oh, ich glaube, ich beherrsche nur das Alphabet, an Phantasie, da fehlt es mir.«

»Was spielt es schon für eine Rolle, wer wir sind? Sie sind nur eine prachtvolle lebende Statue, die ich am Strand aufgesammelt habe, auftaue und anziehen werde, um Sie bald Ihrer Frau zurückzugeben.«

Er runzelte die Brauen.

»Was reden Sie da von meiner Frau? Ich bin nicht verheiratet.«

»Verzeihen Sie, aber eben noch haben Sie von Ihrer …«

»Familie gesprochen. Ich bin mit meiner Familie hier. Eltern, Onkels, Cousins.«

Wie dumm von mir! Ich hatte gedacht, er sei verheiratet, hatte ihm nur deshalb gesagt, wie wunderbar er sei, und war nun so verlegen, als wäre ich jetzt die Schamlose und stünde nackt vor ihm. Er hielt den Kopf ein wenig schräg und sah mich aufmerksam an.

»Und Sie … Ist Ihr Mann nicht hier?«

»Nein. Nicht im Augenblick.«

Er erwartete eine ausführlichere Antwort. Ich musste mir etwas einfallen lassen, stand daher rasch auf und machte mir am Kamin zu schaffen … Es verwirrte mich, dass mir dieser Mann so sehr gefiel. Ich hatte es nicht eilig, ihn loszuwerden; zugleich konnte ich mich nicht entschließen, ihm zu gestehen, dass ich dieses Haus allein bewohnte. Wenn er die Situation ausnutzte … Aber wozu? Um mich zu verführen, ich hatte nichts dagegen. Um mich zu bestehlen? In Anbetracht seiner Aufmachung war er der Bestohlene und nicht der Stehlende. Um mich zu misshandeln? Er war nicht gewalttätig, nein, kaum anzunehmen.

Als ich mich umwandte, fragte ich ihn abrupt:

»Sind Sie gefährlich?«

»Kommt darauf an für wen … Für Fische, Hasen und Fasane, ja, zumal ich angele und jage. Davon abgesehen …«

»Ich kann Jäger nicht ausstehen.«

»Dann können Sie also auch mich nicht ausstehen.«

Er lächelte mich herausfordernd an. Ich nahm erneut ihm gegenüber Platz.

»Ich werde dafür sorgen, dass Sie Ihre Meinung ändern …«

»Wir kennen uns erst seit ein paar Minuten, und schon wollen Sie mich ändern?«

»Wir kennen uns kein bisschen.«

Er zog die Decke um seine Schultern zurecht und fuhr leise fort:

»Um auf Ihre Frage zurückzukommen, Sie haben nichts von mir zu befürchten. Ich bin Ihnen überaus dankbar, dass Sie mir aus dieser misslichen Situation geholfen haben, nicht gezögert haben, mir Ihre Tür zu öffnen. Aber ich stehle Ihnen Ihre Zeit … Dürfte ich vielleicht kurz anrufen, damit man mich abholt?«

»Selbstverständlich. Möchten Sie zuvor noch ein Bad nehmen? Um sich aufzuwärmen …«

»Ich habe nicht gewagt, Sie darum zu bitten.«

Wir standen auf.

»Und wenn Sie vielleicht etwas zum Anziehen hätten …«

»Etwas zum Anziehen?«

»Ja, ein Hemd, eine Hose, Sie bekommen sie natürlich gewaschen und gebügelt zurück, dafür sorge ich.«

»Es ist nur … ich habe keine Männerkleidung hier.«

»Und die Ihres Mannes?«

»Tja … ich habe keinen Mann.«

Schweigen machte sich zwischen uns breit. Er lächelte. Ich ebenfalls. Ich ließ mich wie ein Hampelmann in meinen Sessel fallen.

»Es tut mir leid, aber ich habe nun einmal keinen Mann, um Ihnen aus der Klemme zu helfen, ich bin bisher nie auf die Idee gekommen, dass mir ein Mann von Nutzen sein könnte.«

Er lachte und setzte sich wieder aufs Sofa.

»Dabei kann ein Ehemann durchaus nützlich sein.«

»Oh, ich fühle keine Begierde zu wissen, was Sie mir damit sagen wollen. Aber gut, fahren Sie trotzdem fort … Wozu also sollte mir ein Mann nützen? Sagen Sie schon …«

»Er könnte Ihnen Gesellschaft leisten.«

»Ich habe meine Bücher.«

»Mit Ihnen an den Strand gehen.«

»Dazu habe ich Bobby, meinen Spaniel.«

»Er könnte zur Seite treten und Ihnen die Tür aufhalten, wenn Sie irgendwo eintreten.«

»Ich habe keinerlei Probleme mit Türen und würde einen Ehemann, der zur Seite tritt, nicht sonderlich schätzen. Nein, das ist nicht genug, was könnte ich sonst noch von ihm haben?«

»Er könnte Sie in die Arme nehmen, Ihren Hals liebkosen, Sie küssen.«

»Schon besser. Und dann?«

»Dann könnte er Sie in ein Bett mitnehmen und Sie glücklich machen.«

»Tatsächlich?«

»Er würde Sie lieben.«

»Könnte er das?«

»Es dürfte nicht schwierig sein, Sie zu lieben.«

»Weshalb?«

»Weil Sie liebenswert sind.«

Wir waren einander auf eine ebenso unwiderstehliche wie unbewusste Art nähergekommen.

»Muss ich einen Mann heiraten, um das zu bekommen? Würde ein Liebhaber diese Rolle nicht genauso gut erfüllen?«

»Ja …«, bestätigte er mit einem Seufzer.

Plötzlich verzerrte sich sein Gesicht. Er setzte sich abrupt zurück, zog die Decke an sich, stand auf, ließ seinen Blick unruhig über die Wände schweifen und wechselte dann vollkommen Ton und Stimme.

»Es tut mir leid, Mademoiselle, ich bitte Sie, mein Verhalten zu entschuldigen. Sie verfügen über so viel Charme, dass ich die Situation vergesse, die Sie dazu zwingt, mir zuzuhören, und mir unstatthafte Freiheiten herausnehme. Verzeihen Sie, sehen Sie mir mein Verhalten bitte nach. Könnten Sie mir einfach nur Ihr Badezimmer zeigen?«

Eine bisher ungekannte Strenge klang in seiner Stimme an; ich erfüllte ihm seinen Wunsch umgehend.

Als er in der Badewanne saß, versprach ich ihm, dass auf dem Hocker hinter der Tür Kleider für ihn bereitlägen, und eilte in mein Zimmer.

Während ich hastig Schubladen und Schränke öffnete, vergegenwärtigte ich mir nochmals alles. Was war mit mir geschehen? Ich hatte mich leichtfertig verhalten, ich hatte ihm geschmeichelt, hatte ihn provoziert, gereizt, ja, hatte ihn veranlasst, mir den Hof zu machen … Das Verlangen zu gefallen hatte mich unmerklich überkommen, hatte meine Worte überschwänglich werden lassen, meine Bewegungen beschwingt, meine Blicke bedeutungsschwer, kurz, es hatte dazu geführt, dass aus unserer Unterhaltung ein Flirt wurde. Ungewollt hatte ich für erotische Spannung zwischen uns gesorgt. Ich hatte ihm das Bild einer leicht zu erobernden Frau vermittelt und ihn dazu verleitet, den Draufgänger zu spielen, hätte er nicht im letzten Moment eine Kehrtwendung gemacht und sich auf seine gute Erziehung besonnen.

Meine Wandschränke brachten mich zur Verzweiflung. Ich fand nicht nur nichts, das für einen Mann geeignet gewesen wäre, sondern auch nichts in seiner Größe. Plötzlich kam ich auf die Idee, hoch ins Zimmer von Margit zu gehen, meinem Dienstmädchen, einer großen, kräftigen, beleibten Person, und mir, ihre Abwesenheit nutzend, etwas zu borgen.

Schweißgebadet entwendete ich aus ihrem Schrankkoffer das weiteste Kleidungsstück und stieg dann rasch wieder nach unten, um hinter der Tür lauthals zu beteuern:

»Es ist mir entsetzlich peinlich, eine echte Katastrophe. Aber ich habe nur einen Hausrock für Sie, von meinem Dienstmädchen.«

»Es wird schon gehen.«

»Das denken Sie nur, weil Sie ihn nicht gesehen haben. Ich erwarte Sie unten.«

Als er leichtfüßig die Treppe herunterkam, ausstaffiert mit diesem weiten, weißen Baumwollhausrock, Kragen und Ärmel mit Spitzen besetzt – das müssen Sie sich mal vorstellen –, brachen wir in Gelächter aus. Er machte sich über seinen lächerlichen Aufzug lustig, und ich kicherte vor Verlegenheit, da ihn dieses weibliche Kleidungsstück durch den Kontrast noch männlicher erscheinen ließ, noch kraftvoller. Die Größe seiner Hände und Füße verwirrte mich.

»Kann ich kurz telefonieren?«

»Ja. Das Telefon steht dort.«

»Und was soll ich dem Fahrer sagen?«

Erstaunt, dass er einen Fahrer statt jemanden aus seiner Familie anrief, verstand ich seine Frage nicht gleich und erwiderte wie beiläufig:

»Sagen Sie ihm, dass er willkommen ist und auch eine Tasse Tee auf ihn wartet.«

Guillaume bekam daraufhin einen solchen Lachanfall, dass er sich auf die Treppenstufen setzen musste. Ich war hocherfreut, eine solche Wirkung auf ihn zu haben, auch wenn ich nicht recht verstand weshalb. Als er sich wieder erholt hatte, sagte er:

»Nein, ich wollte nur wissen, welche Adresse ich dem Fahrer nennen muss, damit er mich findet.«

»Villa Circé, Rue des Rhododendrons Nr. 2, Ostende.«

Um meinen Irrtum wiedergutzumachen und ihm zu beweisen, dass ich wusste, was sich gehört, ließ ich ihn allein telefonieren und ging in die Küche, wo ich mir geräuschvoll zu schaffen machte, er sollte wissen, dass ich nicht lauschte, ich trällerte sogar leise vor mich hin, während ich mit dem Teekessel, den Löffeln und Tassen hantierte.

»Wenn Sie Tee kochen, hört sich das an, als seien die Schlagzeuger eines Symphonieorchesters am Werk.«

Ich erschrak, als ich sah, dass er in der Tür stand und mich beobachtete.

»Haben Sie Ihre Familie erreicht? Sind sie jetzt beruhigt?«

»Sie waren nicht beunruhigt.«

Wir gingen zurück in den Salon.

»Schreiben Sie, Emma?«

»Wozu diese Frage? Das fragen mich alle!«

»Sie lesen offenbar viel.«

»Ich habe einige Gedichte verbrochen, aber jetzt reicht es, ich höre damit auf. Lesen und Schreiben haben nichts miteinander zu tun. Frage ich Sie etwa, ob Sie eine Frau werden, nur weil sie Frauen lieben? Nun, Ihre Frage ist genauso absurd.«

»Mag sein, aber woher wissen Sie, dass ich Frauen liebe?«

Ich schwieg. Wie peinlich! Abermals hatte ich ungewollt erotische Anspielungen gemacht. Wann immer dieser Mann sich weniger als drei Meter von mir entfernt aufhielt, konnte ich nicht anders, als mit ihm zu flirten.

»Ich vermute es«, flüsterte ich und sah auf den Boden.

»Denn eigentlich sagt man mir das gar nicht nach«, fuhr er leise fort. »Meine Brüder und meine Cousins sind weit größere Schürzenjäger als ich. Sie werfen mir vor, ich sei brav, viel zu brav.«

»Ach ja, und warum sind Sie so brav?«

»Zweifellos, weil ich mich für eine Frau aufhebe. Die richtige. Die wahre.«

Ich hatte doch tatsächlich zunächst gedacht, dieser Satz sei an mich adressiert. Als ich meinen Irrtum bemerkte, versuchte ich sofort, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.

»Sie werden mir nicht weismachen wollen, dass Sie in Ihrem Alter keine … noch immer keine …«

Ich sprach meinen Satz nicht zu Ende, so bestürzt war ich über mich selbst! Ich entblödete mich nicht, einen umwerfend schönen Mann, den ich in Frauenkleider gesteckt hatte, auszufragen, nur weil ich wissen wollte, ob er noch unberührt war!

Er verzog halb verblüfft, halb belustigt den Mund.

»Nein, ich kann Sie beruhigen … Ich habe es getan. Und ich tue es nach wie vor mit Vergnügen. Sie müssen wissen, in meinem Umfeld gab es viele Frauen, die älter waren als ich und noch immer wunderschön und sich einen Spaß daraus machten, mich schon verhältnismäßig früh einzuweihen.«

»Dann bin ich ja beruhigt«, seufzte ich, als würde er mir von seinen Erfolgen beim Golf erzählen.

»Obgleich ich mir eigentlich mehr aus einer Wanderung durch die Natur mache, einem langen Ausritt oder gern ein paar Stunden schwimme, wie heute Mittag. Ich bevorzuge Freuden dieser Art.«

»Mir geht es genauso«, log ich.

Ein Holzscheit drohte zu verglühen, und ich nutzte die Gelegenheit, rasch zum Kamin zu gehen.

»Warum erzählen Sie mir das alles?«, entgegnete ich schroff.

»Wie bitte?«

»Warum erzählen Sie mir so persönliche Dinge, wir kennen uns doch gar nicht?«

Er wandte sich ab, überlegte eine Weile und sah mich dann ernst an.

»Für mich liegt das auf der Hand …«

»Für mich nicht.«

»Wir gefallen einander doch, oder?«

Jetzt war ich diejenige, die sich abwandte und vorgab zu überlegen, ehe ich ihn fest ansah.

»Ja, Sie haben recht, es sieht ganz so aus.«

Ich glaube, in diesem Augenblick – wie auch in den Jahren, die uns noch bleiben sollten – wurde die Atmosphäre, die uns umgab, eine andere.

Die Klingel zerriss diese Harmonie mit ihrem schrillen Klang. Er verzog das Gesicht:

»Mein Chauffeur …«

»Schon?«

Das Leben ist voller Überraschungen: Mittags kannte ich diesen Mann noch nicht einmal, und in der Dämmerung fiel es mir bereits unendlich schwer, mich von ihm zu trennen.

»Nein, Guillaume, so können Sie nicht gehen.«

»Im Hausrock?«

»Im Hausrock oder worin auch immer, Sie dürfen nicht gehen.«

»Ich komme wieder.«

»Versprochen?«

»Ich schwör’s.«

Er küsste mir einen Augenblick lang die Hand, ein Augenblick, so reich wie die dreiundzwanzig Jahre, die ich bis dahin gelebt hatte.

Während er über die Schwelle trat, sagte ich noch:

»Sie müssen unbedingt wiederkommen, denn ich, ich weiß ja nicht einmal, wer Sie sind.«

Er kniff die Augen zusammen.

»Das ist ja das Wunderbare, Sie haben mich nicht erkannt.«

Dann schloss er die Tür.

Ich wollte nicht sehen, wie er davonfuhr, und blieb niedergeschlagen hinten in der dunklen Eingangshalle stehen.

Ich war so aufgewühlt, dass ich seinem letzten Satz keine Beachtung geschenkt hatte; nachts aber, als ich jeden Augenblick unserer Begegnung noch einmal Revue passieren ließ, ging mir dieses »Sie haben mich nicht erkannt« immer wieder durch den Kopf. War ich ihm schon einmal begegnet? Nein, einen Mann von seinem Äußeren hätte ich nicht vergessen. Hatten wir in der Kindheit miteinander verkehrt? Ich hätte den kleinen Jungen nicht in dem Erwachsenen wiedererkannt. Ja, das musste es sein, wir waren früher oft zusammen und hatten uns dann aus den Augen verloren, er hatte mich wiedererkannt, ich ihn nicht, das war die Erklärung für seinen Satz.

Wer war er?

So sehr ich auch in meinem Gedächtnis kramte, ich fand keine Spur, die zu Guillaume führte … Und konnte es daher kaum erwarten, ihn wiederzusehen.

Am nächsten Tag kündigte er sich mit einem Telefonanruf an und fragte, ob er zum Tee kommen dürfe.

Als er erschien, war ich so beeindruckt von der Eleganz seines Blazers, der Erlesenheit seines Hemdes, dem Schick seiner Schuhe und den vielen Details, die aus dem wilden Mann einen Mann von Welt machten, dass ich das Gefühl hatte, einem Fremden gegenüberzustehen.

Er bemerkte meine Verlegenheit.

»Aber, aber, nun sagen Sie nur nicht, Sie bedauern, dass ich meine eigenen Kleider trage. Sonst ziehe ich sofort den Hausrock Ihres Dienstmädchens wieder an, den ich Ihnen hiermit zurückbringe.«

Er präsentierte mir ein in Seidenpapier eingeschlagenes Wäschestück.

»Nur keine Drohungen«, sagte ich, »ich werde versuchen, mich an Ihren neuen Anblick zu gewöhnen.«

Ich führte ihn in den Salon, wo bereits Tee und Gebäck standen. Er schien erfreut über die ihm vertraute Umgebung.

»Ich musste immerzu an Sie denken«, gestand er, während er sich setzte.

»Stehlen Sie mir nicht meine Worte, genau das wollte ich Ihnen gerade sagen.«

Er legte einen Finger auf seinen Mund und wiederholte noch einmal sanft:

»Ich musste immerzu an Sie denken …«

»Mein Liebster«, rief ich und begann zu schluchzen.

Sobald dieser Mann in meiner Nähe war, wusste ich nicht mehr, was ich tat. Warum brach ich in Tränen aus? Um mich in seine Arme zu flüchten? –, was in der folgenden Sekunde auch geschah. Zweifellos … Offensichtlich erwachte, sobald er sich näherte, eine andere, sehr viel weiblichere Frau in mir, die sich geschickt zurechtfand. Ich ließ sie gewähren.

Nachdem er mich getröstet hatte, löste er sich aus meiner Umarmung, ließ uns, jeder auf einem Sessel, Platz nehmen und bat mich, Tee einzuschenken. Er tat recht daran. Zu viel Gefühl ist tödlich. Dieses sich Besinnen auf eine ganz banale Tätigkeit erlaubte mir, meine Fassung zurückzugewinnen und erneut meinen Verstand einzuschalten.

»Guillaume, Sie haben mich gestern wiedererkannt, ich Sie aber nicht.«

Er verzog fragend das Gesicht und runzelte die Stirn.

»Wie bitte? Ich soll Sie wiedererkannt haben?«

»Ja, wir haben doch als Kinder zusammen gespielt, oder?«

»Tatsächlich?«

»Sie erinnern sich nicht?«

»Nein, kein bisschen.«

»Warum haben Sie mir dann vorgehalten, Sie nicht zu erkennen?«

Das schien ihn ungemein zu erheitern.

»Wirklich, Sie sind einfach umwerfend.«

»Wie? Was habe ich gesagt?«

»Sie sind die einzige Frau, die fähig ist, sich in einen Mann zu verlieben, der aus dem Wasser kommt. Wenn ich mich darüber amüsiere, dass Sie mich nicht wiedererkannt haben, dann weil ich bekannt bin.«

»Mir?«

»Nein. Vielen Leuten. Ich stehe in der Zeitung, es gibt Fotos von mir.«

»Weshalb? Wie kommt das?«

»Wie das kommt?«

»Schreiben Sie, treiben Sie irgendeinen Sport, gewinnen Sie Wettkämpfe? Autorennen? Tennisturniere? Segelregatten? Sicher verdanken Sie Ihre Berühmtheit Ihrem Talent. Was machen Sie?«

»Ich mache nichts. Ich bin.«

»Sie sind?«

»Ich bin.«

»Sie sind was?«

»Prinz.«

Auf diese Antwort war ich so wenig gefasst, dass es mir für eine Weile die Sprache verschlug.

Schließlich wurde er unruhig.

»Schockiert Sie das?«

»Mich?«

»Sie haben das Recht, die Monarchie für skurril und überholt zu halten.«

»O nein, nein, nein, das ist es nicht. Es ist nur … ich komme mir vor wie ein kleines Mädchen … Sie wissen schon, das kleine Mädchen, das in den Prinzen vernarrt ist. Grotesk! Ich komme mir lächerlich vor. Wie lachhaft, nicht zu wissen, wer Sie sind. Wie lächerlich, etwas für Sie zu empfinden. Einfach lächerlich!«

»Sie sind nicht lächerlich!«

»Wenn ich wenigstens Schäferin wäre«, scherzte ich, »das ergäbe dann einen Sinn! Der Prinz und die Schäferin, nicht wahr? Nur habe ich leider keine Schafe, ich habe niemals Schafe gehütet, ja, ich fürchte, ich kann Schafe nicht ausstehen, sie stinken einfach zu sehr. Ich bin ein hoffnungsloser Fall.«

Immerhin schien ich ihn zu belustigen. Er griff nach meinen Händen, um mich in meiner Hektik zu beruhigen.

»Bleiben Sie, wie Sie sind. Wenn Sie wüssten, wie sie mich entzückt, Ihre Unkenntnis … Normalerweise fallen junge Mädchen vor mir in Ohnmacht.«

»Nehmen Sie sich in Acht, sonst falle auch ich noch vor Ihnen in Ohnmacht! Mir ist übrigens ganz danach.«

Wir begannen uns wieder angeregt zu unterhalten. Er wollte alles über mich wissen und ich alles über ihn, und doch spürten wir sehr wohl, dass wir nicht zusammen waren, um uns unsere jeweilige Vergangenheit zu erzählen, sondern um uns eine gemeinsame Gegenwart zu erfinden.

Er besuchte mich von da an jeden Nachmittag.

Ich muss gestehen, es lag an ihm und nicht an mir, dass wir nicht gleich miteinander schliefen. Ich – oder besser die durch und durch weibliche Frau in mir – hätte sich ihm bereits bei unserer zweiten Begegnung hingegeben. Doch er bestand darauf, dass wir uns Zeit ließen. Zweifellos wollte er diesem Augenblick seinen wahren Wert zumessen.

Und so trafen wir uns mehrere Wochen lang und tauschten nur Worte aus und Küsse. Bis zu dem Tag, als wir unsere Lippen nicht mehr voneinander lösen konnten.

Da begriff ich, er hatte aus Achtung vor mir nicht gewollt, dass ich mich ihm gleich hingab, und wartete nun auf ein Zeichen von mir.

Was denn auch kam …«

 

Emma van A. unterbrach ihren Bericht. Sie räusperte sich und dachte nach.

»Es gibt nichts Hässlicheres als einen alten hinfälligen Körper, der sich der Sinnlichkeit erinnert. Das möchte ich Ihnen nicht zumuten. Ist man einmal so alt wie ich, sollte man bestimmte Themen nicht mehr ansprechen, andernfalls läuft man im Glauben, Begehrlichkeit zu wecken, Gefahr, Abscheu hervorzurufen. Daher werde ich das auch anders machen. Können wir den Tisch verlassen?«

Wir begaben uns in den Salon, mitten zwischen die Bücher.

Geschickt brachte sie ihren Rollstuhl vor einem alten Sekretär zum Stehen und setzte einen Mechanismus in Gang, der ein Geheimfach öffnete, dem sie ein schmales, in orangefarbenes Leder gebundenes Heft entnahm.

»Hier, bitte. Als ich mich entschied, seine Geliebte zu werden, habe ich dies hier verfasst.«

»Ich komme mir sehr indiskret vor …«

»Nur zu, nehmen Sie schon. Setzen Sie sich unter diese Lampe, lesen Sie. Es ist die beste Art für mich, mit meinem Geständnis fortzufahren.«

Ich schlug das Heft auf.

Für meinen Gebieter und künftigen Meister
Das Liebesbrevier
Emma van A.

Da die Liebe, für mein Empfinden, nichts mehr herabmindert als unbedachte, banale, brutale Umarmungen, lege ich dieses Menü dem Mann vor, an dem ich Gefallen gefunden habe. Er möge davon Gebrauch machen wie von einer Speisekarte und mir darauf Abend für Abend zeigen, wonach ihn verlangt.

1 – Die Qualen des Odysseus und der Sirenen.

Odysseus ließ sich, wie man weiß, am Mast seines Schiffes festbinden, um nicht dem verführerischen Gesang der Sirenen zu erliegen. Mein Gebieter wird auf ebendiese Weise an einer Säule festgebunden, so spärlich wie möglich bekleidet, mit einer Binde, die ihn am Sehen, und einem Band, das ihn am Sprechen hindert. Sodann wird eine Sirene ihn umkreisen, ihn flüchtig berühren, ohne ihn zu berühren, und ihm alles, was sie ihm zufügen möchte, ins Ohr flüstern. Wenn die Sirene über Phantasie verfügt und desgleichen mein Gebieter, dürften die heraufbeschworenen Szenen eine so starke – wenn nicht stärkere – Wirkung hervorrufen, als hätten sie sich tatsächlich ereignet.

2 – Die Wonnen des Prometheus.

Prometheus wurde, von Zeus bestraft, in Ketten an einen Fels geschmiedet und erlitt fortan die Angriffe eines Adlers, der kam, seine Leber zu verschlingen. Ich schlage vor, meinen Gebieter an etwas ebenso Festes wie einen Fels zu ketten, doch anderes von ihm zu verschlingen. Und dies so oft ihn danach verlangt.

3 – Der Besuch im Traum.

Für die alten Griechen war jeder Traum ein Besuch der Götter. Mein Gebieter wird der Träumende sein, im Bett, nackt auf dem Rücken liegend, und ich werde ihn davon überzeugen, dass Aphrodite, die Göttin der Lüste, ihn während seines Schlafes besucht. Unter der Bedingung, dass er weder die Augen öffnet noch die Hand nach ihr ausstreckt, kurz, sich nicht bewegt, bis auf seine Lenden, und diese nur leicht. Ich werde ihn statt ihrer besteigen und jene subtilen Bewegungen ausführen, die uns zu einem gemeinsamen Höhepunkt führen.

Variante: Mein Gebieter als Besucher und ich als Träumende.

4 – Die Flötenspielerin.

Mein Gebieter wird die Flöte sein, ich die Musikerin. Ich werde sein Instrument virtuos spielen. Ich bin eine gute Interpretin und möchte darauf hinweisen, dass ich sowohl die Blockflöte als auch die Querflöte beherrsche. Die Erste nimmt man in den Mund, die Zweite liebkost man an der Wandung des Rohrs.

5 – Der Bär und der Bienenstock.

Mein Gebieter wird der Bär sein, versessen auf Nektar. Ich werde der Bienenstock sein, unzugänglich, so schwer zu entdecken wie zu erreichen. Hat der Bär dann eine Position gefunden, welche die Sache für ihn wie für mich praktikabel macht, werde ich ihm erlauben, meinen Honig mit seiner nimmermüden Zunge zu schlürfen.

6 – Die ursprüngliche Kugel.

Aristophanes berichtet, dass Mann und Frau ursprünglich einen einzigen Leib bildeten, einen kugelförmigen Leib, dann aber wurden sie voneinander getrennt und in eine männliche und eine weibliche Hälfte geteilt. Wir wagen es, die ursprüngliche Kugel wiederherzustellen, indem wir uns fest aneinanderschmiegen und ineinanderfügen, was ineinandergefügt werden kann. Die Verbindungsstellen unterhalb des Bauches verlangen besonderes Feingefühl. Mit anderen Worten, ein Minimum an Bewegung, damit sich die Empfindsamkeit steigert und lange anhält. Gleichwohl darf die Kugel, wie jede Kugel, auf dem Bett oder dem Teppich umherrollen.

7 – Die verfälschte Kugel.

Hier wird die Kugel fehlerhaft wieder zusammengefügt, denn nicht jeder versteht sich auf die Geometrie. So wird denn der Kopf meines Gebieters zwischen meinen Schenkeln forschen, während ich mich zwischen den seinen umsehe. Auch wenn dies zum Scheitern verurteilt ist, werden wir dennoch versuchen, uns zu vereinigen, indem wir mit unseren Mündern erhaschen, was wir vom Körper des anderen zu fassen bekommen.

8 – Die Leuchtturmwärter

Ein Dichter behauptete, lieben hieße, gemeinsam in dieselbe Richtung schauen. Dies werden wir versuchen, gleich Spähern auf einem gefährlichen Riff, ich vorn und mein Gebieter hinten.

9 – Die Reise des Teiresias

Die einen erinnern sich dieses bedeutenden Griechen als eines Sehers, die anderen als des einzigen zweigeschlechtlichen Menschen, denn es geht die Legende, dass er nacheinander Mann und Frau war. So werden denn mein Gebieter und ich beschließen, die Erfahrungen des Teiresias zu neuem Leben zu erwecken: Mein Gebieter wird die Attitüde der Frau annehmen und ich die Attribute des Mannes.

10 – Zucchino mit Melonen

Ein altes Rezept vom Ägäischen Meer: Man nehme den Zucchino und platziere ihn so zwischen zwei Melonen, dass der Saft kommt.

11 – Warten im Labyrinth

Was ist ein Labyrinth? Ein Ort, an dem man sich verläuft, eine Wand, die eine andere verbirgt, ein vermeintlicher Ausgang, ein geheimnisvolles, unerreichbares Nervenzentrum. Das Spiel besteht darin, wie ein im Labyrinth Gefangener, die Präliminarien mehrfach zu wiederholen, sich in der Tür zu irren, die falsche Wand zu reiben, die Stelle daneben zu kitzeln, kurz, den Höhepunkt langsam zu erreichen. Er ist wohlgemerkt nicht verboten, aber so lange wie möglich hinauszuzögern.

12 – Die Olympischen Spiele

Wie die Athleten des Altertums werden mein Gebieter und ich nackt sein und gesalbt mit Öl. Sodann bieten sich uns zwei Möglichkeiten: Wir können miteinander kämpfen oder einander umsorgen. Wenn wir kämpfen, wird jeder den anderen zu unterwerfen suchen. Wenn wir einander umsorgen, wird einer den anderen massieren. Das eine schließt das andere nicht aus. Jede Form der Unterwerfung ist ebenso erlaubt wie jede Form der Zärtlichkeit.

13 – Schnee auf dem Parnass

Wenn Schnee liegt auf dem Parnass, hinterlässt die Kälte eine brennende Erinnerung auf der Haut; und dennoch vereinen sich dort die Götter. So werden wir denn, mein Gebieter und ich, uns lieben wie die Götter, mit geröteter Haut, nicht vom Schnee, sondern von Schlägen.

Beeindruckt schloss ich das Bändchen. Ich wagte nicht, Emma van A. anzusehen, es hätte mich verlegen gemacht, ich hätte nie vermutet, dass sie so etwas schrieb.

»Was halten Sie davon?«, fragte sie.

Das war genau die Frage, die ich nicht hören wollte! Glücklicherweise blieb mir für eine Antwort keine Zeit, denn Emma van A. nahm mir den Text aus der Hand und erklärte:

»Ich werde Ihnen seine Vorlieben nicht verraten. Unsere Umarmungen jedenfalls waren mit einem Mal etwas ganz anderes. Er wurde süchtig nach mir und ich nach ihm. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so schön sein könnte, mit einem Mann zusammen zu sein, er erwies sich als lasziv, sinnlich, stets bereit zu neuen Sinnesfreuden … Er genoss nichts mehr, als zu mir zu kommen und mit leuchtenden Augen auf eine Zeile unserer Speisekarte zu deuten. Wer zog den anderen mit? Weckte seine Lust die meine, oder erriet er meine Absichten? Ich werde es nie wissen. Ansonsten unterhielten wir uns über Literatur …«

Sie fuhr mit ihrem Handrücken zärtlich über das Leder.

»Eines Tages schenkte auch er mir ein solches Brevier, seine auf mich abgestimmte Speisekarte. Leider musste ich sie später verbrennen.«

Während Emma van A. dieser Erinnerung nachhing, hatte ich Muße, mir genüsslich auszumalen, was Guillaume geschrieben haben mochte. Hatte er Neues ersonnen? Trieb er die Kühnheit seiner Geliebten noch weiter auf die Spitze? Hinter ihrer Sprache und ihrem ›Sie‹ erlaubten sich diese Liebenden aus einer anderen Zeit eine unerhörte Freizügigkeit, sie bekannten sich zu ihren Phantasien, rissen den Partner mit und ließen nicht zu, dass der Sexualakt zu einer sich mechanisch wiederholenden Angelegenheit verkam, sondern erhöhten ihn zu einem Augenblick voll erotischer Poesie und Einfallsreichtum.

»Nachdem Guillaume dieses Heft gelesen hatte«, fuhr Emma fort, »entdeckte er zu seinem Erstaunen, dass er der erste Mann war, der mich besitzen sollte.«

»Wie bitte?«

»Ja, Sie haben richtig verstanden. Er nahm mir meine Unberührtheit tatsächlich erst ab, als er sich ihrer selbst vergewissert hatte.«

»Ich muss gestehen, dass sich diese Seiten nicht gerade wie die Grundsätze einer unerfahrenen Jungfrau ausnehmen.«

»Ich war Jungfrau, aber nicht unerfahren. Wie sonst hätte ich diese Zeilen schreiben und anschließend umsetzen können! Nein, ich hatte meine Erfahrungen zuvor in Afrika gemacht.«

»In Afrika?«

»Und das habe ich Guillaume auch erklärt.«

 

»Ich habe meine Kindheit in Schwarzafrika verbracht, in einer weitläufigen Villa mit Säulen, in der Dienstboten versuchten, uns mit Markisen und Ventilatoren vor der Gluthitze zu schützen, und uns doch nur heißen Schatten spenden konnten. Ich bin im Kongo geboren, dem Kleinod des belgischen Kolonialreiches. Mein Vater war dorthin gekommen, die weiße Bourgeoisie von Kinshasa in Literatur zu unterrichten. In den Salons der feinen Gesellschaft hatte er eine wohlhabende junge Frau kennengelernt, sich in sie verliebt, und obgleich nicht vermögend, sondern nur kultiviert, war es ihm gelungen, sie zu heiraten. Als ich auf die Welt kam, musste meine Mutter diese Welt verlassen, sie starb im Kindbett. Alles, was ich von ihr kannte, war ein sepiafarbenes Foto auf dem Klavier, auf dem sie gespielt hatte und das fortan in majestätischem Schweigen verschlossen bleib, ein zu rasch verblichenes Foto, auf dem ich als junges Mädchen nur noch ein elegantes, kreidebleiches Phantom erkannte. Das andere Phantom meiner Kindheit war mein Vater: Entweder machte er mich für den Tod seiner Frau verantwortlich, oder aber er mochte mich nicht, jedenfalls schenkte er mir weder Beachtung, noch war er je anwesend. Durch die Mitgift meiner Mutter zu Reichtum gelangt, gab er sein Geld für Bücher aus, Tausende von Büchern, um sich mit ihnen in unserer Bibliothek einzuschließen, die er nur verließ, um zu unterrichten.

Natürlich empfand ich, wie jedes Kind, meinen Alltag als normal. Auch wenn ich meine Freundinnen hin und wieder um ihre Mütter beneidete, hielt ich mich nicht für unglücklich, denn ich war umgeben von Ammen mit vollen Stimmen und wiegendem Gang, von fröhlichen Dienerinnen, die mir mitfühlende Zuneigung entgegenbrachten. Und was meinen Vater anging, so machten ihn seine Einsamkeit und seine Gleichgültigkeit mir gegenüber nur noch anziehender für mich. Alle Anstrengungen, die ich in dieser Zeit unternahm, geschahen einzig in der einen Absicht, ihm näherzukommen, ihn zu erreichen.

Ich beschloss, Bücher so zärtlich zu lieben wie er. Anfangs fragte ich mich beim Lesen, welches Vergnügen ihm wohl die Kopfschmerzen bereiten konnten, die er sich mit diesen winzigen schwarzen Zeilen selbst zufügte – ich muss allerdings gestehen, dass ich mit einem fünfzehnbändigen Werk zur römischen Geschichte begonnen hatte –, anschließend stieß ich durch Zufall auf die Romane von Alexandre Dumas, begeisterte mich für Athos, Aramis, d’Artagnan und entwickelte mich zu der Leserin, die zu sein ich anfangs nur vorgegeben hatte. Nach einigen Jahren, als mein Vater bestätigt fand, dass ich Woche für Woche Tausende von Seiten verschlang, zeigte er hin und wieder mit dem Finger auf die eine oder andere Textstelle, während er mit müder Stimme sagte: ›Schau, das da solltest du lesen‹. Ich stürzte mich daraufhin so dankbar auf den Text, als hätte er mir zugerufen: ›Ich liebe dich‹.

Ich war zwölf, als mir auffiel, dass sich mein Vater, nachdem er sich vergewissert hatte, dass ich im Bett lag, hin und wieder abends, als er unmöglich noch Unterricht geben konnte, davonstahl. Wohin ging er? Wo war er gewesen, wenn er ein, zwei Stunden später, zufrieden, fast heiter, manchmal auch ein Liedchen trällernd, zurückkam? Ich begann, mir vorzustellen, wie er mit einer Frau flirtete, die womöglich eines Tages meine zweite Mutter würde.

Ich war nicht weit von der Wahrheit entfernt. Bald sollte ich entdecken, dass er eine ganze Armee von Müttern für mich gefunden hatte. Ein Frauenbataillon, dem ich bald freundschaftlich verbunden sein sollte … Aber ich bin zu schnell, lassen Sie es mich Ihnen erklären.

Eines Tages, er hatte sich aus dem Strauß im Esszimmer gerade eine Blume genommen und ins Knopfloch seines neuen Anzugs gesteckt, folgte ich ihm heimlich. Ich konnte es kaum glauben, als ich sah, dass er nur gut hundert Meter weiter in unserer Straße um die Ecke bog und in der Villa Violette verschwand.

Ich bat die Hausmädchen inständig, mir zu verraten, wer dort wohnte. Sie brachen in schallendes Gelächter aus und weigerten sich zu antworten, doch ich ließ ihnen keine Ruhe, und so verrieten sie mir schließlich, dass dort ein Freudenhaus sei.

Zum Glück wusste ich durch Maupassant, einen meiner Lieblingsautoren, von der Existenz dieser Etablissements, in denen Frauen Männern gegen Geld Lust verschafften; oder besser, da Maupassant über die Prostituierten und ihr Tun nicht moralisch richtete und sie in Fettkugel oder Das Haus Tellier so menschlich darstellte, fehlte es mir nicht an Achtung ihnen gegenüber. Und dass diese Geschöpfe die Feder dieses Genies inspiriert hatten, adelte, ja, heiligte sie sogar in meinen Augen.

In dieser Geistesverfassung erschien ich im Bordell von Madame Georges. Was mochte diese dralle, rothaarige Frau mit den Goldzähnen in ihren viel zu engen, maßgeschneiderten Kleidern aus schlankeren Tagen gedacht haben, als sie die kleine Göre kommen sah? Ich habe es nie erfahren. Immerhin gelang es mir, durch ihren frostigen Empfang zunächst entmutigt, sie zu guter Letzt doch noch von meiner Arglosigkeit zu überzeugen: Nein, ich suchte keine Arbeit bei ihr; nein, ich kam nicht, um meinen Vater eifersüchtig zu überwachen; nein, ich kam nicht, um die Namen ihrer Kunden herauszufinden und an deren Ehefrauen in Kinshasa weiterzugeben.

»Was suchst du hier schon wieder? Was zieht dich so an? Deine Neugierde ist ungesund …«

»Ich bin zwar neugierig, Madame, aber ich sehe darin nichts Ungesundes. Mich interessiert einfach alles, was mit Lust zu tun hat. Die bieten Sie hier doch an, oder?«

»Ja, gegen Geld. Aber es gibt weiß Gott andere Orte, an denen du dich kundig machen kannst.«

»Tatsächlich? Wo? Bei mir zu Hause gibt es keine Frauen, meine Mutter ist tot; meine Ammen behandeln mich wie ein kleines Mädchen; niemand will mir etwas sagen! Ich will Frauen sehen, richtige Frauen. Frauen wie Sie und Ihre Mädchen.«

Glücklicherweise las Madame Georges leidenschaftlich gern Romane. Seit sie sich keinen Männern mehr hingab – oder besser, seit die Männer nicht mehr nach ihr verlangten –, gab sie sich ganz ihren Leseorgien hin. Da ich ihr Bücher lieh, die sie nicht hatte, und mit ihr über sie sprach, konnte ich Madame Georges für mich einnehmen und wurde so in einem unergründlichen Teil ihres Gehirns zu der Tochter, die sie sich immer gewünscht hatte. Ich, meinerseits, spielte dieses Spiel gerne mit, denn Madame Georges, oder besser Madame Georges’ Welt, faszinierte mich.

Weil sie ein auf die Lust der Männer ausgerichtetes Unternehmen führte, hatte sie auch keine Angst vor ihnen.

»Du musst vor Männern keine Angst haben, meine Kleine. Sie brauchen uns genauso wie wir sie. Kein Grund also, vor ihnen zu kuschen, niemals. Merk dir das.«

Mit der Zeit erhielt ich Zutritt zum blauen Salon, dem Raum, der Männern verboten war. Dort ruhten sich die Mädchen zwischen zwei Kunden aus und schwatzten miteinander; sie gewöhnten sich allmählich an mich, achteten nicht mehr darauf, was sie sich erzählten, und so erfuhr ich, was zwischen Mann und Frau geschah, in allen Details und Variationen. Ich habe die Liebe gelernt, wie ein Koch die Gastronomie entdeckt, nämlich in der Küche.

Aus Freundschaft erlaubte mir eines der Mädchen, »Madames Guckfenster« zu benutzen, eine Öffnung, wie sie sich in jedem Zimmer befand, damit Madame ein Auge auf suspekte Kunden haben konnte.

Und so besuchte ich im Alter von zwölf bis siebzehn Jahren eifrig und regelmäßig das Bordell von Madame Georges, das mein zweites Zuhause wurde. Denn zwischen uns hatte sich, so unglaublich dies auch klingen mag, eine solch innige Zuneigung entsponnen, dass Madame Georges niemandem von meinen Besuchen erzählte. Uns verband eine lebhafte Neugierde für andere, eine Neugierde, die sie zunächst mit der Prostitution und anschließend mit Büchern stillte. Im Übrigen drang sie darauf, dass ich ihr nicht nacheiferte, weder ihr noch ihren Zöglingen, und nahm sich teilweise meiner Erziehung an.

»Du musst dich natürlich geben, ›keusch‹, vom Typ Jungfrau, aber in modern. Selbst wenn du dich schminkst, musst du aussehen, als hättest du nichts auf dem Gesicht.«

Und so wirkte ich, ungeachtet meines täglichen Umgangs mit Huren, wie ein durch und durch achtbares Mädchen.

Bis mir eines Tages einer meiner Cousins einen Strich durch die Rechnung machte. Er sah, wie ich in die Villa Violette ging und sie wieder verließ, und verriet mich bei meinem Vater.

Der rief mich, es war mein siebzehnter Geburtstag, zu sich in sein nobles Arbeitszimmer, um mich zur Rede zu stellen.

Ich erzählte ihm alles, verschwieg ihm nichts.

»Schwöre mir, Emma, dass … dass … nun, du verstehst schon … dass … du dich keinem Mann …«

Er war außerstande auch nur einen Satz zu Ende zu bringen … Ich glaube, er entdeckte während unseres Gesprächs, dass er mein Vater war und, zum ersten Mal, dass er Pflichten hatte.

»Papa, ich schwöre dir, ich habe nichts dergleichen getan. Und du kennst Madame Georges, mit ihr ist nicht zu spaßen! Man kann ihr nichts vormachen.«

»Das … das … stimmt«, stammelte er errötend. Es war ihm peinlich, dass ich mit dieser Madame Georges verkehrte, sie ermöglichte ihm eine Lebensform, die er gehofft hatte, geheim halten zu können.

Ich erklärte ihm weiter, dass ich mich weder schämte, meine Zeit dort zu verbringen, noch eine Puffmutter zur besten Freundin zu haben, und dass man wirklich ein Esel sein musste, wie mein Cousin, wenn man das nicht begriff.

»Ich verstehe …«, gestand er zu seiner eigenen Überraschung.

Er war nicht nur erstaunt zu entdecken, wer ich war, sondern auch, dass ich ihm letztlich gefiel. Diese Diskussion, in der es eigentlich heftig hätte zugehen müssen, war ruhig verlaufen und besiegelte den Beginn einer neuen Beziehung zwischen meinem Vater und mir, unsere glücklichen Jahre … Bis wir den Kongo verließen, lebten wir so und verbrachten unsere Zeit, er wie ich, zwischen zwei Häusern, dem unseren und der Villa Violette.«

 

»Daher also hat Guillaume eine erfahrene Jungfrau in mir gefunden, eine Frau, die sich noch niemandem hingegeben, aber weder Angst vor Männern hatte noch vor deren Körper oder vor Sex. Gesundheitliche Probleme hatten mich gezwungen, nach Belgien zu reisen; nach Abschluss meiner Behandlung erholte ich mich hier in diesem Haus, das unserer Familie gehört. Mein Vater wollte mir Gesellschaft leisten und kam mitsamt seiner Bibliothek. Nach sechs Monaten aber vermisste er den Kongo – oder war es die Villa Violette? – so sehr, dass er zurückkehrte. Als Guillaume und ich uns begegneten, war ich dreiundzwanzig Jahre alt. Unsere Verbindung blieb zunächst geheim. Zweifellos aus Vorsicht. Aber auch aus Scham. Und aus Spaß an der Heimlichkeit. Dann gewöhnten wir uns an diesen Zustand und beließen es dabei. Außer Guillaumes persönlichem Adjutanten, den Sekretären und dem Personal, die ins Vertrauen zu ziehen, uns die Umstände zwangen, erfuhr niemand von unserer Verbindung. Wir zeigten uns niemals gemeinsam in der Öffentlichkeit und entgingen so dem Klatsch und den Fotografen. Wir versteckten uns hier und entwischten nur einige Male ins Ausland, in Länder, in denen Guillaume ein unbekannter Tourist war.«

»Weshalb?«

Ich hatte gewagt, sie zu unterbrechen.

Emma van A. zögerte, ihr Kinn zitterte, als wollte sie etwas nicht sagen. Ihr Blick schweifte im Raum umher, und es dauerte eine Weile, ehe sie antwortete:

»Ich hatte einen Mann gewählt, keinen Prinzen. Ich hatte mich für die Rolle der Geliebten entschieden und nicht für die der Ehefrau oder gar einer Hofdame, mit den Verpflichtungen, die so etwas mit sich bringt.«

»Sie haben eine Heirat abgelehnt?«

»Er hat mir keinen Heiratsantrag gemacht.«

»Hätten Sie das von ihm erwartet?«

»Nein, das hätte bewiesen, dass er nichts begriffen hat, weder was mich noch was uns oder seine Pflichten anbetraf. Und dann, seien wir ehrlich, cher Monsieur, ein Mitglied des Königshauses, welchen Rang in der Thronfolge es auch einnehmen mag, ehelicht keine Frau, die keine Kinder bekommen kann.«

Dieses Eingeständnis also war ihr so schwer gefallen. Ich sah sie mitfühlend an. Erleichtert fuhr sie fort:

»Wir hatten nie irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Nach fünf Jahren gab ich auf. Mein Bauch war trockener als die Wüste Gobi. Ich weiß übrigens bis heute nicht, ob die Ursache physischer Natur war oder ob die Erinnerung an meine im Kindbett gestorbene Mutter meinen Schoß hat vertrocknen lassen.«

»Und wie ging es weiter?«

»Es änderte sich nichts, zunächst. Dann gestand mir Guillaume, dass ihm die königliche Familie zusetzte und auch die Presse sich Gedanken darüber machte, dass man ihn stets nur beim Sport sah. Seine Männlichkeit wurde in Zweifel gezogen. Unter diesen Blaublütlern gibt es eine so beachtliche Anzahl von Homosexuellen, dass die echten Frauenliebhaber gezwungen sind, Kinder zu zeugen, um das Volk zu beruhigen und die Monarchie zu sichern. Das war seine Bestimmung als Mann und Prinz. Er hatte es so lange wie möglich verdrängt … Und nun drängte ich ihn zu handeln.«

»In welcher Hinsicht?«

»Sich Geliebte zu nehmen, sich öffentlich mit ihnen zu zeigen.«

»Sie haben sich getrennt?«

»Nein, ganz und gar nicht. Wir blieben zusammen, wir waren weiterhin ein Liebespaar, er wahrte nur den Schein. Er durfte sich kurze Seitensprünge erlauben. Und dies jedes Mal so auffällig und ungeschickt, dass unweigerlich Fotos in der Presse erschienen.«

»Und wie war es für Sie, betrogen zu werden?«

»Unproblematisch. Ich habe ihm seine Geliebten ja selbst ausgesucht.«

»Wie bitte?«

»Sie haben ganz richtig verstanden.«

»Und das hat er gebilligt?«

»Das war meine Bedingung. Ich war nur bereit zu teilen, wenn ich bestimmen konnte, mit wem ich teilte. Da er mich leidenschaftlich liebte, willigte er ein.«

»Und was für Frauen haben Sie für ihn ausgesucht?«

»Sie waren immer ausgesprochen schön!«

»Tatsächlich?«

»Ausgesprochen schön und ausgesprochen dumm. Wenn es auch keine zehn Arten gibt, schön zu sein, so doch Tausende der Dummheit. Dumm, weil man kein Gesprächsthema hat, dumm, weil man eine langweilige Schwätzerin ist, dumm, weil man sich nur für das interessiert, was die Frauen erregt und nicht die Männer, dumm, weil man sich für klüger hält, als man ist, dumm, weil man eine fixe Idee hat. Mein armer Guillaume, ich habe ihn mit lauter Dummchen verbandelt!«

»Es kommt mir vor, als hätte es Ihnen Spaß gemacht.«

»Durchaus. Nun ja, genau genommen habe ich ihm immer nur hübsche Dummchen zugeführt; wäre ich böse gewesen, hätte ich ihn mit hässlichen zusammengebracht!«

»Und wie nahm er das auf?«

»Sehr gut. Er ging wegen ihrer Vorzüge zu ihnen und wandte sich wegen ihrer Mängel von ihnen ab. Er verließ mich schnell, kam aber ebenso schnell wieder.«

»Sind Sie wirklich sicher, dass er Ihnen das nicht verübelte?«

»Es ging um das jeweils reizvollste Dummerchen der Saison, und da ich ihm immer originelle Geschöpfe aussuchte, hatte er mir auch immer etwas zu berichten. Andernfalls … Nun, ich muss gestehen, wir haben viel gelacht. Das mag zynisch klingen, aber wir standen in doppelter Hinsicht unter Druck. Einerseits zwang uns die Gesellschaft, uns zu verstecken, anderseits nötigte sie Guillaume, ihr zu beweisen, dass er ein Frauenheld war; wir hatten uns arrangiert. Privat hatte sich nichts geändert, wir liebten uns nach wie vor, wenn nicht noch stärker, schließlich standen wir dies alles gemeinsam durch.«

»Waren Sie denn niemals eifersüchtig?«

»Das habe ich mir verboten.«

»Dann haben Sie also Eifersucht verspürt?«

»Aber ja. Oft schwirrte mir der Kopf dermaßen von Bildern, von ihm mit seinen Frauen, dass ich am liebsten Schluss gemacht hätte.«

»Sie wollten sich umbringen?«

»Nein, die Frauen. Ich hatte Mordgedanken. Aber kaltgestellt haben sie sich mit ihrer Einfalt selbst. Dumme Geschöpfe, zum Glück, ausgesprochen dumm. Ein Mal, ein einziges Mal, hätte ich mich um ein Haar getäuscht!«

Sie bewegte ihre Hände, als kämpfte sie noch immer gegen diese Gefahr an.

»Diese verflixte Myriam, sie hätte mich fast an der Nase herumgeführt. Ich habe nie eine Frau gesehen, die so viel Energie darauf verwandte, hirnlos zu wirken … Guillaume schmuggelte mich mit in den Palast, wo ich, um mich meiner Wahl zu vergewissern, hinter einem Wandbehang ihre Essen mitverfolgte. Ich hatte mich, ohne lange zu überlegen, für diese Myriam entschieden, die pausenlos dummes Zeug redete, salvenweise Unsinn von sich gab, bis ich plötzlich feststellte, dass ihr Geplapper durchaus amüsant und witzig war, weder abwegig noch langweilig. Ernüchtert schloss ich, dass sie Sinn für Humor besaß, was zumindest auf eine gewisse Finesse hindeutete. In der Folge sah ich sie mir genauer an und bemerkte, dass sie sich auf jeden Mann, den sie kaperte, entsprechend einstellte: War ein Mann formell, ließ sie mit entspannter Unbekümmertheit Bemerkungen fallen wie: »Das ist mir ja ein Drolliger, das Kerlchen da«; war einer eitel, beglückwünschte sie ihn wortreich zu seinem vermeintlichen Erfolg; und war einer versessen aufs Jagen, lieh sie ihm hingebungsvoll ihr Ohr und lauschte dem Karnickelbezwinger wie einem Helden mehrerer Weltkriege. Kurz, sie war ein Ass in Sachen Verführung und spielte mit verdeckten Karten. Beim Nachtisch rückte sie näher an Guillaume heran, unterhielt sich mit ihm über Sport und machte ihm weis, dass sie gern Fallschirm springen würde. Sie war imstande, den Versuch zu wagen, diese Draufgängerin, nur um sich ihm in die Arme zu werfen! Ich habe ihr Palastverbot erteilt. Ein raffiniertes Weibsstück, das die Leichtsinnige spielte, nur um die Männer besser manipulieren zu können … Sie hat seither eine glänzende Karriere gemacht, hat immer nur renommierte Herren geehelicht, und jedes Mal, so ein Zufall aber auch, waren sie reich!«

»Ist Guillaume je eine engere Beziehung mit einer dieser Frauen eingegangen?«

»Nein. Wissen Sie, die Männer stellen keine hohen Ansprüche ans Gespräch, sie wollen es hinter sich bringen, bevor sie mit einer Frau ins Bett gehen, schließlich wollen sie belohnt werden, danach allerdings wird der gebildete Mann mit Geschmack wieder kritisch, oder?«

Ich senkte den Kopf, was sollte ich sagen, es stimmte.

Sie strich mit ihren Händen über ihre Knie und glättete die Falten ihres Rockes.

»Diese Zeit mit den Geliebten war, obgleich anstrengend, auch durchaus spannend, denn sie lehrte mich, wie man Menschen geschickt auseinanderbringt. Und ob! Ich flüsterte Guillaume ein, was genau er diesen Frauen sagen sollte, wenn er sie verließ. Ich habe Worte ersonnen, Sätze, die sie perplex machten, ihnen die Sprache verschlugen. Ein Schnitt musste vollzogen werden, sauber, unmissverständlich, ein für alle Mal, ohne Weg zurück und ohne Selbstmord.«

»Und?«

»Es ist uns gelungen.«

Ich ahnte, dass wir jetzt auf das düsterste Kapitel dieser Geschichte zu sprechen kommen würden, das ihres Endes. Auch Emma van A. spürte es.

»Ein Glas Portwein?«

»Gern.«

Ein kleines Ablenkungsmanöver, das uns erlaubte durchzuatmen, ehe Emma van A. weitererzählte. Sie genoss den Süßwein, hatte es nicht eilig, zum Schluss zu kommen, war vielmehr bestürzt, dass er so nahe war.

Unvermittelt wandte sie mir ihr Gesicht zu, sie sah ernst aus.

»Mir war dennoch klar, dass es für uns kein Zurück mehr gab. Wir hatten das Ende, so weit es ging, hinausgezögert, hatten alle Hindernisse umschifft, nun aber war es an der Zeit, dass er heiratete und Kinder bekam. Ich wollte ihn lieber zurückweisen, als von ihm verlassen zu werden. Stolz … Ich hatte Angst, Angst vor diesem Augenblick, da ich nicht mehr seine Angebetete, sondern seine Mutter sein würde, ja, seine Mutter … Wer, außer einer Mutter, drängt schon einen Mann zur Ehe und zu Kindern, wo sie ihn doch am liebsten für sich behielte?«

Ihre Augen wurden feucht. Selbst jetzt, Jahrzehnte später, übermannte sie noch das gleiche Widerstreben.

»Oh, ich war nicht bereit, Guillaumes Mutter zu werden! … Nicht eine Sekunde lang – ich liebte ihn zu sehr, zu leidenschaftlich. Daher beschloss ich zu handeln, so zu tun als ob.«

Sie schluckte. Dies zu erzählen fiel ihr sichtlich so schwer wie seinerzeit das Handeln.

»Eines Morgens erklärte ich ihm, dass ich ihn dorthin zurückbringen müsse, wo ich ihn einige Jahre zuvor gefunden hatte – in die Dünen. Guillaume verstand sofort. Er weigerte sich, bat mich inständig, noch damit zu warten. Er weinte, warf sich zu Boden. Ich blieb hart. Wir gingen zu dem Platz, an dem er mir begegnet war, breiteten Decken auf dem Sand aus und liebten uns, ungeachtet des feuchten, tristen Wetters, zum letzten Mal. Und zum ersten Mal, ohne auf unser Brevier der Lüste zurückzugreifen. Ich kann nicht genau sagen, ob es schön war; es war stark und heftig, wir machten uns nichts vor. Anschließend reichte ich ihm ein Getränk, in das ich ein Schlafmittel gegeben hatte.

Als er schlafend, nackt und so makellos schön wie am ersten Tag vor mir lag, sammelte ich seine Kleider auf, verstaute sie zusammen mit den Decken in meinem Korb und holte das Diktaphon heraus, das ich Guillaume entwendet hatte.

Über seinen langen, vor Kälte zitternden Beinen stehend, diktierte ich, während ich meinen Blick über seine muskulösen Hinterbacken wandern ließ, seinen gebräunten Rücken und das gelockte Haar in seinem schlanken Nacken, meinen Abschiedsgruß in das Gerät: ›Guillaume, deine Geliebten habe ich für dich ausgewählt, deine Frau aber wirst du dir selbst auswählen. Du selbst sollst ermessen, in welchem Maße ich dir fehle. Entweder leidest du so sehr unter unserer Trennung, dass du dir jemanden nimmst, der das Gegenteil von mir ist, um jede Spur von mir zu tilgen. Oder aber du willst mich einbeziehen in deine Zukunft und wählst eine Frau, die mir gleicht. Ich weiß nicht, was werden wird, mein Liebster, ich weiß nur, dass es sein muss, auch wenn es mir widerstrebt. Wir dürfen uns unter keinen Umständen wiedersehen, darum bitte ich dich inständig. Bedenke, dass Ostende am Ende der Welt liegt und somit unerreichbar ist … Quäle mich nicht mit dieser Hoffnung. Ich werde dir meine Tür nie mehr öffnen, ich werde auflegen, wenn du mich anrufst, und die Briefe zerreißen, die du mir schickst. Wir werden umeinander leiden müssen, wie wir füreinander gebrannt haben, maßlos, mit Haut und Haaren. Ich werde nichts aufbewahren von dir. Heute Abend vernichte ich alles. Doch hat es nichts zu bedeuten, niemand kann mir meine Erinnerungen nehmen. Ich liebe dich, unsere Trennung ändert nichts daran. Dank deiner hat mein Leben einen Sinn. Lebe wohl!‹ Ich lief eilig davon. Zu Hause angekommen, benachrichtigte ich Guillaumes Adjutanten, damit er ihn noch vor Einbruch der Dunkelheit vom Meer abholte, anschließend warf ich unsere Briefe und Fotos ins Feuer.«

Sie dachte nach, ehe sie sagte:

»Nein, ich habe gelogen. Im entscheidenden Moment konnte ich mich dann doch nicht von seinen Handschuhen trennen. Sie müssen verstehen, seine Hände …«

Ihre steifen alten Finger streichelten eine imaginäre Hand …

»Am nächsten Tag schickte ich ihm einen Handschuh, den anderen legte ich in meine Schublade. Ein Handschuh ist wie eine Erinnerung. Ein Handschuh bewahrt die Form der Hand wie die Erinnerung die der Wirklichkeit; ein Handschuh ist so weit vom Fleischlichen entfernt wie die Erinnerung von der vergangenen Zeit. Ein Handschuh ist aus Sehnsucht gewirkt …«

Sie schwieg.

Ihr Bericht hatte mich in eine so ferne Welt versetzt, dass ich ihn nicht mit banalen Worten stören wollte.

Und so verharrten wir eine Weile in der Dichte der Zeit, winzig zwischen all den Büchern, im bald von Lampen gelb erleuchteten Dunkel. Draußen wütete das Meer.

Schließlich ging ich zu ihr, ergriff ihre Hand, küsste sie und murmelte:

»Danke.«

Sie sah mich mit einem erschütternden Lächeln an, wie eine Sterbende, die fragt: »Mein Leben war doch schön, oder?«

Ich ging hoch in mein Zimmer und streckte mich wohlig auf meinem Bett aus. Emma van A.s Geschichte gab meinen Träumen solche Nahrung, dass ich am nächsten Morgen nicht recht wusste, ob ich geschlafen hatte oder nicht.

 

Um halb zehn stand Gerda mit dem Frühstück im Flur und beharrte darauf, es mir ans Bett zu bringen. Ehe sie flink die Vorhänge aufzog, stellte sie mir das Tablett mitten aufs Federbett.

»Meine Tante hat dir gestern ihr Leben erzählt, stimmt’s?«

»Ja.«

»Und das den ganzen Abend lang?«

»Ich begriff, dass sich Gerda einzig aus Neugierde so gefällig zeigte.

»Tut mir leid, Gerda. Ich habe geschworen, nichts weiterzutragen.«

»Schade.«

»Jedenfalls ist Ihre Tante alles andere als eine ahnungslose alte Jungfer, Sie täuschen sich.«

»Ach ja? Mein armes Tantchen, ich hab tatsächlich geglaubt, die ist nie dem Wolf begegnet und stirbt als Jungfrau!«

»Nein, ganz und gar nicht.«

»So was aber auch! Ich bin platt …«

»Warum waren Sie sich da so sicher?«

»Na ja, ihr Gebrechen …«

»Einen Augenblick! Der Schlaganfall, der sie an den Rollstuhl gefesselt hat, den hatte sie doch erst vor fünf Jahren …«

»Nein, ich rede von ihrem Gebrechen. Vor ihrem Schlaganfall war Tante Emma zwar nicht gelähmt, aber auch nicht gerade gut zu Fuß. Die Ärmste! Sie hatte sich eine Knochentuberkulose zugezogen, damals, als man noch nicht die Medikamente hatte wie heute. Sie hatte es an der Hüfte. Wie alt sie war? Zwanzig. Deswegen ist sie auch aus Afrika fort. Und hierher ins Krankenhaus gekommen … Sie haben sie mit einem Streckbrett behandelt, ganze achtzehn Monate lang, im Sanatorium! Als sie dann in die Villa nach Ostende zog, war sie dreiundzwanzig und ging an Krücken. Bei den Kindern hieß sie nur ›die Lahme‹. Kinder sind böse, dumm und erbarmungslos! Sie war nämlich hübsch, meine Tante, sehr hübsch sogar. Aber wer hätte schon eine junge Frau gewollt, die hinkte? Beim kleinsten Schritt knickte sie dermaßen stark, mal in der einen, mal in der anderen Hüfte ein, dass einem angst und bange wurde. Der Alltag wurde erst einfacher, als sie nach ihrem Schlaganfall endlich einen Rollstuhl akzeptierte. Aber dien mal einer Dreiundzwanzigjährigen einen Rollstuhl an … Man muss die Dinge doch mal beim Namen nennen: Es ist zum Erbarmen! Nun ja, umso besser, wenn sich dann doch noch ein braver Bursche aufgeopfert hat …«

Angewidert von dieser Vorstellung zuckte sie mit den Schultern und verließ den Raum.

Nachdenklich verschlang ich das deftige flämische Frühstück, duschte rasch und ging anschließend hinunter zu Emma van A., die mit einem Buch auf den Knien, der Bucht zugewandt, dasaß und sinnend in die Wolken blickte.

Sie errötete leicht, als sie mich sah. Die Reaktion einer Frau, die sich offenbart hat. Ich spürte, dass ich sie beruhigen musste.

»Ich habe in Gedanken an Ihre Geschichte eine wunderbare Nacht verbracht.«

»Umso besser. Es hat mir im Nachhinein leidgetan, dass ich Sie so lange in Anspruch genommen habe.«

»Warum haben Sie verschwiegen, dass Sie körperbehindert waren?«

Sie verkrampfte sich. Machte einen steifen Hals, reckte ihn um zwei Zentimeter.

»Weil mein Leben nicht das einer Behinderten ist noch jemals war.«

Sie sah unvermittelt prüfend zu mir auf, misstrauisch, fast feindselig.

»Ich begreife, meine Nichte, dieses Klatschmaul, hat Sie unterrichtet …«

»Sie kam rein zufällig darauf zu sprechen; sie wollte sich auf keinen Fall über sie lustig machen; im Gegenteil, sie zeigte tiefes Mitgefühl mit Ihrem Leiden.«

»Mitgefühl? Das sollen sich die Leute bei mir lieber sparen. Zum Glück hat mich der Mann meines Lebens mit seinem Mitleid verschont.«

»Hat er mit Ihnen denn nicht über Ihre Behinderung gesprochen?«

»Doch, damals, als er in Heiratslaune war, als er unsere Verbindung bekanntgeben wollte … Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte! Ich sagte ihm, das Volk würde vielleicht eine Bürgerliche akzeptieren, aber gewiss keine Behinderte. Da erzählte er mir von einer französischen Königin, von Johanna der Lahmen. Einige Wochen lang nannte er mich sogar so. Es kostete mich einiges, die Sache mit Humor zu nehmen.«

»Wollten Sie deshalb, dass Ihre Verbindung geheim blieb? Im Grunde ging Guillaume mit Ihrem Gebrechen doch sehr viel unbeschwerter um als Sie …«

Sie warf den Kopf in den Nacken und lehnte sich in ihren Rollstuhl zurück. Ihre Augen wurden feucht.

»Möglich.«

Ihre Stimme brach. Ihr Mund zögerte. Ich begriff, dass hinter ihren Lippen noch ein anderes Geheimnis auf mich wartete.

»Was ist?«, fragte ich sanft.

»Die Tuberkulose war die eigentliche Ursache für meine Sterilität. Meine Knochenerkrankung und die damit verbundene Behandlung haben mich unfruchtbar gemacht. Andernfalls hätte ich vielleicht den Mut gehabt, Guillaume zu heiraten …«

Sie sah mich eindringlich an, ehe sie fortfuhr:

»Idiotisch, diese Sätze mit ›andernfalls‹ und ›wäre ich nicht krank gewesen‹! Nichts als Selbstbetrug, sie machen alles nur noch schlimmer! Ohne dieses ›Andernfalls‹ konnte mein Schicksal seinen Lauf gar nicht nehmen. Zu solchen Mutmaßungen darf man sich gar nicht erst hinreißen lassen, sie sind ein nie versiegender Schmerzensquell. Mir ist Hässliches widerfahren und Schönes, ich darf mich nicht beklagen! Das Hässliche war meine Krankheit. Das Schöne war Guillaumes Liebe.«

Ich lächelte ihr zu. Sie wurde ruhiger.

»Madame, ich würde Sie gerne etwas fragen, traue mich aber nicht.«

»Nur zu. Trauen Sie sich.«

»Lebt Guillaume noch?«

Sie holte tief Luft, um dann doch nicht zu antworten. Stattdessen drehte sie ihren Rollstuhl um und fuhr auf einen kleinen Tisch zu, nahm von dort ein silbernes Etui und legte es, als sie feststellte, dass es keine Zigaretten mehr enthielt, verärgert zurück. Trotzig griff sie nach einer leeren Zigarettenspitze aus Schildpatt und führte sie mit einer blasierten Geste zum Mund.

»Verzeihen Sie, Monsieur. Ich werde Ihre Frage nicht beantworten, denn ich möchte nicht, dass Sie herausfinden, wer der Mann ist, von dem ich spreche. So viel aber sei gesagt, Guillaume hieß nicht Guillaume, es handelt sich hierbei lediglich um ein Pseudonym, das ich ihm in meiner Geschichte gegeben habe. Vielleicht fällt Ihnen auch auf, dass ich seinen Rang in der Thronfolge nicht erwähnt habe. Und bedenken Sie schließlich, dass ich Sie explizit nicht habe wissen lassen, um welche königliche Familie es sich handelte.«

»Wie bitte? Es handelt sich hier nicht um das belgische Königshaus?«

»Das habe ich nicht gesagt. Es könnte ebenso gut das niederländische, schwedische, dänische oder englische Königshaus sein.«

»Oder das spanische!«, rief ich erbost.

»Oder das spanische«, bestätigte sie. »Ich habe Ihnen mein Geheimnis erzählt, nicht seines.«

Mir schwirrte der Kopf. Arglos hatte ich bis in alle Einzelheiten geglaubt, was sie mir am Vorabend erzählt hatte.

Als mir klarwurde, dass sie ungeachtet aller Emotionen sehr wohl wusste, was sie mir sagte und was nicht, sah ich sie mit einem Mal in einem anderen Licht, durchtrieben und berechnend.

Ich wünschte ihr einen guten Tag und brach zu meinem Spaziergang auf.

 

Während ich vor mich hin ging, zappelte ein seltsamer Gedanke zwischen meinen Schläfen, ein Gedanke, der mir zuvor nicht gekommen war. Eine Erinnerung machte mir flüchtig zu schaffen … wie ein Wort, das sich entzieht. Ich konnte nicht glauben, was ich von Gerda und dann von Emma selbst gehört hatte, und verspürte ein vages Unwohlsein. Ich blieb mehrmals auf den langen verlassenen Quais stehen und betrachtete die Wellen. Ich fühlte mich landkrank und musste mich setzen.

An diesem Dienstag waren alle Touristen wie vom Erdboden verschluckt, und ich hatte Ostende wieder unversehrt und menschenleer für mich allein. Dennoch rang ich nach Luft.

Bisher hatte ich bei meinen Aufenthalten am Meer immer den Eindruck, der Horizont entziehe sich meinem Blick; hier aber, im Norden, richtete er sich wie eine Mauer vor mir auf. Ich stand vor keinem Meer, über das man entfliehen konnte, sondern vor einem Meer, das einen daran hinderte. Es rief nicht zum Reisen auf, sondern stellte sich einem als Bollwerk entgegen. Hatte Emma van A. ihr Leben deshalb hier verbracht, auf ewig gefangen im Exil ihrer Erinnerungen?

Ich klammerte mich an das Stahlgeländer am Rande des Quais. Beim Verlassen der Villa hatte mir kurz etwas zu schaffen gemacht – ein Gefühl, eine Erinnerung, die einen bitteren Geschmack in meinem Mund hinterlassen hatten. Was nur war es?

Während ich auf die Terrasse einer Brasserie zusteuerte, um etwas zu trinken, fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen, die Stühle dort riefen ein klares Bild in mir wach: die Verrückte von Saint-Germain!

Zwanzig Jahre zuvor, ich war gerade nach Paris gekommen, um dort mein Studium fortzusetzen, war mir diese seltsame Gestalt eines Abends, als meine Freunde und ich vor einem Kino anstanden, begegnet.

»Mesdames, Messieurs, ich werde jetzt für Sie tanzen.«

Ein weiblicher Clochard mit glatten Haaren von undefinierbarer Farbe – einige gelb, andere aschgrau – blieb vor der Gruppe stehen, die gerade in den Kinosaal wollte, stellte ihre Habseligkeiten in einer Toreinfahrt unter und ging dann, ohne sie aus dem Blick zu lassen, zu uns.

»Die Musik ist von Chopin!«

Sie begann mit leiser, piepsiger Stimme zu singen, hüpfte dazu in ihren vormals weißen Ballettschuhen umher und untermalte, während ihr die schäbige Baskenmütze vom Kopf zu rutschen drohte, ihre Bewegungen mit einem rosa Schal, den sie über ihr geblümtes Kleid gleiten ließ. Die Lässigkeit, mit der sie ihre Schau abzog, war faszinierend. Sie summte die Melodie arhythmisch und ungenau vor sich hin, wie sie ihr gerade einfiel und sofern sie nicht zu sehr außer Atem war; ihre Tanzschritte deutete sie nur an. Sie wirkte wie ein vierjähriges Mädelchen, das vor einem Spiegel vergnügt Ballerina spielte. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich dessen bewusst war und sich für die Einzige hielt, die tun konnte, was sie tat. Ihren Mundwinkeln entnahm ich, dass sie uns jegliche Kennerschaft absprach. »Ich gebe hier irgendwas zum Besten, und die merken’s nicht mal, sie verdienen’s nicht besser.«

»So, das war’s, fertig!«

Sie raffte ihr ausladendes, imaginäres, in einer unsichtbaren Schleppe endendes Kleid zusammen und verbeugte sich langsam und hoheitsvoll.

Diejenigen, die ihr schon öfter begegnet waren, applaudierten. Halb aus Mitleid, halb aus Sadismus begannen wir, sie mit Pfiffen und Gegröle stürmisch zu feiern, und veranlassten auch die Gaffer, ihr zuzujubeln, bis sie uns, schweißgebadet und erschöpft von ihren vielen Verbeugungen, schrill zurief:

»Nur keine falschen Hoffnungen, Zugaben gibt’s nicht!«

Dann baute sie sich vor uns auf und hielt uns ihre rote Baskenmütze hin.

»Für den Tanz, meine Damen und Herren. Für die Künstlerin, wenn ich bitten darf. Meinen Dank im Namen der Kunst.«

Ich begegnete ihr danach noch oft. Eines Tages schwankte sie mit roter Nase und trüben Augen auf die Warteschlange zu und hatte ganz offensichtlich zu viel getrunken. Während sie ihren Krempel abstellte, trällerte sie ein paar Noten und begriff nach einigen Versuchen, dass sie außerstande war, ihr Pseudo-Ballett aufzuführen.

Sie wurde wütend. Warf uns einen finsteren Blick zu.

»Ihr macht euch über eine arme alte Frau lustig, hm? Aber ich war nicht immer so, ich war sehr schön, jawohl, sehr schön, in meinen Tüten da hab ich noch die Fotos. Und überhaupt, ich sollte Baudouin heiraten! Ganz richtig, König Baudouin, den König der Belgier, die Belgier haben nämlich nicht nur so armselige Präsidenten wie wir, sie haben echte Könige! Jawohl, und um ein Haar wär ich die Königin der Belgier geworden, ganz richtig! Königin der Belgier, und warum, weil König Baudouin als junger Mann schlichtweg verrückt nach mir war. Und ich nach ihm. Jawohl! Wir waren sehr glücklich. Sehr. Bis dann diese Intrigantin kam, diese … diese …«

Sie spuckte mehrmals aus, verärgert, zornig, hasserfüllt.

»Bis dann diese Fabiola auftauchte!«

Sie triumphierte, der Name ihrer Rivalin war ihr wieder eingefallen. Mit vor Gehässigkeit geweiteten Pupillen und gerunzelter Stirn herrschte sie uns an:

»Fabiola hat ihn mir weggenommen! Jawohl! Weggenommen. Wo er doch verknallt war in mich. Die hatte da nichts zu suchen, die Spanierin, was fiel der eigentlich ein? Die wollte ihn heiraten, die hat ihn verhext. Und er hat mich sitzengelassen. Zack bumm, einfach so, Knall auf Fall.«

Sie lehnte sich gegen eine Mauer, versuchte wieder Atem zu schöpfen.

»Fabiola! Ist keine Kunst, mehrere Sprachen zu sprechen, wenn du mit dem Hintern in der Butter auf die Welt kommst und Kindermädchen aus England hast, aus Deutschland, Frankreich oder Amerika! Pah! … Hätt ich auch gekonnt, käm ich nicht aus der Gosse. Diebin! Diebin! Sie hat mir meinen Baudouin geklaut!«

Die Stadtstreicherin war außer sich, fasste sich jedoch wieder und sah uns plötzlich an, als nähme sie uns eben erst wahr. Blitzschnell vergewisserte sie sich, ob ihre Tüten noch vollzählig an ihrem Platz standen, summte dann, nur ihren Oberkörper bewegend, eine undefinierbare Melodie und beendete ihren Auftritt abrupt mit einer kurzen, ehrerbietigen Verbeugung.

»Das wär’s!«

Ich hörte, wie sie abwechselnd vor sich hin nuschelte:

»Für die Tänzerin … Intrigantin … Draufgängerin … Diebin … danke für den Tanz … Miststück von Fabiola!«

Auf sie also brachte mich meine Träumerin von Ostende, auf diese Bettlerin, die ständig an die zehn Plastiktüten mit sich herumschleppte und von den Studenten der Sorbonne die Verrückte von Saint-Germain genannt wurde, da in Paris jedes Viertel sein eigenes Original hat.

War meine Vermieterin besser als sie? Blitzartig wurde mir die Unglaubwürdigkeit ihrer Geschichte klar. Eine Liaison zwischen einer Körperbehinderten und einem Prinzen! Ihr Einfluss auf einen reichen und freien Mann, der so weit ging, dass sie ihm selbst seine Geliebten aussuchte! Anfang und Ende am Strand, in den Dünen, wie in einem Roman … Zu unwahrscheinlich dies alles, zu konstruiert! Kein Wunder, dass keine sichtbare Spur mehr übrig war von ihrer Geschichte: Es hatte sie nie gegeben.

Misstrauisch geworden, vergegenwärtigte ich mir noch einmal, was Emma van A. mir erzählt hatte. Ihr in orangefarbenes Leder gebundenes Liebesbrevier – gehörte es nicht zum Besten, was es an erotischen Texten gab, namentlich von Frauen? Sind literarische Meisterwerke sinnlicher Kühnheit nicht oftmals das Werk von Außenseiterinnen, von Alleinstehenden, die sich, wissend, dass sie nicht für die Mutterschaft bestimmt sind, anders verwirklichen?

Als ich zu Emmas Haus zurückkehrte, fiel mir ein Detail auf, und mit einem Mal erschloss sich mir alles: Über dem gläsernen Vordach nannte ein Mosaik in Gold und Silber den Namen des Ortes: Villa Circé! Die Tafel mit der Aufschrift musste im Nachhinein an dem Gebäude angebracht worden sein.

Kein Zweifel: Homer hatte bei Emma van A. Pate gestanden! Sie hatte ihre Episoden frei nach ihrem Lieblingsautor ersonnen. Ihre in einem Traum angekündigte Begegnung mit Guillaume griff die Begegnung von Odysseus und Nausikaa auf, der jungen Frau, die einen nackten Mann am Meer entdeckt. Emma van A. hatte ihrer Villa den Namen Circé gegeben als Zeichen, dass sie sich mit der Frau identifizierte, die Odysseus betörte und die Männer listenreich verzauberte. Circé verachtete strickende oder webende Frauen vom Typ Penelopes, zu der Odysseus so lange nicht zurückkehrt. Auch ihre erotische Speisekarte war vom antiken Griechenland inspiriert. Kurz, Emma van A.s angebliche Erinnerungen waren frei erfunden, es waren literarische Reminiszenzen.

Entweder hatte sie mich zum Narren gehalten, oder aber sie war eine Mythomanin. In beiden Fällen hatte sie, es erschien mir offensichtlich, die Wahrheit in Anbetracht ihrer – verheimlichten – Behinderung verfälscht.

Entschlossen, ihr zu beweisen, dass ich die Sache inzwischen durchschaute, öffnete ich die Tür. Doch angesichts der fragilen, der Bucht zugewandten Gestalt im Rollstuhl verflüchtigte sich mein Ärger.

Zärtliches Mitleid ergriff mich. Gerda hatte ihre Tante, als sie von ihr sprach, vollkommen zu Recht »die Ärmste« genannt. Die Unglückliche hatte zwar nicht arbeiten müssen, um zu leben, doch was musste das für ein Leben gewesen sein mit diesem sicherlich liebreizenden, aber in seiner Behinderung erniedrigten Körper? Wie konnte man ihr verübeln, dass sie, um ihrem Dasein zu entfliehen oder es zu bereichern, Gebrauch von dem gemacht hatte, was ihr zur Verfügung stand, nämlich ihrer Phantasie?

Und mit welchem Recht warf ich, ein Romanautor, ihr ihre poetische Improvisation vor?

Ich ging zu ihr. Sie fuhr zusammen, lächelte und wies auf einen Stuhl.

Ich setzte mich ihr gegenüber und fragte sie:

»Warum schreiben Sie das alles nicht auf? Es ist so faszinierend. Schreiben Sie ein Buch unter falschem Namen und nennen Sie es ›Roman‹.«

Sie sah mich an, als hätte sie es mit einem Kleinkind zu tun.

»Ich bin keine Literatin.«

»Wer weiß? Es käme auf einen Versuch an.«

»Ich weiß es, denn ich verbringe meine Zeit mit Lesen. Es gibt schon genug Hochstapler …«

Ich lachte krampfhaft, als ich das Wort Hochstapler aus ihrem Mund vernahm, es schien mir aufschlussreich, dass gerade sie es gebrauchte, sie, die mich tags zuvor belogen hatte. In gewisser Weise ein Eingeständnis.

Sie bemerkte meine Grimasse und griff freundlich nach meiner Hand.

»Nein, nein, verstehen Sie das nicht falsch. Das gilt nicht für Sie.«

Ihr Irrtum amüsierte mich. Demnach dachte sie, ich hätte ihr verziehen.

»Ich bin überzeugt, dass Sie ein Künstler sind.«

»Sie haben mich nicht gelesen.«

»Stimmt!«, entgegnete sie ihrerseits laut auflachend, »aber Sie hören so gut zu.«

»Wie ein Kind, ich glaube, was man sagt. Sie hätten mir gestern Märchen auftischen können, ich hätte es nicht gemerkt.«

Sie nickte zustimmend, als sagte ich ihr einen Abzählreim auf. Ich wagte mich noch weiter vor:

»Jede freie Erfindung ist ein Geständnis, jede Lügengeschichte eine persönliche Beichte. Sollten Sie mich gestern zum Besten gehalten haben, ich würde es Ihnen nicht verübeln, es Ihnen vielmehr danken, da Sie mich für Ihre Geschichte auserwählt, als würdigen Zuhörer betrachtet, mir Ihr Herz geöffnet und Ihre Phantasie geschenkt hätten. Kreativität ist etwas Einzigartiges! Kann man jemandem ein wertvolleres Geschenk machen? Ich hätte mich privilegiert gefühlt. Auserwählt.«

In ihrem Gesicht zuckte es, ein Zeichen, dass sie allmählich begriff. Rasch fuhr ich fort:

»Ja, Sie haben mich durchschaut, ich bin so etwas wie ein Bruder, ein Bruder in der Lüge, ein Mann, der wie Sie beschlossen hat, sich fabulierend preiszugeben. Heutzutage misst man der Aufrichtigkeit in der Literatur großen Wert bei! Was für ein Unsinn! Aufrichtigkeit kann lediglich im Falle eines Protokolls oder einer Zeugenaussage eine Qualität sein – und selbst dann ist sie eher eine Pflicht als eine Qualität. Das Konstrukt, die Kunst, Interesse zu wecken, die Gabe des Erzählens, die Fähigkeit, Fernes nahezubringen, etwas wachzurufen, ohne es zu beschreiben, das Vermögen, die Illusion des Wahren zu vermitteln, all das hat nichts mit Aufrichtigkeit zu tun und schuldet ihr auch nichts. Geschichten, die sich nicht aus der Wirklichkeit speisen, sondern aus der Phantasie, aus ersehnten Szenarien, unerfüllten Wünschen und ungezügeltem Verlangen, bedeuten mir mehr als alles, was in den Zeitungen steht.«

Sie riss die Augen auf und verzog den Mund.

»Sie … Sie glauben mir nicht?«

»Nicht ein Sekunde lang, aber das hat nichts zu sagen.«

»Was?«

»Ich danke Ihnen trotzdem.«

Woher nahm sie die Kraft? Sie stieß mich so heftig vor die Brust, dass ich zu Boden ging.

»Dummkopf!«

Sie war außer sich.

»Verschwinden Sie! Verlassen Sie auf der Stelle diesen Raum! Ich will Sie nicht mehr sehen.«

Gerda, die ihr Geschrei vernommen hatte, kam besorgt in die Bibliothek gestürzt.

»Was ist passiert?«

Als Emma ihre Nichte sah, suchte sie rasch nach einer Antwort. Unterdessen hatte mich die stämmige Mamsell auf dem Teppich entdeckt und half mir eilig auf.

»Na so was, Monsieur! Du bist gefallen! Wie hast du das denn angestellt? Bist du etwa über den Teppich gestolpert?«

»Ja, Gerda, er ist über den Teppich gestolpert. Deshalb habe ich dich auch gerufen. Und jetzt lasst mich bitte allein, ich muss mich ausruhen. Allein!«

Angesichts dieses keinen Widerspruch duldenden Befehls der alten Dame traten Gerda und ich den Rückzug an.

Wieder heil zurück auf meiner Etage, machte ich mir Vorwürfe, dass ich diese Krise provoziert hatte. Ich hielt Emma für eine Lügnerin und nicht für gestört. Ihre Reaktion zeigte, dass sie an ihre Hirngespinste glaubte. Und jetzt litt sie durch meine Schuld noch mehr. Was tun?

Gerda erschien unter dem Vorwand, mir Tee zu bringen, wollte in Wirklichkeit aber nur herausfinden, was sich zwischen uns abgespielt hatte.

»Was hast du denn zu ihr gesagt? Sie war ja ganz außer sich vor Zorn!«

»Ich habe ihr gesagt, dass ich vielleicht nicht alles von dem, was Sie mir gestern erzählt hat, glaube …«

»Ah ja … ich verstehe …«

»Ferner habe ich gesagt, dass mich ihre Geschichte fasziniert hat und dass ich es nicht schlimm fände, wenn sie nicht ganz wahr wäre. Da hat sie mich geschlagen.«

»Au weh!«

»Ich wusste nicht, dass sie sich dermaßen in die Sache hineingesteigert hat. Das ist nicht mehr normal. Ich habe sie für eine Lügnerin oder eine Mythomanin gehalten, ich hätte nie gedacht, dass sie …«

»Verrückt ist?«

»Oh, das Wort ist …«

»Tut mir leid, Monsieur, aber du musst zugeben, dass Tante Emma nicht ganz richtig ist im Kopf. Du glaubst doch wohl selbst nicht, dass die Romane, die du schreibst, wahr sind? Nie im Leben. Also, das mein ich damit: Meine Tante ist plemplem. Ist ja nicht das erste Mal, dass wir davon reden … Schon Onkel Jan war der Meinung! Tante Eliette auch!«

Ich schwieg. Ob ich wollte oder nicht, ich musste diesem plumpen Wesen recht geben; wenn der gesunde Menschenverstand wie ein dumpfbackiges Wildschwein daherkommt, in einem gigantisch geblümten Kittel, mit gelben Gummihandschuhen, einem ärmlichen Vokabular und einer schwächelnden Syntax, empfinde ich ihn als wenig verlockend. Dennoch musste ich ihm zustimmen: Emma van A. hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein, der realen Welt den Rücken gekehrt, zugunsten einer Phantasiewelt.

Gerda verschwand, um das Essen zuzubereiten.

Ich meinerseits wusste nicht, was ich tun sollte. Hier bleiben oder Emma beschwichtigen. Ich ertrug es nicht, sie meinetwegen unglücklich zu sehen. Besser, ich log, als dass ich sie betrübte.

 

Als Gerda um neunzehn Uhr das Haus verließ, ging ich hinunter in den Salon.

Vor dem verlöschenden Tag saß Emma van A. im dämmrigen Halbdunkel der Bibliothek an ihrem gewohnten Platz. Ihre Augen waren gerötet. Ich ging langsam zu ihr.

»Madame van A. …«

Meine Worte verhallten in der Stille des Raumes.

»Darf ich mich setzen?«

Da sie keinerlei Reaktion zeigte, kam ich mir vor, als hätte ich weder Stimme noch Gestalt. Doch obgleich sie mich keines Blickes würdigte und kein Wort an mich richtete, spürte ich an der unmäßigen Anspannung ihrer Muskeln und ihrem starr geradeaus gerichteten Blick, dass sie meine Gegenwart durchaus wahrnahm, sie aber als unangenehm empfand.

Ich musste dieser verfahrenen Situation rasch ein Ende bereiten:

»Madame van A., ich bin untröstlich über das, was heute Nachmittag passiert ist, es ist allein meine Schuld. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Wahrscheinlich war ich eifersüchtig. Ja, bestimmt. Ihre Vergangenheit ist so überwältigend, dass ich mir einreden musste, sie sei erlogen, Sie hätten sie erfunden. Sie müssen verstehen, normale Menschen wie ich tun sich schwer mit solch … solch außergewöhnlichen Dingen. Ich bitte Sie um Verzeihung. Ich war zutiefst verärgert. Ich wollte Ihr Glück mit Füßen treten, hätte am liebsten geschrien, dass es so etwas nicht gibt. Verstehen Sie mich?«

Sie drehte sich zu mir um, und auf ihrem Gesicht breitete sich ein triumphierendes Lächeln aus.

»Eifersüchtig? Wirklich eifersüchtig?«

»Ja. Ich fordere jeden heraus, der, wenn er Sie hört, nicht vor Ärger und Neid stirbt …«

Sie betrachtete mich freundlich. Ich musste ihr Vertrauen unbedingt zurückgewinnen.

»Zweifellos haben Sie deshalb nie über sich selbst gesprochen: Sie wollten keine Eifersucht schüren.«

»Nein. Mein Versprechen hat mich davon abgehalten. Und dann der Gedanke, dass man mich für verrückt erklären könnte.«

»Für verrückt … Aber weshalb?«

»Es gibt so viele Leute, die ein so erbärmlich langweiliges Leben führen, dass sie anfangen, ungereimtes Zeug zu erzählen, und schließlich selbst daran glauben. Was ich durchaus verstehen kann.«

Mysterium der Worte … Wie Vögel, die sich auf einen Ast setzen, ohne dass der Baum es bemerkt. Emma van A. hatte soeben ihren eigenen Fall beschrieben, ohne sich darin wiederzuerkennen, als handelte es sich um eine Krankheit, die nur andere betraf.

Ich spürte, dass sie sich beruhigt hatte. Daher war auch ich beruhigt.

Und so verließ ich still Emma van A.

 

Am nächsten Morgen, um acht Uhr dreißig, weckten mich Gerdas Schreie. Sie hatte ihre Tante tot im Bett vorgefunden.

Sanitäter, Ärzte, Sirenen, Polizisten, Lärm, Geklingel, schlagende Türen und ein geschäftiges Hin und Her bestätigten im Laufe des Tages, was wir, als wir ihr Schlafzimmer betraten, bereits festgestellt hatten: Emma van A. hatte erneut einen Herzinfarkt erlitten.

Gerda verhielt sich vorbildlich. Bedrückt, aber effizient kümmerte sie sich um alles, mich inbegriffen. Sie fragte mich, ob ich meinen Aufenthalt – zwei Wochen im Voraus bezahlt – abkürzen wolle oder nicht. Da ich entschied zu bleiben, dankte sie mir, auch im Namen ihrer Tante, als erwiese ich ihnen einen persönlichen Gefallen, dabei hätte ich gar nicht gewusst, wohin ich sonst hätte gehen können.

Emma van A. wurde gewaschen, geschminkt und in ihrem Bett aufgebahrt, ehe man sie in den Sarg bettete.

Ich setzte meine Ausflüge fort, die ich als seltsam tröstlich empfand. Heute war das Meer in seinen Grautönen von einer traurigen Würde. Ich war nach Ostende gekommen, um von einer Trennung zu genesen, und hatte mir einen unbestimmten, freundlichen und nostalgischen Ort ausgemalt, Nebel, in dem ich mich einnisten konnte. Ich hatte mich getäuscht! Ostende hatte nichts Unbestimmtes, nicht mehr als die Poesie – und dennoch wurde ich dort gesund. Emma van A. hatte mich erneut mit starken Gefühlen konfrontiert und mich, in ihrer eigenwilligen Art, wieder aufgerichtet.

Wie ein Privileg kostete ich diese letzten Augenblicke aus, in denen sie uns, Gerda und mich, noch bei sich, in der Villa Circé, behielt.

Um siebzehn Uhr brachte mir ihre Nichte Tee und brummte:

»Der Notar hat mich angerufen, er sagt, es gibt eine Verfügung bezüglich ihrer Beerdigung. Bekanntmachungen in zwei belgischen Tageszeitungen, zwei niederländischen, zwei dänischen und zwei englischen. Sie war wirklich verrückt!«

»Und, haben Sie sich darum gekümmert?«

»Hat der Notar bereits erledigt.«

»Wer erbt?«

»Ich. Wie sie mir versprochen hatte. Wusste ich bereits. Ach ja, und sie will unbedingt eine Totenwache von drei Tagen, was normal ist, und dann noch was, du glaubst es nicht: Sie will mit einem Handschuh begraben werden.«

Mich schauderte. Gerda verdrehte die Augen und fuhr fort:

»Ein Handschuh, der in einem Mahagonikästchen unten in ihrem Kleiderschrank liegen soll.«

Ich wusste, was gemeint war, schwieg aber und erzählte Gerda nichts von den Wahnvorstellungen ihrer Tante. Ich wollte sie nicht weiter bloßstellen.

Ein wenig später kam Gerda mit einem offenen Kästchen zurück. Sie hielt es weit von sich weg und beäugte seinen Inhalt voller Argwohn.

»Sag mal, das ist doch ein Männerhandschuh, oder?«

»Ja.«

Sie setzte sich und dachte nach, was ihr offensichtlich Mühe bereitete.

»Dann hat sie also einen Mann gekannt?«

»Einen Männerhandschuh«, versicherte ich milde.

Sie lächelte, hatte verstanden, was ich meinte.

»Ja, das sehe ich.«

»Eine züchtige Begegnung auf einem Ball. Der Rest ist wahrscheinlich nichts als Einbildung. Der perfekte Unbekannte, dem sie diesen Handschuh entwendete, ohne dass er überhaupt wusste, wie ihm geschah … Das ist es, was ich glaube, Gerda.«

»Ich auch, sofort.«

Ich hob den Kopf und griff nach einem Buch, das gut sichtbar im Regal stand.

»Die Fabel da, liegt doch auf der Hand, woher sie das alles hat.«

Ich schlug eine erlesene Ausgabe der Märchen von Charles Perrault auf. Hier, das ist es: Aschenputtel. Als Aschenputtel den Ball verlässt, lässt sie einen Schuh zurück. Der Prinz nimmt den Schuh und macht sich mit diesem Indiz auf die Suche nach seiner Tanzpartnerin.«

Ich nahm den Handschuh.

»Hier, der Handschuh des Prinzen, er steht für den Schuh von Aschenputtel.«

»Meine arme Tante. Wundert mich nicht, dass ihre Lieben nichts als Märchen waren. Die Wirklichkeit war einfach zu hart für sie, zu heftig. Tante Emma war nicht nur behindert, sie war auch gestört. Eine Träumerin, zeitlebens, ich sag’s dir.«

Ich nickte.

»So, Spaß beiseite«, beschied sie, »ich werd ihren Letzten Willen respektieren. Wo er auch her sein mag, dieser Handschuh, sie soll ihn haben.«

»Ich komme mit Ihnen.«

Wir betraten das Sterbezimmer, die Stille war beeindruckend, und ich muss gestehen, dass mich Rührung überkam, als ich der alten Dame diesen Handschuh, diesen Träger eines Traumes, in die Hände auf ihrem Herz legte, auf ein Herz, das immer nur im Traum geschlagen hatte.

 

Am dritten Tag der Totenwache nahmen Gerda, ihr Mann, ihre Kinder und ich Abschied von Emma van A., anschließend warteten wir beim Tarot-Spiel auf die Männer des Bestattungsinstituts.

Als es an der Tür läutete, rief ich Gerda, die gerade in die Küche gegangen war, zu:

»Bleiben Sie nur, ich mache den Leuten auf.«

Ich war verwundert, nur einen einzigen Mann vor der Tür zu sehen.

»Guten Tag, Sie kommen allein?«

»Verzeihen Sie, Monsieur, bin ich hier richtig, bei Madame Emma van A.?«

Jetzt wurde mir klar, dass ich mich in der Identität des Besuchers getäuscht hatte, zumal plötzlich am äußersten Ende der Straße mit majestätischer Langsamkeit der Leichenwagen auftauchte.

»Verzeihen Sie, ich habe Sie für einen Angestellten des Bestattungsinstituts gehalten. Sie wissen sicher, dass Madame Emma van A. gestorben ist?«

»Ja, Monsieur, deshalb bin ich hier.«

Als er sich umdrehte, sah er die Sargträger aus ihrem Wagen steigen.

»Ich bin froh, noch rechtzeitig gekommen zu sein. Könnte ich Sie wohl unter vier Augen sprechen?«

Eine elegante Erscheinung in einem tadellos geschnittenen dunklen Anzug mit Schlips und der ruhigen Bestimmtheit von jemandem, der es gewohnt ist, Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Vertrauensvoll bat ich ihn in den Salon.

»Hören Sie, Monsieur, ich werde keine großen Umschweife machen«, sagte er in nahezu akzentfreiem Französisch. »Ich komme in einer ungewöhnlichen Mission, die ich selbst nicht recht verstehe. Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle: Edmond Willis.«

Er übergab mir eine Visitenkarte mit Wappen, die anzusehen ich kaum Zeit hatte, da er leise fortfuhr:

»Seit fünf Jahren bin ich Generalsekretär im königlichen Schloss von *. Als man mir meinen Aufgabenbereich zuteilte, wurde ich von meinem Vorgänger mit einer skurrilen Angelegenheit betraut, wie dieser bereits von seinem Vorgänger und so weiter und so fort, die ganze Reihenfolge rückwärts. Bringen Übergaben dergleichen mit sich? Oder wollte man Genaueres verschleiern? Jedenfalls wissen wir heute im Königshaus nicht, wer ursprünglich hinter dieser Bitte stand … Wie dem auch sei, die Anweisung ist nach wie vor klar: Erlangt der Generalsekretär des Königshauses Kenntnis vom Ableben der Madame Emma van A., Villa Circé, Rue des Rhododendrons Nr. 2, Ostende, ist er angewiesen, dafür Sorge zu tragen, dass dieser Handschuh der Verstorbenen mit in den Sarg gelegt wird.«

Und er übergab mir einen weißen Handschuh, den Zwilling des Handschuhs, den Emma van A. auf ihrem Totenbett an ihr Herz gepresst hielt.