EINSAME INSEL
1
Die Chemotherapien waren schrecklich, das Furchtbarste, was Charlotte je im Leben erlebt hatte. Natürlich, man gab ihr etwas gegen die Übelkeit, und natürlich wurde ihr trotzdem übel, fühlte sie sich elend und schwach, doch das war noch nicht das Schlimmste.
Wie sie da lag in ihrem Bett, die Infusionsleitung im Arm, war ihr, als ströme ein Feind durch ihre Adern, ein zu Flüssigkeit geronnener Dämon aus uralten Zeiten, aus Epochen, in denen sich einst die Zellen selbst gebildet hatten und gegen eine giftige, zersetzende Umwelt kämpfen mussten. In diesen Stunden des Ausgeliefertseins fühlte sie sich zurückgeschleudert an den Anfang allen Lebens, an den Anfang aller Zeit, und ihr war, als beginge sie Verrat an ihrem Körper, als sei sie eine Festung, die eingewilligt habe, einem uralten Feind das Tor zu öffnen und die Waffen vor ihm zu strecken.
Brenda kam, versuchte sie zu trösten, ihr beizustehen, aber irgendwann ertrug Charlotte niemanden mehr um sich, nicht einmal sie, musste sie fortschicken, um allein zu sein mit sich und dem Dämon.
Als die endlosen Stunden zum ersten Mal vorbei waren, als Thomas kam und sie abholte, kam es ihr vor, als sei sie ein Engel oder ein Geist, eine Lichterscheinung nur noch, die neben ihm auf dem Beifahrersitz schwebte. Sie hob immer wieder die Hände, wunderte sich jedes Mal, dass sie nicht durchsichtig waren.
»Ich weiß nicht, ob das das Richtige ist«, sagte sie, als ihr Brenda eine dünne Suppe kochte, das Einzige, was sie sich vorstellen konnte zu sich zu nehmen. »Es fühlt sich so … falsch an.«
»Es ist eben eine Chance, Charly«, meinte Brenda verzweifelt. »Sieh es einfach als Chance.«
Das ließ sie sich durch den Kopf gehen. Eine Chance. Wie viele Chancen brauchte sie denn? Wie viele Chancen hatte sie schon gehabt? In dem Moment kam es ihr vor, als habe sie sie jedenfalls alle verpasst. Warum sollte es ausgerechnet diesmal anders sein?
Am nächsten Morgen fingen auch die restlichen Haare an ihrem Körper an auszufallen. Auf dem Kopf hatte sie ohnehin nur noch ein paar Stoppeln; die waren nach der Dusche nicht mehr da. Ihre Schambehaarung ging in dichten Büscheln aus, und wenn sie sich das Gesicht abtrocknete, blieben jedes Mal Teile ihrer Augenbrauen und Wimpern im Handtuch zurück. Nach drei Tagen war sie so nackt wie ein Baby. Sie stand vor dem Spiegel und hatte das Gefühl, eine Schaufensterpuppe zu betrachten.
Der Arzt wunderte sich; er habe das erst nach der zweiten Behandlung erwartet. Aber da reagiere jeder Mensch anders. Und die Haare würden alle wieder wachsen, sie solle sich keine Sorgen machen.
»Ich mache mir keine Sorgen um meine Haare«, sagte Charlotte. Ich mache mir Sorgen um mich selbst. Aber das sagte sie nicht. Ein Blick in das Tausendsorgengesicht des Arztes genügte, um zu wissen, dass er das auch so verstand.
Außerdem hatte sie ihre Mutter, die sich an ihrer Stelle den Kopf über ihre Haare zerbrach. Immer wieder rief sie an und wollte sie überreden, doch nach Paris zu kommen, sie kenne dort hervorragende Perückenmacher, hervorragende!
Die Vorstellung, in ihrem Zustand einen Transatlantikflug anzutreten, war abstrus genug; die Idee, es zu tun, um sich eine Perücke zu kaufen, war geradezu abwegig. Aber ihre Mutter ließ nicht locker. Ihre Anrufe waren wie eine Folter.
Und die Tage rannen dahin, zwischen schwerem Aufstehen, müden Bewegungen, erschöpftem Ausruhen und früher Müdigkeit am Abend. Sie fühlte sich immer noch wie ein ausgewrungener Putzlappen, als bereits die nächste Behandlung anstand.
»Kann sein, dass Sie die besser vertragen«, meinte die Ärztin, die sie empfing. »Das geht vielen so. Der Mensch gewöhnt sich.«
Aber ihr ging es nicht so. Das zweite Mal war derselbe Albtraum, nur noch viel tiefer.
Eine Woche später klopfte Brenda behutsam an ihre Tür. »Charly?«
Charlotte schreckte auf. Sie hatte im Sessel gesessen, versucht, etwas zu lesen, und war dabei eingenickt. »Ja, was ist?«
»Entschuldigung. Ich wollte dich nicht aufwecken. Es hat ausgesehen, als ob du –«
»Nein, kein Problem. Ich … es ist wohl ein langweiliges Buch.« Sie legte es beiseite.
Brenda zögerte. »Sag mal – du bist doch so gut in Sprachen. Meinst du, du könntest was übersetzen für eine Bekannte?«
Charlotte musterte ihre Freundin. Brenda bekam die ersten grauen Haare, das fiel ihr erst jetzt auf. Seltsam, wie man durchs Leben ging, ohne die Dinge wahrzunehmen. War sie gut in Sprachen? Sie kam zurecht, das schon. Aber übersetzen …? »Hab ich noch nie gemacht«, erwiderte sie. »Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
»Und wenn du es einfach versuchst?« Brenda zog ein Blatt Papier hervor, einen Brief, auf Spanisch geschrieben. »Es geht um eine Scheidungsgeschichte. Eine Kollegin von Tom, die einen Franzosen geheiratet hat, einen Rennfahrer, stell dir vor! Der macht ihr nun Schwierigkeiten, kein Mensch weiß, warum.« Sie reichte ihr den Brief. »Den bräuchte sie jedenfalls in Französisch.«
Also versuchte sie es. Da Charlotte das gesprochene Wort brauchte, um zu verstehen, zog sie sich in ihr Zimmer zurück, um sich den Brief laut vorzulesen und auf den Klang der Worte und den Sinn dahinter zu lauschen. Die juristischen Details verlangten Genauigkeit, und Genauigkeit verlangte volle Konzentration. Die Welt um sie herum versank, die Zeit blieb stehen, sie vergaß ihren Körper, ihr Schwächegefühl, ihre Ängste. Es gab nur den Brief und die Worte, die sie schrieb, korrigierte, ausstrich und neu schrieb.
In diesen Stunden selbstvergessener Arbeit veränderte sich etwas in ihr. Irgendwann sah sie auf und verspürte plötzlich eine nie gekannte Ruhe. Erst horchte sie verwundert, weil ihr so war, als habe die ganze Zeit irgendwo leise eine Maschine gebrummt, die nun auf einmal still war. Aber dann begriff sie, dass da nie eine Maschine gewesen war. Sie selber war still geworden, zum ersten Mal in ihrem Leben.
Sie schaute umher, betrachtete das Fenster, den Holztisch, an dem sie saß, das Bett und die handgenähte Decke darauf. Alles war einfach da. Gegenstände, die jemand einmal gemacht hatte. Sie waren vor ihr da gewesen, und sie würden nach ihr noch da sein.
Sie, Charlotte Malroux, würde sterben. Es war, wie es war. Ihr Weg würde demnächst enden. Und alles in allem hatte sie nichts dagegen, wenn er hier endete, in Buenos Aires.
Sie würde keine Chemo mehr machen. Sie würde einfach die Tage leben, die ihr noch blieben.
Als Charlotte mit dem fertig übersetzten Brief zu Brenda ins Wohnzimmer kam, blickte die sie überrascht an, schien die Veränderung zu sehen, die mit ihr vorgegangen war.
»Würdest du mir bitte helfen«, bat Charlotte, »ein Zimmer irgendwo in der Stadt zu finden?«
Sie einigten sich schließlich auf Belgrano. Belgrano war ein sicherer Stadtteil für eine alleinlebende Frau und nicht weit von Núñez entfernt, wo Brenda und Tom wohnten; wenn sie irgendeine Art von Hilfe brauchte, konnte einer der beiden im Nu bei ihr sein. Das war sozusagen Brendas Bedingung, Charlotte ziehen zu lassen.
Sie fand ein Zimmer im Haus eines älteren Ehepaars, das sonst an Studenten vermietete. Die Frau stammte aus Deutschland und freute sich über die Gelegenheit, ihr Schulfranzösisch anzuwenden, sah aber bald ein, dass es besser funktionierte, wenn sie bei Spanisch blieben. Das Haus lag an einer ruhigen, von Bäumen gesäumten Straße, weit genug von der Avenida Cabilda entfernt, um nichts von dem Trubel und Verkehrslärm dort mitzukriegen, und doch nahe genug, dass Charlotte alle Einkäufe würde zu Fuß erledigen können; einstweilen zumindest noch und wenn sie sich auf das Wichtigste beschränkte.
Aber das wollte sie sowieso: sich auf das Wichtigste beschränken.
Das Schönste war, dass ihr Zimmer im Erdgeschoss lag und eine eigene Terrasse hatte, von der aus sie auf den im Zustand zunehmender Verwilderung befindlichen, geheimnisvoll aussehenden Garten schauen konnte. Hier, so beschloss sie, würde sie viel von der Zeit verbringen, die ihr noch blieb.
Das Zimmer war möbliert, und die Möbel waren größtenteils in Ordnung. Trotzdem gefielen ihr einige Stücke nicht – der klobige schwarze Eichenschrank, der nicht zum Rest passte; der zu schmale Schreibtisch; der Spiegel mit dem aufdringlichen Goldrahmen – und sie überredete ihre Vermieter, ihr zu erlauben, sie auf eigene Kosten durch andere zu ersetzen. Sie streifte einige Tage lang durch Möbelgeschäfte, Antiquariate und über Märkte, besichtigte, erwog, überlegte, und zu ihrem eigenen Erstaunen schlauchte sie das nicht, sondern wirkte regelrecht belebend. Sie ließ antransportieren und fortschaffen, umgarnte Spediteure, damit sie ihr den luftigen, weiß lackierten Schrank an genau dem Platz aufstellten, an dem sie ihn haben wollte, und das Regal gleich daneben, strich eine Wand in einem Pfirsichton, in den sie sich verliebt hatte, hängte neue Vorhänge auf, kaufte unsinnig viele Pflanzen in bunten Töpfen.
Zum ersten Mal im Leben schuf sie sich ein Zuhause.
»C’est magnifique!«, staunte Señora Blanco, als sie sah, was Charlotte aus dem Zimmer gemacht hatte. Charlotte lächelte nur; nachdem alles geschafft war, hatte sie nun doch rasende Kopfschmerzen.
Sie fuhr am nächsten Tag wieder zu Doktor Aleandro, der sie mit seinem Tausendsorgengesicht ansah und ihr erklärte, das sei der Tumor, der wieder wachse und immer stärker auf ihr Gehirn drücke. Ob sie nicht doch …?
»Nein«, sagte Charlotte. »Ich will nur etwas gegen die Schmerzen.«
Er verschrieb ihr Tabletten, deren Beipackzettel voller Warnungen vor Nebenwirkungen länger waren als ihr Arm, die aber halfen. Sie achtete darauf, sich trotzdem nicht zu überanstrengen. Wenn sie ihre Einkäufe gemacht hatte, legte sie sich immer eine halbe Stunde hin. Später entdeckte sie eine Eisdiele, die einen großartigen Espresso machte; von da an richtete sie es so ein, dass sie dort eine ausgedehnte Pause einlegte. Dies war ihr letzter Sommer; wenn sie jetzt nicht Eis aß, wann dann?
Die Stille kehrte zurück, verließ sie nicht mehr. Wenn sie unterwegs war, betrachtete sie das Treiben der Menschen mit einem Blick, als gehöre sie bereits nicht mehr dazu. Die meisten hatten es eilig, viele wirkten unzufrieden, begierig, ärgerlich, und niemand schien sich dessen bewusst zu sein, dass er lebte und was für eine unglaubliche Sache das an sich schon war. Charlotte beobachtete es mit Nachsicht, weil sie sich gut daran erinnerte, dass sie genauso gewesen war.
Schließlich begann sie Briefe zu schreiben, an frühere Freunde, an ehemalige Liebhaber, an alle, bei denen sie, wenn sie an sie dachte, das Gefühl hatte, dass noch etwas zu klären, noch etwas zu sagen war.
Sie schrieb Gary an seine alte Adresse in Belcairn, weil sie die in London nicht mehr hatte. Sie schrieb ihm, wie es um sie stand und dass sie oft daran denken musste, wie sie sich in Moskau getroffen hatten und an den Abend unter der Brücke in Istanbul. Dass ihr seine Hingabe an seine Arbeit imponiert hatte und auch, dass er unbestechlich geblieben war, als er das gefälschte Cembalo gekauft hatte. Dass sie ihn geliebt habe, solange es eben gegangen war, dass sie froh war, ihn gekannt zu haben, und dass sie ihm und Lilith alles Gute wünschte.
Sie schrieb an Adrian, einfach um ihm zu danken, wie er die Expedition geführt hatte. Er war der Einzige, der postwendend antwortete, mit einem langen, einfühlsamen Brief, in dem er seine Bestürzung über ihr Schicksal zum Ausdruck brachte und ihr alles Gute wünschte. Sie musste weinen, als sie seinen Brief gelesen hatte, und dann wieder lachen, als sie ein Postscriptum entdeckte, wonach er sie von Morley grüßen solle, der leider beim Umräumen seines Bücherregals von der Leiter gefallen sei und sich einen komplizierten Unterarmbruch zugezogen habe, weswegen er zurzeit eine unzumutbare Sauklaue habe.
Sie schrieb sogar an James. Das war ein schwerer Brief, der sie viele Tage kostete. Sie gestand ihm schließlich, die ganze Zeit geahnt zu haben, dass er nebenbei Affären hatte – dass jede Frau so etwas ahne –, dass sie aber die Augen davor verschlossen und sich gesagt habe, dass das nichts mit ihr zu tun hätte, sondern dass er eben etwas ausleben müsse. Sie fügte hinzu, dass sie inzwischen ihr eigenes Verhalten damals dumm fand; dass ihr heute klar war, dass ihr sein Verhalten auf eine eigenartige Weise geschmeichelt hatte – denn die anderen Mädchen hatte er ja immer wieder aufgegeben, um zu ihr zurückzukommen –; dass sie sich auf diese Weise eine würdelose Selbstbestätigung verschafft hatte. Sie schrieb ihm, dass sie es bedauerte, nicht von Anfang an klare Verhältnisse gefordert zu haben, und dass sie darin, dies nicht getan zu haben, ihren eigenen Anteil am Scheitern ihrer Beziehung sehe.
Zum Schluss versuchte sie, einen Brief an Hiroshi zu schreiben, aber das wollte ihr nicht gelingen. Es hätte so viel zu sagen gegeben und zugleich nichts. All ihre Versuche, in Worte zu fassen, was sie für ihn empfand, gerieten zu konfusen Sätzen, die sie beim Wiederlesen selber nicht mehr verstand. Warum waren sie nie ein Paar geworden, wie er es sich einmal so sehr gewünscht hatte? Sie waren sich immer sehr nah gewesen, und hätte sie nicht stets dieses Prickeln gespürt, sie hätte gesagt, dass ihr Verhältnis eher das von Geschwistern war als das eines Liebespaars. So aber verstand sie es nicht, und der Brief blieb, zahllose Male neu angefangen, unvollendet.
»Ja, das ist sie.« Coldwell nickte und gab James das Foto zurück. »Die war damals in Hongkong bei ihm.«
James spürte seine Unterkiefer mahlen; ein nervöser Tick, gegen den er zusehends machtlos wurde. »Und aus welchem Grund war sie dabei? Hat er dazu irgendwas gesagt?«
Der stiernackige Mann hob die Schultern. »Es hieß nur, der Erfinder werde gemeinsam mit seiner Muse kommen. Keine Ahnung, was das sollte.«
»Mit seiner Muse?«
»Kennen Sie die Frau etwa?«
James kratzte sich mit der Oberkante des Fotos über das Kinn. »Ja. Allerdings. Und ich weiß, wo sie sich im Moment aufhält.« Er legte das Bild zurück in die Mappe. »Kato wird irgendwann bei ihr auftauchen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Setzen Sie Ihre Leute in Marsch und lauern Sie ihm auf!«
Der April neigte sich dem Ende zu und mit ihm der Spätsommer in Buenos Aires. Noch ein paar schöne Tage, hatte der Wetterbericht angekündigt, dann würde es zu regnen anfangen und kühl werden. Da es ihr letzter Sommer sein würde, verbrachte Charlotte jeden Abend so lange wie möglich draußen. Auf ihrer kleinen Terrasse in eine Decke gewickelt, hörte sie den Vögeln zu, den Kinderstimmen aus weiter Ferne, betrachtete die Blätter an den Bäumen, die sich bereits zu verfärben begannen, und hing ihren Gedanken nach. Nicht selten nickte sie ein – die Schmerzmittel, die sie inzwischen nehmen musste, um den Druck im Kopf auszuhalten, machten sie noch müder, als sie ohnehin schon war.
Eines Abends schreckte sie hoch, weil plötzlich jemand vor ihr stand, ein hagerer, untersetzter Mann, der ihr bekannt vorkam. Sie war nicht erschrocken – nichts konnte ihr mehr Angst machen –, sie war einfach nur von dem Knarzen der Dielen aufgewacht, als er die Terrasse betreten hatte.
Jetzt erkannte sie ihn. Es war Hiroshi.
»Hallo, Charlotte«, sagte er.
Sie betrachtete ihn versonnen, ohne sich zu rühren. Ein silberner Schimmer lag auf seinen Haaren. Um die Augen zeigten sich erste feine Fältchen. »Ich träume das jetzt nicht, oder?«
Er schüttelte den Kopf und lächelte. »Nein.«
Es war ein trauriges Lächeln. Daran sollte sie später noch oft denken: dass er gewusst hatte, was passieren würde.
2
»Er ist in Buenos Aires?« Der Verteidigungsminister musterte den CIA-Chef über den oberen Rand des einseitigen Berichts hinweg, den dieser ihm persönlich überreicht hatte. »Sind Sie sicher?«
»So sicher, wie man sein kann«, entgegnete der CIA-Chef pikiert. Der Minister starrte ihn unverwandt weiter an, ein Schweigen, das schwer auszuhalten war, also seufzte er schließlich und sagte: »Vor Kurzem hat der argentinische Zoll ein paar Leute verhaftet. Amerikaner, die versucht haben, mit Waffen und Abhörgeräten einzureisen. Die Beamten haben unsere Botschaft kontaktiert, und unsere Leute dort haben sich eingeschaltet. So weit Routine. Aber dann haben sie bei einem der Männer – einem gewissen Bud Miller – Fotos von Hiroshi Kato gefunden.«
»Verstehe. Und ihn dann ein wenig … eindringlicher befragt, nehme ich an.«
Der CIA-Chef neigte den kahl werdenden Kopf leicht zur Seite. »Die Männer hatten den Auftrag, eine Frau namens Charlotte Malroux zu beobachten. Sie sind davon ausgegangen, dass Kato früher oder später bei ihr auftauchen würde.«
»Einen Auftrag? Von wem?«
»Von einem in Boston ansässigen Unternehmen, Bennett Enterprises.« Der Geheimdienstler machte eine wegwerfende Handbewegung. »Offenbar wollte der Vorstandsvorsitzende sich Kato und seine Technologie auf eigene Faust unter den Nagel reißen. Das hat natürlich nun allerlei unerfreuliche juristische Konsequenzen für ihn und diejenigen seiner Mitarbeiter, die in den Fall verwickelt sind. Der springende Punkt ist, dass wir uns an seiner Stelle der Dame angenommen haben. Sie ist die Tochter des ehemaligen französischen Botschafters in Argentinien, weswegen wir äußerst diskret geblieben sind. Und Kato ist tatsächlich bei ihr aufgetaucht. Und zwar vor« – er sah auf seine Armbanduhr – »einer guten Stunde.«
»Okay.« Der Verteidigungsminister griff nach dem Telefonhörer. »Zeit zu handeln. Das volle Programm. Aktivieren Sie Ihre Leute da unten, ich spreche mit dem Präsidenten.«
In der Ferne hupte jemand anhaltend. Von irgendwoher hörte man Pfannengeklapper. Ein Flugzeug glitt über den Himmel, zeichnete einen rotgoldenen Kondensstreifen darauf.
Charlotte erhob sich. Es war mühsam, aus dem Sessel zu kommen. Sie fühlte sich wie eine alte, zerbrechliche Frau. »Gehen wir hinein. Es wird kühl.«
»Gern«, sagte Hiroshi. Sie merkte, wie er sich anspannte, bereit, sie zu stützen, sie aufzufangen, falls sie stürzen sollte, und wie er sich bemühte, sie nicht merken zu lassen, dass er damit rechnete.
»Es geht schon«, sagte sie. »Willst du was trinken? Ich kann uns einen Kaffee machen.«
»Ein Kaffee wäre großartig«, meinte er.
Drinnen sah er sich um, während sie an der winzigen Einbauküche mit Wasserkessel und Kaffeepulver hantierte. »Schön wohnst du«, erklärte er nach einer Weile. »Das sieht alles irgendwie … sehr nach dir aus. Ich habe mir immer vorgestellt, dass deine Wohnung so aussieht wie die hier.«
»Tatsächlich?« Es wunderte sie, dass er das sagte.
»Aber eine Couch hast du auch nicht«, fügte er schmunzelnd hinzu.
Ihre Diskussion von damals fiel ihr wieder ein. In einem anderen Leben schien das gewesen zu sein. »Du kannst mir ja schnell eine wachsen lassen.«
»Soll ich?« Es klang geradezu wie eine ernsthafte Frage.
»Nein«, sagte Charlotte. »Erstens hab ich, wie du siehst, keinen Platz dafür …«
»Du warst nicht lange genug in Japan«, warf er ein.
»… und zweitens will ich nur noch Dinge um mich haben, die von Menschen gemacht worden sind. Von Hand. Mittlerweile finde ich die schöner, selbst wenn sie nicht so perfekt geraten. Ich würde am liebsten gar nichts mehr besitzen, das von Maschinen hergestellt worden ist.«
»Warum das?«
»Weil es einer Maschine egal ist, ob sie einen Tisch baut oder einen Menschen tötet.«
Hiroshi hob die Augenbrauen. »Ah«, hörte sie ihn sagen. »Ja. Das stimmt. Das ist Maschinen in der Tat gleichgültig.« Ein schmerzlicher Ton lag in seiner Stimme.
Sie stellte die Tassen auf ihren kleinen Tisch, brachte die Kanne und den Zucker. »Setz dich«, sagte sie und wies auf den Sessel. Sie selber nahm den Schreibtischstuhl. »Und erzähl. Was führt dich her? Wo hast du gesteckt? Alle Welt will dich feiern, seit diese Raumstation am Himmel aufgetaucht ist.«
»Nicht nur feiern«, meinte Hiroshi, als sie ihm einschenkte.
Es klang bedrückt. Ja, überlegte Charlotte, vermutlich wollte man sich auch sein Wissen sichern. Bestimmt. Das war bloß alles schon so weit weg; sie kümmerte sich nicht mehr um Nachrichten, Zeitungen, Fernsehen …
»Schön jedenfalls, dich zu sehen«, sagte sie. »Ich wollte dir schreiben, aber irgendwie … Na ja. Und jetzt bist du da. Das freut mich so.« Sie musste blinzeln. Glückliche Momente anhalten, einfrieren – wieso konnte man das nicht? Wieso verging die Zeit so mitleidlos? »Es geht mir gesundheitlich nicht gut, das hast du vielleicht gesehen.«
»Ich weiß«, sagte Hiroshi. »Deswegen bin ich gekommen.«
»Um mich noch einmal zu sehen.«
»Nein«, sagte er. »Um dich zu heilen.«
»Mich zu heilen?« Sie schüttelte den Kopf, spürte einen Anflug von Ärger. »Das kann niemand mehr.«
Sie musterte ihn, studierte den Blick seiner ernsten Augen und erinnerte sich, dass, ja, es etwas anderes war, wenn Hiroshi derlei behauptete. »Woher weißt du überhaupt, dass ich krank bin?«, fiel ihr ein. »Und wo ich wohne?«
»Von einem gewissen Gary McGray.« Er nippte an seinem Kaffee. »Ich habe es unter allen Nummern versucht, die ich von dir hatte. Und in Schottland ging ein Mann ran, der sagte, dass er dich kennt und weiß, wo du bist.«
»Ah. Schön. Hat er was gesagt, wie es ihm geht?«
»Er war ein bisschen im Stress, glaube ich. Im Hintergrund hat ein Baby geschrien wie am Spieß.«
Dann hatten sie also ein Kind. Mindestens eines. Und lebten in Belcairn. Seltsam – und was war mit dem Auktionshaus in London? Nun, vielleicht würde ihr Gary noch schreiben. Noch rechtzeitig.
»Also diesmal nicht meine Mutter«, sagte sie.
»Zurzeit zögere ich, Botschafterhaushalte anzurufen«, meinte Hiroshi nur. Er sah sich um. »Lass uns anfangen. Ich würde gern das Bett ein wenig vorziehen, sodass ich am Kopfende sitzen kann, ist das okay?«
Charlotte nickte, fühlte sich ein wenig überrumpelt. »Was willst du überhaupt machen?«
»Dir die Hände auflegen, schlicht gesagt.«
»Glaubst du an so was?«
»Mach dir keine Gedanken.« Er zog das Bett schräg in den Raum, stellte den Stuhl ans Kopfende. »Leg dich einfach nur hin. Auf den Rücken.«
Sie zögerte. »Sonst nichts?«
»Du könntest das Kopftuch abnehmen.«
Na gut. Warum nicht. Sie löste den Knoten im Nacken. Ihre Wimpern waren nachgewachsen, aber auf dem Kopf hatte sie nach wie vor nur unregelmäßige Stoppeln; das Tuch abzunehmen kam ihr vor, als ziehe sie sich nackt vor ihm aus.
Andererseits hatte sie sich schon einmal nackt vor ihm ausgezogen. Sie faltete das Tuch sorgsam zusammen – eine Batikarbeit, die sie einer Frau auf einem Markt abgekauft hatte, auf dem hauptsächlich getauscht wurde –, deponierte es auf dem Tisch und streckte sich dann auf dem Bett aus.
»Bleib jetzt einfach ruhig liegen«, hörte sie seine Stimme. Er legte ihr seine Hände um den Hinterkopf, in der Nähe der Operationsnarbe. »Es wird eine Weile dauern.«
»Okay.« Es fühlte sich gut an, berührt zu werden, aber das alles befremdete sie dennoch. Hiroshi war immer ein Mann der Wissenschaft gewesen, ein Rationalist durch und durch; dass jemand wie er Zuflucht zu einem alten Aberglauben nahm, war … enttäuschend.
In diesem Augenblick fühlte sie ein eigenartiges Brennen, das von seinen Händen auszugehen schien, in ihren Schädel einsickerte und sich wie eine Hitzewelle in ihrem Körper ausbreitete. Sie erschrak.
»Das lässt gleich nach«, hörte sie Hiroshi sagen. »Das ist nur am Anfang so.«
Fernández Larreta, der Polizeipräsident von Buenos Aires, war äußerst verstimmt über den Verlauf des Abends. Er trug seinen besten Frack, weil er mit seiner Frau in der Oper gewesen war; die Leute des Innenministers hatten ihn in der Pause aus der Halle des Teatro Colón weggeholt. Und anstatt dem ergreifenden Finale des »Don Giovanni« zu lauschen, saß er nun hier im Arbeitszimmer des Innenministers und hörte ein paar Amerikanern zu, die in einer kruden Mischung aus schlechtem Spanisch und schwer verständlichem Englisch Aufregung verbreiteten.
Woher kamen die überhaupt? Jemand hatte es ihm gesagt, aber er war noch zu aufgebracht gewesen über die jähe, geradezu unverschämte Störung, als dass er genau zugehört hätte. Eines der Gesichter kam ihm bekannt vor: Der Mann mit der olivfarben getönten Haut und der von ergrauten, krausen Haaren umrahmten Stirnglatze war ein Mitarbeiter der amerikanischen Botschaft. Miller oder so. Genau.
Er zupfte sein Revers zurecht, versuchte den Ausführungen zu folgen – es ging um irgendeinen Japaner, der sich in Buenos Aires aufhielt; große Güte, diese Amis mischten sich auch in alles ein! –, musste aber die ganze Zeit an seine Frau und an den zornblitzenden Blick denken, den sie ihm zum Abschied zugeworfen hatte. Himmel noch mal! Das würde wieder ein Drama geben, wenn er nach Hause kam.
Besser, er dachte bis dahin so wenig wie möglich daran. Er richtete seine Aufmerksamkeit mit aller Entschlossenheit auf die Besprechung.
»Die Fahndung nach Verbrechern und anderen gefährlichen Personen ist eine innere Angelegenheit Argentiniens«, erklärte der Innenminister gerade. »Sie würden auch nicht zulassen, dass unsere Polizei« – er nickte in Richtung Larretas – »jemanden auf dem Territorium der USA verfolgt.«
»Ja«, sagte Miller. »Aber dieser Mann ist so gefährlich, mit dem werden Sie nicht fertig.«
»Folgendes ist passiert«, erklärte Hiroshi. »Ich habe in meinem Körper Einzelteile für einige Milliarden spezieller Nano-Roboter transportiert, insgesamt eine Masse von beinahe einem Gramm. Nachdem ich dir die Hände aufgelegt habe, haben Transportereinheiten der Nano-Komplexe, die ich ebenfalls beherberge, diese Einzelteile durch meine Haut und deine Haut hindurch befördert, bis in deine Blutbahn. Konnektoren, die gleichzeitig dorthin transportiert wurden, haben diese Teile zu den eigentlichen Robotern zusammengebaut. Die kannst du dir am besten als kleine U-Boote vorstellen, die sich nun in deinen Adern bewegen, ungefähr so groß wie Viren. Diese U-Boote machen jetzt Jagd auf sämtliche Krebszellen in deinem Körper.«
Charlotte hörte sich keuchen, ein unwillkürlicher Laut. Das war zu viel Hoffnung, als dass sie sich darauf hätte einlassen können, aber … sie spürte etwas. Oder sie glaubte zumindest, etwas zu spüren. Etwas wie eine prickelnde Woge, die durch ihren Körper ging und sich in ihrem Nacken konzentrierte.
Sie wollte etwas sagen, doch sie fühlte sich auf einmal so schwer. Außerdem war ihr entfallen, was sie sagen wollte. War es denn wichtig? War noch irgendetwas wichtig …?
Sie schreckte hoch. »Woher wissen sie es?«, rief sie.
»Was?«, hörte sie Hiroshi fragen, dessen Hände immer noch auf ihrem Kopf lagen.
Sie begriff. »Ich bin eingeschlafen, nicht wahr?«
»Ja. Aber das ist gut. Mach dir keine Sorgen.«
»Ich bin vielleicht eine Gastgeberin. Schlafe einfach ein …« Dann fiel ihr die Frage wieder ein, die sie hatte hochschrecken lassen. »Deine U-Boote – woher wissen sie, was eine Krebszelle ist und was nicht?«
»Ach so.« Hiroshi schmunzelte, sie konnte es hören. »Es gibt eine Menge Merkmale, an denen man Krebszellen erkennen kann. Zum Beispiel sind sie unsterblich, im Gegensatz zu den meisten anderen Zellen deines Körpers.«
»Krebszellen sind unsterblich?« Das kam ihr absurd vor.
»Natürlich. Das ist doch das Problem: dass sie sich unbegrenzt oft teilen können. Die meisten normalen Körperzellen können das nicht; nach etwa fünfzig Replikationen ist Schluss.«
Sie dachte darüber nach. Logisch irgendwie, und doch paradox: dass die Ursache ihres Sterbens etwas Unsterbliches sein sollte! »Du sagst, die meisten Körperzellen … Gibt es etwa auch unsterbliche Körperzellen?«
»Ja. Die Keimzellen zum Beispiel. Oder auch manche Stammzellen. Aber das sind beides Zelltypen, die sich leicht identifizieren lassen. Keimzellen zum Beispiel besitzen nur den halben Chromosomensatz.«
Es gab so viel, das man über sich selbst nicht wusste. Sich vorzustellen, dass nun winzige Maschinen durch ihren Körper kreisten, ihre Zellen inspizierten und dann entschieden, welche davon beseitigt werden sollten … »Und wenn sie sich irren?«
»Sie irren sich nicht.« Seine Hände lagen immer noch warm und ruhig auf ihrem Kopf. »Ich stehe mit ihnen in Kontakt.«
»In Kontakt? Über deine Hände etwa?«
»Eigentlich per Funk. Der Hautkontakt verbessert nur den Empfang.«
Musste sie das verstehen? Sie fühlte sich merkwürdig. Irgendetwas ging in ihrem Körper vor, sie wusste bloß nicht, was. »Kann es sein, dass ich gerade Fieber kriege?«
»Das ist nur eine Leukozytenreaktion«, erklärte Hiroshi ruhig. »Die Maschinen lösen die Krebszellen nicht einfach auf; das wäre zu gefährlich, weil dann dein Körper mit mehr Abfallstoffen überschwemmt würde, als er ausleiten kann. Stattdessen dringen sie in die Zelle ein und lösen die Apoptose aus, den zelleigenen Mechanismus der kontrollierten Selbstzerstörung. Die meisten Überreste werden von deinen Leukozyten aufgefressen; du wirst deswegen eine Weile erhöhte Leukozytenwerte aufweisen. Alles, was übrig bleibt, transportieren die U-Boote selber ab, deponieren es in deiner Blase oder deinem Darm – das geht nur etwas langsamer. Die gesamte Tumormasse in deinem Körper beträgt nicht mehr als ein paar hundert Gramm; du wirst abgesehen von einer leichten Verfärbung des Urins nichts bemerken.«
»Woher weißt du das alles?«, wunderte Charlotte sich.
»Ich habe das, bevor ich zu dir gekommen bin, schon zweimal ausprobiert. Das erste Mal an einem alten Mann, das zweite Mal an einem zehnjährigen Kind. Bei beiden hieß es, der Tod sei nur noch eine Frage von Tagen, und beide waren danach gesund.«
Ein Schauer überlief Charlotte. »Du kannst also Krebs tatsächlich heilen! Hiroshi! Das musst du der Menschheit zur Verfügung stellen! Das ist viel wichtiger als eine Raumstation, du meine Güte …«
»Das ist nicht so einfach, wie du denkst.«
»Wieso nicht?«
»Weil man dazu wissen muss, was ich weiß, und bereit sein muss, mit den Nanitenkomplexen zu verschmelzen.« Er seufzte. »Die Steuerung, weißt du? Mein gesamtes Gehirn ist durchzogen von nanofeinen Leitungen. Ich empfange Signale der Naniten direkt in meinem Geist, und ein Gedanke von mir genügt, um sie zu lenken, sie tun zu lassen, was ich will.«
Charlotte fuhr hoch, fuhr herum und sah ihn entgeistert an. »Das ist nicht dein Ernst! Die Dinger von der Insel … sind in deinem Kopf?«
»Es geht nicht anders«, erwiderte er und klopfte sanft auf das Bett. »Leg dich wieder hin. Ich möchte lieber unter Beobachtung halten, was in dir passiert.«
Sie legte sich widerstrebend zurück und versuchte, nicht an Leon zu denken. Das war alles so irreal. Vielleicht träumte sie das alles auch nur …
»Hiroshi!«, rief sie, als sie irgendwann später wieder aufwachte, »wie ist das möglich? Diese Maschinen sind aus dem Weltraum gekommen, von irgendwoher! Wie ist es möglich, dass du sie mit deinem Gehirn steuern kannst?«
Hiroshis Hände bewegten sich leicht, streichelten ihre Schläfen. »Weil du recht hattest.«
»Ich? Womit?«
»Es gab schon einmal eine Menschheit. Sie haben die Naniten gebaut.«
Fernández Larreta hatte das deutliche Gefühl, dass dies der Moment war, etwas zu sagen. Auf keinen Fall konnte es angehen, dass irgendein dahergelaufener Ausländer die Ehre der argentinischen Polizei in den Dreck zog, ohne sich zumindest harsche Widerworte einzufangen.
»Mit allem nötigen Respekt, Señor«, meldete er sich also zu Wort, »aber ich bezweifle, dass Sie das beurteilen können. Offen gesagt haben Sie bisher, was diesen ominösen Japaner betrifft, nichts als diffuse Behauptungen in den Raum gestellt. ›Gefährlich‹, höre ich die ganze Zeit. Wie kommen Sie dazu, dergleichen zu behaupten? Legen Sie doch mal so etwas wie Beweise vor!«
Da riss er die Augen auf, dieser Miller. Haha! Mit derart entschiedener Gegenwehr hatte er nicht gerechnet!
»Professor?« Der Amerikaner wandte sich an einen seiner Begleiter, einen Mann mit einer imposanten Hakennase. »Wenn Sie vielleicht …?«
Der so Titulierte nickte, sah auf seine Uhr und überlegte kurz, als müsse er im Kopf etwas ausrechnen. Dann glitt ein Lächeln über sein Gesicht. Er eilte quer durch den Raum und spähte aus einem der Fenster, die aus dem Büro des Innenministers auf den dunklen Innenhof gingen. »Wenn Sie die Freundlichkeit hätten, zu mir zu kommen, Señor Larreta«, bat er mit einer einladenden Handbewegung. Er sprach Spanisch mit mexikanischem Akzent.
Na gut. Fernández Larreta wusste zwar nicht, was das sollte, aber gut, es gab das Gebot der Höflichkeit, trotz allem … Er stand auf und trat neben den Professor, der eine dieser texanischen Schnurkrawatten trug.
»Schauen Sie zum Himmel.«
Fernández Larreta sah in die Richtung, in die der ausgestreckte Arm des Professors wies. Da war ein heller, verwaschener Lichtfleck am Nachthimmel, der sich langsam bewegte, wenn man genau hinsah.
»Sie wissen, was das ist?«
Larreta hob die Schultern. »Natürlich. Diese Raumstation. Das Habitat.«
»Genau. Der Mann, den wir suchen, hat diese Raumstation gebaut.«
»So?« Das verdutzte den Polizeipräsidenten, was er sich selbstverständlich nicht anmerken ließ. »Nun, schön, wenn jemand so etwas kann. Bloß verstehe ich nicht, wieso ihn das so schrecklich gefährlich machen soll, wie Sie behaupten.«
»Weil Mister Kato«, erklärte der Professor, »dieses gigantische Gebilde ja nicht mit seiner eigenen Hände Arbeit erbaut hat – da wäre er vermutlich hunderttausend Jahre beschäftigt gewesen –, sondern mit der Hilfe nanotechnologischer Roboter außerirdischen Ursprungs, die er irgendwie zu steuern gelernt hat. Sie sind auf dem Laufenden, was die Funktionsweise solcher Nanoreplikatoren angeht?«
Larreta bedachte ihn mit einem abweisenden Blick. Wurde das hier eine mündliche Prüfung? »Nun, was man eben so in den Zeitungen gelesen hat. Sie sollen imstande sein, Dinge aus einzelnen Atomen zusammenzusetzen.«
»Richtig. Vor allem aber sind sie imstande, Kopien ihrer selbst auf diesem Wege herzustellen. Die dann wiederum Kopien ihrer selbst herstellen können, und so weiter. Das Problem dabei ist, dass die dazu nötigen Atome ja nicht aus dem Nichts kommen, sondern dass sie die jeweils ihrer Umgebung entnehmen.« Der Professor wandte sich um, schritt durch den Raum, die eine Hand auf dem Rücken, mit der anderen gestikulierend. Man konnte sich lebhaft vorstellen, dass er sich in einem Hörsaal genauso benahm. »Nun stellen Sie sich vor, solche Nanoreplikatoren geraten außer Kontrolle. Vermehren sich und vermehren sich, ohne dass jemand imstande wäre, ihnen Einhalt zu gebieten. Stellen Sie sich vor, es würde hier geschehen, hier in diesem Büro. Da, auf dem Schreibtisch des Herrn Ministers. Was würde passieren? Die Nanoreplikatoren würden zuerst ihre unmittelbare Umgebung in Atome zerlegen, um daraus Kopien ihrer selbst herzustellen – die Schreibtischunterlage, die Tischplatte, die Lampe darauf. Weil sie auf maximale Effizienz hin konstruiert sind, würde das in atemberaubender Geschwindigkeit vor sich gehen. Es würde keinen Atemzug lang dauern, bis der Schreibtisch verschwunden und in Nanoreplikatoren umgewandelt wäre. Und dann? Meinen Sie, diese Maschinen machen vor Menschen halt? Auch Menschen bestehen aus Atomen, genauso wie Tiere, Pflanzen, wie alles, was existiert. Atome, die sie benutzen, um weitere Kopien ihrer selbst herzustellen. Und da nun nicht mehr einige wenige Nanoreplikatoren existieren, sondern bereits Unmengen – das Äquivalent der Masse des Schreibtisches –, würde alles noch schneller gehen. Ehe Sie auch nur begriffen hätten, was vor sich geht, wäre der Herr Minister in seine Atome aufgelöst, Sie selber, wir alle. Das Zimmer, das Gebäude, das ganze Stadtviertel – es würde immer weitergehen, und es würde immer schneller weitergehen! Und vor allem«, fügte er hinzu und sah sie der Reihe nach an, »könnte es niemand stoppen!«
Der Innenminister schob den Zeigefinger in den Hemdkragen. »Das ist doch aber nur eine sehr theoretische Möglichkeit, oder?«
Der Professor schüttelte den Kopf, langsam und bedächtig. »Leider nicht.« Er wies zum Himmel. »Wie gesagt – die Raumstation. Sie haben die Bilder gesehen. Die Nanoreplikatoren existieren, sie funktionieren ganz offensichtlich – und Mister Kato ist der Einzige, dem sie gehorchen. Wenn es ihm einfallen sollte, kann er sie loslassen, und dann würde es nur ein paar Stunden dauern, bis sie die gesamte Erde mit Kopien ihrer selbst überzogen hätten. Kopien, die nichts mehr hätten als sich selbst, auf die sie losgehen könnten. Das wäre das Ende der Welt, ein Ende von einer Absolutheit und Endgültigkeit, dass sich ein globaler Atomkrieg dagegen nur wie ein besserer Schnupfen ausnähme. Bisher war dieses Szenario lediglich ein Albtraum der Wissenschaftler, die sich mit Nanotechnologie beschäftigt haben – »gray goo« nennen sie das, »grauer Schleim«. Aber seit Mister Katos Raumstation ist es nicht länger eine Theorie, sondern eine verdammt reale Möglichkeit. Wenn er es in dieser Minute beschließen sollte, erlebt niemand auf Erden den morgigen Tag. Und das ist mehr Macht, als ein einzelner Mensch haben darf, wenn Sie mich fragen.«
»Vale.« Der Innenminister schluckte. »Sagen Sie mir, was Sie vorhaben und was Sie brauchen.«
Dies war ein Traum. Dessen war sie sich auf einmal völlig sicher. Die Zeit war zum Stillstand gekommen, der Rest der Welt war verschwunden, es gab nur noch sie und die Stimme Hiroshis.
»Erinnerst du dich an das Seitou-Jinjya? Die ›Insel der Heiligen‹? Das Messer aus Obsidian, das du unbedingt anfassen wolltest?«
Was für eine Frage! »Ob ich mich erinnere? Das hat mich doch erst darauf gebracht, nach einer ersten Menschheit Ausschau zu halten. Und damit meine akademische Laufbahn zu ruinieren.«
Hiroshis Stimme klang, als sei das nicht wichtig. »Ich hab dich damals gehalten, weißt du noch? Du hast geschrien, als du das Messer berührt hast, und bist ins Wasser gefallen …«
Sie musste lächeln. »Es kommt mir vor, als sei es hundert Jahre her.«
»Ich kann’s nicht beweisen, aber ich glaube, dass das Messer nicht nur in der Zeit der ersten Menschheit hergestellt worden ist, sondern dass es auch irgendwie mit jemandem zu tun gehabt haben muss, der an der Entwicklung der Naniten beteiligt war. Und durch deine seltsame Fähigkeit, in Dingen lesen zu können …« Er hielt inne. »Wie gesagt, ich kann das alles nicht beweisen. Niemand wird es jemals beweisen können. Es ist nur ein Verdacht … oder sagen wir, die Art und Weise, wie ich mir die Dinge erkläre. Wie ich mir erkläre, warum ich so viel über die Naniten wusste, bevor ich ihnen das erste Mal begegnet bin. Ich hatte damals schon diese Grundidee – Roboter, die Roboter bauen, du erinnerst dich? Als wir bei euch im Garten geschaukelt haben, habe ich darüber nachgedacht. Wahrscheinlich wäre es bei der Idee geblieben, einer naiven Idee, wie man sie als Kind eben hat und irgendwann wieder vergisst … aber sie war offenbar der Nährboden, auf den irgendetwas gefallen ist. Irgendetwas, das durch dich auf mich übertragen wurde. Von diesem Gegenstand aus einer Vergangenheit, von der wir heute nichts mehr wissen. Die meisten meiner Erfindungen waren gar nicht meine Erfindungen – sie waren Wiederentdeckungen von etwas, das Menschen schon einmal gewusst haben.«
»Dann wäre diese Sonde vor über hunderttausend Jahren von der Erde ausgesandt worden – und irgendwann in unserer Zeit wieder zurückgekommen?«
»Nicht diese Sonde. Da sie Naniten losgeschickt haben, war der Grundgedanke zweifellos der, dass die Sonden sich replizieren sollten.«
»Ach so. Also, sie haben eine Sonde losgeschickt, die hat einen fremden Planeten gefunden, ist darauf gelandet, hat weitere Raketen mit weiteren Sonden gebaut, die dann weitergeflogen sind und ihrerseits wieder Planeten gefunden haben … und irgendwann ist eine von diesen Raketen zufällig wieder zur Erde zurückgelangt?«
»Genau.«
Darüber musste Charlotte eine Weile nachdenken. Möglicherweise döste sie dabei wieder weg, sie hätte es nachher nicht sagen können. Ihr war nur, als sei eine lange Zeit vergangen, bis ihr einfiel zu fragen: »Diese erste Menschheit … Wenn sie imstande waren, so etwas zu erfinden … diese Naniten … dann müssen sie doch ziemlich hoch entwickelt gewesen sein, oder? Technisch, meine ich.«
»Zweifellos«, sagte Hiroshi.
»Aber in dem Fall …« Sie hielt inne. Ja. Das, was Hiroshi sagte, brachte etwas in ihr zum Schwingen. Es musste so gewesen sein, wie er vermutete. »Irgendwie meine ich, dass eine solche Zivilisation mehr Spuren hinterlassen haben müsste. Dass irgendwo noch … was weiß ich … irgendeine große Maschine vergraben sein müsste. Ein Stück Autobahn. Irgend so was.«
»Ich erinnere mich an einen langen Marsch durch Boston und Umgebung und daran, dass hunderttausend Jahre eine lange Zeit sind. Lange genug, dass alle derartigen Dinge wieder zu Staub zerfallen«, meinte Hiroshi. »Aber es könnte auch einfach an den Naniten liegen, dass keine Spuren zurückgeblieben sind.«
»Wieso?«
»Vielleicht waren die ersten Menschen genauso aggressiv und kriegerisch wie wir. Bestimmt waren sie das. Vielleicht hat es irgendwann einen Krieg gegeben, in dem Nano-Waffen eingesetzt wurden. Oder einen Unfall, bei dem alles außer Kontrolle geraten ist. Denk daran – Naniten können nicht nur alles Mögliche aus einzelnen Atomen aufbauen, sie können auch alles Mögliche in seine Atome zerlegen. Das eine bedingt das andere.«
Charlotte versuchte, sich das auszumalen. »Du meinst, die Naniten könnten die gesamte Zivilisation vernichtet haben? Sodass die Überlebenden sich in der Steinzeit wiedergefunden hätten?«
»Man könnte Nanomaschinen bauen, die ausschwärmen und jedes Stück hochreines Silizium, das sie finden, in Staub verwandeln. Im Nu würde kein Computer mehr funktionieren. Man könnte Nanomaschinen ausschicken, die alles vernichten, das aus Papier besteht – das Ende aller Bücher, aller Bibliotheken, allen Wissens. Nano-Maschinen, die alles aus Metall vernichten … Die Möglichkeiten sind endlos.«
»Man könnte auch Nano-Maschinen ausschicken, die Menschen töten.«
»Auch das.«
»Wenn es so war, wieso gibt es dann überhaupt noch Menschen?«
Hiroshi seufzte schwer. »Das weiß ich nicht. Ich habe ja kein Geschichtsbuch von damals gefunden, nur Baupläne. Ich reime mir das alles nur zusammen. Aber wenn es ein Konflikt war, hat auch die andere Seite über Nanotechnologie verfügt. Und wenn es ein Unfall war … Man kann sich da viel vorstellen. Eine Rettung in letzter Sekunde. Ein Ringen einander bekämpfender Nanomaschinenheere. Oder einfach Zufälle.« Er zögerte. »Es ist nur so ein Gedanke, aber – manche Viren sehen so aus, als seien es übrig gebliebene Nanomaschinen.«
»Viren?«
»Ja. Viren sind nichts Lebendiges. Es sind im Grunde Maschinen, die lebende Zellen befallen und dazu bringen, bis zur Erschöpfung ihrer Ressourcen Kopien dieser Viren herzustellen. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie der evolutionäre Prozess so etwas wie Viren hervorgebracht haben sollte. Dass sie irgendwann einmal konstruiert worden sind, kann ich mir dagegen gut vorstellen.«
Das rief eine Erinnerung in Charlotte wach, an ein Rätsel, über dem sie vor Jahren – in einem anderen Leben – lange Zeit gebrütet hatte. »Der genetische Flaschenhals«, sagte sie.
»Bitte?«, fragte Hiroshi irritiert.
»Seit den Neunzigerjahren untersucht man das menschliche Erbgut. Dabei hat man festgestellt, dass die Menschen überall auf der Welt viel enger miteinander verwandt sind, als man es erwartet hat. Wenn man die mitochondriale DNA statistisch analysiert – das Erbgut in den Mitochondrien, das immer von der Mutter stammt –, dann zeigt sich, dass alle heute lebenden Menschen von nur ein paar Tausend Vorfahren abstammen, die vor rund siebzigtausend Jahren gelebt haben.«
»Und wie erklärt man sich das?«
»Es gibt eine Theorie, wonach das mit dem Ausbruch des Vulkans Toba auf Sumatra vor etwa vierundsiebzigtausend Jahren zu tun gehabt haben soll. Es soll sich um eine außergewöhnlich heftige Eruption gehandelt haben, stark genug, um das Weltklima zu beeinflussen. Die Theorie besagt, dass der Ausbruch eine lange Kälteperiode zur Folge gehabt haben könnte, in deren Verlauf homo sapiens beinahe ausgestorben wäre.« Charlotte musste tief durchatmen. »Aber ein solcher Krieg, wie du ihn beschreibst … das wäre natürlich auch denkbar. Zeitlich würde es passen.«
»Passen würde es auch ins Gesamtbild«, sagte Hiroshi.
»Wie meinst du das?«
Er schien überlegen zu müssen. »Auf Saradkov haben die Naniten plötzlich aufgehört, sich weiter auszubreiten, und ich habe immer gesagt, ich weiß nicht, warum sie das getan haben. Erinnerst du dich?«
»Als ob ich das vergessen könnte.«
»Seit ich mit ihnen verschmolzen bin und Zugriff auf all ihre Programme habe, weiß ich, was sie angehalten hat. Sie waren es selber. Sie haben gemerkt, dass sie auf der Erde sind, und für diesen Fall sah das Programm vor, dass sie ihre Aktivitäten einstellen und Funksignale aussenden, in denen sie ihre Selbstvernichtung anbieten.«
»Ihr Selbstvernichtung?«, wiederholte Charlotte verwundert.
»Ein Sicherheitsmechanismus.«
Sie ließ sich das durch den Kopf gehen. Irgendwie wollte es ihr nicht einleuchten. »Warum sollte eine Forschungssonde, die sich zufällig zurück auf die Erde verirrt, sich selbst vernichten? Es würde doch reichen, wenn sie sich abschaltet. Oder sie würde halt Forschungsdaten über die Erde ermitteln. Das wäre ja keine Tragödie.«
»Es gibt einen Grund dafür. Einen schrecklich einfachen Grund«, sagte Hiroshi. Er atmete aus, es klang wie ein Keuchen. »Der schrecklichste Grund, der sich denken lässt.«
Nacht lag über Buenos Aires. Seit Mitternacht hatte der Verkehr nachgelassen, sodass es kein großes Problem gewesen war, die Straßen zu sperren, auf denen es irgendwann rundgehen würde.
Es durfte nur nicht mehr zu lange dauern, bis es rundging. Bald brach der Tag an. Der Berufsverkehr würde demnächst einsetzen. Spätestens dann hatten sie ein Problem.
Kommandant José Guarneri saß auf dem Beifahrersitz seines Wagens, ein Klemmbrett auf dem Schoß und darauf einen Stadtplan von Buenos Aires, den er sich so zurechtgefaltet hatte, dass er Belgrano und Umgebung zeigte. Er hatte das Funktelefon am Ohr und zeichnete mit einem fetten Rotstift ein, was ihm an Straßensperren und Umleitungen gemeldet wurde.
»Gruppe vier, Rodríguez«, drang es aus dem Hörer. »Kommandant, wir haben hier einen Mann, der wegen der Straßensperre schier durchdreht. Ein Zeitungsausträger, der unbedingt seine Zeitungen austragen will.«
Guarneri drückte die Sprechtaste. »Sag ihm, er soll sich überlegen, ob er gerne selber in der morgigen Ausgabe vorkommen möchte. Unter der Rubrik ›Bei Schießerei ums Leben gekommen‹.«
Das schien zu wirken, zumindest kam aus der Richtung nichts mehr.
»Gruppe 1?«, fragte er. »Tut sich etwas?«
»Es ist immer noch Licht im Fenster, aber ansonsten sieht man nichts. Keine Bewegung.«
»Ab und zu eine leise Unterhaltung zwischen einem Mann und einer Frau. Mal auf Englisch, mal in einer Sprache, die Japanisch sein könnte. Dann ist es wieder lange still.«
»Haben sie Sex?«
»Keine Ahnung. Wenn, dann hört man jedenfalls nichts davon.« Der Gruppenleiter räusperte sich. »Wir könnten den Zugriff in einer dieser Stilleperioden beginnen. Vielleicht schlafen sie dann gerade.«
»Negativ«, gab Guarneri zurück. »Wir gehen nicht rein.« Er überlegte einen Moment, schaltete dann auf Rundspruch. »Guarneri an alle. Noch mal zur Erinnerung: Wir warten auf jeden Fall, bis er rauskommt. In dem Haus wohnt die Tochter des ehemaligen französischen Botschafters in Argentinien, da riskiert mir keiner was, kapiert?« Das war etwas, das seine Männer verstanden.
Die Wahrheit war es allerdings nicht. Wobei Guarneri das deutliche Gefühl hatte, dass auch er nicht alle Hintergründe kannte. Ich will nicht, dass irgendjemand in diese Wohnung eindringt, hatte ihm der Polizeipräsident höchstpersönlich eingeschärft. Und falls diese Amerikaner es versuchen wollen, dann hindern Sie sie daran, verstanden? Mit allen Mitteln. Botschafter Malroux ist ein guter Freund von mir; ich könnte ihm nicht mehr gegenübertreten, falls seiner Tochter etwas zustößt.
Das mit den amerikanischen Agenten war geregelt. Die hatten in dem Haus gegenüber auf der Lauer gelegen. Guarneri hatte vier zuverlässige Leute bei ihnen stationiert, offiziell zu ihrem Schutz. Sie würden dafür sorgen, dass die Agenten keine Dummheiten machten.
Und noch etwas, das unter uns bleiben muss, Kommandant, hatte der Polizeipräsident hinzugefügt. Die Amerikaner wollen diesen Mann haben, und sie erzählen die abstrusesten Geschichten, die Sie sich vorstellen können, um seiner habhaft zu werden. Mich beeindrucken sie damit nicht, aber der Innenminister hat ihnen erlaubt, noch mehr eigene Leute zu schicken. Die Gesichtszüge seines Vorgesetzten waren an dieser Stelle zu einer Maske erstarrt. Ich würde es sehr begrüßen, Kommandant Guarneri, wenn die Polizei von Buenos Aires sich als der Lage vollauf gewachsen zeigen würde. Bringen Sie mir den Mann, und bringen Sie ihn mir lebend.
Genau das hatte Guarneri vor.
»Der springende Punkt ist«, sagte Hiroshi, »dass sie die Sonden nicht ausgeschickt haben, um fremde Planeten zu erforschen.«
»Sondern?«
»Um sie zu zerstören.«
Charlotte hatte das Gefühl, Kälte in ihren Körper kriechen zu spüren. »Um sie zu zerstören? Aber wie –« Sie hielt inne. Natürlich wusste sie, wie Naniten einen Planeten zerstören konnten. Sie hatte es auf Saradkov mit eigenen Augen gesehen. Wenn die Naniten nicht aufgehört, wenn sie einfach weitergemacht hätten, immer weiter und weiter … Sie hätten keine Chance gehabt. Absolut keine. »Was für eine grässliche Vorstellung.«
»Im Grunde sind auch diese Sonden so etwas wie Viren, nur im planetaren Maßstab. Ihr Programm ist denkbar simpel: Lande auf einem Planeten, der Leben trägt, und wandle die gesamte Biosphäre in Raketen um, die Kopien deiner selbst tiefer ins All tragen. Und tu das so lange, bis nichts mehr von dieser Welt übrig ist.«
»Sie vernichten gezielt Planeten, die Leben tragen?«
»Ja.«
»Warum sollte jemand so etwas tun?«
Hiroshi atmete schwer. »Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass es so ist. Ich kenne das Grundprogramm der Sonde, es ist unmissverständlich. So ist sie programmiert. Spekulieren kann ich nur über die Gründe dafür.«
Er nahm die Hände von ihrem Kopf. An den Stellen, auf denen sie die ganze Zeit geruht hatten – die ganze Nacht, wie es Charlotte vorkam –, fühlte ihre Haut sich auf einmal kühl an, kühl und verlassen.
»Ich habe mich gefragt, ob sie vielleicht in einem Krieg mit fremden Intelligenzen standen, mit feindlichen Wesen aus dem All, und ob sie irgendwann keine andere Wahl zu haben glaubten, als zu dieser Waffe zu greifen. Ob sie so verzweifelt waren, dass ihnen alles egal wurde. Ob es vielleicht ein Racheakt der letzten Menschen war, die einen vernichtenden Angriff aus dem All überlebt hatten. Was auch immer der Grund war, die Sonden müssen in großer Eile entwickelt worden sein. Ihre Erbauer haben sich nicht die Mühe gemacht, eine neue Informationsmatrix zu erstellen, eine, die nur die Programme und Pläne enthielt, die die Sonden wirklich brauchen würde. Sie haben einfach die genommen, die sie hatten, und das Killerprogramm davorgesetzt. Ganz einfach, ganz schnell. So, wie ich meine ersten eigenen Nanomaschinen gebaut habe, vor der Verschmelzung. Als es nicht auf Eleganz und Effizienz ankam, sondern das Ding einfach nur funktionieren musste.«
Charlotte rieb sich sachte die Schläfen, versuchte zu verstehen. »Sie haben Raketen losgeschickt mit Maschinen, die fremde Planeten vernichten sollten … Wohin haben sie sie geschickt?«
»Überallhin. In alle Richtungen.«
»Und dann? Irgendwann erreicht so eine Rakete ein Sonnensystem, findet einen Planeten, der Leben trägt, schlägt ein, beginnt ihr Zerstörungswerk …«
»Und innerhalb weniger Tage ist alles Leben auf diesem Planeten ausgetilgt, restlos. Seine gesamte Hülle wird in neue Raketen umgewandelt, so lange, bis von irgendeinem wichtigen Element nicht mehr genug da ist. Bis dahin aber sind Millionen neuer Sonden entstanden und unterwegs, jede auf der Suche nach einem neuen Planeten, den sie auslöschen kann. Und so immer weiter. Selbst wenn es Jahrtausende gedauert hat, bis eine Sonde ihr Ziel erreicht hat, müssen inzwischen Trillionen von Killersonden im All unterwegs sein. Es ist eine Welle der Vernichtung, die sich seit hunderttausend Jahren von der Erde aus ausbreitet. Die Raketen können sehr schnell werden, erreichen mit der Zeit halbe Lichtgeschwindigkeit und mehr. Egal wie man das durchrechnet, man kommt unweigerlich zu dem Ergebnis, dass mittlerweile ohne Weiteres schon die halbe Milchstraße entvölkert sein kann. Das ist der Grund, warum wir keinen Kontakt mit fremden Intelligenzen bekommen haben: Weil es keine mehr gibt. Unsere Vorfahren haben sie alle getötet.«
Sie setzte sich auf, wandte sich zu ihm um, kämpfte gegen den Schwindel an, der sie ergriff. »Aber doch bestimmt nicht alle! Bestimmt wird irgendwo, auf irgendeinem Planeten irgendjemand, irgendein Wesen rechtzeitig reagiert haben …«
»Ich weiß nicht mal, ob wir uns das wünschen sollten«, meinte Hiroshi düster. »Aber die Chancen dafür sind minimal.« Er hob die Hand, deutete in Richtung des Fensters. »Denk allein an unseren Drei-Millionen-Jahre-Marsch. Selbst wenn sich auf einem Planeten eine Spezies entwickelt, die dazu imstande wäre, eines Tages eine Technik hervorzubringen, mit der sie den Naniten Einhalt gebieten könnte – wenn die Sonde ankommt, kann sie das irgendwann innerhalb dieser drei Millionen Jahre tun, und ab da sind es nur Tage, die über das Schicksal dieser Welt entscheiden! Aber die Sonden stürzen sich auf jeden belebten Planeten, auch auf einen, auf dem sich das Leben gerade erst entwickelt hat. Das heißt, tatsächlich sind es Milliarden von Jahren, in denen der Planet schutzlos ist. Nein, die Ankunft einer dieser Sonden bedeutet unweigerlich, dass eine belebte Welt zur Wüste wird und dass Millionen weitere Sonden auf den Weg geschickt werden, weiter und immer weiter. Und ein Ende«, fügte er hinzu, »ist nicht in Sicht. Wir haben keine Chance, all diese Sonden je einzufangen, und auch keine Chance, sie unschädlich zu machen. Selbst wenn wir eines Tages die interstellare Raumfahrt entwickeln sollten, das Universum wird tot sein, egal wohin wir kommen.«
»Und am Schluss wird nur die Erde übrig sein«, hauchte Charlotte.
»Falls wir so mit ihr umgehen, dass etwas von ihr übrig bleibt.«
Genau. Und danach sah es nicht aus. Ihr war, als fühle sie dunkle Wolken um sich aufsteigen wie schwarze Nebel. »Hast du mich nun geheilt?«
»Ja.«
»Was ist mit den U-Booten? Bleiben die in mir drin?«
»Nein, sie sind schon dabei, sich in harmlose Moleküle aufzulösen. Du wirst sie im Lauf der nächsten Tage ausscheiden.«
Sie seufzte. »Und wozu das alles? Damit ich mit diesem schrecklichen Wissen lebe?«
»Ich habe dich geheilt, weil ich es konnte. Es zu können war Verpflichtung, es zu tun. Und erzählt habe ich dir all das, damit ich nicht der Einzige bin, der es weiß.« Hiroshi sah schmerzvoll drein. »Rodney und seiner Frau habe ich es auch erzählt, aber so, wie sie reagiert haben, bin ich mir nicht sicher, ob sie es nicht einfach verdrängen werden. Oder als ihr Geheimnis mit ins Grab nehmen.«
Eine Frage fiel ihr ein, die ihr vorhin durch den Kopf geschossen war. »Woher wussten die Naniten auf Saradkov eigentlich, dass sie sich auf der Erde befanden? Wie kann man so etwas feststellen?«
»Die Rakete, die sie gebaut und gestartet haben, hat es herausgefunden. Anhand der Sternkonstellationen. Das hat eine Weile gedauert, weil sich Sternbilder in hunderttausend Jahren natürlich verändern; aber als sie es festgestellt hatte, hat sie ein entsprechendes Codesignal zurückgeschickt. Eigentlich haben alle Raketen sogar ein Modul, das schon beim Anflug auf einen Planeten sicherstellt, dass es sich nicht um die Erde handelt – andernfalls würden wahrscheinlich viel mehr solcher Sonden hier ankommen. Ich vermute mal, an dem Exemplar, das auf Saradkov niedergegangen ist, war irgendwas kaputt.« Hiroshi hob den Kopf, schien auf etwas zu lauschen, das nur er hören konnte. Dann stand er auf und sagte: »Ich muss jetzt gehen.«
Charlotte erschrak. Sie streckte die Hände nach ihm aus. »Aber warum denn? Du bist doch gerade erst gekommen.«
»Dich gefunden? Wer?«, fragte sie und war darauf gefasst, noch mehr unfassbare Dinge zu hören.
Aber Hiroshi sagte nur: »Die Polizei. Sie sperren die Straßen, liegen auf der Lauer.«
»Woher weißt du das?«
Er hob die Hand, bewegte die Finger, deutete etwas an, das eine Wolke sein mochte. »Sagen wir es so: Ich habe meine kleinen Spione überall.« Er ging zur Terrassentür. »Leb wohl.«
Sie saß reglos da, mit dem Gefühl zu sterben, jetzt, hier. »Leb wohl? Was soll das heißen?«
Er zögerte. Dann kam er zurück, trat vor sie hin und sah auf sie herab. Mit einer sanften Bewegung, die sie bis ans Ende ihres Lebens nicht vergessen sollte, nahm er ihr Gesicht in seine Hände und betrachtete sie so intensiv, als wolle er sich ihre Züge für die Ewigkeit einprägen.
»Ich bin Herr aller Dinge geworden«, sagte er leise. »Ich dachte immer, damit eine wunderbare Zukunft schaffen zu können, aber ich habe mich geirrt. Es ist zu viel Wissen und zu viel Macht, als dass ich weiter in dieser Welt sein könnte.« Er gab sie wieder frei. »Wir werden uns nicht wiedersehen. Das heißt es.«
3
Der Morgen dämmerte, als Hiroshi aus dem Haus trat.
Sie waren da. Er wusste es, obwohl sie es verstanden, sich zu verbergen. Er ließ sich nicht anmerken, dass er es wusste, ging einfach zu dem Wagen, den er gemietet hatte, schloss auf, stieg ein und startete den Motor. Als wenn nichts wäre.
Hoch über ihm, unsichtbar für die ohne Zweifel auf ihn gerichteten Instrumente, schwebte ein Schwarm von Nanokomponenten. Sie waren so klein, dass sie keine Propeller brauchten, um oben zu bleiben, sondern in der Viskosität der Luft schwammen wie Luftblasen in Honig. In ihrer Gesamtheit bildeten sie ein großes Auge, durch das Hiroshi auf die Stadt hinabblicken konnte. Anfangs war es gewöhnungsbedürftig gewesen, mit den Doppelbildern zurechtzukommen, wenn er die Verbindung zu dieser »Himmelskamera« aktivierte, aber mittlerweile funktionierte es ganz gut. Er war imstande, ein Auto zu steuern und sich selber dabei zuzusehen, wie er die Straße entlangfuhr.
Auf diese Weise hatte er auch beobachtet, wie Polizei aufmarschiert war, Straßensperren eingerichtet und bewaffnete Männer an allen Ausfahrten aufgestellt worden waren. Sie wussten, wo er sich befand, und waren entschlossen, ihn zu fangen.
Nun, das würde ihnen nicht gelingen. Die einzige Frage war, ob es sich vermeiden ließ, dass bei ihren vergeblichen Versuchen, ihn aufzuhalten, jemand zu Schaden kam.
Die weiträumigen Absperrungen kamen Hiroshi eher gelegen. Er musste lediglich raus aus diesen schmalen Alleen und die Avenida De Los Incas erreichen. Ab da sollte alles glatt laufen.
»Er kommt«, sagte der Gruppenführer und gab Handzeichen. »Schnell jetzt.«
Die Polizisten der Sondereinheit, mit schusssicheren Westen, Kopfschutz und grimmigen Gesichtern ausgestattet, gingen in Position. Erleichterung war zu spüren, dass das stundenlange Warten ein Ende hatte.
Irgendwo weiter vorn in der Straße hörte man das sich einsam nähernde Auto.
Zwei Männer zogen ein paar Meter hinter der Absperrung Stachelketten quer über die Fahrbahn, für alle Fälle.
Jetzt sahen sie die näher kommenden Scheinwerfer.
»Anlegen«, befahl der Gruppenführer. »Feuer auf mein Kommando.«
Acht Gewehre wurden an Schultern gehoben, acht Läufe richteten sich auf das armselige Auto, das mit unverminderter Geschwindigkeit auf die Absperrung zuhielt.
»Der muss uns doch sehen, oder?«, murmelte der Gruppenführer unbehaglich und scheuchte ein paar Mücken fort. »Antonio, gib Lichtsignal.«
Antonio hob den schweren Handscheinwerfer über den Kopf, schwenkte ihn hin und her. Im Strahl der Lampe sah man zahllose Mücken tanzen.
Mücken?, wunderte sich der Gruppenführer. So früh am Morgen?
Das Auto machte immer noch keine Anstalten zu bremsen.
»Schießt auf seine Reifen«, befahl er.
Die Gewehrläufe ruckten um eine Winzigkeit herum. Jetzt waren die Mücken überall, die Gewehre schienen sie regelrecht anzuziehen. Was zum Teufel war in diese Biester gefahren?
»Feuer!«
Schussbereit gekrümmte Finger bewegten sich, doch die Abzüge zerbröselten unter dem Druck. Im nächsten Augenblick zerfielen die Läufe der Gewehre zu dunklem, feinem Pulver.
»Madre de Dios!«, entfuhr es einem der Polizisten.
Auch die Absperrgitter lösten sich auf, sanken haltlos in sich zusammen. Das Auto war jetzt heran, raste einfach durch alles hindurch. Die Männer konnten sich gerade noch zur Seite werfen, erhaschten einen Blick auf den Mann hinter dem Steuer, der so gleichmütig dreinsah, als habe er sie gar nicht bemerkt.
Von der Stachelkette blieb ebenfalls nur Staub. Und die Mücken waren wieder verschwunden.
Fernández Larreta ließ erschüttert den Telefonhörer sinken, sah in die Gesichter des Innenministers und der Amerikaner. »Sie sagen, ihre Gewehre hätten sich in … Staub aufgelöst. In dem Moment, in dem sie auf ihn angelegt hatten.«
Das Kinn des Ministers klappte haltlos herab. Vor ein paar Stunden hatte er seine Krawatte gelockert, dann das Jackett ausgezogen, schließlich die obersten beiden Hemdknöpfe geöffnet. Nun sah er endgültig völlig unministeriell aus. Der Polizeipräsident, der sich im Gegensatz dazu im Verlauf der Nacht mehrmals in den Waschraum zurückgezogen hatte, um den korrekten Sitz seines Binders zu kontrollieren, wandte indigniert den Blick ab. Die Amerikaner waren nicht viel besser, die ließen sich auch ziemlich gehen. Und dieser Kaugummi! Widerlich – als wollten sie jedes Klischee bestätigen!
»You mean … dust?«, vergewisserte sich Miller.
Larreta wiederholte in seinem besten Englisch, was ihm der Kommandant der Einsatzkräfte berichtet hatte. Dass das Auto nicht einmal gebremst habe. Dass der Gruppenführer Befehl gegeben habe, auf die Reifen zu schießen.
Und das mit den Mücken.
»Das waren keine Mücken«, schaltete sich der Professor ein. »Ihre Leute haben Nanotechnologie im Einsatz erlebt. Die vermeintlichen Mücken waren in Wirklichkeit winzige Flugmaschinen, die imstande sind, Eisenatome aus dem kristallinen Verbund metallischer Strukturen herauszulösen.« Er rieb sich nachdenklich den Nasenrücken. »Erstaunlich. Ich frage mich, wie er das steuert. Das frage ich mich wirklich.«
»Der amerikanische Wissenschaftler meint, dass die Steuerung dieser Biester seine Schwachstelle ist«, hörte Guarneri die grimmige Stimme des Polizeipräsidenten im Hörer seines Funktelefons. »Er muss beides gleichzeitig lenken – sein Auto und diese Mücken. Wie immer er das macht, er ist auch nur ein Mensch. Also kann er es nicht mit beliebig vielen Gegnern aufnehmen.«
»Verstehe«, sagte der Kommandant. »Das heißt, wir müssten ihn von möglichst vielen Seiten zugleich angreifen.«
»Genau. Wo ist er jetzt?«
José Guarneri sah auf seine Karte hinab, obwohl er es natürlich auch so gewusst hätte. »Er fährt die Avenida De Los Incas in Richtung Westen.« Sein Blick folgte den Linien auf der Karte. »Wir könnten versuchen, ihn an der Kreuzung Combatientes de Malvinas abzufangen. Ein einigermaßen großer Platz, das heißt: freies Schussfeld.«
Leider auch viele mehrstöckige Wohnhäuser. Aber das war in diesem Teil von Buenos Aires überall so.
»Ja«, sagte der Polizeipräsident. »Tun Sie das.«
Guarneri schaltete um, gab seine Anordnungen, noch während er überlegte. Jetzt musste alles schnell gehen. »Hubschrauber! Setzen Sie sich auf seine Fährte, lassen Sie ihn nicht aus den Augen, aber beobachten Sie ihn einstweilen nur. Machen Sie sich schussbereit, sowie er sich der Kreuzung nähert.« Eine Drehung des Schalters, nächster Kanal. »Schaffen Sie den Mann mit der Bazooka an Ort und Stelle. Und sagen Sie ihm, wenn er danebenschießt und eines der Häuser versenkt, reiße ich ihm höchstpersönlich den Arsch auf.« Klack, nächster Kanal. »Setzen Sie die gepanzerten Wagen in Marsch, aber schnell!« Klack. »Ich brauche Scharfschützen überall, so viele, wie Sie in Stellung bringen können, und so breit wie möglich verteilt.« Klack. »In den nächsten zwanzig Minuten will ich nicht einmal einen räudigen Hund über die Kreuzung Los Incas – Malvinas laufen sehen, geschweige denn irgendeinen Menschen. Ja, ich weiß, dass der Berufsverkehr demnächst einsetzt. Das mit dem Bus weiß ich auch. Ist mir egal. Und wenn ein Krankenwagen mit einem kranken Kind der Präsidentin an Bord kommen sollte, er darf nicht passieren, ehe ich es erlaube – haben wir uns verstanden?«
»Er kommt«, sagte jemand.
Sie hörten es alle. Ein einsames Auto, das die breite Avenida De Los Incas entlangbretterte. Um die geltenden Geschwindigkeitsbeschränkungen und die roten Ampeln kümmerte es sich schon längst nicht mehr.
Noch zweihundert Meter.
»Bereit machen«, befahl Kommandant Guarneri.
Der Mann mit der Bazooka nahm das Auto ins Visier. Er lag in der Deckung einer Werbetafel, die über seinem Kopf unermüdlich die von hinten erleuchteten Plakate auf- und abrollte. Der Mann tippte an den Hörer in seinem Ohr, vergewisserte sich, dass das Summen des Funkgeräts noch da war.
Der Leiter der Gruppe, die für die Absperrung verantwortlich war, blickte auf, als im siebten Stock des braunweißen Wohnhauses direkt an der Kreuzung ein Rollladen hochgezogen wurde. Er bedeutete einem seiner Gefolgsleute, vor der Haustüre Posten zu beziehen.
Die gepanzerten Wagen mit den Männern des Einsatzkommandos rollten langsam aus den Seitenstraßen.
Noch hundert Meter.
Die Scharfschützen legten auf das sich nähernde Fahrzeug an.
Der Hubschrauber, der den Flüchtenden bisher aus großer Höhe und Distanz verfolgt hatte, ging tiefer und holte auf.
»Achtung …«, erklang die Stimme des Kommandanten in allen Hörern.
In diesem Augenblick sahen ein gutes Dutzend Augen, die an die Okulare von Zielfernrohren gepresst waren, dass etwas mit dem Auto geschah. Dass es sich … veränderte.
»Was zum –«
Es war eine Angelegenheit von Sekunden. Die Scheinwerfer erloschen. Die Konturen des Fahrzeugs zerschmolzen, fanden eine neue Form. Dann hob das, was gerade noch ein Pkw der Mittelklasse gewesen war, ab und donnerte in etwa fünf Metern Höhe über die Kreuzung hinweg.
Niemand hatte Zeit zu reagieren. Der Mann mit der Bazooka schloss die Augen. Die Scharfschützen nahmen unwillkürlich die Finger von den Abzügen. Die gepanzerten Wagen hielten an. Dann standen die Polizisten da und starrten dem Fluggerät nach, das, weiterhin ungefähr dem Verlauf der Avenida De Los Incas folgend, rasch an Höhe gewann und in den gläsernen Morgenhimmel entschwand.
Hiroshi flog niedrig, sah unter sich Weidezäune, altmodische Windräder, schwarze Kühe und armselig wirkende Häuser vorbeihuschen. Aber all das wurde allmählich weniger. Das karge Grasland wurde immer noch karger, die Straßen – was hieß Straßen? Schotterpisten oder noch Schlimmeres waren das! – wurden immer seltener, und je weiter er kam, desto weniger sah das, was da am Boden vor sich ging, nach Landwirtschaft aus.
Das hieß, er war auf dem richtigen Weg. Die Pampa lag vor ihm. Die Landschaft würde von nun an immer trockener und karger werden, bis irgendwann die Salzseen auftauchten.
Die Flugmaschine zu steuern und gleichzeitig den Überblick über seine Verfolger zu behalten beanspruchte ihn bis an seine Grenzen. Eigentlich konnte er nicht fliegen – nicht in dem Sinne, dass er je Unterricht genommen oder einen entsprechenden Schein gemacht hätte. Er hatte bis zuletzt gehofft, dass ihm dieser Schritt erspart bleiben würde, weil sich seine praktischen Erfahrungen mit dem kleinsten Fluggerät, das er im Archiv der Naniten gefunden hatte, auf ein paar Hopser über lästige Ländergrenzen hinweg beschränkten.
Im Moment sah er niemanden, der ihm folgte. Wobei seine Möglichkeiten, etwas zu sehen, eingeschränkt waren, denn mit der Geschwindigkeit, mit der er unterwegs war, konnte ihm die Nano-Kamera nicht folgen. Er hatte sie aufgeben müssen. Die winzigen Geräte würden sich, nachdem die zentrale Steuerung entfallen war, mit den Winden zerstreuen und irgendwann auflösen.
Er wusste allerdings auch so, dass sie hinter ihm her waren. Und er machte sich keine Illusionen: Auf die Dauer würde er ihnen nicht entkommen.
Das war auch nicht nötig. Alles, was er brauchte, war ein Moment der Ruhe. Nichts weiter. Darauf reduzierte sich über kurz oder lang alles: auf Ruhe.
Eine normalerweise auf dem kolumbianischen US-Militärstützpunkt Palanquero stationierte AWACS-Maschine kreuzte seit kurz nach Mitternacht vor der Mündung des Rio de la Plata und überwachte den Flugverkehr über dem argentinischen Territorium. Von der Guantanamo Bay Naval Base aus waren zwei C-130 Hercules Transporter mit insgesamt einhundertzwanzig voll ausgerüsteten Fallschirmjägern des US Marine Corps unterwegs, die das Einsatzgebiet in etwa drei Stunden erreichen würden. Von Camp Lejeune in North Carolina aus war die 22nd Marine Expeditionary Unit in Marsch gesetzt worden.
Eine Staffel amerikanischer F-15-Kampfjets über dem Atlantik war gerade frisch in der Luft betankt worden, als der Einsatzbefehl kam.
»Sierra Bravo, Sie haben jetzt OK für Einflug in den argentinischen Luftraum. Zielobjekt befindet sich im Augenblick auf 35 Grad 47 Minuten südlicher Breite und 61 Grad 53 Minuten westlicher Länge und bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von rund fünfhundert Meilen je Stunde in Richtung West-Süd-West. Over.«
Der Staffelführer wiederholte die Koordinaten und bestätigte.
»Nehmen Sie Kurs auf Zielobjekt und zwingen Sie es zur Landung. Das Zielobjekt ist nicht zu zerstören. Wiederhole, Zielobjekt nicht zerstören. Over.«
»Zielobjekt nicht zerstören«, wiederholte der Pilot. »Wilco, over and out.«
Er gab das Signal zum Aufbruch. Im nächsten Augenblick kippten die ersten der Kampfjets über die Seite ab und rasten in Richtung Küste.
Sie kamen. Jets, sehr tief und verdammt schnell. Hiroshi hielt den Atem an, packte die Steuerung fester, zog instinktiv den Kopf ein.
Sie schossen nicht, zumindest noch nicht. Stattdessen donnerten sie so dicht über ihn hinweg, als versuchten sie, ihn zu streifen. Der plötzliche Lärm ließ ihn fast taub werden, und sein kleines Flugzeug schaukelte und bockte in den Luftwirbeln, die die Jets hinter sich zurückließen, dass ihm angst und bange wurde. Abstürzen durfte er nicht, auf keinen Fall!
Da kamen schon die nächsten beiden. Dunkle Punkte am Horizont hinter ihm, die unglaublich schnell größer wurden. Lautlos. Klar, sie flogen schneller als der Schall. Wenn er richtig gesehen hatte, handelte es sich um F-15-Jäger. Die schafften bis zu Mach 2,5.
Hiroshi betrachtete die Instrumente vor sich. Sie hätten kaum fremdartiger aussehen können, wenn Aliens sie konstruiert hätten anstatt Menschen der Ersten Zivilisation, die schon seit undenklichen Zeiten tot und vergessen waren. Als er die Naniten dieses Fluggerät das erste Mal hatte bauen lassen, hatte Hiroshi es eingehend untersucht, um herauszufinden, was die einzelnen Steuerelemente bewirkten: ratsam, wenn man gedachte, eine Flugmaschine ernsthaft zu benutzen. Von daher wusste er, dass es einen … nun ja, Schalter gab, der die Leistung des Triebwerks vervielfachte; vermutlich wäre es technisch möglich gewesen, den F-15 einfach davonzurasen.
Bloß wagte Hiroshi das nicht. Es war schweißtreibend genug, die Maschine mit rund achthundert Stundenkilometern zu fliegen; sie auch bei Mach 4 oder mehr noch zu beherrschen, traute er sich schlicht und ergreifend nicht zu.
Also tat er das Gegenteil: Er nahm den Schub weg und ging tiefer.
Als die nächsten beiden Jets über ihn hinweggedonnert waren, vermutlich zufrieden, ihn so rasch zur Landung bewogen zu haben, gab Hiroshi den Naniten den Befehl, das Flugzeug in ein großes, geländegängiges Fahrzeug umzubauen.
Das klappte diesmal nicht ganz so reibungslos wie vorhin in der Stadt – als die Naniten anfingen, zwecks Aufbau des Fahrzeugmotors das Triebwerk zu zerlegen, und demzufolge der Schub aussetzte, befand er sich noch fast einen Meter über dem Boden. Entsprechend hart kam er auf. Doch was immer an Schäden dabei entstand, die Naniten hatten sie im Handumdrehen behoben: Eine Minute später war Hiroshi mit hundert Sachen querfeldein unterwegs, eine monströse Staubfahne hinter sich herziehend.
Die Soldaten des Heeresstützpunktes Santa Rosa de Toay saßen noch beim Frühstück und in heftige Diskussionen über die bevorstehenden Spiele des Club Atlético vertieft, als der Sargento aufgeregt hereingestürmt kam. Er hämmerte mit einem der metallenen Tabletts auf den nächsten Tisch ein, bis endlich so viel Ruhe eingekehrt war, dass er sich Gehör verschaffen konnte. Dann las er den Befehl vor, der gerade gekommen war, direkt aus dem Ministerio de Defensa!
Das war im ersten Moment das Unglaublichste an der ganzen Sache: dass man im Verteidigungsministerium überhaupt noch wusste, dass dieser kleine Stützpunkt am Rand des Niemandslands existierte. Die Erfahrungen der letzten Jahre mit den Gesuchen um Ersatzteile, Reparaturzuschüsse und dergleichen hatten daran ernstliche Zweifel geweckt.
Gleich darauf dröhnte der Speisesaal von zurückgeschobenen Metallstühlen, durcheinanderschreienden Stimmen, Fußgetrappel und schlagenden Türen. Keine zehn Minuten später war eine Gruppe unterwegs zum Santa Rosa Airport, um dort alles für die Landung von zwei Lockheed C-130-Transportmaschinen vorzubereiten. Die übrigen Soldaten hockten in den schnellsten Jeeps, die der Stützpunkt besaß, und rasten auf der 14 nach Westen.
Als sie die Staubwolke entdeckten, von der die Rede gewesen war, weit draußen in der Pampa, bremsten sie.
»Caramba!«, stieß der Cabo Primero hervor. »Was ist das?«
Dasselbe fragten sich seine Männer in dem Moment auch. Was immer diese Staubwolke erzeugte, es schien über das karge Grasland zu rasen, als sei es eine Autobahn.
Aber Befehl war Befehl. Und der Befehl lautete, den Fahrer dieses Fahrzeugs gefangen zu nehmen.
»Die Hälfte fährt weiter bis zur Kreuzung mit der 143 und von da aus nach Süden, um ihm den Weg abzuschneiden«, befahl der Cabo Primero und zeigte auf die Fahrzeuge, die dieser Hälfte zugehören sollten.
Augenbrauen hoben sich. Allein bis zur Kreuzung waren es noch drei Stunden Fahrt; wenn sie rasten wie die Teufel, vielleicht zweieinhalb. Das konnte was werden!
»Die andere Hälfte«, fuhr der Cabo Primero fort, »verfolgt ihn über die Pampa. Ándale!«
Die Jeeps setzten sich in Bewegung. Die einen gaben Gas und entschwanden westwärts, die anderen quälten sich über die Böschung und rumpelten anschließend querfeldein, über staubtrockenes Gras, salzigen, nackten Boden und elendes Dornengewächs. Die Männer wechselten betretene Blicke. Keine halbe Stunde, und ihnen allen würde kotzübel sein!
»Er kann nicht ewig abhauen«, erklärte der Cabo Primero. »Spätestens an den Salzflüssen haben wir ihn in der Zange.«
Jeder wusste, dass er das selber nicht glaubte.
Mit dem Trick, sein Flugzeug in einen Geländewagen zu verwandeln, entging er der Aufmerksamkeit der Jetpiloten nur kurz. Falls er sie verblüfft hatte, hielten sie sich jedenfalls nicht lange damit auf, sondern wendeten und flogen erneut auf ihn zu.
Hiroshi überlegte, was sie ihm antun konnten. Soweit er sich erinnerte, waren F-15-Jäger vorwiegend für den Luftkampf gedacht und vor allem mit Luft-Luft-Raketen bestückt, die ihre Ziele per Infrarotsensor fanden. Diese Art Waffen würden ihnen gegen ein Auto auf dem Boden nichts nützen.
Blieb also …
Er sah die Einschläge schon kommen. Diese Jäger hatten sechsläufige 20-mm-Maschinenkanonen eingebaut, die bis zu sechstausend Schuss pro Minute abfeuern konnten. In letzter Sekunde riss Hiroshi den Wagen zur Seite, als die Linie der Staubexplosionen herankam, und zwar verdammt nahe.
Die Botschaft war klar: Halt an!
Höchste Zeit, dass er ihnen auch eine Botschaft sendete. Hiroshi lenkte den Wagen zurück in die ursprüngliche Richtung und setzte ein paar Naniten aus, die sich hinter ihm in den Boden gruben, um mit voller Geschwindigkeit aktiv zu werden.
Es dauerte ein bisschen. Für das, was sie bauen sollten, brauchten die Naniten eine Menge verschiedener Rohstoffe, von denen man nicht alle überall auf Anhieb fand. Die beiden Jets beendeten ihre kilometerweiten Kehrschleifen und gingen bereits wieder auf Angriffskurs, während hinter ihm erst zwei dünne, metallen schimmernde Stäbe aus dem Boden ragten.
»Macht schon …«, murmelte Hiroshi unbehaglich. Beim zweiten Angriff würden die Piloten zweifellos versuchen, ihn zu treffen.
Die Jets donnerten heran, wurden immer größer. Himmel noch mal, wie bedrohlich solche Maschinen aussehen konnten!
In diesem Moment entfalteten sich die Metallgebilde hinter ihm, platzten auf wie sich entfaltende Blüten in einem Zeitrafferfilm und entpuppten sich als Geschütze, wie ein Salvador Dalí sie gestaltet hätte. Sie begannen den Bruchteil einer Sekunde eher zu feuern als die beiden F-15, verschossen Munition, die hellviolette Striche in die Luft zu ritzen schien. Einer der Jets wurde an der Tragfläche getroffen, kam ins Trudeln, fing sich notdürftig und zog davon, eine dicke schwarze Rauchfahne hinter sich herziehend. Der andere Jet drehte ebenfalls ab.
Hiroshi sah sich um, musterte den Himmel, ohne den Fuß vom Gas zu nehmen. Sah gut aus. Von den übrigen Jets war auf einmal auch nichts mehr zu sehen.
Okay. Geschütze wieder abbauen. Er schaute in den Rückspiegel, versuchte die Entfernung bis zu den Staubfahnen der Fahrzeuge zu schätzen, die ihm folgten. Sie hatten zwar keine echte Chance, ihn einzuholen, aber wenn er schon dabei war …
Ihre Jeeps bretterten über das öde Land, so schnell es nur irgend ging und dann noch einen Tick schneller. Erstaunlicherweise war erst einer der Wagen mit gebrochener Achse liegen geblieben. Das, fanden die Soldaten, war ein gutes Zeichen.
Sie verfolgten gebannt die Manöver der Düsenjäger, die weiter vorne ihre Schleifen und Kurven über der Pampa drehten. Immer wieder flogen sie die Quelle der Staubwolke an. Man hörte ihr Maschinengewehrfeuer bis hierher, ratternde, hässliche Laute, wie eine Hundertschaft Äxte, die fast gleichzeitig in hartes Holz schlugen.
»Amerikaner«, sagte der Cabo Primero, der die Kopfhörer aufhatte und damit an der Quelle der Informationen saß. »Fragt mich nicht, wieso. Als ob unsere das nicht auch könnten!«
Dann stiegen die seltsamen violetten Rauchspuren auf. Einer der Jets zog taumelnd und qualmend ab, und die anderen hatten offenbar auf einmal ebenfalls Schiss.
»Qué cobarde!«, meinte jemand, und alles lachte. Ja, Feiglinge, die Amis. Wusste man doch.
Was das für eine eigenartige Schusswaffe gewesen war, darüber mochte niemand so genau nachdenken. Wie sollte man auch, wenn einem das Hirn derart durchgeschüttelt wurde? Kaum, dass man noch einigermaßen geradeaus sah; richtete man den Blick auf den Horizont, war einem, als hebe er sich …
»Ist das schon die 143?«, fragte der Cabo Primero halblaut. »Das kann doch nicht sein.«
War auch nicht so. Aber irgendwas war da. Hälse reckten sich, Augen wurden ungläubig gerieben, während die Jeeps näher kamen, langsamer wurden und schließlich anhielten.
»Carajo!«, fluchte der Cabo Primero, als er die Sprache wiedergefunden hatte. »Qué diablos …? Was ist das?«
»Eine Mauer?«, schlug der Fahrer vor.
Der Cabo Primero schlug ihm ärgerlich eine über den Schädel. »Das sehe ich selber, pelotudo! Eine Mauer, ja! Aber wie kommt die hierher? Und so plötzlich?«
Er stieß die Tür auf, stieg auf die Motorhaube, stemmte die Fäuste in die Hüften und sah sich um. »Es increíble …«, murmelte er. Eine Mauer, wirklich und wahrhaftig, so hoch wie ein zweistöckiges Haus, die quer durch die trockene Pampa ging, von Horizont zu Horizont!
Der Verteidigungsminister war äußerst ungehalten. »Die gesamte Luftwaffe einsetzen? Gegen einen einzelnen Mann? Sind Sie alle wahnsinnig geworden?«
»Es ist ein einzelner Mann, aber ein außergewöhnlicher Gegner.« Der Amerikaner stellte einen Laptop vor ihn hin, auf dessen Bildschirm eine Luftaufnahme zu sehen war. »Das ist die Pampa-Ebene«, erklärte er dazu.
»Das sehe ich«, erwiderte der Minister ungnädig.
»Und das«, fuhr der Mann ungerührt fort und schaltete zum nächsten Bild, »ist dieselbe Pampa, wie sie seit zehn Minuten aussieht.«
»Was?« Der Kopf des Ministers fuhr hinab, starrte das Luftbild an. »Was ist das?«
»Nicht so lang wie die Chinesische Mauer, aber genauso breit.«
»Eine Mauer …?« Ein Blick blanken Entsetzens. »Wie ist so etwas möglich?«
»Wie gesagt: ein einzelner Mann, aber ein außergewöhnlicher Gegner.«
Der Verteidigungsminister blinzelte, sichtlich erschüttert. »Also gut«, sagte er und griff nach dem Telefon. »Die Luftwaffe. Wozu haben wir die schließlich?«
Eine halbe Stunde später kamen sie mit geballter Macht, mehr dunkle Punkte am blassen Himmel, als er zählen konnte.
Mehr Gegner, als er verkraften konnte. Er konnte nicht beliebig viele Flugzeuge abwehren, beliebig viele Bomben unschädlich machen, Angriffe aus beliebig vielen Richtungen zurückschlagen. Die Naniten waren mächtig, aber nur, wenn sie entsprechend gesteuert wurden.
Und er hatte noch anderes zu tun, als einen aussichtslosen Kampf zu führen.
Hiroshi hielt an, sah sich um. Hier also. Hier würde es geschehen. Er atmete einmal tief durch, dann stellte er den Motor ab und gab jenen Befehl, den er so lange zurückgehalten hatte.
Das Fahrzeug löste sich um ihn herum auf, schmolz in sich zusammen, versickerte spurlos in dem kahlen, versalzten Erdreich. Damit stand er allein in der endlos scheinenden Ebene, unter einem Himmel, der hier höher und weiter zu sein schien als sonstwo auf der Welt. Einem Himmel, der für alle Zeiten schweigen würde.
In diesem Augenblick war es vollkommen still um ihn herum. Die sich nähernden schwarzen Punkte wirkten wie optische Täuschungen.
Hiroshi schloss die Augen. Er wusste, dass das nicht lange so bleiben würde.
Er gab den nächsten Befehl.
Der Luftbildauswerter an Bord der AWACS-Maschine, bei dem die von den hochfliegenden Jets und von einigen unbemannten Aufklärungsdrohnen übermittelten Aufnahmen des Einsatzgebietes zusammenliefen, traute seinen Augen nicht.
»Goddamn …!«
Sein Blick klebte auf seinem Schirm, als wäre er daran festgewachsen. Er hatte nur geflüstert, aber sein Vorgesetzter hatte den Fluch trotzdem gehört.
»Officer«, grollte er im Näherkommen, »Sie wissen genau, dass ich solche Ausdrücke an Bord nicht … oh my god!«
Nun sahen alle auf. Die Ersten verließen neugierig ihre Plätze, traten hinter die beiden, bildeten nach und nach eine fassungslos starrende Runde um den Bildschirm.
Er zeigte die Pampa, die kärgste, verlassenste Region Argentiniens, und davon jene Gegend, die so kahl und trocken war, dass nicht einmal mehr Vieh dort weiden konnte. Ein Fadenkreuz markierte den Punkt, an dem bis gerade eben noch ein einsamer Mann gestanden hatte.
Er war verschwunden. Rings um ihn wuchs so schnell, dass man dabei zusehen konnte, etwas Unglaubliches aus dem Boden, ein riesiges, irres Gebilde aus Kuppeln und Wülsten, aus Türmen, Wällen und Rippen, aus Knospen, Spalten, Spiralen und ziselierten Antennen. Es wurde immer größer, durchmaß inzwischen ein paar Hundert Fuß und war damit so groß, dass es die meisten Sportarenen schon unter sich begraben hätte. Doch es wölbte sich immer weiter empor, ähnelte mal einem mutierten Brokkoli, mal einem deformierten Kolosseum, mal einem Korallenriff unter Adrenalin und schließlich dem Kopf eines augenlosen, millionenzähnigen Monsters, das auf Beute lauerte …
»Ich weiß, was das ist«, flüsterte einer der Radarleute, räusperte sich, als ihn alle ganz entgeistert ansahen und sagte: »Das ist die Mandelbrot-Menge. Erkenn ich wieder. Ich hab zu Hause einen Bildschirmschoner, der die konstruiert. In 3D.«
Die Mandelbrot-Menge hatte Hiroshi schon immer fasziniert: unendliche Vielgestaltigkeit, die aus einem endlichen Entstehungsprozess hervorging. Nicht nur endlich, sondern sogar übersichtlich – die grundlegende Programmprozedur umfasste nur wenige Zeilen, wenn man eine der klassischen Programmiersprachen verwendete. Die Befehlssequenz für das riesenhafte Gebilde voller Arabesken und seltsamer Strukturen, das ihn nun umschloss, war die kürzeste, die er je verwendet hatte.
Er hätte gern gesehen, wie es von draußen aussah. Die Naniten erbauten es vor allem aus Silizium und Sauerstoff, zwei der häufigsten Elemente, die selbst hier draußen in der kargen Eintönigkeit der Pampa problemlos in rauen Mengen zu finden waren. Silizium und Sauerstoff, das ergab etwas, das dem Quarz ähneln musste: Vermutlich funkelte sein Versteck im Licht der Sonne wie ein gigantischer Edelstein.
Auf jeden Fall gelangte genügend Licht bis zu ihm, was ihn der Notwendigkeit enthob, eine Lichtquelle bauen zu lassen: Es hätte sein Gefühl für das, was angemessen war, gestört. Hiroshi berührte die fein ziselierten Wülste, Stränge und Girlanden, die die Innenseite der Höhle bedeckten, in der er stand. Sie fühlten sich kalt an und waren messerscharf. Kein Wunder. Rein mathematisch ging die Mandelbrot-Menge ins Unendliche; man konnte jeden noch so winzigen Teil ihrer Darstellung vergrößern und fand immer wieder Abgründe weiterer Strukturen, selbstähnlich und doch stets unvorhersehbar. Rein mathematisch gab es kein Ende. Physikalisch aber musste es natürlich eines geben. Sobald die Größenordnung einzelner Atome erreicht war, war zwangsläufig Schluss. Mit anderen Worten: Dort, wo sich Spitzen, Kanten, Vorsprünge gebildet hatten, waren sie schärfer als Skalpelle.
Das sollte seine Verfolger ausreichend lange aufhalten, um ihm Zeit zu geben zu tun, was noch zu tun war.
Er ging im Geiste alles noch einmal durch, vergewisserte sich, dass er nichts übersehen hatte.
Die Naniten im Asteroidengürtel: Auf seinem Weg nach Buenos Aires hatte er eines Nachts irgendwo in Guatemala, in einem menschenleeren Tal abseits des Transamericana Highway, eine Schüsselantenne errichtet und Funkkontakt mit ihnen aufgenommen. Es hatte zwar nervzehrend lange gedauert – ein Funkspruch von der Erde zu den Asteroiden war eine gute Stunde unterwegs –, aber sie hatten sich gemeldet und den Kill-Befehl bestätigt. Ohne Zweifel hatten sie danach, gleichgültige Maschinen, die sie waren, unverzüglich begonnen, einander gegenseitig zu zerlegen.
Inzwischen konnte er davon ausgehen, dass von den Naniten im Asteroidengürtel keiner mehr übrig war. Das zweite Habitat, das sich mitten im Bau befunden hatte, würde unvollendet bleiben, vermutlich für alle Zeiten.
Und was aus dem ersten Habitat werden würde … Nun, das war nicht mehr sein Problem.
Die Naniten, die bis jetzt um ihn gewesen waren, hatten ebenfalls bereits begonnen, einander aufzulösen. Das, was sie gebaut hatten, blieb, doch es würde nichts Neues mehr entstehen. Niemals wieder.
Seine alten Programme und Daten hatte er alle gelöscht. Auch sämtliche Sicherungskopien. Auch die in den Datenhäfen.
Dasselbe galt für die Kopien der »metallenen Bibliothek«, der Informationsmatrix der Naniten.
Und selbst falls er eine Kopie übersehen oder die Geheimdienste unbemerkt doch eine in ihren Besitz gebracht haben sollten, galt für diejenigen, die sich einst damit befassen mochten, dasselbe wie für ihn, ehe er den Naniten begegnet war: Sie würden keine Naniten bauen können, weil ihnen der erste Nanit, der Ur-Nano-Assembler fehlte.
Und das Wissen, wie man den baute, hatte er nirgends niedergelegt. Das würde er mit ins Grab nehmen.
Hiroshi betrachtete den Boden, auf dem er stand, etwa ein Quadratmeter des ursprünglichen Grasbodens, den die Naniten bei der Konstruktion seines Refugiums so gelassen hatten, wie er war.
Dies also war das Ende seines Weges, das Ende seines Traums. In Kürze würde der letzte Nanit zerstört sein und damit auch die Zukunft, in der unbegrenzter Reichtum für alle möglich gewesen wäre. Es war ein Traum, der sich als Albtraum entpuppt hatte.
»Mit anderen Worten, er hat sich verschanzt«, resümierte der amerikanische Präsident den Bericht seines Verteidigungsministers. Er hatte gerade mit der argentinischen Präsidentin telefoniert. Man war sich einig, dass man die Situation in gemeinsamer Anstrengung beider Nationen bewältigen wollte.
Verschanzt? Der Verteidigungsminister überlegte, ob diese Bezeichnung angebracht war. Dieses Wort ließ ihn an die Erzählungen seines Großvaters denken, der im Weltkrieg mitgekämpft und die Graben- und Stellungskämpfe miterlebt hatte. Sich zu verschanzen, das hatte geheißen, mit unzureichenden Hilfsmitteln unzureichende Löcher in den Boden zu graben, um darin unzureichenden Schutz vor feindlichen Angriffen zu finden. Grandpa hatte keinerlei Zweifel daran gelassen, dass das eine ausgesprochen dreckige, erbärmliche Angelegenheit gewesen war.
»Nun ja«, meinte er. »In gewisser Weise. Sozusagen die Luxusversion davon.«
»Und wie gedenken Sie nun vorzugehen? Wollen Sie das Ding bombardieren lassen?« Der Präsident rieb sich nachdenklich das Kinn. »An und für sich wäre es wünschenswert, es zu erhalten. Es ist die Mandelbrot-Menge, nicht wahr? Eine halbe Meile im Durchmesser – wann kriegt man das je wieder zu sehen?«
»Genauer gesagt, die dreidimensionale Variante davon. Die Mathematiker nennen es einen ›Mandelbrot-Bulb‹.« Der Verteidigungsminister überlegte, ob er auch die Größenangabe korrigieren sollte – tatsächlich durchmaß Hiroshi Katos Festung der Einsamkeit nur etwa sechzehnhundert Fuß, also kaum eine Drittelmeile –, ließ es dann aber. »Nein, wir bombardieren erst mal nicht. Zu riskant. Wir warten auf unsere Marines. Die sollen versuchen reinzugehen. Und sie werden nur schießen, falls sie es mit Verteidigungseinrichtungen zu tun bekommen.«
Noch ein letztes Mal waren die Naniten aktiv geworden, die seine Festung gebaut hatten. Sie hatten ihm eine Tatami-Matte mit weißer Borte gemacht, ein Fässchen mit Tusche, einen Kalligrafie-Pinsel und ein paar Bögen Pergament. Und sie hatten seine Kleidung in einen weißen Kimono umgeformt.
Die Originale dieser Gegenstände hatte er in Los Angeles gefunden, in einem Japan-Laden. Auf seiner Fahrt nach Süden, nach seinem letzten Besuch bei Rodney, hatte er sie vorsorglich gescannt. Vermutlich standen sie immer noch dort; der Laden hatte nicht so gewirkt, als verkaufe er viel.
Hiroshi spürte, wie der Kontakt zu den Naniten in der Umgebung schwand, in dem Maße, wie sich die Komplexe gegenseitig verzehrten. Schließlich trat Stille ein.
Nun waren nur noch die Naniten übrig, die er in seinem Körper beherbergte.
Nicht mehr lange.
Hiroshi setzte sich auf die Matte, nahm die seiza-Haltung ein, die für das Seppuku vorgeschrieben war: die Fersen nach außen, die Zehen übereinander, den Rücken gerade aufgerichtet. Faustbreiter Abstand zwischen den Knien. Brust und Schultern entspannt, das Gewicht des Körpers im Unterbauch ruhend. Er musste an seinen Vater denken, der ihm dies einst beigebracht hatte, und spürte Trauer, um ihn wie um sich selbst.
Ein ehrenvoller Tod ist nichts Schlimmes, ermahnte er sich.
Er griff nach dem Pergament und dem Tuschepinsel. Zeit für sein jisei no ku, sein Todesgedicht. Er hielt inne, sammelte sich. Die Summe seines Lebens in wenigen Worten. Nun, das war einfach. Er tauchte den Pinsel in die Tusche und schrieb, zuerst auf Japanisch, dann eine englische Übersetzung darunter.
Es hatte etwas Befreiendes. Ganz erstaunlich. Auf einmal schien es ihm leicht, die Fesseln der Materie abzustreifen.
Eins noch. Er griff nach einem zweiten Pergament, schrieb seine Anweisungen … nein, seine Bitten auf an jene, die ihn finden würden. Mehr als bitten konnte er nicht, und realistisch betrachtet bestand wenig Hoffnung, dass man seine Wünsche berücksichtigen würde.
Aber wenigstens hatte er es versucht.
Noch so ein Fazit seines Lebens.
Dann legte Hiroshi auch dieses Blatt beiseite, legte die Hände in den Schoß, lockerte die Finger, atmete. Zeit für die letzten beiden Befehle. Der letzte Befehl an die Naniten würde der sein, sich bis auf den letzten Komplex aufzulösen, endgültig und unwiderruflich zu zerfallen in Einzelteile, aus denen nie wieder neue Nano-Assembler entstehen konnten. Darum tat es ihm fast leid. Er hatte die Ästhetik dieser molekülgroßen Maschinen geliebt, hatte die grafischen Darstellungen ihrer Strukturen stundenlang studieren und bewundern können – die zwingende Logik ihrer Gestalt, wenn man einmal die Grundprinzipien verstanden hatte, die Ehrfurcht vor einer Schöpfung, in deren Bauplan diese Möglichkeiten von Anbeginn aller Zeit an vorgesehen gewesen waren …
Vorbei. Auch davon galt es sich nun zu lösen. Hiroshi entblößte seinen Oberkörper, legte den Bereich bis eine Handbreit unterhalb seines Nabels frei, ertastete das tanden. Dann gab er die Befehle, die allem ein Ende bereiten würden.
Die linke Hand weiterhin auf dem Zinnoberfeld, streckte er die rechte Hand aus und sah zu, wie ein dunkler Punkt aus der Handfläche trat, rasch größer wurde und sich zu einer Klinge formte …