STERNENINSEL
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GEMEINSAMER UNTERSUCHUNGSAUSSCHUSS
SARADKOV ISLAND EVENT
VORSITZ: SENATOR RICHARD COFFEY (USA)
STELLVERTRETENDER VORSITZ:
MINISTER ANATOLI MICHAILOW (RUS)
STATUS DES DOKUMENTS: VERTRAULICH
AUSZUG AUS DER BEFRAGUNG DES ZEUGEN
MORLEY MANN (USA)
Vorsitzender: Können Sie in ein, zwei Sätzen zusammenfassen, was Ihrem Verständnis nach auf Saradkov passiert ist?
Zeuge: Im Eisschild der Insel war seit Jahrtausenden eine außerirdische Sonde eingeschlossen. Die durch die globale Klimaveränderung hervorgerufene Schmelze hat sie freigesetzt, und daraufhin ist sie aktiv geworden.
Vorsitzender: Haben Sie das, was im Folgenden geschah – nachdem die Sonde aktiv wurde –, in irgendeiner Form beeinflusst?
Zeuge: Nein.
GEMEINSAMER UNTERSUCHUNGSAUSSCHUSS
SARADKOV ISLAND EVENT
VORSITZ: SENATOR RICHARD COFFEY (USA)
STELLVERTRETENDER VORSITZ:
MINISTER ANATOLI MICHAILOW (RUS)
STATUS DES DOKUMENTS: VERTRAULICH
AUSZUG AUS DER BEFRAGUNG DER ZEUGIN
CHARLOTTE MALROUX (F)
Vorsitzender: In welcher Beziehung stehen Sie zu Mister Kato?
Zeugin: Wir sind befreundet. Wir kennen uns, seit wir zehn Jahre alt sind. Damals sind wir uns zum ersten Mal begegnet, und später immer mal wieder.
(…)
Stellvertretender Vorsitzender: Welche Gründe haben Sie bewogen, die Expedition nach Saradkov zu begleiten? Sie sind Paläoanthropologin. Was sucht eine Paläoanthropologin auf einer Polarinsel?
Zeugin: Meine Funktion war die der Dolmetscherin. Die anderen sprechen alle kein Russisch.
(…)
Vorsitzender: Wie sind Sie, als es darum ging, wie man den beunruhigenden Vorfällen auf Saradkov Island Einhalt gebieten könnte, auf die Idee gekommen, ausgerechnet Mister Kato verständigen zu lassen?
Zeugin: Ich wusste, woran er arbeitete, und hatte das Gefühl, dass er vielleicht am ehesten wissen würde, was man gegen die Sonde unternehmen konnte.
Stellvertretender Vorsitzender: Das wüsste ich jetzt gern ein bisschen genauer. Woran hat er gearbeitet? Meinem Verständnis nach jedenfalls nicht an Fragen, die den Kontakt mit eventuellen Außerirdischen betreffen, oder?
Zeugin: Nein, er hat Roboter entwickelt.
Stellvertretender Vorsitzender: Es fällt mir schwer, da einen Zusammenhang zu sehen.
Zeugin: Es waren spezielle Roboter. Sehr viele, sehr kleine Roboter, die in verschiedenen Konfigurationen zusammenarbeiten sollten. So groß ungefähr.
(Die Zeugin deutet handtellergroße Umrisse an.)
Vor etwa sechs Jahren hat Mister Kato mir einmal solche Roboter in Aktion gezeigt. Es war ziemlich beeindruckend, auch wenn sie im Endeffekt nicht so funktioniert haben, wie er sich das vorgestellt hatte. Als ich Mister Kato kurz vor meiner Abreise nach Saradkov besucht habe, hat er mir Computersimulationen von noch kleineren Robotern gezeigt, an denen er inzwischen arbeitete. Roboter, die nur noch aus einzelnen Atomen aufgebaut werden sollten.
Vorsitzender: Hat er Ihnen solche Roboter auch konkret gezeigt?
Zeugin: Nein. Wie gesagt, er hatte nur Computersimulationen. Er hat mir erklärt, dass es prinzipielle technische Hürden gäbe, sie tatsächlich zu bauen.
Vorsitzender: Welcher Art waren diese technischen Hürden?
Zeugin: Soweit ich verstanden habe, ist es nicht möglich, die Atome so anzuordnen, wie es dafür nötig wäre.
(…)
Stellvertretender Vorsitzender: Meinem Verständnis nach sind nanotechnische Konstruktionen per Definition so klein, dass man sie mit dem bloßen Auge nicht sehen kann. Sie befanden sich auf einer einsamen Polarinsel, konfrontiert mit überaus mysteriösen Vorfällen – was um alles in der Welt hat Sie auf die Idee gebracht, es mit Nano-Robotern zu tun zu haben?
Zeugin: Es war diese Bewegung.
(Die Zeugin macht eine lange Pause. Sie scheint emotional bewegt.)
Die Klinge, die Leon … Mister van Hoorn durchbohrt hat … auf der habe ich ein Muster gesehen. Nein, eine Art Bewegung, eine ganz charakteristische Bewegung, ein wellenartiges Fließen …
(Pause)
Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls musste ich an Hiroshis … an Mister Katos Roboter-Experiment denken, als ich diese Art der Bewegung gesehen habe. Einen Moment lang hatte ich den Gedanken, dass seine Roboter sich vielleicht selbstständig gemacht hatten und irgendwie auf diese Insel gelangt waren. Ich dachte nicht an Nano-Roboter. Davon hat erst Mister Whitecomb angefangen.
Vorsitzender: Rear Admiral Whitecomb.
Zeugin: Ja. Irgendwelche Experten in Washington waren auf die Idee gekommen.
Vorsitzender: Können Sie uns diese Bewegung auf der Klinge näher beschreiben?
Zeugin: Es war eine Art Schimmern, das sich bewegt hat. Es ist die Klinge entlanggeflossen. Zumindest sah es so aus. Und als sich Hiroshis Roboter damals fortbewegt haben, sah das genauso aus. Es war auch ein Schimmern, das aussah, als flösse da etwas dahin. Ungefähr so, als würde jemand einen Eimer silberner Kugeln ausleeren. Nur dass es keine Kugeln, sondern eckige flache Scheiben waren. Und sie sind nicht gerollt, sondern haben sich übereinander verschoben, sind umgeklappt …
(Pause)
Das müssten Sie einfach sehen. Wenn man es einmal gesehen hat, erkennt man es wieder. Und das auf der Klinge …
(Pause)
Es war ein bisschen so, wie wenn man einmal in einem Waschbecken voller Wasser geplätschert und die Wellen gesehen hat, die es macht. Wenn man danach den Ozean sieht, weiß man, dass dessen Wellen im Grunde dasselbe sind. Dass man es ebenfalls mit Wasser zu tun hat. In diesem Sinn hat mich das Schimmern auf der Klinge an Hiroshis Roboter denken lassen.
(…)
Stellvertretender Vorsitzender: Ich muss noch einmal auf die Frage zurückkommen, was Sie an jenem Tag auf die Idee gebracht hat, die Admiräle auf Mister Kato aufmerksam zu machen.
Zeugin: Letzten Endes war es eine Eingebung. Ich habe geraten, wenn Sie so wollen. Ich habe ehrlich gesagt auch etwas übertrieben, als ich auf dem Schiff über Mister Kato gesprochen habe. Ich wollte einfach nicht, dass man Atombomben einsetzt.
Charlotte hätte heulen können vor Erleichterung, als sie in Moskau eintraf und ihre Mutter unter den Wartenden entdeckte. Irgendwie war es erst jetzt wirklich vorüber. Sie umarmte ihre Mutter, konnte die Tränen nur mit Mühe zurückhalten, war so froh, da zu sein. Sie hätte in diesem Moment jeden Cousin geheiratet, den ihre Mutter angeschleppt hätte, doch zum Glück war Maman gar nicht auf diese Idee gekommen.
»Du und deine verrückten Abenteuer«, meinte sie nur.
»Ja«, gab Charlotte zu. »Das war das verrückteste von allen.«
»Ich hoffe, du hast was daraus gelernt.«
»Hab ich. Hab ich ganz bestimmt.«
Charlotte hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie die anderen im Stich gelassen hatte. Es hatte ein langes Tauziehen zwischen den beiden Großmächten um die Verhöre gegeben: Die amerikanische Regierung hatte sie in Washington veranstalten wollen, Russland in Sankt Petersburg. Schließlich hatte man sich auf Island geeinigt, auf neutralen Boden. Als die Befragungen in Reykjavík begannen, in einem Hotel, das mit enormem Aufwand abgeschirmt wurde, waren die Medien aufmerksam geworden und hatten Gerüchte über neue Abrüstungsverhandlungen in die Welt gesetzt.
Inzwischen war das Interesse der Öffentlichkeit wieder abgeflaut, aber die Verhöre dauerten nach wie vor an. Schließlich war es Charlotte zu viel geworden, all diese Verhöre, und noch eines, und noch eines, kein Ende in Sicht: Sie hatte, schamlos ihren Status als Diplomatentochter ausnutzend, die Flucht ergriffen. Sie hatte alles unterschrieben, was man ihr bei der Entlassung vorgelegt hatte – Geheimhaltungsverpflichtungen, Verzicht auf Schadenersatzansprüche, Verzicht auf Aufwandsentschädigungen und ein Dutzend Dinge mehr –, und war in den nächsten Flieger gestiegen.
Und hier war sie nun. Zu Hause. Und auch wieder nicht. Tatsächlich war es, musste sie sich ein paar Tage später eingestehen, grauenhaft. Mutter schien immer kühler, abweisender, scharfkantiger zu werden, nur noch auf korrekte Formen und äußere Erscheinung bedacht und darauf, nur ja keine Gefühle zu zeigen. Vater flüchtete in unverbindliche Höflichkeit und zu angeblich höchst wichtigen Verpflichtungen; wenn er zu Hause war, legte er oberflächliches Gutgelauntsein an den Tag und plapperte jeden Versuch eines ernsthaften Gesprächs schon im Ansatz tot. Alles, was er zu ihrem Abenteuer im Nordmeer zu sagen wusste, war, dass sich der Vorsitzende der Duma bei ihm nach Charlottes Befinden erkundigt habe.
Mit jedem Tag versank sie tiefer in Lethargie. Sie verstand besser als je zuvor, wieso sie von Kindesbeinen an den Drang verspürt hatte, zu entfliehen. Doch wohin sollte sie denn gehen? Der Glaube daran, dass sie anderswo finden würde, was sie suchte und was ihr fehlte, war ihr abhandengekommen.
Schließlich schaffte sie es, Brendas Mutter anzurufen. Die versicherte ihr, mit ihrer Bostoner Wohnung sei alles in Ordnung, und sie gab ihr Brendas neue Telefonnummer in Buenos Aires. Und ja, der Umzug sei gut verlaufen, sogar Jason gefalle es ganz prima.
Brenda überschlug sich fast vor Freude, als sie sie anrief. »Gut gefällt’s uns«, rief sie, als Charlotte danach fragte. »Wir haben ein riesiges Haus, mit Palmen entlang der Auffahrt und einem verwilderten Garten … die Leute an der Uni sind total nett … Na ja, Jason motzt natürlich von morgens bis abends. Ich weiß nicht, ob er in der Schule überhaupt was mitkriegt. Ich hab mich jetzt breitschlagen lassen und ihm diesen Spielcomputer, diese Gamestation oder wie das heißt, gekauft, aber die Spiele dafür kriegt er nur auf Spanisch, darauf bestehe ich. Vielleicht hilft das.«
Brenda war die Erste, die sich dafür interessierte, was Charlotte auf der Teufelsinsel erlebt hatte. Bloß wollte Charlotte, der Schweigeverpflichtung eingedenk, die sie unterschrieben hatte, ihr das nicht am Telefon erzählen und vertröstete sie auf ein Wiedersehen.
»Ja, komm doch einfach«, meinte Brenda begeistert. »Du kannst unser Gästezimmer einweihen. Eins unserer Gästezimmer, genauer gesagt.«
Dann erzählte sie, dass sie außer den Gästezimmern noch ein zweites Kinderzimmer hergerichtet hatten, weil sie im Begriff standen, ein Kind zu adoptieren. Ein Mädchen aus Bangladesh, das Lamita hieß und neun Jahre alt war.
»Älter als Jason?«, meinte Charlotte. »Ist das nicht ein bisschen heikel?«
»Klar, aber es muss sein.« Brendas Stimme hatte auf einmal einen Klang, den Charlotte gar nicht an ihr kannte: Schmerz sprach daraus. »Du erinnerst dich doch noch an Parimarjan, oder? Der uns immer mit Wasser bespritzt hat, wenn wir bei mir waren? Der arbeitet heute für eine Bank in Kalkutta, hat viel in Bangladesh zu tun und … Also, jedenfalls, Lamita ist sozusagen Konkursmasse einer Näherei, die in der Nähe von Khulna pleitegegangen ist. Konkursmasse, stell dir vor! Der Besitzer der Firma hat das Mädchen seinen Eltern abgekauft, als sie fünf war, und sie zehn Stunden am Tag arbeiten lassen. Sklaverei, schlicht und einfach. Und ihre Eltern sind nicht mehr auffindbar oder wollen sie nicht zurück …« Man hörte durchs Telefon, über zwei Kontinente und einen Ozean hinweg, wie Brenda innehielt, um Atem zu holen und die Fassung zu bewahren.
»Das ist ja eine grauenhafte Geschichte«, meinte Charlotte und hatte das Gefühl, damit etwas ungeheuer Lahmes zu sagen.
»Ja. Deswegen nehmen wir sie. Jason wird sich einfach daran gewöhnen müssen, eine ältere Schwester zu haben.«
So erschütternd diese Neuigkeit war, sie zu hören war die Rettung für Charlotte. Daran erinnert zu werden, dass auch andere Menschen Probleme hatten, riss sie aus ihrer Resignation. Sie beschloss, Moskau zu verlassen, nach Boston zurückzukehren, sich um ihre Wohnung und ihr Forschungsprojekt zu kümmern, und sobald sie das alles auf der Reihe hatte, Brenda und Tom in Argentinien zu besuchen.
GEMEINSAMER UNTERSUCHUNGSAUSSCHUSS
SARADKOV ISLAND EVENT
VORSITZ: SENATOR RICHARD COFFEY (USA)
STELLVERTRETENDER VORSITZ:
MINISTER ANATOLI MICHAILOW (RUS)
STATUS DES DOKUMENTS: VERTRAULICH
AUSZUG AUS DER BEFRAGUNG DES ZEUGEN
HIROSHI KATO (JAP)
Vorsitzender: Diese Auflösung der ganzen Bauwerke – dass alles zu Staub zerfallen ist – war eine Art Selbstzerstörungsmechanismus, sehe ich das richtig?
Zeuge: Ja. Die Naniten haben erst alles zerlegt, was sie gebaut hatten, und anschließend einander, bis nichts mehr übrig war.
Vorsitzender: Wie haben Sie diese Selbstzerstörung ausgelöst?
Zeuge: Das war einfach. Zerstören ist nun mal das Einfachste.
Vorsitzender: Das beantwortet die Frage nicht.
Zeuge: In den Funksignalen, die die Naniten ausgesendet haben, hat sich eine bestimmte Signalfolge immer wiederholt, und dann war jedes Mal eine Pause. Ich habe diese Signalfolge als, sagen wir, Frage interpretiert und die darauf folgende Pause als Warten auf eine mögliche Antwort. Da die Naniten ihre Aktivitäten kurz zuvor gestoppt hatten – ohne mein Zutun, wie ich schon ausgeführt habe –, hatte ich die Vorstellung, dass sie irgendwie gemerkt haben müssen, dass sie außer Kontrolle geraten waren, und sozusagen nachgefragt haben, ob sie sich selbst zerstören sollen. So ähnlich, wie sich bei uns Raketen selber zerstören, wenn sie aus ihrer Bahn geraten.
Vorsitzender: Das leuchtet mir nicht ein. Wieso sollte ein solcher Mechanismus das tun? Nachfragen, ob er sich zerstören soll?
Zeuge: Weil er das nicht in jedem Fall selber beurteilen kann. Eine Rakete kann feststellen, dass sie von ihrer vorgegebenen Bahn abgewichen ist; das ist einfach. Bei Nano-Robotern ist das nicht so einfach. Es ist im Gegenteil sogar ungeheuer schwierig zu wissen, ob sie das Richtige tun.
Vorsitzender: Sie wussten aber, als Sie diese Signalfolge sendeten, nicht, dass Sie damit die Selbstzerstörung auslösen würden?
Zeuge: Dass ich es wusste, wäre zu viel gesagt. Aber ich war mir ziemlich sicher.
Vorsitzender: Wie konnten Sie da sicher sein?
Zeuge: Sagen wir mal so – es war viel Intuition dabei.
(…)
Vorsitzender: Woher stammte diese Sonde Ihrer Meinung nach?
Zeuge: Auf jeden Fall von irgendwelchen intelligenten Lebewesen, die uns technisch enorm überlegen sind. Oder es zumindest waren, als sie die Sonde auf den Weg brachten.
Vorsitzender: Da Sie das so sagen, halten Sie es für möglich, dass diese Wesen nicht mehr existieren?
Zeuge: Ja, das ist sogar einigermaßen wahrscheinlich.
Vorsitzender: Wieso?
Zeuge: Sie haben diese Sonde losgeschickt. Die war einige Zeit unterwegs, Jahrtausende bestimmt. Sie ist, als sie die Erde erreicht hat, in einer Gegend gelandet, in der sie zunächst nicht wie geplant funktionieren konnte. So sind weitere Jahrtausende vergangen. Wenn die Zivilisation, die die Sonde losgeschickt hat, sich in der Zeit danach technisch noch weiterentwickelt hat: Wieso sind sie dann inzwischen nicht selber gekommen?
(…)
Stellvertretender Vorsitzender: Diese Rakete, die die Sonde abgeschickt hat – wozu diente die Ihrer Meinung nach? Transportiert sie jetzt gerade, sagen wir, Bodenproben von der Erde zurück?
Zeuge: Das glaube ich nicht. So etwas wie Bodenproben würde man an Ort und Stelle untersuchen und das Ergebnis per Funk zurückmelden; das geht am schnellsten und sichersten. Nein, ich vermute, es handelt sich um eine Kopie der Originalsonde, die jetzt unterwegs zum nächsten Stern ist.
Stellvertretender Vorsitzender: Was heißt das, eine Kopie?
Zeuge: Es gibt das theoretische Konzept der sogenannten Von-Neumann-Sonde. Die Idee ist, einen Automatismus in das nächste Sonnensystem zu schicken, der sich dort an einer geeigneten Stelle niederlässt und zunächst unter Zuhilfenahme von Rohmaterial, das er vorfindet, mindestens zwei exakte Kopien seiner selbst anfertigt. Diese schickt er auf den Weg in die von dort aus nächsten Sonnensysteme, ehe er sich an seine eigentliche Aufgabe macht, die Erforschung des betreffenden Sonnensystems beispielsweise. Danach sind folglich mindestens zwei solche Sonden unterwegs, die wiederum mindestens vier Sonden auf den Weg bringen, dann acht, sechzehn, zweiunddreißig und so weiter – eine exponentielle Reihe, die ziemlich schnell riesige Werte annimmt. Wenn man dieses Konzept mit relativ konservativen Randbedingungen durchrechnet – also ohne hypothetische Überlichtantriebe oder dergleichen ins Spiel zu bringen –, kommt man zu dem Ergebnis, dass sich auf diese Weise eine Galaxis wie die Milchstraße innerhalb von knapp einer halben Million Jahre komplett erschließen ließe.
Stellvertretender Vorsitzender: Wie nannten Sie das? Eine Von-Neumann-Sonde?
Zeuge: Benannt nach dem Mathematiker John von Neumann, der wichtige Theorien über sich selbst reproduzierende Automaten aufgestellt hat. Er selber hat allerdings nie deren Verwendung in der Weltraumfahrt vorgeschlagen.
(Die beiden Vorsitzenden beraten sich kurz mit ihren Stäben.)
Stellvertretender Vorsitzender: Und Sie denken, das auf Saradkov war eine solche Sonde?
Zeuge: Ja. Wenn man Selbstreproduktion auf Nano-Ebene beherrscht, bietet es sich an, solche Sonden zu bauen.
(…)
Vorsitzender: Ist das also Ihrer Meinung nach die Geschichte dahinter? Eine intelligente Spezies hat Forschungssonden ausgeschickt, um die ganze Galaxis zu erforschen, und ist danach ausgestorben oder zumindest der Degeneration verfallen?
Zeuge: Genau. So sieht es aus.
SARADKOV ISLAND EVENT
QUARANTÄNEBERICHT
Die Überlebenden der Saradkov Island Expedition (namentlich: Adrian Cazar, Ph.D.; Charlotte Malroux; Morley Mann, M.A.; Angela MacMillan, M.A.) und der im Verlauf der Ereignisse hinzugezogene technische Berater, der sich mehrere Stunden auf der Insel aufgehalten hat (namentlich: Hiroshi Kato), haben vor ihrer Rückkehr eine Quarantäne von
11 (in Worten: elf)
Tagen durchlaufen. Im Lauf dieser Zeit wurden sie medizinisch auf das Vorhandensein von Fremdkörpern und körperfremden Stoffen im Gewebe untersucht.
Durchgeführte Untersuchungen:
- Computertomografie des gesamten Körpers (mit Ausnahme der Bereiche der Keimdrüsen)
- Sonografie des gesamten Körpers
- Kernspintomografie des gesamten Körpers
- Spektralanalyse sämtlicher Inhaltsstoffe des Blutes, der Lymphe und des Urins
- Mikroskopische Untersuchung der Körperflüssigkeiten
- Tests auf veränderte Immunglobuline
Befunde:
- Keine Befunde
GEMEINSAMER UNTERSUCHUNGSAUSSCHUSS
SARADKOV ISLAND EVENT
VORSITZ: SENATOR RICHARD COFFEY (USA)
STELLVERTRETENDER VORSITZ:
MINISTER ANATOLI MICHAILOW (RUS)
STATUS DES DOKUMENTS: VERTRAULICH
AUSZUG AUS DER BEFRAGUNG DES ZEUGEN
HIROSHI KATO (JAP)
Vorsitzender: Sie waren also von vornherein der Auffassung, es nicht mit einer außerirdischen Lebensform zu tun zu haben?
Zeuge: Ja. Es handelte sich in meinen Augen eindeutig um ein technisches Gebilde. Eine Art Roboter, wenn Sie so wollen.
Vorsitzender: Außerirdischen Ursprungs?
Zeuge: Zu diesem Schluss musste man kommen.
Vorsitzender: Was ich gerne verstehen würde, ist, wie es möglich war, dass Sie auf diese Insel im Polarmeer kamen, mit einer Technologie außerirdischen Ursprungs konfrontiert wurden und, anstatt völlig überwältigt zu sein wie alle anderen, sofort verstanden haben, womit Sie es zu tun und mehr noch, wie Sie damit umzugehen hatten. Das verstehe ich nicht. Das ist meines Erachtens in hohem Maße unglaubwürdig.
Zeuge: Wie ich schon mehrfach erklärt habe, war ich nicht imstande, damit umzugehen. Die Expansion des Gebildes ist von alleine zum Stillstand gekommen. Ich habe nur erkannt, dass es sich tatsächlich um eine auf nanotechnischer Basis funktionierende Maschine handelte.
Vorsitzender: Wieso waren Sie imstande, das zu erkennen?
Zeuge: Weil ich seit Jahren in diesem Bereich forsche. Ich habe ein paar Grundprinzipien wiedererkannt. Und übrigens war ich ja nicht der Einzige. Selbst im Beraterstab des amerikanischen Präsidenten sind, wie ich erfahren habe, Fachleute davon ausgegangen, dass man es mit Nanotechnologie zu tun hatte.
Vorsitzender: Habe ich das richtig verstanden? Sie haben mit Ihren Forschungen die Grundprinzipien einer von außerirdischen, nichtmenschlichen Lebewesen entwickelten Technologie sozusagen vorweggenommen?
Zeuge: Das ist weniger erstaunlich, als es klingt. Wenn ich das erklären dürfte?
Vorsitzender: Wir bitten darum.
Zeuge: Man ist bei Überlegungen, wie sich eine Kommunikation zwischen uns und einer fremden Intelligenz im All gestalten könnte, seit jeher davon ausgegangen, dass man einen solchen Kontakt mit einem Austausch über mathematische Fragen beginnen müsste. Mathematische Grundprinzipien sind abstrakt und an keinerlei spezielle Lebensbedingungen gebunden, dürften also überall im Universum von hinreichend intelligenten Lebewesen in gleicher Weise verstanden werden. Nicht mit denselben Symbolen natürlich, aber die Prinzipien sind dieselben. Eins und eins ist immer zwei, egal, wie man diese Zahlen ausdrückt, egal, welches Zahlensystem man verwendet. Sobald eine intelligente Lebensform überhaupt das Konzept von Zahlen entwickelt, ist die gesamte Mathematik inhärent gegeben.
Wenn man nun einen Schritt weitergeht und das Vorhandensein von Maschinen voraussetzt – was man bei einer Kommunikation mit extraterrestrischen Zivilisationen mit einiger Berechtigung tun darf –, dann kann man davon ausgehen, dass jede technische Kultur irgendwann auch eine Maschine zur Verarbeitung von Informationen hervorbringt. Also das, was wir einen Computer nennen. Das allgemeinste Konzept für einen Computer ist die Turing-Maschine, die sämtliche Aufgaben auf nur drei Operationen zurückführt – Schreiben, Lesen und Bewegen des Schreib-/Lesekopfes. Das ist das nach unserer Erkenntnis fundamentalste Konzept der Informationsverarbeitung, und auch eine uns völlig fremde Intelligenz müsste das so erkennen. Sie würde natürlich andere Bezeichnungen verwenden, klar, aber das Prinzip wäre dasselbe.
Geht man nun über die Verarbeitung von Informationen hinaus, gelangt man zur allgemeinen Verarbeitung: Wie gestalten wir Dinge, wie formen wir Materie um? Meine Forschungen haben sich darauf konzentriert, auch hierfür fundamentale Prinzipien zu erarbeiten, sozusagen eine Grammatik der Verarbeitung von Materie zu erstellen. Ich konnte zeigen, dass sich alle Verarbeitungsaufgaben auf fundamentale Operationen wie Abtrennen, Verbinden, Erhitzen, Abkühlen, Identifizieren, Sortieren, Komprimieren, Energie erzeugen, Energie leiten, Steuern, Festhalten, Drehen, Bohren und so weiter zurückführen lassen …
Vorsitzender: Wäre das dann sozusagen die Kato-Maschine?
Zeuge: Wie bitte?
Vorsitzender: Sie nannten die Turing-Maschine als Beispiel.
Zeuge: Ach so. Nun, ja. Wenn Sie so wollen.
In den Befragungspausen brachten sie ihn immer in den Frühstücksraum des Hotels, dessen Rollläden Tag und Nacht heruntergelassen waren, um niemanden zu ermutigen, sich draußen mit einem Teleobjektiv auf die Lauer zu legen. Hiroshi holte sich einen Kaffee aus dem Automaten, spähte durch die Lamellen hinaus, während die Maschine sich zischend abmühte. Das anfängliche Großaufgebot der Medien war längst abgezogen; nur ein paar Reporter hielten frierend die Stellung. Auch von den Demonstranten war nur noch ein kleines Häuflein Unverzagter übrig, die auf ihren Transparenten eine »atomwaffenfreie Welt – jetzt!« forderten und »Frieden zu unserer Zeit«. In den ersten Tagen hatten sie sich einige ziemlich unfriedliche Auseinandersetzungen mit der isländischen Polizei geliefert. Die Erklärung Senator Coffeys, es handle sich nicht um Abrüstungsgespräche, sondern nur um amerikanisch-russische Konsultationen zu gemeinsamen wissenschaftlichen Projekten, war weitgehend unbeachtet geblieben.
Ein Piepsen. Der Kaffee war fertig. Hiroshi nahm den Pappbecher spitzfingrig mit zu einem der Sessel, genoss den ersten Schluck und ließ dann den Kopf mit geschlossenen Augen nach hinten sinken, einfach, weil es guttat.
»Sie wirken erschöpft, Kato-san«, sagte der junge Anwalt, den ihm die amerikanische Regierung zur Seite gestellt hatte.
Hiroshi öffnete die Augen, hob den Kopf. »Hai. Ich bin müde. Ich schlafe kaum. Ich bin so weiche Betten nicht gewohnt.«
Er sei als Zeuge hier, hatte man ihm erklärt, nicht als Angeklagter. Der Anwalt solle verhindern, dass er sich selbst belaste.
Alles gut organisiert.
Man hielt sie voneinander getrennt, damit sie sich nicht untereinander absprechen konnten. Jeder von ihnen hatte seine Aufpasser. Charlotte hatte er seit der Begegnung auf dem russischen Zerstörer nicht mehr gesehen; es hieß, sie sei inzwischen abgereist. Die anderen Teilnehmer der Expedition kannte er sowieso nicht.
»Ehrlich gesagt«, erklärte der Anwalt, »wirken Sie in manchen Momenten, als liege Ihnen eine Last auf der Seele. Kann es sein, dass es etwas gibt, das Sie bisher für sich behalten haben, über das ich als Ihr Anwalt aber Bescheid wissen sollte?«
Hiroshi musterte ihn. Interessante Formulierung. »Nein«, sagte er. »Das gibt es nicht.«
Man hatte es für eine gute Idee gehalten, ihm einen Anwalt japanischer Abstammung beizuordnen. Allerdings war John Takeishi, in Seattle geboren und aufgewachsen, ungefähr so japanisch wie der Tokio-Burger, für den eine der großen Fast-Food-Ketten gerade überall warb. Gut, er sprach leidlich Japanisch. Immerhin. Aber ansonsten hatte er null Ahnung von japanischer Lebensart und Kultur.
Eins allerdings musste man zugeben: John Takeishi verfügte über ein für einen Amerikaner außergewöhnliches Gespür dafür, was in anderen Menschen vor sich ging.
»Macht der Beruf eigentlich Spaß?«, fragte Hiroshi. »Anwalt, meine ich. Das hab ich mich schon immer gefragt. So viele Leute in Amerika werden Anwalt. Will man das nur wegen des Geldes?«
Takeishi hob die Augenbrauen. »Ich bin keiner von den reichen Anwälten, wenn Sie das meinen. Die haben es nicht nötig, für den Staat zu arbeiten.«
»Das meine ich nicht. Ich wollte wissen, ob der Beruf Spaß macht.«
»Manchmal schon.«
»Jetzt zum Beispiel?«
Takeishi grinste breit. »Geht so. Im Grunde sitze ich ja nur herum. Aber ich werd später sagen können, dass ich mal in Reykjavík gewesen bin.«
»Würden Sie den Beruf auch ausüben, wenn Sie kein Geld verdienen müssten? Wenn Geld keine Rolle spielen würde?«
Der junge Anwalt lachte auf. »Nein.«
»Sondern?«
»Musik. Jazz.« Etwas wie ein Leuchten erschien in seinem Gesicht. »Ich spiele Klarinette in einem Jazz-Quartett. Wenn alles klappt, treffen wir uns einmal pro Woche zum Proben, und einmal im Vierteljahr treten wir irgendwo auf, meist in einem winzigen Club vor zwanzig Leuten oder so. Wir machen Musik in der Art von Dave Brubeck, wenn Ihnen das was sagt.«
Hiroshi schüttelte den Kopf. »Nicht das Geringste.«
»Ach was, ›In Your Own Sweet Way‹ kennen Sie bestimmt. Das ist ein Standard.« Er summte ein paar Takte einer Melodie, die Hiroshi noch nie gehört hatte. »Wir haben sogar Fans. Nur eben viel zu wenige, als dass man davon leben könnte.« Das Leuchten verschwand wieder aus seinem Gesicht. »Deshalb gehen wir weiter unseren Jobs nach. Die Jobs sorgen dafür, dass wir nicht so viel und nicht so regelmäßig proben können, wie es nötig wäre, um wirklich gut zu werden, und so ist abzusehen, dass wir mit unserer Musik nicht weiterkommen und die Jobs auf lange Sicht gewinnen.«
Hiroshi nickte sinnend. So wenigen Menschen wurde die Gnade zuteil, in ihrem Leben das tun zu können, wonach ihre Seele brannte. Und die, die es nicht konnten, konnten es immer aus demselben Grund nicht: Armut – entweder aktuelle oder drohende, wenn man nicht andere Dinge tat, um des Lebensunterhalts willen.
Hiroshi widmete sich wieder seinem Kaffee. John Takeishi hatte durchaus richtig beobachtet, dass ihm etwas auf der Seele lag. Nur war es nicht das, was er mutmaßte, sondern vor allem Ungewissheit. Die Ungewissheit, ob sein großer Plan gelingen würde.
Sie war es, die Hiroshi den Schlaf raubte. Nicht die weichen Matratzen.
GEMEINSAMER UNTERSUCHUNGSAUSSCHUSS
SARADKOV ISLAND EVENT
VORSITZ: SENATOR RICHARD COFFEY (USA)
STELLVERTRETENDER VORSITZ:
MINISTER ANATOLI MICHAILOW (RUS)
STATUS DES DOKUMENTS: VERTRAULICH
AUSZUG AUS DER BEFRAGUNG DES ZEUGEN
ADRIAN CAZAR (USA)
Stellvertretender Vorsitzender: Was hat Sie bewogen, ausgerechnet die Insel Saradkov zum Ziel Ihrer Expedition zu machen?
Zeuge: Ihre Lage im Polarmeer. Saradkov gehört zu den Inseln, die seit Jahrtausenden einen stabilen Eisschild aufweisen. Wir wollten herausfinden, inwieweit die globalen Veränderungen des Klimas diesen Eisschild beeinflusst haben.
Stellvertretender Vorsitzender: Ob er schmilzt, also?
Zeuge: Vereinfacht ausgedrückt, ja. Wobei es eine Menge weiterer Kriterien gibt, die man untersucht.
Stellvertretender Vorsitzender: Sie sind Amerikaner. Wieso haben Sie sich keine der amerikanischen oder meinetwegen der kanadischen Polarinseln ausgesucht?
Zeuge: Nun, so viele amerikanische Inseln im Polargebiet gibt es nicht, und die sind alle schon gut untersucht. Die kanadischen auch, fast schon zu gut. Da praktisch die Hälfte der Arktis zu Russland zählt und die klimatischen Verhältnisse nördlich der eurasischen Landmasse deutlich anders sind als nördlich des amerikanischen Kontinents, fand ich es aufschlussreich, eine russische Polarinsel mit denselben Methoden zu untersuchen, die man auf der amerikanischen Seite angewendet hat.
Stellvertretender Vorsitzender: Gut, aber wieso nun ausgerechnet Saradkov, eine Insel, die so klein ist und so weit nördlich liegt, dass viele Karten sie gar nicht mehr verzeichnen? Wieso nicht zum Beispiel eine der ostsibirischen Inseln?
Zeuge: Ja, hätte man auch machen können. Ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr, wie ich auf Saradkov gekommen bin. Irgendjemand hat mir von der Insel erzählt, glaube ich.
GEMEINSAMER UNTERSUCHUNGSAUSSCHUSS
SARADKOV ISLAND EVENT
VORSITZ: SENATOR RICHARD COFFEY (USA)
STELLVERTRETENDER VORSITZ:
MINISTER ANATOLI MICHAILOW (RUS)
STATUS DES DOKUMENTS: VERTRAULICH
AUSZUG AUS DER BEFRAGUNG DER ZEUGIN
ANGELA MACMILLAN (UK)
Vorsitzender: Was war Ihre Motivation als Biologin, an dieser Forschungsreise teilzunehmen?
Zeugin: Wir wussten von Satellitenaufnahmen, dass Saradkov seit einigen Jahren eine zeitweise eisfreie Küste hat. Ich wollte beobachten, wie und wie schnell das Leben einen bis vor Kurzem noch toten Landstreifen zurückerobert. Leider haben wir stattdessen eher das Gegenteil erlebt.
Vorsitzender: Wie meinen Sie das?
Zeugin: Na ja, warum sitze ich hier? Weil diese Maschinenpest auf der Insel ausgebrochen ist. Wenn die nicht wieder aufgehört hätte, hätte sie die ganze Welt aufgefressen. Oder?
Es war seltsam unwirklich zurückzukehren. Hiroshi war, als träume er nur, die Waldstraße zu seinem Haus hinaufzufahren, Sonnenschein und blauen Himmel über sich. Vor seinem Haus anzukommen, die eigenen Schritte auf dem Kies zu hören. Zu sehen, wie sich die Tür öffnete und Mrs Steel zum Vorschein kam, die ihn mit halb strengem, halb besorgtem Blick musterte.
»Haben die Sie endlich gehen lassen«, sagte sie schließlich.
»Ja«, sagte Hiroshi.
»Und? Alles in Ordnung?«
»Alles in Ordnung. Wie ich es Ihnen gesagt habe.« Man hatte ihm gestattet, sie aus der Quarantäne anzurufen, um Bescheid zu sagen, dass er später als geplant zurückkommen würde. Ein Wachmann hatte mitgehört, also war er bei der offiziellen Version geblieben: Er sei mit dem Träger einer gefährlichen Krankheit in Kontakt gewesen und müsse nun warten, bis klar sei, ob er sich angesteckt habe oder nicht. Sie solle sich aber keine Sorgen machen, hatte er hinzugefügt, das sei nur eine Formalität; er sei überzeugt, nicht krank zu sein.
»Soll ich Ihnen was zu essen machen?«
»Später«, sagte Hiroshi. »Ich muss erst noch was erledigen.«
Ehe er seinen Computerraum betrat, ging er in ein Nebenzimmer, wo er ein Fach eines Wandschranks öffnete. Darin stand ein alter kleiner Schwarz-Weiß-Fernseher, der so aussah, als habe ihn jemand hier abgestellt und vergessen.
Ein Eindruck, der täuschte und auch täuschen sollte. Tatsächlich führte ein kleines Kabel von dem Gerät zu einem sinnreichen Mechanismus, den Hiroshi eigenhändig in die Zwischenwand eingebaut und sorgfältig abgeschirmt hatte. Er bestand aus einer Videokamera, die über ein langes, haardünnes Glasfaserkabel, wie man es für endoskopische Gefäßoperationen verwendete, den Computerraum beobachtete. Das Ende des Glasfaserkabels war nur ein haardünner Punkt mitten in dunklem Holz, nicht metallisch und keinerlei Energie ausstrahlend, sodass er Wanzen-Spürgeräten völlig entging. Die Kamera war ständig eingeschaltet; ein Computer analysierte die Bilder, die sie lieferte, und zeichnete alles auf, was sich veränderte. Diese Aufzeichnungen sah sich Hiroshi nun auf dem Monitor an.
Wie er es vermutet hatte, waren in seiner Abwesenheit Agenten der Regierung eingedrungen, um sich der Inhalte seiner Festplatten zu bemächtigen. Er konnte verfolgen, wie sie – mit derselben routinierten Behutsamkeit, mit der sie vermutlich auch die diversen teuren Alarmanlagen seines Hauses außer Kraft gesetzt hatten – die Rückseiten seiner Computer aufschraubten, die Festplatten herausnahmen und deren Inhalt auf eigene, mitgebrachte Computer überspielten.
Alles gut organisiert.
Er schaute sich die Aufzeichnungen bis zum Schluss an, in Zeitraffer natürlich. Hiroshi hatte wohlweislich darauf verzichtet, den Ton ebenfalls aufzuzeichnen; ein Mikrofon hätten diese Leute mit Sicherheit entdeckt. Er brauchte auch nicht zu wissen, was sie geredet hatten. Es genügte ihm zu sehen, wo überall sie Überwachungseinrichtungen angebracht hatten.
Es kostete ihn eine halbe Stunde, alle Geräte aufzuspüren und auszuschalten. Klar, damit verriet er ihnen, dass er über Sicherheitsmechanismen verfügte, die ihnen entgangen waren. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr.
Als er sich wieder unbeobachtet wusste, machte er sich daran, seine Daten zu restaurieren. Nach einer seiner Diskussionen mit Jens Rasmussen hatte Hiroshi eine gründliche Datensicherungsroutine entwickelt, der er seitdem mit nahezu religiöser Inbrunst folgte, wann immer er das Haus längere Zeit verließ. Sie nahm gewisse Zeit in Anspruch, lief aber weitgehend automatisch ab: Eine Routine zerlegte seine gesamten Datenbestände in eine Vielzahl von Paketen, mit denen man einzeln absolut nichts anfangen konnte, verschlüsselte diese mit den sichersten Verfahren, die es gab, und deponierte sie in verschiedenen Datenhäfen vorwiegend im pazifischen Raum. Eine anderer Routine kümmerte sich um das, was zurückblieb: Alles, was die Eindringlinge auf den Festplatten gefunden hatten, waren zum Zweck der Irreführung erzeugte Dateien, wobei ein selbst entwickeltes, höchst aufwendiges Programm dafür gesorgt hatte, dass sie nicht so wirkten. Im Gegenteil, alle Details wie Erstellungsdatum und Änderungsdatum jeder einzelnen Datei, der Inhalt temporärer Files, Fehlerprotokolle, Caches, E-Mails und schließlich die aufwendige Verschlüsselung all dieser Dateien mussten einen Experten davon überzeugen, den aktuellen Stand von Hiroshis Arbeiten vor sich zu haben.
Nun löschte Hiroshi alle Festplatten, spielte ein Kommunikationsprogramm ein und lud die Datenpakete wieder herunter. Während dieser Prozess lief, der ihn in einigen Stunden wieder arbeitsfähig machte, widmete er sich dem Labor im Untergeschoss, von dessen Existenz nicht einmal Mrs Steel etwas ahnte.
Eine Regierung freilich ließ sich nichts vormachen. Die Eindringlinge waren auch hier gewesen; eine Überwachungsanlage ähnlich der in seinem Computerzimmer zeigte es ihm.
Hatten sie nicht bemerkt, dass er selber das Labor seit ewigen Zeiten nicht mehr betreten hatte? War es ihnen egal gewesen? Hiroshi spürte einen ersten Anflug von Ärger, als er seinen Werkzeugkasten holen ging.
Der Zugang zum Labor lag hinter einem präzise eingepassten Teakholz-Paneel an einer Wand seines Meditationsraums. Den würde Mrs Steel nicht betreten, solange die Tür geschlossen war, also schloss Hiroshi sie. Dann löste er die versteckte Sperrvorrichtung, die das Paneel am Platz hielt, und untersuchte das Codeschloss auf der Stahltür dahinter. Es war unbeschädigt, sah unberührt aus. Bedenklich clever, diese Geheimdienstleute. Er tippte den Zugangscode ein, drückte die Tür auf, zog das Paneel hinter sich zu und schloss den Zugang wieder, während überall im Labor die Leuchtstoffröhren aufflammten.
Alle Wanzen, Videokameras und dergleichen zu entfernen kostete ihn eine weitere Stunde, in deren Verlauf sein Ärger spürbar anwuchs. Als der ganze Krempel endlich im Mülleimer lag, musste er sich erst einmal sammeln. Innehalten und durchatmen. Dies war ein wichtiger Moment, vielleicht der wichtigste seines Lebens. Er durfte jetzt nichts falsch machen.
Nachdem er seine Mitte wiedergefunden hatte, begann er. Er holte das Multiband-Funkgerät, das er unterwegs in einem riesigen Elektronik-Supermarkt gekauft und bar bezahlt, nach menschlichem Ermessen also anonym erworben hatte. Er stellte es auf das Abtropfblech neben dem Waschbecken und seinen Laptop daneben, schloss den Sender an den Rechner an und schaltete beide Geräte ein.
Während der Rechner hochfuhr, dachte Hiroshi an Saradkov Island. Er erinnerte sich an Kälte, daran, wie ratlos er gewesen war – und wie grenzenlos verblüfft, in welchem Ausmaß er die Naniten zu steuern in der Lage war. Es war fast gewesen, als hätte er sie selber entwickelt. Teilweise hatten sie sogar denselben Codes gehorcht, mit denen er damals auf Paliuk seinen Roboterkomplex gesteuert hatte!
Darüber hatte er in Reykjavík ganze Nächte gegrübelt: wie so etwas möglich war. Hatte er eine Funktionslogik entwickelt, die noch weitaus universeller war als gedacht, ohne dass er sich dessen bewusst gewesen war? Das wollte ihm nicht in den Kopf. Was war an einer Signalfolge wie 1-0-0-0-1-1-1-0 so allgemeingültig, so zwingend, dass sowohl er wie auch Aliens auf einem wer weiß wie weit entfernten Planeten sie als Befehl für einen Naniten-Komplex verstanden, in den Befehls-Empfangs-Modus zu gehen? Nichts. Er wusste nicht mehr, warum er diese Befehle so und nicht anders festgelegt hatte, aber er erinnerte sich noch gut, dass es eine beinahe willkürliche Zuordnung gewesen war.
Und damit war diese Koinzidenz ungefähr so erstaunlich, als hätten intelligente Wesen von einem anderen Stern eine Sonde mit einer Plakette geschickt, auf der ein Sonett von Shakespeare eingraviert war. Ganz und gar unwahrscheinlich.
Es musste eine andere Erklärung dafür geben. Er kannte sie nur nicht.
Er brauchte sie allerdings auch nicht. Es funktionierte, auch ohne dass er wusste, warum.
Hiroshi holte eine Packung hochreiner Objektträger aus dem Schrank, entfernte die Versiegelung und stellte die transparente Schachtel neben den Computer. Der war inzwischen so weit. Hiroshi startete das Kommunikationsprogramm, tippte die Befehlsfolge ein, die er gleich brauchen würde.
Dann streifte er dünne Latexhandschuhe über, nahm einen Objektträger heraus und trat vor den Spiegel. Er hielt sich das dünne Glasplättchen mit der rechten Hand vor die Stirn, betätigte mit dem linken Zeigefinger die Returntaste, wodurch der erste Satz Befehle an das Funkgerät schickte. Reichweite zwei Meter, außerhalb seines Labors nicht mehr anzumessen.
Hiroshi spürte nichts, aber im Spiegel sah er einen winzigen dunklen Punkt auf seiner Haut entstehen, kaum größer als das, was ein weicher Bleistift hinterlassen hätte, hätte er ihn sich flüchtig gegen die Stirn getippt. Wenn er ihn nicht auftauchen gesehen hätte, hätte er ihn nicht gefunden.
Er hielt den Atem an, schob den Objektträger langsam nach oben. Als er den Punkt erreicht hatte, hielt er inne, tippte mit der anderen Hand noch einmal auf die Returntaste.
Der Punkt bewegte sich. Er verließ die Oberfläche seiner Haut und wanderte über das Glas, ungefähr einen halben Zentimeter weit.
Damit war es vollbracht. Hiroshi senkte den Objektträger behutsam und legte ihn auf eine Unterlage aus grünem Moosgummi. Dann erst wagte er wieder zu atmen. Seine Hände bebten.
Dieser winzige Punkt auf dem hauchdünnen Stück Glas waren etwa hunderttausend Naniten-Komplexe. Die letzten auf diesem Planeten, wenn er ansonsten alles richtig gemacht hatte. Auf Saradkov hatte er ihnen befohlen, sich im Gewebe seiner Stirn einzunisten und anschließend für eine gewisse Zeit lang keine anderen Befehle entgegenzunehmen. Innerhalb dieser Zeitspanne hatte er dann den Kill-Befehl für alle anderen Naniten gegeben.
Es hatte funktioniert. Man hatte sie zwar während der Quarantäne alle gründlich untersucht, ob einer von ihnen Naniten im Körper trug. Doch Hiroshi hatte von vornherein gewusst, dass keine der Untersuchungen imstande gewesen wäre, derlei festzustellen. Seine Sorge hatte einzig der Frage gegolten, ob die Naniten in seiner Stirnhaut noch existierten oder den Kill-Befehl womöglich trotz seiner Vorsichtsmaßnahmen empfangen und befolgt hatten – wovon er nicht das Geringste gespürt hätte.
Nun wusste er: Sie hatten es nicht getan. Sie existierten noch, und sie gehorchten ihm. Und wenn er sie erst einmal vollständig entschlüsselt, vollständig verstanden hatte, würden sie ihm vollständig gehorchen. Sie würden das Saatkorn sein, aus dem eine Zukunft erwachsen würde, die die kühnsten Träume der Menschen übertraf.
Und er, Hiroshi Kato, würde es sein, der diese neue Welt schuf. Der Traum seines Lebens, er war zum Greifen nahe.
Das Schicksal stand auf seiner Seite. Das wusste er nun endlich.
Eine kleine Nachricht in diesen Tagen meldete den Absturz eines Privatjets über Mittelamerika. Drei Menschen waren dabei ums Leben gekommen: James Bennett II., Vorstandsvorsitzender und Haupteigentümer des Technologiekonzerns Bennett Enterprises, Frank Rizzio, der Finanzchef des Unternehmens, sowie der Pilot des Jets, dessen Name nicht erwähnt wurde.
Außerhalb Bostons fand diese Meldung wenig Beachtung.
2
Es war das erste Mal seit der Beisetzung, dass der Vorstand von Bennett Enterprises zu einer Sitzung zusammentrat. Und es war das erste Mal, dass James Michael Bennett III. den Platz an der Stirnseite des langen nachtschwarzen Tisches einnahm.
Einer der Direktoren, Manuel Estrada, der Leiter des Bereichs Marketing, erhob sich ungelenk. »Mister Bennett«, begann er mit sichtlichem Unbehagen, dass diese Aufgabe an ihn gefallen war, »im Namen des gesamten Vorstandes möchte ich Ihnen unser tief empfundenes Beileid zum Tod Ihres Vaters –«
»Danke«, erwiderte James Bennett III. spitzlippig. »Vielen Dank. Ich weiß das zu schätzen. Aber das Leben geht weiter, die Konkurrenz schläft nicht – lassen Sie uns anfangen.« Er beugte sich vor, stellte die Ellbogen auf den Tisch und faltete die Hände, ganz ähnlich, wie sein Vater das getan hatte. »Ich werde mich so schnell wie möglich einarbeiten und dann die nötigen Entscheidungen treffen, wie es weitergehen soll. Dazu erwarte ich Ihre Berichte. Mündlich hier und jetzt, schriftlich bis spätestens übermorgen, maximal fünf Seiten. Die wichtigsten Zahlen, Entwicklungen, Probleme.« Er blickte den Marketingchef an, der immer noch stand. »Wenn Sie vielleicht anfangen würden, Manuel?«
Die Sitzung dauerte eine halbe Stunde länger als angesetzt. Als die Männer und Frauen des Vorstands sich erhoben, um zu gehen, sagte der neue, junge Vorstandsvorsitzende: »Ach, übrigens, Alan … wenn Sie noch ein paar Minuten Zeit hätten?«
Alan Crockett war der Personaldirektor, ein vierschrötiger Mann mit einem Gesicht wie ein Boxerhund. Ihm unterstand auch der Werkschutz.
»Machen Sie die Tür zu«, sagte James Bennett III., als sie allein waren. Crockett gehorchte und kehrte an den Tisch zurück.
»Was sagt Ihnen der Name Jeffrey Coldwell?«
Crockett überlegte. »Müsste er mir etwas sagen?«
»Manager. Stammt aus Alabama. Absolvent der London School of Economics. War etliche Jahre Regionaldirektor Nord- und Südamerika bei Gu Enterprises in Hongkong.« James Bennett III. richtete den ausgestreckten Zeigefinger auf ihn. »Finden Sie heraus, wo er steckt. Ich will mit ihm reden. Und behandeln Sie das top secret.« Er nahm den Finger wieder zurück, griff nach der Mappe, die vor ihm lag. »Das wäre im Moment alles.«
Die einzelnen Naniten voneinander zu separieren und unter dem Rasterkraftmikroskop zu untersuchen war eine Arbeit, die Hiroshis Ausdauer und Konzentrationsfähigkeit auf die äußerste Probe stellte. Obwohl die Naniten, verglichen mit den meisten Molekülen, ziemlich große Gebilde waren, war es immer noch unmöglich, sie direkt zu betrachten; die einzige Methode, ihre Gestalt darzustellen, war, sie mit einem Cantilever Atom für Atom abzutasten und die Messergebnisse durch entsprechende Software in Bilder umzurechnen. Da während jeder Messung Störungen unvermeidlich waren, mussten jeweils mehrere Messläufe durchgeführt werden; zudem galt es, systembedingte Fehler zu erkennen und auszumerzen. Das bedeutete stundenlange, hoch konzentrierte Arbeit an den Instrumenten, von der er sich nicht eine Sekunde lang ablenken lassen durfte.
Es war gespenstisch zu erleben, wie oft er seine eigenen Konstruktionen in den Naniten wiederfand. Mit wenigen Ausnahmen konnte er die meisten der Bilder, die die Analysesoftware errechnete, mit seinen auf theoretischem Wege gefundenen Nano-Funktionsgruppen in Relation setzen. Man musste sich fast fragen, ob er einen Zwilling auf einem anderen Stern hatte, einen geistigen Bruder im Körper eines Aliens – oder ob er gar von extraterrestrischen Wesen mental beeinflusst wurde! War er, Hiroshi Kato, ein Agent fremder Mächte, ohne es zu wissen?
Das war dann immer der Punkt, an dem er innehalten, die Augen schließen und durchatmen musste, um seine Mitte wiederzufinden und das Gefühl loszuwerden, in einem Stephen-King-Roman gelandet zu sein.
Seine Konstruktionen, sagte er sich mit kühlem Verstand, waren ja nicht das Ergebnis nächtelangen Grübelns am Reißbrett, sondern das Produkt evolutionärer Algorithmen. Mit anderen Worten, sie waren quasi von selber entstanden – er hatte mit seinen entsprechenden Simulationsprogrammen nur die Möglichkeit dafür geschaffen. Und so ähnlich, wie geometrisch bedingt nur fünf regelmäßige Vielflächner denkbar waren – Tetraeder, Würfel, Oktaeder, Dodekaeder und Ikosaeder –, waren das hier, vorgegeben durch die Eigenschaften der verschiedenen Atome, vielleicht die einzig überhaupt möglichen Nano-Roboter.
Wobei das die Sache mit den Steuercodes nicht erklärte. Okay. Aber er musste ja auch nicht alles auf Anhieb verstehen.
Nach so vielen Jahren wieder in Buenos Aires zu sein war, als träume sie. So viel hatte sich verändert! Und doch war es Charlotte, als schimmere unter allem, was hinzugekommen, anders geworden war, immer noch die Stadt hindurch, die sie als Teenager gekannt hatte. Da, die Plaza de Mayo, auf die sie nur heimlich gegangen war, weil dort so oft Demonstrationen stattgefunden hatten, auf denen die Tochter eines Botschafters nichts zu suchen hatte. Die Florida mit ihren kostspieligen Boutiquen, in denen ihre Mutter so endlos viel Zeit hatte verbringen können. Die irrsinnig breite Avenida 9 de Julio, an der die französische Botschaft lag. Während sie durch die Straßen streifte, war ihr, als sehe sie zwei Städte auf einmal, das Buenos Aires ihrer Jugend und das von heute, und wahrscheinlich war es diese doppelte Belastung in Verbindung mit der altbekannten Schwüle – und den Erinnerungen, die sie wachrief –, die ihr nach einiger Zeit Kopfschmerzen bescherte.
Sie traf Brenda am Obelisken, wie verabredet. Von Weitem wirkte ihre älteste Freundin wie von tiefer Melancholie umhüllt. Charlotte fragte sich, ob da bereits die morbide Schwingung des Tangos wirkte, der unter der Oberfläche der Stadt pulste wie ein nie verstummender Herzschlag. Doch als sie sich umarmten, fühlte es sich an wie immer. »Ich hätte dich auch am Flughafen abgeholt«, erklärte Brenda, ohne sie loszulassen.
»Du hast mich schon so oft von Flughäfen abgeholt.«
»Aber noch nie vom Ezeiza.«
»Du kannst mich ja hinbringen, wenn ich wieder gehe.«
»Kommt nicht infrage. Ich lass dich überhaupt nicht wieder gehen.« Sie löste die Umarmung, hielt Charlotte in Armlänge auf Abstand, um sie zu betrachten. »Du hast dir jedenfalls nichts abgefroren da oben am Polarkreis. Das heißt, wir können ins Persicco gehen und uns Eisbecher mit allem genehmigen. Ich lade dich ein.«
Sie nahmen ein Taxi, um in das Eiscafé zu kommen. »Dein Spanisch ist schon ganz flott«, meinte Charlotte unterwegs.
»Mit dickem amerikanischem Akzent«, wehrte Brenda das Kompliment ab. »Tom, der spricht Spanisch inzwischen gut. Weil er es jeden Tag muss, mit den Studenten.«
Über fantasievoll dekorierten Eisgebirgen, denen sie mit schmalen Löffeln zu Leibe rückten, erzählten sie einander, wie es ihnen in der Zwischenzeit ergangen war.
Zuerst musste Charlotte von ihren Abenteuern in Russland erzählen. Doch obwohl sie nicht glaubte, dass unter den anderen Gästen amerikanische oder russische Agenten saßen und sie überwachten, fühlte sie sich in der relativen Öffentlichkeit des Lokals nicht frei genug, um zu berichten, was tatsächlich passiert war. Und merkwürdigerweise hatte sie auch gar nicht mehr das Bedürfnis, andere damit zu belasten. In Reykjavík war sie fast geplatzt, hatte regelrecht darauf gebrannt, es loszuwerden … doch nun, zurück im Gleichlauf des alltäglichen Lebens, das immer noch so war, wie es immer gewesen war, schien ihr das, was sie erlebt hatte, viel zu extrem, zu fantastisch, als dass sie davon hätte erzählen wollen. Es kam ihr auch, je mehr Zeit verging, zunehmend unmöglich vor, jemandem vermitteln zu wollen, wie es gewesen war . Niemand, der nicht dabei gewesen war, konnte es wirklich verstehen. Manchmal kam ihr das Geschehene im Rückblick selber absolut unglaubwürdig vor; wie die Erinnerung an einen schlimmen Traum, nicht wie etwas Wirkliches.
Also erzählte sie Brenda vorwiegend von Dingen wie ihrer komplizierten Anreise, den Marotten Morleys und wie es war, in der durchdringenden Kälte des Polarkreises zurechtzukommen. Und schließlich, ohne in Details zu gehen, dass Leon ums Leben gekommen war und es eine lange Untersuchung des Vorfalls gegeben hatte.
»Aber wieso in Reykjavík?«, wunderte sich Brenda, doch als Charlotte daraufhin nur mit den Schultern zuckte, ließ sie die Frage fallen und gestand, erwartet zu haben, dass sie und Adrian als Paar zurückkehrten. »Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, er steht auf dich. Und dass ihr beide ein hübsches Paar abgäbt.«
Charlotte stocherte in den unbezwingbaren Vanilleeismassen am Grund ihres Glases und musste an Leon denken und wie männlich er in seinem Parka ausgesehen hatte. »Adrian? Nein. Er hat sich benommen wie ein großer Bruder, mehr nicht. Und ich glaube nicht, dass er zu schüchtern ist.«
»Vielleicht ist er schwul?«
Charlotte überlegte. Auch das kam ihr wenig glaubhaft vor. »Irgendwie war da eben nichts. Vielleicht lebt er nur für die Klimatologie?«
Anschließend erzählte Brenda von ihrem Umzug, von all den kleinen Merkwürdigkeiten des Lebens in Argentinien, an die sie sich immer noch nicht gewöhnt hatte, und wie Lamitas Adoption abgelaufen war. »Ohne Pari wären wir völlig aufgeschmissen gewesen. Er hat uns zu den richtigen Behörden geschleppt, hat uns gesagt, wann wir einen Geldschein in unseren Pass legen müssen und so weiter … Zweimal mussten wir nach Dhaka fliegen, ehe wir sie mitnehmen durften. Zum Glück haben wir ein Kindermädchen, das mit Jason gut zurechtkommt, seither sind wir ein bisschen flexibler als früher.«
»Und wie kommt sie hier zurecht?«
Brenda wiegte den Kopf. »Na ja. Es sind erst ein paar Wochen, ich denke, da kann man schwer schon was sagen. Sie spricht nur Bengali, das ist zum Beispiel ein Problem, und … Ich hoffe, wir schaffen es.«
»Bestimmt«, sagte Charlotte und meinte es so.
Schließlich wurde es Zeit aufzubrechen. »Freundinnenzeit vorbei für heute«, erklärte Brenda melancholisch. Sie nahmen wieder ein Taxi. »Ich trau mich nicht, hier selber Auto zu fahren. Wahrscheinlich werd ich mich nie trauen. Wie die fahren, schau dir das an! So was wie Verkehrsregeln betrachten die doch höchstens als Empfehlungen, oder?«
Als sie ankamen, tauchte Jason zur Begrüßung auf, verweigerte sich jedoch einem Kuss auf die Wange und verschwand beleidigt, als ihn Charlotte auf Spanisch begrüßte. Tom war noch nicht da. Brenda zeigte ihr das Gästezimmer, die wichtigsten Räume des Hauses und den Garten, dann setzten sie sich auf einen Kaffee in die Küche.
Dort ließ sich irgendwann auch das Mädchen blicken. Scheu, aber neugierig lugte ein schmales, dunkelhäutiges Gesicht um die Ecke, das sofort wieder verschwand, als Charlotte hinsah. Doch schließlich siegte die Neugier: Die Kleine huschte herein, dicht an der Wand entlang, versteckte sich hinter Brenda, die schmerzlich lächelnd den Arm um sie legte, und nahm die Besucherin aus dieser geschützten Position näher in Augenschein.
Charlotte beugte sich vor. »Tomar nam ki?«
Das magere kleine Mädchen blinzelte erstaunt, dann flüsterte es: »Lamita. Amar nam Lamita.«
»Kemon atscho, Lamita?«
»Bhalo.« Die Kleine drückte sich noch fester an Brenda, sah kurz voller Dankbarkeit zu ihr hoch. Ja. Es war offensichtlich, dass es ihr gutging.
Brenda sah Charlotte mit weit aufgerissenen Augen an. »Du sprichst Bengali? Seit wann das?«
Charlotte versuchte sich zu erinnern. »Ich glaube, ein paar der Gärtner in unserem Haus in Delhi waren Bengalen. Mir ist, als hätte ich die Sprache immer nur im Garten gehört.«
»Dich schickt der Himmel. Wir haben solche Probleme, uns mit dem Kind zu verständigen, du glaubst es nicht. Sie versteht mich, aber ich verstehe sie nicht! Wenn ihr was fehlt, krieg ich nicht mal aus ihr raus, wo es ihr wehtut. Es ist, als hätten wir ein Haustier!«
Charlotte betrachtete Lamita. Das Mädchen wirkte tatsächlich wie scheues Wild, wie ein Wesen, das lange Zeit schlecht behandelt worden war und viel und stumm gelitten hatte. »Ich bin ja eine Weile da. Vielleicht kann ich ein bisschen mit ihr reden.«
»Unbedingt.« Brenda drehte sich zu ihrer Adoptivtochter herum, sah sie an. »Möchtest du was essen? Ein Stück Kuchen? Cake?«
Lamita nickte wortlos und mit großen Augen.
»Yes? Sag es bitte.«
»Yes«, flüsterte das Kind mit einem so furchtsamen Ausdruck im Gesicht, als sei es jedes Mal bestraft worden, wenn es etwas gesagt hatte.
»Inzwischen wird mir schlecht, wenn ich irgendwo T-Shirts im Sonderangebot sehe«, erzählte Brenda, während Lamita neben ihr das Kuchenstück vertilgte. »Ein T-Shirt für einen Dollar – wer kann daran irgendwas verdienen? Derjenige, der es genäht hat, ganz bestimmt nicht. Ich kann überhaupt keine billigen Klamotten mehr kaufen. Ich sehe jetzt hinter jedem Hemd und jeder Hose ein Kind wie Lamita, das von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in einem stickigen Raum hockt und sich die Finger wund arbeitet.«
»Ich dachte, die Näherei sei pleitegegangen?«
»Ja, die eine! Aber was meinst du, wie viele solcher Nähereien es dort noch gibt? Und andere Firmen, die irgendwas anderes machen, nach demselben Prinzip? Hunderttausende!«
Charlotte musste an Hiroshi denken und an dessen Plan, die Armut auf Erden abzuschaffen und stattdessen Wohlstand für alle zu schaffen, durch Roboter, die ihrerseits Roboter bauten … Es mochte ein völlig durchgeknallter Plan sein, aber wenigstens war er gut gemeint.
Und vielleicht war der Plan auch gar nicht so durchgeknallt. Sie betrachtete Lamita und fragte sich, wie viele solcher Kinder in diesem Moment irgendwo unter unsäglichen Bedingungen schuften mochten, nur damit Menschen in reichen Ländern etwas zu kaufen hatten.
Der Burntwood Lake lag weit im Norden der kanadischen Provinz Saskatchewan, mehr als fünfzig Kilometer von der letzten ausgewiesenen Straße entfernt, und selbst die war eher von der Sorte, die ein Großstädter nicht mehr als solche erkannt hätte. Man brauchte einen guten Geländewagen und eine gehörige Menge Ortskenntnis, um den See überhaupt zu finden, und es gab wenig Leute, die beides hatten.
So war der See das Refugium einiger weniger, die es so weit im kalten Norden aushielten und die Ruhe und Einsamkeit genossen. Manche von ihnen hatten sich in den Wäldern ringsum Hütten gebaut, von denen kein Amt etwas wusste. Wenn sich hier einer seinen eigenen Schnaps brannte – wen störte das? Ein Schnaps tat gut nach einem Tag, den man angelnd auf dem See verbracht hatte.
Doch so abgelegen der Ort auch war: In einer der Hütten stand eine Webcam, über die man den nordöstlichen Teil des Burntwood Lake und die kleine Insel darin jederzeit per Internet beobachten konnte. Ein Student, der sich in Internetforen NorthernLight nannte, hatte sie installiert, zusammen mit einer Anlage aus Solarzellen und Batterien, die den zugehörigen Computer mit Strom versorgte, und einer Richtfunkantenne, die über ein Gegenstück am Nordrand des Grass River Provincial Parks die Verbindung ins Internet herstellte. Ein Onkel, der in dem bei Cranberry Portage gelegenen Park arbeitete, hatte ihm ermöglicht, die zweite Antenne zu montieren und unauffällig ans Telefonnetz der Parkverwaltung anzustöpseln.
NorthernLight studierte Informatik in Winnipeg und liebte es, jederzeit nachsehen zu können, was sich auf »seinem« See tat. Und er war viel zu stolz auf seine Installation, als dass er die betreffende Website mit einem Passwort gesichert hätte. Die ganze Welt sollte an seinem Werk teilhaben.
Das war es, was das Schicksal des Burntwood Lake in Nord-Saskatchewan besiegelte.
Hiroshis Computerraum war keine Simulationsmaschine mehr: Er war zu einem Kontrollraum geworden, ähnlich wie das Mission Control Center der SA, das man in alten Filmen über die Mondflüge sah. Nur dass Hiroshi allein vor all den Monitoren saß.
Auf einem Bildschirm sah er den Burntwood Lake im Norden der kanadischen Provinz Saskatchewan. Er ging dabei über ein weitverzweigtes Anonymisierungsnetz verschiedener Server, von denen die meisten nicht in den USA standen; auf diese Weise würde man später nicht feststellen können, dass sein Rechner im fraglichen Zeitraum mit der Webcam des unbekannten Angelfreunds, der sich NorthernLight nannte, verbunden gewesen war. Das war wichtig.
Auf einem zweiten Bildschirm verfolgte er eine grafische Darstellung dessen, was die Naniten, die er losgeschickt hatte, gerade taten. Sie taten eine Menge. Sie hatten sich um das Hundertmilliardenfache vermehrt, ehe sie losgelegt hatten, und nun ging alles ziemlich rapide vor sich. Das zu verfolgen gab ihm eine Vorstellung davon, was sie damals auf Saradkov angestellt haben mussten. Dort war ja auch alles sehr schnell gegangen, den Berichten zufolge. Ihm war das erst übertrieben vorgekommen; er hatte Reproduktions- und Produktionsraten errechnet, die ihm geradezu tollkühn erschienen waren. Doch die Realität, die er nun beobachtete, übertraf selbst das noch einmal.
Das Faszinierendste war, dass er sein Haus überhaupt nicht zu verlassen brauchte. Er hatte sich anfangs allerhand komplizierte Pläne zurechtgelegt, wie er sich wohin begeben und wie er den Umstand, dass er dort gewesen war, verschleiern konnte … Alles nicht nötig. Alles, was er zu tun brauchte, war, einen Metakomplex Naniten mit den richtigen Befehlen zu impfen und sie dann auf den Boden des Labors zu setzen, damit sie sich auf die Reise machten, um sie auszuführen. Und nicht einmal diese Geste wäre notwendig gewesen; sie hätten sich auch direkt aus dem Becherglas, in dem er sie aufbewahrte, auf den Weg machen können. Es gab kein Material, das für Naniten ein Hindernis darstellte. Es bereitete diesen Maschinen keinerlei Probleme, die Atome einer Panzerung, einer Abschirmung, eines elektrisch geladenen Zauns oder was auch immer einzeln zur Seite zu räumen, bis eine Öffnung geschaffen war, die sie passieren konnten, und anschließend die Atome alle wieder an ihren Platz zu setzen. Das war eine Basisroutine der Transportereinheiten; dazu brauchte man ihnen gar keinen gesonderten Befehl zu erteilen.
Das einzige wirkliche Problem war, sie auf ihrem Weg durch Felsen, Erdreich und unter Wasserläufen und Straßen hindurch zu steuern. Die Naniten konnten viel, aber sich an GPS-Signalen orientieren, das konnten sie nun beim besten Willen nicht – das wäre von Robotern, die aus unbekannten Sternentiefen zur Erde gekommen waren, auch ein bisschen viel verlangt gewesen. Also musste Hiroshi sie dirigieren.
Das hatte es erforderlich gemacht, ihre Programmierung ein wenig zu modifizieren. Was wiederum eine gute Übung gewesen war, denn Modifikationen waren für das, was er plante, sowieso in vielerlei Hinsicht notwendig.
Wie konnte er mit dem Komplex in Verbindung bleiben, während dieser unterwegs war? Es wäre per Funk gegangen, klar. Das war sozusagen die Standardmethode der Naniten. Aber damit hätte er riskiert, aufgespürt zu werden – man durfte getrost davon ausgehen, dass die Regierung ihn weiterhin überwachte. Schließlich war Hiroshi auf eine simple, aber verblüffend wirksame Lösung verfallen: Der Metakomplex hinterließ einfach eine Art mikroskopisch dünnes Telefonkabel, das er aus Kupfer- und Eisenatomen zusammenbaute, die er entlang seines Weges fand. Das Kabel war mit einer nanoskopisch kleinen Signaleinheit verbunden, die in Hiroshis Labor zurückblieb. Auf diese Weise genügte es, das auf schwächste Sendeleistung geschaltete Multibandgerät direkt neben den Startpunkt der Naniten zu stellen, um mit dem wandernden Komplex zu kommunizieren, ohne dass irgendjemand etwas davon mitbekam.
Das alles hatte Hiroshi selbstverständlich zuerst ausprobiert. Und selbstverständlich waren die ersten Versuche schiefgegangen; ziemlich schief sogar. Aber irgendwann hatte es zum ersten Mal geklappt: Er hatte einen Nanitenkomplex beauftragt, ans äußerste Ende seines weitläufigen Grundstückes zu wandern und dort einen Würfel aus reinem Eisen zu erbauen. Anschließend war Hiroshi durch seinen Garten spaziert und hatte den Würfel tatsächlich vorgefunden, exakt auf dem Eckpunkt liegend.
Das Weitere war nicht mehr schwierig gewesen. Zwar verfügten die Naniten nicht über ein Erdnavigationssystem, aber dafür waren sie imstande, zurückgelegte Entfernungen und Richtungen auf den Mikrometer präzise zu messen. Alles, was Hiroshi zu tun brauchte, war, die Distanz zwischen seinem Labor und dem Zielgebiet – der Insel im Burntwood Lake – möglichst genau zu bestimmen und den Naniten dann einen Befehl der Art zu erteilen, »geht zunächst 2507 Kilometer, 318 Meter und 12 Zentimeter nach Norden, anschließend 1689 Kilometer, 781 Meter und 3 Zentimeter nach Osten«. Als sie am Ziel angekommen waren, ließ er sie einen langen roten Stab hervorbringen, der aus der Erde ragte: Den hatte er tatsächlich auf dem von der Webcam übertragenen Bild ausgemacht, mitten auf der Insel.
Auf Anhieb ins Schwarze getroffen. Beinahe unheimlich.
Er hatte die Geschwindigkeit, mit der die Naniten sich fortzubewegen imstande waren, nicht ausgereizt. Es war nicht nötig gewesen. Er wusste nicht genau, wie schnell sie hätten dort sein können – innerhalb von ein paar Stunden? –; es hatte ihm genügt, dass sie nach einer Woche am Ziel ankamen.
Das war auch für ihn Zeit genug, sich innerlich auf das vorzubereiten, was danach kam. Denn der nächste Befehl, den er den Naniten erteilte, war der, ein Programm auszuführen, das fertig in ihren Speichern lag, ein Programm, das sie auf die Erde mitgebracht hatten. An dem hatte Hiroshi nichts verändert. Er wollte sehen, wie es unbeeinflusst ablief.
Er vergewisserte sich noch einmal – unnötigerweise –, dass die Aufzeichnung lief, dann gab er den Startbefehl.
Es ging sofort los, mit atemberaubender Geschwindigkeit. Energiefühler senkten sich in die Tiefe, wie sie es auch unterwegs immer wieder getan hatten, wenngleich nie in dieser enormen Anzahl. Die Naniten replizierten sich, der Meta-Komplex wurde zum Meta-Meta-Komplex, zum Meta-Komplex dritter, vierter, bald fünfzigster Ordnung und mehr. Positionierungsbahnen reichten kilometerweit ins Umland, verzweigten sich auf der Suche nach besonders seltenen Mineralien wie feine Wurzeln eines Baumes. Transportereinheiten rasten diese Bahnen entlang, schleppten Prospektorelemente, Schürfer, Cutter und schließlich Molekülstrukturen, die dazu dienten, mit Atomen beladen, woandershin transportiert und dort wieder entladen zu werden, Atom um Atom. Vorräte an allen möglichen Elementen entstanden.
Andere Schürfelemente taten nichts anderes, als ein Loch in die Erde zu graben, das immer tiefer und tiefer wurde. Weitere Naniten zerlegten den Aushub in einzelne Moleküle, die entweder für spätere Verwendung eingelagert oder aber weggeworfen wurden. Erste Bauarbeiten begannen: Schwärme von Naniten ließen einen Strom von Eisen- und Kohlenstoffatomen in Richtung des Loches strömen, die andere Naniten vor Ort zu Ringen aus Stahl zusammensetzten, die das Loch umgaben, Ringe mit einer ausgefeilten inneren Struktur. Andere Naniten bauten Leitungen, riesige Energiespeicher, eigentümliche Steuereinheiten.
Und das Loch, das mitten auf der Insel senkrecht in die Erde führte, wurde immer tiefer. Hundert Meter. Zweihundert. Fünfhundert. Ein Kilometer. Zwei. Drei. Bei einer Tiefe von fünfeinhalb Kilometern hörte der Prozess schließlich auf, eine Bodenplatte entstand, und dann begannen die Lager, die ringsherum angelegt worden waren, zu dieser Bodenplatte zu strömen, um dort Atom für Atom zu einer Rakete zusammengesetzt zu werden, die eine Sonde voller Naniten in den Weltraum befördern würde.
Derweil luden die energieerzeugenden Komplexelemente die Speicher weiter voll, füllten sie bis zum Bersten mit Energie.
Hiroshi verfolgte fasziniert das Entstehen der Rakete, studierte die konstruktiven Einzelheiten, staunte über Sinn und Zweck von fast allen Details, die er sah. Die Aufzeichnung lief, ein Glück. Denn diese Maschine bot mehr technische Rätsel pro Kubikzentimeter, als ein einzelner Mensch im Lauf seines Lebens würde entschlüsseln können.
Kein großes Rätsel war dagegen die Konstruktion des Schachtes selber: ein simpler Linearmotor. Eine rasche Abfolge magnetischer Felder würde die Rakete in die Höhe befördern und beschleunigen, mit Werten, die kein lebendes Wesen ausgehalten hätte, was aber, da sich kein lebendes Wesen an Bord befinden würde, kein Problem war. Die Rakete würde die Schachtöffnung mit dreifacher Schallgeschwindigkeit verlassen, dann den Raketenmotor zünden, der sie weiter beschleunigen würde, und bereits nach weniger als zwei Minuten im Weltraum sein.
Und so, wie es aussah, war es nicht mehr lange hin bis zum Start.
In diesem Moment blinkte es auf dem dritten Bildschirm. Dort lief ein simples Messaging-Programm, das mit einem kleinen Rechner in der Küche verbunden war und über das ihm Mrs Steel, sollte es absolut unabdingbar sein, Nachrichten zukommen lassen konnte.
Mr Kato, Sie haben Besuch. Eine Mrs Malroux ist soeben eingetroffen und fragt, ob Sie zu sprechen sind.
»Eigentlich«, sagte die stämmige Haushälterin mit den blonden Locken, die ihr am Kopf saßen wie festbetoniert, »soll ich ihn überhaupt nicht stören. Nur im Notfall, hat er gesagt. Nur wenn es brennt, jemand verletzt ist, die Polizei kommt oder der Präsident anruft. Das hat er wortwörtlich so gesagt. Weil er gerade an einer sehr wichtigen Arbeit ist, bei der jede Unterbrechung bedeuten kann, dass alles umsonst war.« Sie stand immer noch über den kleinen weißen Laptop gebeugt, der auf einem zusammengefalteten Geschirrtuch auf der Arbeitsfläche ruhte, neben einem Sortiment verschieden großer Pfeffermühlen. Hinter der Nachricht, die sie geschrieben hatte, blinkte der Cursor. »Aber Sie waren ja schon mal hier. Ich denke, er würde nicht wollen, dass ich Sie einfach wieder wegschicke.«
Ja, dachte Charlotte, hoffentlich war es so. Sie ließ sich auf dem Barhocker an der Küchentheke nieder, vor der Tasse Kaffee, die Mrs Steel ihr hingestellt hatte. Unwillkürlich tat sie es behutsam, so, als könne alles scheitern, wenn sie unbotmäßigen Lärm machte oder sonst irgendwie unangenehm auffiel.
Aber wahrscheinlich würde Hiroshi tatsächlich nicht wollen, dass man sie einfach wieder wegschickte. Das war ein Gedanke, an den man sich klammern konnte.
Unterwegs hatte sie überlegt anzurufen. Zu fragen, ob es ihm recht war, wenn sie kam. Sie hatte es aber nicht fertiggebracht, aus einer plötzlichen Angst heraus, er könnte Nein sagen, und dann? So war sie unangekündigt gekommen, in der Hoffnung, dass er weniger leicht Nein sagen würde, wenn sie vor ihm stand.
Letztlich hatte es nichts geholfen. Nun war sie noch weniger als ein Telefonanruf: eine Textnachricht. Eine E-Mail von der Küche in sein Arbeitszimmer.
Mrs Steels Finger klopften ungeduldig auf der Marmorplatte. Sie wartete auf Antwort, aber außerdem, merkte Charlotte plötzlich, wusste sie nicht, was sie nun machen sollte. Wahrscheinlich war sie gerade mit irgendwelchen Hausarbeiten beschäftigt gewesen, und nun saß unangemeldeter Besuch in ihrer Küche, und sie konnte nicht weitermachen.
»Was ist denn das für eine sehr wichtige Arbeit?«, fragte Charlotte, obwohl ihr klar war, dass die Haushälterin ihr das nicht sagen würde. Es war auch nicht nötig, sie konnte es sich denken: Auf Saradkov hatte Hiroshi Nano-Roboter in Aktion gesehen, von denen er ihr kurz vorher noch erzählt hatte, dass es unmöglich sei, sie zu bauen. Logisch, dass er nun herausfinden wollte, wie es doch ging.
»Das weiß ich nicht«, sagte Mrs Steel. »Ich weiß nur, dass er Tag und Nacht arbeitet. So schlimm war es noch nie. Niemand darf zu ihm rein, alles ist abgeschirmt, ich darf keine Türen mehr öffnen, darf fast nirgendwo sauber machen …« Sie zog ein Tuch hervor und wischte damit über die Arbeitsfläche, eine völlig überflüssige Maßnahme. »Und dann dieser Wachdienst, der jetzt ständig um das Haus patrouilliert. Da drüben, sehen Sie? Die beiden Männer mit den Gewehren und dem Hund? Die gehören dazu. Ach, Sie haben’s ja erlebt, als Sie gekommen sind. Zum Fürchten, oder?«
Charlotte zuckte mit den Achseln. Solche Sicherheitsmaßnahmen war sie mehr oder weniger seit ihrer Kindheit gewohnt. »Sie tun nur ihren Job.«
»Ja, sicher. Aber so bewaffnet, wie die sind – ich sag’s Ihnen, mir wird immer ganz anders. Die lassen mich auch nicht einfach passieren, wenn ich vom Einkaufen komme! Die überprüfen jedes Mal meinen Wagen! Weil ja irgendjemand irgendwas damit einschmuggeln könnte, eine Bombe oder ein Abhörgerät, keine Ahnung. Mister Kato hat seit seiner Rückkehr große Sorge, dass man ihn abhört.« Sie seufzte. »Er kommt zu den unmöglichsten Zeiten zum Vorschein und hat immer Hunger wie ein Wolf – kein Wunder! Ich mache ihm schnell etwas, er schlingt es herunter – tut mir leid, aber anders kann man’s nicht sagen –, und dann verschwindet er wieder. So geht das, seit er wieder da ist. Ich meine, ich bin ja schon froh, dass er überhaupt ans Essen denkt, aber gesund … gesund ist das nicht, so eine Lebensweise.«
»Er war schon immer etwas extrem«, meinte Charlotte und musste an die Zeit in Tokio denken. Wie sie ihn einmal zu Hause besucht hatte. Sein penibel aufgeräumter, winziger Zimmerteil, die vielen Werkzeuge überall.
Und das Zimmer im Studentenwohnheim. Diese geradezu klösterliche Kargheit. Daran hatte sie in letzter Zeit oft denken müssen.
Daran und an die Hartnäckigkeit, mit der er sie umworben hatte. An die merkwürdige Art, auf die er es getan hatte. Nein, Hiroshi war definitiv kein Mann wie jeder andere.
Mrs Steel pilgerte zurück zu dem kleinen weißen Laptop, der aussah wie ein Spielzeug. Offenbar immer noch keine Antwort. »Vielleicht schläft er«, sagte sie. »Irgendwann muss er ja auch mal schlafen.«
Charlotte nickte nur, nippte an dem Kaffee.
Sie hatte es nie ernst genommen, wenn er darauf beharrt hatte, es sei Schicksal, dass sie einander immer wieder begegneten. Wenn er behauptet hatte, dass sie füreinander bestimmt seien. So etwas hatte sie schon seit jeher für Gerede gehalten, wie es Männer eben von sich gaben, weil sie glaubten, einen damit leichter ins Bett zu kriegen.
Wobei – in Hiroshis Fall hatte sie noch nicht einmal das gedacht. Schließlich war sie es gewesen, die ihn ins Bett gezerrt hatte. Und er war es gewesen, dem das nicht genügt hatte.
Ach, sie wusste nicht, was sie denken sollte! Zum ersten Mal in all den Jahren fragte sie sich, ob Hiroshi womöglich recht hatte. Ob sie tatsächlich füreinander bestimmt sein mochten, auf irgendeine, vielleicht auch auf eine nicht ganz so romantische Weise. Ob sie mehr füreinander sein konnten als nur Freunde aus Kindertagen. Sie hatte eine Beziehung mit Hiroshi nie ernsthaft erwogen; es war ihr immer, wenn er davon angefangen hatte, wie eine unsinnige Idee vorgekommen, näherer Betrachtung nicht wert …
Nun versuchte sie zum ersten Mal, sich das vorzustellen. Fragte sich, wie eine solche Beziehung aussehen mochte. Wie sie leben würden. Ob sie Kinder haben würden … Kinder! Dass sie überhaupt darüber nachdachte, Kinder zu haben, wunderte sie selber am meisten.
Wie lebte eine Frau an der Seite eines Erfinders? Das war die Frage, und ob sie so ein Leben wollte. Ob sie es ertragen würde. Das wusste sie nicht.
»Da«, entfuhr es Mrs Steel. »Eine Antwort.«
Es waren nur zwei Worte: Nicht jetzt.
Zwei Worte wie ein Schlag ins Gesicht. Charlotte hatte das Gefühl, rot anzulaufen. Auf einmal kamen ihr all ihre Überlegungen, Hoffnungen, Fragen unendlich lächerlich vor.
Wie lange konnte man einen Mann hinhalten, ehe er aufgab? Wie oft durfte man ihm andere vorziehen, ehe er Konsequenzen zog? Plötzlich war sie sich sicher, dass es Reykjavík gewesen war, wo sie den Bogen überspannt hatte. Dass sie aus Island geflohen war, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, noch einmal mit Hiroshi zu reden, das verzieh er ihr nicht.
»Tja«, sagte sie. Ihre Stimme klang fremd in ihren eigenen Ohren. »Damit muss man rechnen, wenn man unangemeldet kommt. Na, vielleicht klappt es ein andermal.« Sie hatte das Gefühl, dass das Lächeln, das sie auf ihr Gesicht zwang, zu einer Fratze versteinerte.
»Wollen Sie ihm eine Nachricht dalassen?«, bot die Haushälterin an, die ganz konsterniert schien. »Ich kann Ihnen was zu schreiben geben, einen Briefumschlag –«
»Nein. Danke. Ich glaube, das … hat sich erledigt.« Charlotte sah auf die Uhr, zog die Schlüssel des Wagens aus der Tasche, den sie in San Francisco gemietet hatte. »Wenn ich mich beeile, kriege ich noch die Abendmaschine nach Boston.«
Boston. Wo sie auch nicht wusste, was sie dort sollte.
Dass da eine Nachricht blinkte, hatte Hiroshi erst gar nicht bemerkt. Sie ungelesen wegzuklicken, eine rasche Antwort zu tippen, die weitere Störungen unterband, und sich wieder dem Geschehen in den Tiefen unter dem Burntwood Lake zuzuwenden war eine einzige, blitzschnelle Bewegung.
Jetzt – das musste die Startsequenz sein! Die letzten Halterungen lösten sich auf. Gleich würde der Flugkörper frei im Magnetfeld hängen. Und bestimmt nicht lange, denn die Energiespeicher waren nicht unerschöpflich …
Da! Beschleunigung. Man konnte förmlich sehen, wie die Speicher ihren kompletten Energievorrat mit zwei, drei konvulsivischen Zuckungen in die Feldspulen ergossen und damit die Rakete aus dem Schacht trieben, sie Richtung Himmel katapultierten. Unglaublich, wie schnell das Ding wurde! Mach eins – der Überschallknall musste die gesamte Anlage bis in die Grundfesten erschüttern. Mach zwei – drei – und draußen. Zündung. Hiroshi hielt den Atem an. Auf einmal dehnten sich die Sekunden endlos. Aber es schienen keine Abwehrraketen aufzusteigen, nichts, was den Flug der Rakete hinderte. Hundert Kilometer Höhe … zweihundert, immer noch beschleunigend … vierhundert. Damit konnte er den Weltraum als erreicht betrachten.
Die Funksignale, die die Rakete an die Basis durchgab und die Basis über die zweitausend Kilometer lange, mikroskopisch dünne Datenleitung an ihn, wurden schwächer, fielen sekundenweise aus. Hiroshi verfolgte den Kurs mit steinernem Gesicht. Jetzt kam ein Punkt, an dem er in die Programmierung eingegriffen hatte. Jetzt entschied es sich …
Ja. Die Rakete änderte ihren Kurs. Sie schwenkte um wenige Grad, aber das würde genügen, dass sie in der Planetenebene blieb und in Richtung Jupiter weiterflog. Genau, wie er es gewollt hatte.
Tiefe Befriedigung und tiefe Erschöpfung mischten sich, als Hiroshi die Basis anwies, die Funkverbindung zu der Rakete zu beenden. Als das geschehen war, löste er den Kill-Befehl aus, der die Naniten dazu veranlassen würde, zuerst die gesamte Konstruktion der Startbasis zu zerlegen, dann die bis zu ihm führende Datenleitung und schließlich einander, bis nichts mehr von allem übrig war.
Er wartete nicht, bis das alles erledigt war, sondern beendete die Verbindung, auch die zu der Webcam. Er ließ sich zurück in seinen Sessel sinken, massierte sich die Schläfen. Erst jetzt kam ihm zu Bewusstsein, mit welcher Anspannung er das alles verfolgt hatte.
Dabei war das erst der Anfang. Die wirklichen Herausforderungen lagen noch vor ihm.
Anders als der Vorfall im russischen Polarmeer blieb dieser Raketenstart von der Öffentlichkeit nicht unbemerkt. Im Gegenteil – dafür, dass er sich in einer der abgeschiedensten Regionen Amerikas ereignet hatte, hatten ihn erstaunlich viele Menschen mitbekommen. Es tauchte sogar ein wackeliges Video auf, das jemand mit seinem Mobiltelefon aufgenommen hatte. Es zeigte, wie die Rakete in den Himmel stieg, angetrieben von einem Feuerstrahl, der deutlich anders aussah als der aller anderen Raketen, die man ansonsten bisher im Fernsehen gezeigt bekommen hatte. Natürlich hatte der Besitzer der Webcam den Polizeibehörden den Inhalt seines Servers zur Verfügung stellen müssen. Die Protokolldateien würden zur Stunde ausgewertet, hieß es in den Nachrichten bedeutungsvoll, während man in extremer Zeitlupe sah, wie die Rakete aus dem Loch geschossen kam: Bilder, auf denen man eigentlich nichts sah außer einem unscharfen zylindrischen Umriss, der auftauchte und wieder verschwand.
Aufnahmen des Burntwood Lakes zeigten die Verwüstungen, die dieser Start angerichtet hatte. Das Startloch hatte bei seinem Einsturz nicht nur die Insel mit sich in die Tiefe gerissen, sondern auch das gesamte Wasser des Sees; die Hubschrauber der großen Nachrichtennetze kreisten über Schlamm und toten Fischen. Der kanadische Premierminister verurteilte den Vorfall, mit dem seine Regierung, das betonte er mehrmals, nicht das Geringste zu tun habe. Er erklärte, man werde alle Anstrengungen unternehmen, um den Fall aufzuklären und zu ahnden. Ein Kommentator stellte allerdings die Frage in den Raum, auf welcher gesetzlichen Grundlage man die Verantwortlichen überhaupt belangen wolle: Der Start von Raumfahrzeugen durch Privatleute war in Kanada schließlich nicht verboten, wenn auch eher aus bislang mangelnder Notwendigkeit denn aus grundsätzlichen rechtlichen Erwägungen heraus. Im Grunde blieb nur der Vorwurf der Sachbeschädigung, doch die musste man erst mal beweisen. Der Burntwood Lake lag nicht einmal in einem Naturschutzgebiet, sodass die dafür geltenden Bestimmungen nicht anwendbar waren.
In einer Stellungnahme sicherte der amerikanische Präsident seinem kanadischen Amtskollegen seine volle Unterstützung bei der Suche nach den Urhebern dieses »subversiven Aktes«, wie er es nannte, zu. Man werde es nicht dulden, erklärte er mit demonstrativer Entschlossenheit, dass der amerikanische Kontinent zum Ausgangspunkt von Aktionen werde, die geeignet seien, den Weltfrieden zu gefährden.
Es überraschte Hiroshi nicht, dass sie schon am nächsten Tag vor seiner Tür standen: ein grimmig dreinblickender, pferdegesichtiger Mann namens Elmer Garrett, den Hiroshi noch aus Reykjavík kannte – Garrett hatte ihn mehrmals in Vertretung des Senators befragt –, zwei Begleiter, deren Namen zu merken sich Hiroshi ersparte, sowie John Takeishi, der junge Anwalt, der lieber Jazz-Klarinettist gewesen wäre. Er habe vielleicht gehört, dass sich in Kanada ein ganz ähnlicher Vorfall wie auf der russischen Polarinsel ereignet habe. Sie hätten dazu ein paar Fragen.
Hiroshi bat sie herein und bestätigte, dass er das mit dem Vorfall in Kanada mitbekommen habe.
»Was wissen Sie darüber?«, fragte Garrett, auf dessen Visitenkarte die Berufsbezeichnung »Sonderermittler« stand.
»Was ich im Fernsehen gesehen habe«, erwiderte Hiroshi. »Und auf den Filmchen, die im Internet kursieren.«
»Was denken Sie darüber?«
Hiroshi hob die Schultern. »Sieht so aus, als hätten noch mehr außerirdische Sonden geschlafen, würde ich sagen.«
Sie nickten alle. Offenbar war ihnen dieser Gedanke selber schon gekommen. So originell war er ja auch nicht.
»Darf ich erfahren, wo Sie in der fraglichen Zeit gewesen sind?«, fragte Garrett weiter und zückte einen kleinen Notizblock, was irgendwie aussah, als spiele er eine Humphrey-Bogart-Szene nach.
»Hier«, erklärte Hiroshi wahrheitsgemäß. »Ich gehe zurzeit nirgendwo hin.«
Das notierte sich Garrett. »Und kann das jemand bestätigen?«
»Meine Haushälterin.«
3
»Angenommen«, sagte Adamson, »es war Hiroshi Kato, der den Vorfall in Saskatchewan ausgelöst hat?«
Es war das falsche Argument zur falschen Zeit, das merkte er in dem Moment, in dem er es aussprach. Und es war auch keine gute Idee gewesen, seiner Chefin in der Eingangshalle aufzulauern, so entgeistert, ja, regelrecht erschrocken, wie Roberta Jacobs ihn ansah. Als hätte er versucht, sie zu vergewaltigen.
»Bill!« Ein ganzes Kompendium ablehnender Gefühle drückte sich in der Art aus, wie sie seinen Namen … nun ja, ausspuckte. »Haben Sie nicht allmählich selber das Gefühl, dass dieser Mann eine fixe Idee bei Ihnen ist?«
»Bei den Russen hat er so ein Ding zum Stehen gebracht. Wer das kann, kann vielleicht auch eines zum Laufen bringen.«
Sie hatte sich wieder gefangen. Und begann allmählich böse zu werden. »Hiroshi Kato«, sagte sie, jedes Wort scharf akzentuierend, »hat ausgesagt, dass er nicht weiß, was die außerirdische Sonde zum Stillstand gebracht hat. Die Analyse der Funksignale, die er gesendet und empfangen hat, stützt diese Aussage. Auf der Insel ist es ihm gelungen, die Selbstvernichtung der Maschinen auszulösen, richtig. Aber er hat uns und den Russen den entsprechenden Befehlscode zur Verfügung gestellt, für den Fall, dass weitere Sonden aktiv werden sollten. Und was Mister Kato ansonsten kann oder nicht, würde ich mir wünschen, dass Sie sich an die Fakten halten, anstatt Ihre Fantasie mit Ihnen durchgehen zu lassen. Der Stand seiner Forschungen ist von Spezialisten überprüft worden.«
»Was heißt das? Was für Spezialisten?«
»Spezialisten vom CIA, die den kompletten Datenbestand seiner Computer sichergestellt haben. Anerkannte Fachleute im Bereich der Nanotechnologie, die diese Daten gesichtet haben. Reicht Ihnen das?«
Adamson schluckte. »Ich bin mir sicher, dass–«
»Und alle anderen sind sich sicher, dass nicht«, schnitt ihm Jacobs das Wort ab. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, Mister Adamson, ich habe einen Termin.«
Damit ging sie straffen Schrittes Richtung Ausgang. Adamson sah ihr nach. Er konnte vermutlich von Glück reden, in einer Behörde angestellt zu sein; in einem Unternehmen hätte man ihn spätestens jetzt gefeuert.
Doch ganz folgenlos blieb sein Verhalten trotzdem nicht. Zwei Tage später teilte man ihm mit, dass er in eine andere Abteilung versetzt werde. Mit sofortiger Wirkung.
»Konzepte für Weltraumkolonisation!« Als Adamson an diesem Abend bei seinem Schwager im Wohnzimmer saß, konnte er es immer noch nicht fassen. »Ich wusste nicht mal, dass die DARPA sich mit so einem Blödsinn beschäftigt. Und jetzt bin ich dafür verantwortlich!«
Mitch Jensen runzelte die Stirn. »Weltraum? Ist das nicht Sache der NASA?«
»Sollte man meinen, nicht wahr?« Adamson nahm einen Schluck aus der Dose Bud in seiner Hand, der zu warm war, um wirklich zu schmecken. »Sie hätten es auch gleich Beschäftigungstherapie nennen können. Mich Sand von einer Ecke des Innenhofs in die andere karren lassen und wieder zurück.«
Im Fernsehen lief CNN. Der Ton war abgedreht, aber die Bilder sprachen für sich. Es ging immer noch um den zerstörten See in Nord-Saskatchewan.
»Ich wette, dass Kato uns reingelegt hat«, erklärte Mitch Jensen mit einer Bewegung des Kinns in Richtung Glotze. »Er weiß mehr, als er uns glauben macht. Die Daten auf seinen Computern – das war ein Fake, wenn du mich fragst.« Er leerte seine Dose, zerknüllte sie in der Hand. »Bloß fragt mich ja keiner.«
»Überwacht ihr ihn noch?«
Mitch schüttelte langsam den Kopf. »Mister Hiroshi Kato ist offiziell von der Liste der verdächtigen Subjekte gestrichen. Großes Rundschreiben an alle involvierten Abteilungen. Der Präsident hält seine schützende Hand über ihn. Man denkt darüber nach, welche Medaille man ihm verleihen könnte für sein Eingreifen auf Saradkov Island.« Er hob die Dose an, zielte und beförderte sie mit einem sicheren Wurf in einen Karton, der neben dem Fernseher stand. »Der Herr ist sakrosankt. Heilig gesprochen. Der hat nichts mehr zu befürchten.«
Jeffrey Coldwell wusste noch nicht, was er von alldem hier halten sollte. Er wusste nicht mal so recht, wohin er schauen sollte.
Da war einerseits dieses Blatt Papier vor ihm auf dem Tisch. Ein Anstellungsvertrag, in dem unter der Rubrik Gehalt eine Zahl stand, die ungefähr das Fünffache seines derzeitigen Jahresgehalts betrug. Das Fünffache! Das würde das Ende der Durststrecke bedeuten, die er seit Larry Gus Tod und seiner Entlassung bei Gu Enterprises durchmachte.
Natürlich war es keine Entlassung gewesen. Selbst die Parteibonzen der KP wussten, dass so etwas schlecht aussah. Sie wussten allerdings auch, wie man jemandem überzeugend nahelegt, von sich aus zu kündigen.
Sie hatten ihr Anwesen aufgeben müssen, und natürlich hatten sie viel zu wenig dafür bekommen, wie immer, wenn man dringend verkaufen musste. Dann hatte sich Nancy von ihm scheiden lassen, und dafür war das Geld dann vollends draufgegangen. Drauf geschissen – sie war ohnehin viel zu jung für ihn gewesen. Aber hinterher hatte er annehmen müssen, was sich ihm an Jobs bot, und das waren alles andere als Traumjobs gewesen. Ein Karriereknick wie im Lehrbuch. Mit verdammt schlechter Prognose. Dieser Vertrag war die Chance, zurück in den grünen Bereich zu kommen. Alles noch mal herumzureißen. Sich aus der Scheiße rauszuarbeiten.
Deswegen musste er immer wieder diese Zahl anstarren.
Er musste allerdings auch immer wieder den Mann anstarren, der auf der anderen Seite des Schreibtisches saß. Dieses unglaublich hässlichen Schreibtisches aus Stahl und Glas, der in das naturholzverkleidete Büro ungefähr so gut hineinpasste wie ein Düsenjäger in einen Bioladen.
Natürlich hatte Coldwell sich über James Bennett III. kundig gemacht, ehe er in das Flugzeug nach Boston gestiegen war. Eine halbe Stunde im Internet genügte, um mehr Bilder von glanzvollen Empfängen, eleganten Parties und anderen gesellschaftlichen Anlässen zu finden, als man sehen wollte. Den jungen Mann, der auf diesen Bildern abgebildet war, konnte man nur als Adonis bezeichnen: unglaublich gut aussehend, das amerikanische Urbild des Gewinners geradezu verkörpernd.
Immer wieder erstaunlich, was moderne Bildverarbeitungssoftware leistet. Das war sein erster Gedanke gewesen, als er dem frischgebackenen Konzernchef schließlich die Hand geschüttelte hatte. Der James Bennett III., den er getroffen hatte, wirkte wie ein Zerrbild jener Fotografien: aufgedunsen von zu viel Alkohol, irgendwie schief und unharmonisch verformt, die Haare dünn werdend und glanzlos, der Blick der Augen unstet. Alles andere als sympathisch, kurz gesagt.
Andererseits war da diese Zahl auf dem Vertrag. Er musste nicht unbedingt aus Sympathie für jemanden arbeiten. Für seinen momentanen Arbeitgeber arbeitete er auch nicht aus reiner Liebe.
Er räusperte sich, nachdem Bennett damit fertig war, ihm zu erzählen, worum es ging. »Also, um offen zu sein, Mister Bennett, ich habe vor meinem Ausscheiden bei Gu Enterprises eine Stillschweigevereinbarung unterschrieben. Streng genommen dürfte ich das, was Sie mir gerade erzählt haben, nicht mal kommentieren.«
Bennett hob die Augenbrauen, was fast filmreif verächtlich aussah. »Glauben Sie allen Ernstes, die Kommunistische Partei Chinas wird Anwälte schicken und Sie vor ein amerikanisches Gericht zerren, wenn Sie’s tun?«
»Keine Anwälte. Sie würden Killer schicken.«
»Verstehe.« Bennett spielte mit dem platinbeschichteten Kugelschreiber, mit dem er diese faszinierende Zahl in den Anstellungsvertrag geschrieben hatte. »Eigentlich interessiert mich auch nicht, was Mister Kato damals in Hongkong gemacht hat. Mich interessiert, was er heute macht. Das dürfte Ihre Stillschweigevereinbarung nach meinem Verständnis nicht berühren, oder?«
»Sehe ich genauso.« Coldwell nickte. Er hatte das sowieso nur gesagt, um zu signalisieren, dass er wusste, was Stillschweigen bedeutete, und dass er damit umgehen konnte.
In Wirklichkeit machte er sich keine Sorgen, dass die chinesische Regierung ihm Killer auf den Hals schickte. Dazu war er erstens ein viel zu kleiner Fisch, und zweitens war er schon mit ganz anderen Dingen fertig geworden. Seine Anfangsjahre in Hongkong waren nicht gerade ein Zuckerschlecken gewesen. Er hatte Stress mit den Triaden gehabt. Einmal hatte er sich in letzter Sekunde aus einem Auto werfen können, ehe ein Kugelhagel es in ein Nudelsieb verwandelte. Probleme zu lösen, indem man die richtige Anzahl Geldscheine in die richtigen Hände drückte, war ihm vertraut. Dass diese Art der Problemlösung es manchmal mit sich brachte, dass derjenige, der die Probleme verursacht hatte, auf unerwartete Weise zu Tode kam – damit hatte er zu leben gelernt.
»Was ist meine Rolle?«, fragte er. »Was würde ich konkret tun?«
Bennett schien auf diese Frage gewartet zu haben. »Sie würden eine eigene Abteilung aufbauen. Außerhalb der übrigen Organisation, allein mir rechenschaftspflichtig. Sie bekämen ein ausreichend großes Budget, über das Sie frei verfügen können. Und Stillschweigen wäre natürlich auch etwas, das ich erwarte. Aber vor allem, Mister Coldwell … Jeff … erwarte ich, dass Sie mir bringen, woran Hiroshi Kato arbeitet. Wenn’s geht, auch ihn selber. Ich will die Kontrolle über alles, was er entwickelt. Nicht mehr und nicht weniger. Und ich sag es mal so – es ist mir lieber, er arbeitet überhaupt nicht mehr, als dass er für jemand anderen arbeitet. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Durchaus.« Coldwell nickte langsam, ließ sich das durch den Kopf gehen. In früheren Zeiten hatte man in solchen Fällen Dead Or Alive auf Steckbriefe gedruckt. »Es könnten, sagen wir, unkonventionelle Vorgehensweisen erforderlich sein, um das zu erreichen.«
Bennett verzog das Gesicht zu einem Haifischlächeln. »Davon darf ich offiziell nichts wissen. Ich werde Ihnen allerdings auch nicht auf die Finger schauen.« Das Haifischlächeln wurde einen Zahn breiter. »Soweit ich weiß, haben Sie mit unkonventionellen Vorgehensweisen ja einige Erfahrungen sammeln können im Lauf Ihrer Karriere.«
Coldwell hob die Augenbrauen. »Es wundert mich, dass Sie davon wissen.«
»Ich habe meine Quellen«, sagte der andere. Es klang ein wenig seltsam, wie er es sagte. Beinahe schmierig.
Drauf geschissen. »Einverstanden«, sagte Coldwell und zog den Vertrag zu sich heran. Dass Bennett ihm seinen platinbeschichteten Kugelschreiber für die Unterschrift reichte, wertete er als gutes Omen.
Es dauerte drei Wochen, ein gutes Team zusammenzustellen, die nötigen Informationen zu beschaffen und einen Plan auszuarbeiten. Es dauerte noch einmal drei Wochen, alles einzuüben und vorzubereiten, dann bezog die erste Gruppe Position in den Pinienwäldern unweit des Anwesens, in dem Hiroshi Kato lebte, und richtete ihre Ferngläser auf das weitläufige Haus.
»Das Haus hat mal einem Countrysänger gehört. Ziemlich berühmt«, wusste einer der Männer, während sein verstärkter Blick über undurchdringliche Fenster, verschlossene Terrassentüren und einen unbenutzt daliegenden Pool wanderte.
»Ehrlich? Wem?«, wollte der neben ihm wissen.
»Ich komm grad nicht auf den Namen.« Er setzte das Fernglas ab. »Bob, wie hieß der Sänger, der He’s Got The Whole World In His Hand gesungen hat? Mit diesem Steel-Guitar-Intro?« Er versuchte, den Klang einer Steel-Guitar nachzumachen, ließ es aber lieber wieder. »War ein Riesenhit vor … puh, zwanzig Jahren oder so.«
»Johnny … Johnny Irgendwie. Ich weiß, wen du meinst«, sagte der Mann, den er Bob genannt hatte. »Der hat hier gewohnt?«
»Yep.«
»Cool.«
Sie beobachteten das Haus, bis sie den Tagesablauf kannten, bis sie wussten, wann der Gärtner kam und ging, um wie viel Uhr die Wachleute Pause machten (natürlich hatten die Wachleute Anweisung, nicht immer zur gleichen Zeit Pause zu machen, und natürlich hielten sie sich nicht daran) und wann sie abgelöst wurden. Sie beobachteten einen mageren kleinen Japaner, der einmal herauskam, mit dem Gärtner sprach und wieder im Haus verschwand: Es war der Mann von den Fotos, die sie studiert hatten. Als sie beobachteten, dass die Haushälterin, eine ältere Frau mit blonden, weithin leuchtenden Haaren, fortfuhr, um nicht zurückzukommen, gaben sie diese Information an die zweite Gruppe weiter. Die fand heraus, dass die Haushälterin, Patricia Steel, ihre Schwester Barbara besuchte, wohnhaft in Sacramento und verheiratet mit einem Lebensmittelhändler, der Obst und Gemüse aus biologischem Anbau vertrieb.
»Okay, ein Zeuge weniger«, sagte Coldwell, als er über die aktuelle Situation informiert wurde. »Dann zieht es durch.«
Am nächsten Morgen erlebten die Wachleute der Nachtschicht eine unangenehme Überraschung, als die beiden Wagen mit der Ablösung kamen. Beide Fahrzeuge waren schwarz lackiert, hatten dunkel getönte Scheiben und das Logo von J. Irons Security, Inc. auf den Türen. Auch die Uniformen der Männer, die ausstiegen, sahen vertraut aus. Doch die Männer trugen Silikonmasken mit den Gesichtern der letzten Präsidentschaftskandidaten, erschossen sofort alle Hunde und richteten ihre Waffen anschließend auf sie. Keine zehn Minuten später saß die Nachtschicht gefesselt und mit verbundenen Augen im Gärtnerschuppen.
Die falschen Wachleute marschierten zum Haus. Sie wussten, dass es eine Alarmanlage gab, und auch, wie man sie ausschaltete. Ein paar von ihnen bezogen rings um das Haus Stellung, die anderen brachen die Türe auf, was mit dem Werkzeug, das sie dabeihatten, nur wenige Sekunden dauerte.
Dann waren sie es, die eine unangenehme Überraschung erlebten: Das Haus war leer.
Es war geradezu unheimlich leer. In den meisten der zahllosen Zimmer standen überhaupt keine Möbel. Sie fanden ein Zimmer, in dem eine Matratze mit einem dünnen Deckbett auf dem Boden lag, ein anderes, in dem nur ein Sessel stand. Einzig die Küche und das daran anschließende Esszimmer waren einigermaßen normal eingerichtet.
Schließlich, in der am weitesten vom Eingang entfernten Ecke des Hauses, gelangten sie in einen großen Raum mit einem grandiosen Blick über den Garten und das Tal dahinter. Einige Tische waren zu einem U zusammengestellt. Mitten auf der Tischplatte lagen ein paar kleine graue Plastikteile, die sich bei genauerem Hinsehen als Tasten einer Computertastatur entpuppten. Jemand hatte sie so nebeneinandergelegt, dass sie zwei Worte bildeten:
FUCK YO*
Rodney Alvarez sah auf die Uhr. Mitternacht vorbei. Schon wieder. Wenn Allison nicht da war – sie besuchte eine Freundin in Phoenix –, fand er einfach nicht ins Bett, egal wie fest er es sich vornahm. Nur noch diese Website, hatte er sich vor gefühlten zehn Minuten gesagt, aber die hatte zur nächsten geführt und zur übernächsten … Morgen im Büro würde er sich wieder den Kiefer brechen vor lauter Gähnen.
Genug jetzt. Mit einer entschlossenen Bewegung schickte er seinen Computer schlafen und stand auf. Er dehnte die Schultern, dachte mit Unbehagen daran, dass er auch vergessen hatte, die Spülmaschine auszuräumen. Er erwog, es auf den nächsten Morgen zu verschieben. Keine gute Idee: Morgens war die Zeit ohnehin knapp und er normalerweise halb verschlafen und zu nichts zu gebrauchen. Andererseits würde Allison zurück sein, ehe er aus dem Büro kam …
Also doch noch schnell. Er tappte in die Küche, öffnete die Maschine. Es roch sauber, aber kalt. Erster Handgriff: Alle Löffel aus dem Besteckfach klauben, rüber damit zur Besteckschublade neben dem Herd.
Als er gerade sämtliche Messer in der Hand hatte, klingelte es an der Tür.
Um zehn vor eins? Rodney ging leise in den Flur, spähte durch den Spion.
Es war Hiroshi.
Was war denn jetzt los? Rodney öffnete. »Denkst du nicht, dass das eine seltsame Uhrzeit ist, um redlich arbeitende Bürger zu belästigen?«
Hiroshi lächelte nur dünn. »Denkst du nicht, dass das eine seltsame Weise ist, einen alten Freund zu empfangen?« Er deutete auf die Messer, die Rodney immer noch in der Hand hielt wie einen Blumenstrauß.
»Letzte Aufräumarbeiten«, sagte Rodney und stieß die Tür ganz auf. »Ich wollte grade ins Bett. Komm rein. Lange nicht gesehen.«
Hiroshi trat ein, mit diesen knappen, sparsamen Schritten, die für ihn typisch waren und die Rodney immer an diese alten Samurai-Filme denken ließen. Er trug eine kleine Umhängetasche bei sich. Und er wirkte irgendwie … heimatlos. Rodney hätte es nicht anders ausdrücken können, und er wusste auch nicht, wie er zu diesem Eindruck kam, aber so war es.
»Ja«, sagte Hiroshi. »Lange nicht gesehen. Und das letzte Mal sind wir etwas rüde unterbrochen worden.«
»Stimmt.« Rodney hatte ein schlechtes Gewissen, weil er auf Hiroshis Mail, dass er wieder zu Hause sei, zwar kurz geantwortet, aber den versprochenen Telefonanruf immer vor sich hergeschoben und schließlich vergessen hatte. »Die Herren von der Regierung, die es so dringlich hatten. War es was Ernstes?«
Hiroshi nickte. »War es.«
»Wow.« Rodney sah sich um. Ein Glück, dass er heute schon ein bisschen aufgeräumt hatte, damit Allison nicht schreiend die Flucht ergriff, sobald sie zurückkam. Aber natürlich kein Vergleich mit dem Zustand der Wohnung, wenn sie das Kommando hatte … »Komm ins Wohnzimmer. Soll ich uns was machen? Einen Kaffee? Tee? Oder willst du ein Bier?« Er ging voraus, machte das Licht an. Sah tatsächlich nicht allzu schlimm aus hier.
»Nichts. Danke.« Hiroshi setzte sich aufs Sofa, legte seine Umhängetasche neben sich. »Ich bleib sowieso nicht lange.«
»Du, kein Problem, ein Handgriff, und das Gästebett –« Rodney hielt inne, als Hiroshi nur den Kopf schüttelte. »Okay. War nur ein Vorschlag.« Er nahm Hiroshi gegenüber Platz, deponierte die Messer vor sich auf dem Couchtisch. Irgendwie ließ ihn das blöde Gefühl nicht los, dass er gleich etwas erfahren würde, was er nicht hören wollte. »Also. Was war los? Falls du darüber sprechen darfst.«
»Darf ich eigentlich nicht, aber das spielt keine Rolle«, sagte Hiroshi. »Ich werde verfolgt. Keine Ahnung von wem; ich hab es vorgezogen zu verschwinden.«
»Verfolgt?« Das hörte sich nicht gut an, aber es hörte sich irgendwie auch nicht wie der eigentliche Grund für Hiroshis Auftauchen an. »Was hast du angestellt?«
Hiroshi ging nicht darauf ein. Er nestelte den Verschluss seiner Tasche auf und holte eine kleine Plastikschachtel heraus. »Rodney, die Außerirdischen, die du suchst – die sind schon seit Jahrtausenden hier. Auf der Erde.« Er hob die Schachtel, nahm den Deckel ab. »Da.«
»Die –?« Rodney verschlug es die Sprache. Er beugte sich vor, schaute in die Schachtel.
Darin war nichts.
Oder jedenfalls nicht viel. Ein dunkler Punkt, der wie ein Rostfleck aussah.
Er musterte seinen alten Studienfreund besorgt. »Ist alles okay mit dir?«
Hiroshi nickte ungeduldig. »Ich meine diesen dunklen Fleck. Das ist kein Fleck, das sind etliche Millionen unglaublich winziger, unglaublich mächtiger Roboter. Roboter, die aus dem All gekommen sind, vor vielen Tausend Jahren.« Und was er dann erzählte, war entschieden zu starker Tobak für die späte Stunde. Es klang, als sei es die geraffte Version einer bereits aufs Äußerste gekürzten Geschichte, in der eine Polarinsel, russische U-Boote und eine stählerne Festung vorkamen, die zu Staub zerfiel.
Rodney beschlich der massive Verdacht, am Computer eingeschlafen zu sein und einen außerordentlich merkwürdigen Traum zu träumen. Er blinzelte. Ob es etwas half, sich zu kneifen? »Halt«, bat er. »Warte. Noch mal langsam das Ganze, für die Leute auf den billigen Plätzen. Roboter – okay. Unglaublich winzig – könnte hinhauen. Aber was meinst du mit mächtig?«
»Es sind Nanomaschinen, Rod. Sie können Materie auf Ebene der Atome manipulieren. Sie können alles zerlegen, alles bauen, was du willst. Sie können die ganze Welt neu gestalten, wenn man ihnen den Befehl dazu erteilt – oder sie zerstören, natürlich.« Er setzte den Deckel wieder auf. »Ich hab sie untersucht, so gut es ging. Es gibt etwa dreihundert verschiedene Typen von ihnen. Die Steuereinheiten verfügen über einen zentralen Speicher, eine Art DNS aus Metallatomen, in der unvorstellbare Mengen an fertigen Bauplänen und Bauprogrammen gespeichert sind. Ein paar davon habe ich analysieren können – ein paar von Millionen. Es ist unglaublich. Was da drinsteckt, ist weit mehr als das, was eine Raumsonde für ihre Mission bräuchte; das ist ein Kompendium der Errungenschaften einer unfassbar überlegenen technischen Zivilisation. Als hätten sie darin alles abgespeichert, was sie je erfunden haben.«
»Und dahinter sind sie her. Die, die dich verfolgen.«
»Dahinter und hinter den Robotern selber.«
»Die alles bauen können, was man will.« Rodney runzelte die Stirn, was definitiv nicht gegen das Gefühl half zu träumen. »Das kann ich mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen. Wie das gehen soll, meine ich.«
Hiroshi nickte. Das schien ihn zu amüsieren. »Möchtest du es sehen?«, fragte er.
»Was?«
»Wie sie etwas bauen? Wie sie zum Beispiel deine Garage fertigbauen?«
Rodney musste lachen. Vor allem darüber, dass Hiroshi den Begriff »fertigbauen« verwendete, der ja implizierte, er habe schon mit dem Bau begonnen. Gute alte japanische Höflichkeit. »Ja«, sagte er grinsend. »Das würde ich wirklich gerne sehen.«
Hiroshi holte noch einen Gegenstand aus seiner Tasche. Einen ›Zauberstab‹, bloß, dass er ihn ziemlich umgebaut hatte. Wohl das Nachfolgemodell. »Dann komm«, sagte er und stand auf.
Damit marschierte er los, den Zauberstab in der einen und das Plastikkästchen in der anderen Hand. Rodney rappelte sich auf, eilte ihm nach, erwischte ihn an der Haustüre. »Warte. Was hast du vor?«
»Deine Garage zu bauen.«
»Jetzt? Mitten in der Nacht?«
»Das geht ganz leise, keine Angst.« Hiroshi öffnete die Tür und trat hinaus. Der Mond schien: zunehmender Halbmond. Rodney folgte ihm zu dem Platz, auf dem Allison und er ihre Autos parkten und über dem eine Garage zu errichten er sich jedes Neujahr, das sie schon hier wohnten, fest vorgenommen hatte. Bisher hatte er es nur so weit gebracht, einige Balken zu kaufen, die, so stellte er sich das vor, das Grundgerüst ergeben würden. Sie lagen nun allerdings seit Jahren unberührt da und waren vermutlich nicht mehr in bestem Zustand.
»Also – von wo bis wo?«, wollte Hiroshi wissen.
Was würde das werden? Rodney hatte nicht mehr das Gefühl zu träumen, aber absurdes Theater war das hier trotzdem, oder? Vielleicht spielte er am besten einfach mit. Er schritt den Stellplatz ab. »Hier soll die Rückwand hin«, sagte er und bewegte die Hände, um anzudeuten, wo. »Hier die Seitenwand. Und da die Vorderseite mit dem Portal.«
Hiroshi hob den Zauberstab, ihn in der Mitte haltend, damit die beiden Kameras an den Enden ihre Aufnahmen machen konnten. Ein kleines grünes Licht glomm auf. Er nahm den Zauberstab wieder herunter, drückte einen Knopf, der einen fahlen roten Laserstrahl erscheinen ließ. Mit diesem Strahl zeichnete er die Konturen auf dem Boden nach, die Rodney angedeutet hatte: ein Rechteck, das seinen alten Honda einschloss und den freien Stellplatz, auf dem normalerweise Allisons Wagen stand. Dann malte er mit dem Laserstrahl einen Umriss auf die Hauswand, wo die Garage anschließen sollte.
Irgendwie sah er dabei aus wie ein Jedi-Ritter mit einem Lichtschwert.
»So?«, fragte Hiroshi. Er hob den Zauberstab wieder, drückte einen anderen Knopf. Als seien sie in einer Diskothek, brach daraufhin der Laserstrahl aufgefächert aus dem Projektor und zeichnete die Konturen der geplanten Garage in die Nacht.
Eine Garage aus Licht. Absurd. »Ja, so ungefähr«, bestätigte Rodney.
»Okay.« Hiroshi schaltete den Laser ab, stellte das Plastikkästchen auf den Boden und betätigte einen weiteren Knopf.
Und dann – geschah nichts.
Absurdes Theater eben. Oder Hiroshi war einfach verrückt geworden. Wäre ja kein Wunder gewesen, so, wie er die ganze Zeit arbeitete, nie Urlaub und selten Pause machte. »Ein bisschen frisch hier draußen, findest du nicht?«, meinte Rodney behutsam. »Wir könnten wieder reingehen.«
»Könnten wir«, stimmte ihm Hiroshi zu, »aber es ging ja darum zuzuschauen.«
»Zuschauen? Wobei?«
»Dabei.« Er zeigte auf den Rand des Stellplatzes. Jetzt erst bemerkte Rodney, dass sich dort eine Art dunkler Strich gebildet hatte. Und nicht nur das, man konnte zusehen, wie er breiter wurde. Und – höher! Wirklich und wahrhaftig, da wuchs etwas in die Höhe! Hell schimmernde Wände, die sich mit gespenstischer Lautlosigkeit hoben, sich zu entfalten schienen, sich nach und nach wie aus dem Nichts materialisierten. Es sah aus wie einer dieser Filmtricks, die man heutzutage in jedem Kinofilm vorgesetzt bekam und bei denen man sich schon gar nicht mehr wunderte. Nur dass das hier eben nicht auf einer Leinwand passierte.
»Nano-Roboter in Aktion«, hörte er Hiroshi sagen. »Ich habe sie Baumaterialien analysieren lassen – Holz, Nägel, Plastik und was sonst so üblich ist. Sie haben also die Strukturen der Moleküle abgespeichert. Jetzt gerade beschaffen sie die nötigen Atome und setzen sie zusammen: Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Eisen, Schwefel und noch ein paar Elemente, die’s überall gibt. Wobei das hier längst nicht die maximal mögliche Geschwindigkeit ist; ich hab bloß noch nicht herausgefunden, wie ich sie optimal ansteuere.«
Rodney sah nur zu und konnte es nicht fassen. »Das ist ja der Hammer. Sag mir, dass ich nicht träume.«
Es dauerte keine drei Minuten, bis die Wände standen. Übergangslos begann sich das Dach zu bilden – zuerst die Sparren, dann die Abdeckung, darauf die Ziegel. Akkurat alles. Und zum Schluss entstand in der Zufahrt das Garagentor, sank von oben herab wie ein Vorhang.
»Fertig«, sagte Hiroshi. »Von jetzt an kannst du sagen, dass du der einzige SETI-Forscher bist, dessen Garage von Alien-Robotern gebaut wurde.«
Er hob zwei Geräte vom Boden auf und reichte sie ihm: Fernbedienungen, erkannte Rodney, als er sie in die Hand nahm. Er drückte auf den Open-Knopf bei einer, und das Tor hob sich – lautlos, elegant, geschmeidig. Wie bei einer von diesen ganz teuren Anlagen, wie sie sich bloß Millionäre leisten konnten. »Alien-Roboter?«
»Es war eine Sonde. Eine Von-Neumann-Sonde.« Hiroshi ging in die Hocke, spähte in seine kleine Plastikbox und wartete auf irgendetwas. »Irgendwo da draußen gibt es eine Zivilisation intelligenter Wesen, die uns technisch unglaublich weit voraus sind, es schon vor Jahrtausenden waren. Sie haben Raketen ausgeschickt, die imstande sind, halbe Lichtgeschwindigkeit und mehr zu erreichen, mit Sonden, die, am jeweiligen Ziel angekommen, als Erstes weitere Raketen bauen, die dann weitere Sonnensysteme anfliegen.«
»Und dann? Wenn sie die Raketen gebaut haben, was machen sie dann?«
»Das weiß ich noch nicht«, sagte Hiroshi. Jetzt schienen seine unglaublich winzigen, unglaublich mächtigen Roboter alle wieder zu Hause zu sein, denn er setzte den Deckel zurück auf das Kästchen, steckte es ein und erhob sich. »An dem Teil der Programmierung grüble ich noch herum.«
»Das ist das erste Mal, dass ich höre, dass dir anderer Leute Programme Verständnisprobleme bereiten.«
»Erstens sind diese ›anderen Leute‹ Außerirdische, und zweitens sind das keine normalen prozeduralen oder objektorientierten Programme. Das sind Steuerprogramme, agentenbasiert, quasi-neuronal, extrem multi-layered. Solche Programme kannst du nicht einfach lesen und verstehen, die musst du simulieren, um herauszufinden, was sie überhaupt machen.« Hiroshi hüstelte. »Mein Hobby, seit ich zurück bin.«
Rodney blinzelte, betrachtete die Garage, die tatsächlich so aussah, wie er sie sich vorgestellt hatte, betrachtete die beiden Fernbedienungen in seiner Hand. Am besten, er ließ das Tor offen, damit Ally morgen gleich reinfahren konnte. Na, die würde sich wundern!
»Ich fange jedenfalls an zu begreifen, warum sie hinter dir her sind«, meinte er.
4
In Minamata fand Hiroshi ein Apartment, in einer der riesigen Ferienanlagen von Yunoko, direkt am Meer. Es war Nachsaison; vor den meisten Fenstern waren die Rollläden heruntergelassen. Wenn man durch die Anlage spazierte, fühlte man sich in einen postapokalyptischen Kinofilm versetzt, in dem eine weltweite Seuche den größten Teil der Menschheit dahingerafft hatte und man zu den wenigen Überlebenden zählte.
Schön war es nicht hier, aber niemand kannte ihn, und man ließ ihn in Ruhe. Genau das, was er brauchte. Außerdem befand er sich weit weg von dem Stadtteil, in dem seine Großeltern wohnten. Es bestand wenig Gefahr, dass er ihnen über den Weg laufen würde.
Ob seine Verfolger ihn hier aufstöbern würden? Denkbar, aber auf jeden Fall würden sie es schwerer haben. Hier in Japan war er Teil der Masse und sie diejenigen, die auffielen. Sicherheitshalber hatte Hiroshi seit seiner Ankunft in Tokio – wo er niemanden besucht hatte, auch seine Mutter nicht, um sie nicht in Gefahr zu bringen – keine Kreditkarte mehr benutzt. Er hatte an einem Automaten so viel Bargeld wie möglich abgehoben, ein respektables Bündel. Die Scheine hatte er anschließend von seinen Naniten atomar analysieren lassen, und nun war er imstande, ein Duplikat dieses Bündels anfertigen zu lassen, wann immer er weiteres Geld brauchte: Das sollte zumindest eine Weile funktionieren, ohne dass auffiel, dass es immer dieselben Seriennummern waren.
Das war der Kern des Problems, mit dem er rang. Natürlich wären die Naniten in der Lage gewesen, die Atome, die die Druckfarbe der Seriennummern bildeten, anders anzuordnen als in der Vorlage und jede beliebige Seriennummer zu bilden – wenn er nur imstande gewesen wäre, sie entsprechend zu steuern. Aber das eben konnte er nicht. Mehr noch, er hatte auch keine Vorstellung, wie eine derart feine Steuerung funktionieren sollte. Er konnte ja nicht über jedes Atom einzeln entscheiden – das überstieg sowohl die mentalen Fähigkeiten eines Menschen wie auch seinen zeitlichen Horizont: Die Herstellung selbst des winzigsten Gegenstandes hätte auf diese Weise Jahrhunderte gedauert. Nein, die Logik der atomaren Konstruktion erforderte eine Organisationsform, bei der die Steuereinheit auf der obersten Meta-Ebene Programmsequenzen in den Sub-Steuereinheiten anstieß, die wiederum Programmsequenzen in den Sub-Sub-Steuereinheiten anstießen und so weiter, bis hinab schließlich zu dem Nanit, der einfach nur ein bestimmtes Atom von hier nach da bewegte, innerhalb eines Radius von der Größenordnung der Wellenlänge von Licht.
Er hatte sich einen seiner Zauberstäbe umgebaut, um die Naniten damit zu steuern. Das war zwar geringfügig eleganter, als ein klobiges Multiband-Funkgerät mit sich zu schleppen und Befehlssequenzen von Hand einzutippen, hatte aber auch seine Grenzen. Auch damit schöpfte er die Möglichkeiten der Naniten nicht annähernd aus.
Die Garage zum Beispiel, die er für Rodney gebaut hatte: Sie entstehen zu lassen hatte nur ein, zwei Minuten gedauert – sie in Form von Steuerbefehlen zu konstruieren dagegen fast einen Monat. Dem Programm, das er am Ende abrufbereit in den Zauberstab geladen hatte, fehlten nur einige wenige Variablen: die genauen Abmessungen der Garage nämlich. Die zu liefern war schließlich das, wofür er den Zauberstab ursprünglich konstruiert hatte. Mit anderen Worten, er hätte Rodney auch eine zehn oder hundert Meter breite Garage bauen können; das hätte sogar nur unwesentlich länger gedauert.
Aber das Programm konnte eben nur Garagen bauen. Und nur diesen einen Typ. Und nur im Farbton Elfenbein.
Er war mit dem Programm gerade fertig gewesen, als er auf der Überwachungsanlage seines Grundstücks die Eindringlinge bemerkt hatte. Er hatte überlegt, die Wachleute loszuschicken, die die Männer zweifellos aufgestöbert und davongejagt hätten – aber was dann? Jemand, der es auf ihn abgesehen hatte, kam auch wieder, und das nächste Mal vielleicht unbemerkt. Nein, die Zeit war gekommen unterzutauchen. Er hatte Mrs Steel fortgeschickt – offiziell war es ein Urlaub, der ihr ohnehin zugestanden hatte; sie würde sich damit zu arrangieren wissen, dass er nicht zurückkam, ihr Gehalt aber weiterlief. Dann hatte Hiroshi den Naniten befohlen, all seine Computer in ihre Moleküle aufzulösen, und am Schluss war er selbst gegangen, durch einen Gang, den ihm die Naniten schufen und den sie anschließend wieder so fugenlos verschwinden ließen, als sei da nie ein Gang gewesen.
Solche Dinge waren vergleichsweise einfach: wenn er Funktionen fand, die er nur abzurufen brauchte. Einen Gegenstand atomar zu analysieren zum Beispiel. Er hatte diese Routine so in eine eigene Prozedur eingebettet, dass er nur mit dem Laser des Zauberstabs die Konturen des betreffenden Objekts umfahren musste, um dessen Analyse auszulösen. Einen Gang zu graben, Gegenstände in ihre Atome aufzulösen: All das konnte er inzwischen mit ein paar Tastendrücken und entsprechenden Bewegungen seines Zauberstabes bewirken, und es sah tatsächlich aus wie reine Zauberei.
Trotz allem blieb er damit weit, weit zurück hinter dem, was möglich gewesen wäre. Er hatte noch nicht einmal gekratzt an der unermesslichen Bibliothek fertiger Konstruktionen, die die Steuereinheit jedes einzelnen Basiskomplexes in sich trug wie eine Zelle ihre DNS. Bis auf ein paar Ausnahmen: Der Bau einer Basis mit Startrampe etwa war eine Funktion, auf die man bei der Analyse der Grundprogrammierung logischerweise zwangsläufig stieß; schließlich war das die allererste Aufgabe der Sonde gewesen. Viele der Produktionssequenzen, die Hiroshi analysiert hatte, bauten große, aufwendige Maschinen, von denen er aber nicht wusste, wozu sie dienten und was sie konnten. Man hätte sie bauen lassen und dann untersuchen müssen – und das Risiko eingehen, es mit einer Bombe zu tun zu bekommen!
Ein Gebiet schließlich, das er noch fast ganz außer Acht gelassen hatte, waren die neuartigen Werkstoffe, die durch Nanotechnologie möglich wurden. Die Garage für Rodney hatte er aus Holz errichten lassen, dessen atomare Struktur aus der Analyse eines Eichenbalkens in der Decke von Hiroshis Arbeitszimmers stammte. Die Plastikverkleidung war derjenigen des Gärtnerschuppens nachgebildet. Das Garagentor selber entsprach, inklusive der Automatik, dem in der für fünf Fahrzeuge gedachten Garage von Hiroshis Haus.
So weit, so gut – doch damit verschenkte man die Möglichkeiten der Naniten im Grunde. Wenn man imstande war, Atome an präzise bestimmbare Positionen zu setzen, konnte man Materialien herstellen, die in der Natur nicht vorkamen, aber über schier unglaubliche Eigenschaften verfügten. Die bisherigen Forschungen auf dem Gebiet der Nanotechnologie – die Hiroshi natürlich all die Jahre aufmerksam verfolgt hatte – hatten etwa »Nanotubes« entwickelt, Röhren aus Kohlenstoffatomen, die federleicht und doch härter als Diamant waren. Und das war, daran zweifelte niemand, erst der Anfang.
Hiroshi hätte Rodney eine Garage bauen können, deren Wände dünner als ein menschliches Haar waren, aber mühelos einem Granatenbeschuss standgehalten hätten: Es wäre sogar einfacher gewesen und schneller gegangen.
Bloß wäre es eine ziemlich auffällige Garage geworden.
Wenn es nicht zu stark regnete, unternahm Hiroshi stundenlange Spaziergänge am Strand. Der Himmel war dann bleich und konturlos, das Meer von einem metallischen, stumpfen Grau, wie Gusseisen ungefähr.
Nach einer Weile fand er heraus, dass er in dem Flur, in dem sich sein Apartment befand, tatsächlich allein wohnte. Vor dem Aufzug stand ein großes Meerwasser-Aquarium, in dem ein einsamer hässlicher Fisch schwamm, der aussah, als langweile er sich entsetzlich. Jedes Mal, wenn sich die Aufzugstür öffnete, kam er an die Frontscheibe und glotzte einen an, als freue er sich über die Abwechslung. Falls es nicht einfach die grelle Beleuchtung im Inneren der Aufzugskabine war, die ihn faszinierte.
Hiroshi dachte viel nach auf seinen langen Spaziergängen, über sich selbst, sein Leben und darüber, warum er eigentlich tat, was er tat. Was ihn trieb. Denn so fühlte er sich: wie ein Getriebener.
Warum zum Beispiel war er ausgerechnet nach Minamata gekommen? Wenn es darum gegangen wäre, einfach nur unterzutauchen, hätte sich jede andere japanische Stadt genauso geeignet, wenn nicht besser. Stattdessen: Minamata, die Stadt seiner Großeltern, die ihn nie sonderlich gemocht hatten und die er nie sonderlich gemocht hatte.
Natürlich konnte er eine Reihe von guten, logischen Gründen anführen: Erstens, Minamata war nicht Tokio, wo er einer Menge Leuten hätte über den Weg laufen können, die ihn erkannt hätten, Leuten zudem, die im Unterschied zu seinen Großeltern nicht alt und krank waren und ihre Wohnung nur noch verließen, um zum Arzt zu gehen. Zweitens, er kannte sich dank der ungeliebten Besuche in seiner Kindheit einigermaßen aus, was viele organisatorische Dinge vereinfachte. Zum Beispiel kannte er diese Ferienanlagen vom Sehen her – tatsächlich hatte er sich als Kind bisweilen vorgestellt, eines Tages einmal hier Urlaub zu machen. Und drittens erkannte man ihn hier trotz allem nicht, sah in ihm einen – allenfalls etwas sonderbaren – Gast wie jeden anderen.
Aber so gut und logisch diese Gründe auch klingen mochten, Hiroshi spürte deutlich, dass sie nur die halbe Wahrheit waren. Und deswegen grübelte er, während er auf grauem Sand unter grauem Himmel einen Fuß vor den anderen setzte und der Wind ihm Salz auf die Lippen blies: um die andere Hälfte der Wahrheit zu ergründen.
An manchen Tagen genügte ihm der Strand nicht. Dann zog es ihn weiter, hinein in die angrenzenden Siedlungen, wo er in dem vergeblichen Versuch, sich rettungslos zu verirren, durch schmale, fremde Gassen strich. Einmal landete er dabei auf einem weitläufigen Friedhof, wo er lange und mit seltsamer Lust umherwanderte und die Stille in sich aufsaugte, die von den Gräbern auszugehen schien, den tiefen Frieden. Dies, sagte er sich, war die letztendliche Bestimmung des menschlichen Daseins: aufzuhören zu funktionieren und alle Atome, aus denen man bestand, wieder dem großen Ganzen zur Verfügung zu stellen.
Hier war es auch, wo er begriff, was ihn ausgerechnet nach Minamata gezogen hatte: die Erinnerung an Tante Kumiko, vor der er sich als Kind so schrecklich gegruselt hatte und die er heute schrecklich bedauerte, wenn er an sie zurückdachte, an dieses elende, deformierte, gequälte Wesen, das so lange Jahre in immer demselben Bett verbracht hatte und in Ängsten, die es mit niemandem hatte teilen können. Tante Kumiko, die der Auslöser dafür gewesen war, dass er angefangen hatte, sich für Atome zu interessieren. Es war nur angemessen, dass er hierhergekommen war.
Auch über Rodney musste er nachdenken und über den letzten Abend bei ihm. Im Nachhinein machte er sich Sorgen, dass er ihn und Allison vielleicht doch in Gefahr gebracht hatte. Aber er hatte ihm einfach unbedingt von allem erzählen müssen, von Saradkov, von den Naniten, den Botschaftern aus dem All … Wer, wenn nicht Rodney Alvarez, der so gerne seine Abschlussarbeit über die Erste Direktive der Sternenflotte geschrieben hätte und schon sein Leben lang die Augen voller Sehnsucht zum Sternenhimmel erhoben hatte, Rodney, in dem die Frage brannte, wo sie denn waren, unsere Brüder im All, unsere Mitgeschöpfe unter fernen Sonnen, warum sie sich nicht meldeten – wer, wenn nicht er, hätte ein Anrecht darauf gehabt, alles zu erfahren, was es darüber zu wissen gab?
Sie hatten an jenem Abend, in jener Nacht noch lange beisammen gesessen. Rodney hatte unendlich viele Fragen gehabt, und kaum eine davon hatte Hiroshi beantworten können. Woher war die Sonde gekommen? Keine Ahnung. Falls der Speicher der Nanitenkomplexe dazu Informationen enthielt – was ohne Weiteres der Fall sein mochte –, hatte Hiroshi sie noch nicht gefunden. Und was für Wesen waren es, die die Sonde gebaut und losgeschickt hatten? Wie sahen sie aus? Atmeten sie auch Sauerstoff oder etwas anderes? Auch darauf hatte Hiroshi nur sagen können, dass manche der Dinge, die die gespeicherten Konstruktionsprogramme erbauen konnten, Flugmaschinen oder Fahrzeuge zu sein schienen und dass die Innenräume und Sitzgelegenheiten, die sie vorsahen, für Menschen weder zu groß noch zu klein gewesen wären: Man durfte also vermuten, dass sie uns nicht unähnlich waren.
»Das ist ja fast enttäuschend«, war Rodneys Kommentar gewesen. »Keine Wasserlebewesen von Walgröße? Keine Insektenartigen mit fremdartigen, uns völlig unverständlichen Sozialstrukturen? Keine Wesen aus reiner Energie? Stattdessen – Vulkanier?«
»Oder Klingonen.«
»Noch enttäuschender. Von denen kennen wir ja sogar schon die Sprache«, hatte Rodney gemeint, und irgendwie hatte es nur halb wie ein Scherz geklungen. Wer mochte das wissen? Hiroshi hatte einmal gelesen, dass die Klingonen, deren fiktive Sprache ein Linguistikprofessor für den vierten Star-Trek-Film entwickelt hatte, inzwischen Gegenstand von mehr akademischen Arbeiten waren als viele tatsächlich existierende Völker.
»Vielleicht gibt es, was die Evolution von Intelligenz anbelangt, weit mehr Restriktionen, als wir bislang ahnen«, hatte Hiroshi überlegt – ein Gedanke, über den man lange hätten diskutieren können, den Rodney aber nicht weiter verfolgt hatte. Stattdessen hatte er ihn mit weiteren Fragen zu Saradkov gelöchert.
»Das, was du erzählt hast, klingt beinahe, als sei die Sonde darauf aus gewesen, den gesamten Planeten zu erobern. Technisch wäre das möglich, oder? Diese Naniten könnte niemand aufhalten?«
»Jedenfalls niemand, der nicht über die gleiche Technologie verfügt.«
»Wir hätten also ganz schön alt ausgesehen.«
»Total alt. Aber sie hat ja aufgehört. Vielleicht war alles davor nur eine Verteidigungsmaßnahme, um sicherzustellen, dass die Rakete ungestört gebaut und gestartet werden kann.«
Rodney hatte die Stirn gerunzelt, mit seinen blöden Messern auf dem Couchtisch herumgeklappert und gesagt: »Das ist unlogisch. Eine Von-Neumann-Sonde hätte mindestens zwei weitere Sonden losschicken müssen.«
»Stimmt«, hatte Hiroshi zugeben müssen.
Und seltsam: Immer, wenn er an jenen Moment zurückdachte, in dem alle Bewegung auf der Insel so plötzlich aufgehört hatte, erinnerte er sich auch daran, dass ihm das wie ein erschrockenes Innehalten vorgekommen war – obwohl ihm klar war, dass die Naniten zu einer Menge fähig waren, aber ganz gewiss nicht dazu, zu erschrecken.
Ja, und im selben Moment hatten die Funksignale begonnen, die den Code zur Selbstzerstörung geradezu angeboten hatten. Das verstand er bis heute nicht.
Dann hatte Rodney sich darüber amüsiert, dass Hiroshi die Naniten ausgerechnet eine Garage für ihn hatte bauen lassen. »Ich meine, nach dem, was du sagst, hättest du mir eine verdammte Rakete in den Garten stellen können!«
»Und was hättest du damit angefangen?«
»Ach, so ein Wochenendtrip zum Mond ab und zu, das hätte Ally bestimmt gefallen … oder gelegentlich auf der ISS vorbeischauen …«
Hiroshi hatte sich nicht darüber auslassen wollen, welches Risiko ein solcher Scherz für Rodney und Allison bedeutet hätte. »Das klingt zwar seltsam, aber sie eine Garage bauen zu lassen war für mich die größere Herausforderung. Eines von den Preset-Programmen abzurufen wäre ja keine Kunst gewesen.«
»Okay. Außerdem ist so eine Garage viel unverdächtiger.«
»Höchstens deine Nachbarn werden sich morgen früh wundern.«
Worauf Rodney nur traurig gelacht hatte. »Was für Nachbarn? In der Gegend hier kümmert sich jeder nur um sich selbst.«
Sie hatten geredet bis, na, halb vier oder so. Dann hatte ihm Rodney doch noch einen Kaffee gemacht, einen starken, und er war losgefahren, immer nach Norden. Unterwegs hatte er im Auto geschlafen, und schließlich war er nach Seattle gelangt und hatte einen Flug nach Japan gebucht. Am Ticketschalter war er ziemlich benommen gewesen, hatte einfach seinen japanischen Pass vorgezeigt, ohne an eventuelle Verfolger zu denken oder dass man womöglich nach ihm fahndete. Immerhin war er auf die Idee gekommen, die Frau am Schalter zu bitten, seinen Namen als »Gato Hirushi« auf die Tickets zu schreiben, was sie auch tat, nachdem er ihr einen langen und absichtlich verworrenen Vortrag über japanische Schriftzeichen und die Probleme der Latinisierung japanischer Namen gehalten hatte.
Und nun war er hier, mit seinem Laptop und den wichtigsten Programmen und Daten, dem umgebauten Zauberstab und den Naniten. Und wusste, wenn er ehrlich war, nicht, was er tun sollte.
Geld war nicht das Problem. Wenn ihm das mit den replizierten Geldscheinen eines Tages zu riskant wurde, konnte er die Naniten einfach Diamanten herstellen lassen; das war für Nano-Assembler sozusagen eine der leichtesten Übungen. Und er würde schon jemanden finden, dem er sie verkaufen konnte.
Nein, die Frage war, was er mit all dem Wissen, mit all den Möglichkeiten, die ihm die Naniten boten, konkret anfangen sollte. Er war der Verwirklichung seines Lebenstraumes so nah wie nie – doch irgendwie war ihm das sichere Gefühl, vom Schicksal geleitet zu sein, abhandengekommen. Er fühlte sich verlassen, auf sich allein gestellt.
Und er wollte nicht den Rest seines Lebens auf der Flucht sein.
Dann, einige Tage später, kehrte er von einem seiner Strandspaziergänge zurück, trat aus dem Aufzug, sah dem einsamen Fisch in seinem Aquarium in die Augen, und in diesem Moment kam ihm die Idee, was er machen würde.
Von nun an hatten die endlosen Stunden am Strand ein Ende. Er blieb in seinem Zimmer und ließ sich seine Mahlzeiten bringen; ein Anruf in der Verwaltung und seine Bereitschaft, einen angemessenen Aufschlag zu bezahlen, regelten das. Sein Computer arbeitete wieder ohne Pause, und Hiroshi schlief nur, wenn parallel dazu eine aufwendige Analysesimulation lief. Es galt, die »Bibliothek«, wie er den metallenen Informationsspeicher der Naniten nannte, eingehender auf verwendbare Prozeduren abzusuchen als je zuvor.
Hiroshi hatte sich vorgenommen, einen Methylquecksilber-Sammler zu bauen: Nano-Roboter, die sich vermehren, nach und nach alle Weltmeere füllen und durchstreifen würden auf der Suche nach Methylquecksilber-Molekülen, die sie einfangen und in einige wenige Depots schaffen sollten. Und das so lange, bis die Ozeane der Erde frei waren von dem Gift, das die Minamata-Krankheit hervorrief.
Nicht, dass dies auch nur annähernd das drängendste Menschheitsproblem gewesen wäre. Keineswegs. Das war ihm auch völlig klar. Hiroshi hatte dieses Projekt ausgewählt, weil es, falls es gelang, erstens ein beeindruckendes Resultat haben würde – ein ganzer Planet, gesäubert von einem bestimmten Gift –, und weil es zweitens eine Herausforderung darstellte, anhand derer er eine Menge über die Naniten lernen würde.
Und drittens tat er es im Gedenken an seine unglückliche Tante Kumiko.
Nach einigen Tagen hatte er ein brauchbar aussehendes Konzept ausgearbeitet. Er würde zum ersten Mal Naniten selbst umbauen – mithilfe anderer Naniten, selbstverständlich. Er würde ein Prospektorelement konstruieren, das auf das Auffinden von Methylquecksilber spezialisiert war. Methylquecksilber war hochgradig schwefelaffin, verband sich als einfach positiv geladenes Ion mit Hydroxid- oder Chloridionen; entsprechende Verbindungen würden, sobald der Prospektor das Methylquecksilber identifiziert hatte, von einem Cutter aufgespalten werden müssen. Ein Transporter musste das Methylquecksilbermolekül anschließend zu einem Sammler bringen – und dann? Dann wurde es richtig schwierig.
Die gefüllten Sammler in die Depots zu schaffen war das größte Problem. Er brauchte einen Antrieb, der imstande war, eine Konstruktion im Nano-Maßstab gezielt durch Meeresströmungen zu bewegen; eine Navigation, die imstande war, die Depots – die er auf irgendeine geeignete Weise festlegen musste – ausfindig zu machen; und schließlich Naniten, die in den Depots auf Sammler warteten, um sie zu entladen, das Quecksilber von der Methylgruppe zu trennen und den Raum für die nach und nach entstehenden Quecksilberlager zu schaffen.
Ein weiteres Problem war die Energieversorgung, wie meistens bei technischen Konstruktionen aller Art. Die Nanitenkomplexe würden in regelmäßigen Abständen zum Meeresgrund hinabsinken müssen, um kilometerlange Fühler in Richtung des heißen Erdkerns in den Boden zu senken, sich mit Energie vollzutanken und die Arbeit anschließend fortzusetzen.
Das war alles richtig anspruchsvoll. Und es gab nicht wenige Momente, in denen Hiroshi einfach nicht weiterwusste, schier daran verzweifelte, die mächtigsten Werkzeuge der Welt zu besitzen und nicht damit umgehen zu können.
Bei seinen geradezu manischen Streifzügen durch die metallene Bibliothek, dieses Vermächtnis einer technisch unfassbar überlegenen Zivilisation, stolperte Hiroshi immer wieder über ein Konstruktionsprogramm, aus dem er einfach nicht schlau wurde. Wenn er die Befehlssequenzen im Simulator ablaufen ließ, dann bildete sich etwas, das aussah wie ein Schwamm oder wie ein System bizarrer Blutgefäße: Wozu mochte das gut sein? Er hatte keine Ahnung. Die Art und Weise, wie dieses … Ding heranwuchs, löste allerhand Assoziationen in ihm aus, bloß keine, die ihm weiterhalfen. Normalerweise hätte er an diesem Punkt mit den Schultern gezuckt und sich einfach das nächste Programm vorgenommen, aber irgendwie ließ ihm dieses hier keine Ruhe. Und irgendwie brachte es ihn dazu, sich in den Pausen, die ihm kleinere Simulationsläufe boten, im Internet den Stand des Wissens über die Minamata-Krankheit zu erkunden.
Er fand nur dürftige Informationen. Man wusste einiges, aber nicht viel, und mehr würde es wohl nicht werden, weil die Krankheit dank höherer Umweltstandards praktisch kaum noch vorkam. Methylquecksilber wurde vom Magen schnell absorbiert, gelangte in den Blutkreislauf, überwand die Blut-Hirn-Schranke und lagerte sich im zentralen Nervensystem und im Gehirn ein, was zu Lähmungen, Taubheit, partieller Blindheit, Störungen des Bewegungssystems bis hin zu Krämpfen und geistiger Verwirrung führen konnte.
Nichts davon war heilbar.
In den ersten Dezembertagen wurde Hiroshi fertig. Allmählich füllte sich die Ferienanlage wieder, mit Winter- und Weihnachtsgästen, und allmählich begann man sich in der Verwaltung auch über die Dauer seines Aufenthalts zu wundern. Ein Problem, das erkannte er durchaus, aber er war nicht imstande gewesen, sich darum zu kümmern.
Er war bis ins Mark erschöpft, als er eines kalten Morgens bei Anbruch der Dämmerung an den Strand ging und seine Quecksilbersammler aussetzte. Er musste dazu nicht viel tun, brauchte nur das Stück Zucker, in dem er den Komplex deponiert hatte, ins Meer zu schleudern. Dann fasste er unter den Mantel, wo er den Zauberstab trug, und drückte den Knopf, der das Startsignal gab. Das war alles. Alles Weitere würden die Naniten selbstständig erledigen.
Natürlich sah man nicht das Geringste. Hiroshi blieb trotzdem stehen, verfolgte den prächtigen, hellvioletten Sonnenaufgang über den Bergen hinter ihm und fragte sich, was er nun tun sollte.
Er beobachtete die Wellen. Es war Flut, das Wasser näherte sich seinen Schuhen mit jeder Welle ein bisschen mehr. Wie silbern es glänzte, wenn es zwischen Steinen und Kieseln hindurchschäumte! Wie es jedes Sandkorn einzeln zu umspülen schien …!
In diesem Moment begriff Hiroshi, was es mit der baumartigen Konstruktion auf sich hatte, die ihn so faszinierte.
Natürlich würde er das nachprüfen, die Konstruktion einer entsprechend angepassten Simulation unterwerfen müssen, natürlich. Aber dies war eine jener Hypothesen, von denen man einfach wusste, dass sie sich als richtig erweisen würde.
Letzten Endes war auch das menschliche Gehirn eine materielle Struktur. Gedanken schlugen sich in Form von Hirnströmen nieder, die abfragbar waren, wenn man es fertigbrachte, minimal dünne Implantate neben alle Neuronen zu schieben. Und genau das war es, wozu diese baumartige Konstruktion imstande war: Nervenbahnen zu folgen und Sensoren an ihren Ursprüngen anzubringen.
Die Kopplung zwischen den Naniten und einem Gehirn: So und nur so konnte die perfekte, die endgültige Steuerung dieser nahezu allmächtigen Werkzeuge aussehen, nur so konnte es funktionieren, ihre ganze Macht zu entfesseln und sie dennoch zu bändigen.
Auf einmal wusste Hiroshi, dass er nur so die letzten Geheimnisse der Nano-Roboter erfahren würde.
Die Frage war bloß, ob es, wenn er sich darauf einließ, je wieder einen Weg zurück geben würde.
Aus der selbst gewählten Klausur zu kommen war wie eine Erlösung. Hiroshi fühlte sich, als sei er eingefroren gewesen und wieder aufgetaut worden. Die Speisesäle waren jetzt voll und laut, aber das störte ihn nicht im Mindesten, im Gegenteil, er kam sich dadurch angenehm unsichtbar vor. Er beobachtete alte Ehepaare und junge Familien, quengelnde Kinder, Streit und Harmonie. Am Strand war er nun beileibe nicht mehr der einzige Spaziergänger; Kinder in dicken bunten Parkas tobten über den Sand, warfen Steine ins Wasser oder ließen Drachen steigen, während ihnen ihre Eltern lächelnd zusahen. Und es war behaglich, abends in der Bierbar zu sitzen, an einer Theke, über der ein Fernseher alles überdröhnte, die Gespräche der anderen, das Rattern der Spielautomaten und das Klacken der Billardkugeln im Hintergrund.
Hier erfuhr Hiroshi Kato von der Katastrophe.
Zuerst war da ein wettergegerbter Mann auf dem Bildschirm, der eine blaue Strickmütze auf dem Kopf trug und aufgeregt gestikulierend »Überall! Überall! Bis zum Horizont!« rief, was alles Mögliche bedeuten konnte und Hiroshi nur verwundert die Stirn runzeln ließ. Sein Bier kam, der erste Schluck schmeckte gut, und das Bild wechselte zu einem Strand, der mit irgendwelchen weißen Dingern bedeckt war, die Männer in Schutzanzügen und mit Atemmasken vor dem Gesicht auf Lastkarren schaufelten.
Die weißen Dinger waren tote Fische.
Hiroshi setzte das Glas ab, mit einem jähen Gefühl nahenden Unheils.
»Eine Katastrophe für die Fischerei«, erklärte ein bebrillter Mann in einem Anzug, Professor an der Universität von Tokio.
Wissenschaftler gingen davon aus, dass es sich um eine bislang unbekannte Seuche handele, erläuterte der Moderator der Sondersendung. Dafür spreche vor allem das Ausbreitungsmuster: Trage man die Meldungen, wo überall riesige Teppiche toter Fische gesichtet worden seien, auf eine Weltkarte auf, dann sehe man deutlich, dass die Epidemie ihren Ursprung vor der südjapanischen Küste habe. Ein Diagramm wurde eingeblendet, das diese Aussage grafisch untermalte. »Die Vereinten Nationen«, fügte der Moderator hinzu, »haben eine Sondersitzung einberufen.« Die Suche nach dem Erreger laufe bereits auf Hochtouren.
Hiroshi saß starr vor Entsetzen. Er hatte etwas falsch gemacht, entsetzlich falsch.
Er zahlte, ließ den Rest seines Biers stehen, kehrte auf sein Zimmer zurück und musste an sich halten, unterwegs nicht zu rennen. Der Flur, obwohl inzwischen weitgehend ausgebucht, lag still und leer. Mit dem Zauberstab und einem weiteren Komplex seiner Quecksilbersammler ging Hiroshi zu dem Aquarium vor dem Aufzug. Der Fisch glotzte ihn an, als ahne er, was los war.
»Tut mir leid, mein Freund«, flüsterte Hiroshi schmerzvoll. »Aber ich muss es ganz sicher wissen.«
Er gab die Naniten ins Wasser, aktivierte sie und wartete. Nichts. Um nicht so auffällig herumzustehen, setzte sich Hiroshi in die kleine Sitzgruppe neben dem Aufzug, wo niemals jemand saß, und nahm einen der dort ausliegenden Prospekte in die Hand, als lese er. Der Fisch starrte ihn weiterhin unverwandt an.
Gerade als Hiroshi sich fragte, ob der Komplex in dem Aquarium wohl genügend Rohstoffe finden mochte, um sich zu replizieren, geschah es: Der Fisch schloss die Augen, zuckte mehrmals unkontrolliert, drehte sich dann und trieb mit dem Bauch nach oben zur Wasseroberfläche.
Hiroshi legte den Prospekt weg, stand auf und ging in sein Zimmer zurück. Daran hatte er nicht gedacht. Die Fische, die in den heutigen Ozeanen lebten, hatten natürlich das darin befindliche Methylquecksilber im Körper eingelagert, genau wie alle anderen Verschmutzungen, die das Meerwasser inzwischen enthielt. Die Sammelroboter, die er auf die Reise geschickt hatte, waren zu winzig, als dass sie einen Unterschied zwischen Wasser und dem Körper eines Fisches machten; sie rissen den Tieren das Quecksilber aus dem Leib, und wenn sie das zu oft taten, töteten sie sie damit.
Und in diesem Fall nutzte ihm der Selbstmordbefehl nichts, denn unter Wasser erreichten die Funkwellen die Naniten nicht.
Hiroshi brauchte sieben Tage ununterbrochener Arbeit, um einen weiteren Komplex herzustellen, einen, der imstande war, Quecksilbersammler zu jagen und zu zerstören. In dieser Zeit breitete sich das rätselhafte Fischsterben über die ganze Welt aus, erregte heftige öffentliche und wissenschaftliche Debatten und ließ Fachleute Schlimmes für die Zukunft der Welternährung prophezeien. Mehrere Fischarten waren bereits akut in ihrem Fortbestand gefährdet. Die Suche nach dem Erreger der Seuche dagegen war bis jetzt ergebnislos verlaufen.
Am Morgen des Tages vor Weihnachten setzte Hiroshi seinen Jägerkomplex aus und aktivierte ihn. Dann zahlte er und reiste ab.
In Tokio traf er seine Mutter nicht zu Hause an. Sie sei auf dem Friedhof, erklärte ihm eine Nachbarin, der er vor der Tür begegnete und die ihn kannte, obwohl er jeden Eid geschworen hätte, sie noch nie gesehen zu haben.
»Was für ein Friedhof?«, fragte Hiroshi. »Und was macht sie dort?«
»Der Aoyama-Friedhof«, sagte die kleine, faltige Frau. »Du kannst die U-Bahn von Hiroo bis Ebisu nehmen. Es ist die Nummer 34.«
Der Aoyama war der begehrteste Friedhof Tokios. Man musste ziemlich reich sein und außerdem Glück bei der Verlosung haben, um seine Asche dort beisetzen lassen zu dürfen. Was tat seine Mutter dort?
Sie war tatsächlich da und pflegte ein Grab, eine schmale graue Marmorsäule mit einem Pflanzenbecken von der Größe einer Salatschüssel. »Ach, du bist’s«, begrüßte sie ihn, ohne innezuhalten.
Hiroshi trat neben sie und las die Inschrift. Es war das Grab Inamotos.
»Letzten August. Das Herz. Genau am Bon-Fest. Seltsam, oder?« Seine Mutter legte die Schaufel beiseite, mit der sie hantiert hatte, und stand auf.
»Ist das jetzt dein neuer Job?«, fragte Hiroshi.
Sie zog ihre grünen Gummihandschuhe aus, den Blick unverwandt auf das Grabmal gerichtet. »Er hat um mich geworben. Dreimal hat er mich gebeten, seine Frau zu werden. In unserem Alter! Dieser verrückte Mann.« Sie sah Hiroshi an. In ihren Augenwinkeln schimmerten kleine Tränen wie Quecksilberperlen. »Ich hab immer Nein gesagt. Und jetzt tut es mir leid. Jetzt, wo es zu spät ist.«
Hiroshi sagte nichts. So standen sie eine Weile einfach da und schwiegen.
»Manchmal denke ich, das ist das ganze Leben«, erklärte er schließlich. »Ständig erkennt man, dass man etwas falsch gemacht hat und dass es zu spät ist, es zu ändern.«
Seine Mutter legte ihren Arm um ihn. Er hatte das Gefühl, dass sie kleiner geworden war.
»Es ist schön, dass du da bist«, sagte sie. »Eine schöne Überraschung.«
5
Diesmal war der Flug nach Buenos Aires anstrengender als sonst. Was vielleicht an der schlechten Luft in der Kabine lag, die ihr Kopfschmerzen und einen unangenehmen Druck hinter den Augen verursachte. Jedenfalls war Charlotte froh, dass am Flughafen alle vier auf sie warteten, Brenda, Thomas, Jason und Lamita.
»Du bist unser gemeinsames Weihnachtsgeschenk«, meinte Brenda zur Begrüßung. »Deswegen sind wir alle gekommen.«
Charlotte umarmte sie der Reihe nach. Nicht einmal Jason wehrte sich. Ihr war nach Weinen zumute, aber das wollte sie sich nicht anmerken lassen. An Weihnachten weinte man doch nicht!
Lamita trug ein hübsches Kleid und sprach inzwischen schon ganz passabel Englisch und Spanisch, Letzteres sogar noch etwas besser. Und sie ließ sich, wie Charlotte auf dem Weg durch die Hallen beobachtete, von ihrem Adoptivbruder auch nicht mehr alles gefallen. Als Charlotte Brenda ein Kompliment zu Lamitas Kleid machte und die aufwendigen Applikationen darauf lobte, zog die sie beiseite und raunte: »Das hat sie sich selber gemacht, stell dir vor! Kommt sie eines Tages mit Stoffresten aus dem Sack für die Altkleidersammlung und fragt, ob sie das haben kann. Klar, sage ich. Dann bittet sie mich um Nadel und Faden und näht es sich selber auf ihr Kleid!«
»Aber das sieht richtig gut aus«, staunte Charlotte. »Womöglich wird sie mal Modedesignerin?«
Brenda hob die Schultern. »Irre, oder? Aber inzwischen würd’s mich nicht mehr wundern.«
Unbarmherzige Hitze, als sie aus dem Flughafen ins Freie traten. Der Hochsommer machte ihre Kopfschmerzen auch nicht besser. Und die Fahrt in die Stadt hinein schien kein Ende nehmen zu wollen.
»Was machen denn deine Forschungen?«, fragte Charlotte Thomas irgendwann, um auf andere Gedanken zu kommen.
Der lachte auf. »Oje. Ganz schlechtes Thema fürs Fest der Liebe.«
»So schlimm?«
»Weißt du, sobald es um die Frage geht, wer wann welche Gegend zum ersten Mal besiedelt hat, wird es gleich politisch. Also mischt sich die Regierung ein. Und sagen wir es mal so – in der ecuadorianischen Regierung sitzen nicht gerade Leute, die viel von Frühgeschichte verstehen.«
Nun musste auch Charlotte lachen. »Das kann ich mir vorstellen.«
»Und bei dir? Hat Harvard noch keine Abordnung geschickt, um deinen Abschluss zurückzufordern?«
»Passiert bestimmt noch.« Inzwischen hatte sie herausgefunden, was das grundsätzliche Problem war, wenn man eine Theorie vertrat, die das anerkannte Weltbild grundsätzlich infrage stellte: Die etablierten Wissenschaftler verlangten Beweise; um die zu erbringen, musste man forschen – doch dafür bekam man keine Mittel bewilligt, weil man ja eine suspekte Theorie vertrat. Akzeptierte man finanzielle Unterstützung aus anderen Quellen – wenn man lange genug suchte, fand sich immer ein Verrückter, der auch noch das abgedrehteste Vorhaben sponserte –, bekam man seine Abhandlung wiederum in keiner der anerkannten Zeitschriften veröffentlicht, weil diese einem unterstellten, man habe sich von seinen Geldgebern beeinflussen lassen. Und was nicht in den anerkannten Zeitschriften publiziert war, existierte praktisch nicht: So biss sich die Katze ständig selber in den Schwanz.
Endlich waren sie da. Ihre Kopfschmerzen hatten sich unterwegs zu einem dumpfen, regelmäßigen Pochen hinter ihren Schläfen zusammengezogen, an das man sich gewöhnte. Bestimmt würde es bald ganz nachlassen.
Neu war das seltsame Prickeln in ihrer Hüfte. Das kam bestimmt vom langen Sitzen, erst im Flugzeug, dann auf dem Beifahrersitz. Wie sollte man sich auch entspannen, wenn selbst einen Tag vor Heiligabend alle um einen herum fuhren wie die Wahnsinnigen?
Das Haus sah noch genauso aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Der Garten ebenfalls, abgesehen davon, dass er schrecklich vertrocknet wirkte.
»Das ist gewöhnungsbedürftig«, meinte Brenda. »Dass Weihnachten im Hochsommer ist, meine ich.«
Charlotte blinzelte zum wolkenlosen Himmel hinauf, in die gluthelle Sonne. »Ich weiß nicht … War es damals, als wir hier wohnten, an Weihnachten auch derart heiß? Ich kann mich nicht erinnern.«
»In der Kindheit war immer alles besser«, meinte Brenda und fügte mit einem Seitenblick auf ihre Adoptivtochter hinzu: »In unserer Kindheit zumindest.«
Der Weihnachtsbaum stand in der Eingangshalle und sah mindestens so prächtig aus wie der im Weißen Haus, von dem Charlotte auf dem Herflug ein großes Foto in einer Zeitung gesehen hatte. Unter dem Baum lagen bereits die Geschenke, geheimnisvoll verpackt in glitzerndes Papier, ein Anblick, der in den beiden Kindern eine Ungeduld auslöste, die man fast mit Händen greifen konnte.
»Lass mich mal an meinen Koffer«, sagte Charlotte zu Thomas. »Ich will auch was drunterlegen, wenigstens ein paar Kleinigkeiten …«
Poch. Poch. Poch. Man gewöhnte sich daran. Vielleicht würde sie Brenda nachher um ein Aspirin bitten.
Sie ging in die Hocke, griff nach dem umlaufenden Gurt.
Und dann riss plötzlich der Film.
Dann ist da wieder Licht, Licht und ein Geruch, den sie kennt, bloß weiß sie nicht mehr, woher, ein stechender, unangenehmer Geruch nach zu viel Sauberkeit.
Und Brenda ist da, ihr vollmondrundes Gesicht unter den braunen Locken, die sie bis zum Ende ihres Lebens nie gebändigt kriegen wird. »Alles in Ordnung«, sagt sie und: »Mach dir keine Sorgen.« Dabei sieht sie aus, als sei nichts in Ordnung und als sei sie es, die sich Sorgen macht.
Aber Charlotte glaubt ihr, weil sie ihre beste Freundin ist und sie noch nie belogen hat, sagt »Gut« und schläft wieder ein.
Als sie das nächste Mal aufwachte, war sie allein und klar genug im Kopf, um zu begreifen, dass sie sich in einem Krankenhaus befand. Ach ja, Kopf, das war so ein Stichwort … Sie hatte keine Haare mehr. Wenn sie sich an den Kopf fasste, fühlte sie eine Glatze und hier und da ein paar Stellen, an denen neue Haarspitzen zum Vorschein kamen. Und am Hinterkopf klebte ein gigantischer Verband.
»Was ist mit mir passiert?«, fragte sie die erste Krankenschwester, die das Zimmer betrat.
Die hob abwehrend die Hände. »Lo siento, no hablo inglés.«
»Yo quería saber lo que me pasó«, wiederholte Charlotte ihr Anliegen auf Spanisch.
Die schmale dunkelhäutige Frau lächelte traurig. »Lo siento. Vos tened que preguntar al médico.«
Der Arzt kam wenig später, setzte sich an ihr Bett und fragte, wie es ihr ginge. Er trug eine altmodische Brille. Das Gesicht dahinter war von Hunderten scharfer Falten durchfurcht, Sorgenfalten allesamt. Zusammen mit seinen ausgeprägten Tränensäcken erinnerte er an einen melancholischen Hund, einen Boxer vielleicht.
»Ich weiß nicht«, bekannte Charlotte. »Ich spüre irgendwie gar nichts.« Sie fasste an ihren Verband. »Sie haben mich operiert?«
»Wir mussten.« Noch mehr Sorgenfalten, noch mehr Traurigkeit. »Sie haben einen Tumor am Hirnstamm, der ungefähr so groß war.« Er deutete mit den Händen in etwa die Umrisse eines Hühnereis an. »Er hat auf Ihr Gehirn Druck ausgeübt und so Ihre Ohnmacht ausgelöst. Wir haben entfernt, was zu entfernen war – aber leider war das nicht einmal die Hälfte.«
Charlotte wartete darauf, dass irgendein Gefühl einsetzte, Angst, Panik, Entsetzen oder so etwas, aber da war nichts. Nur eine große, gleichgültige Leere.
»Das klingt … nicht gut«, sagte sie schließlich.
»Es ist auch nicht gut. Nach allen Maßstäben heutiger Medizin ist Ihr Tumor inoperabel. Vermutlich hat er auch bereits Metastasen abgesetzt. Das Einzige, was wir versuchen können, ist eine starke Chemotherapie.«
»Mit was für Aussichten?«
»Schlechten.«
Jetzt endlich stieg ein Gefühl auf. Eine sanfte, stille Traurigkeit. »Ich bin doch erst vierunddreißig«, sagte Charlotte leise.
Der Arzt sah sie so leidvoll an, als sei sie sein eigen Fleisch und Blut. »Leider, Señora, ist das in diesem Fall kein Vorteil. Wenn Sie Krebs haben, ist die Prognose umso besser, je älter Sie sind. Weil die Zellen sich in der Jugend noch sehr schnell teilen, verstehen Sie?«
»Wann soll es losgehen?«
»In ein paar Tagen. Sobald Ihre Operationswunde gut genug verheilt ist.«
Am nächsten Morgen tauchte ihre Mutter auf. Mutter! Es kam Charlotte irgendwie unwirklich vor, sie an ihrem Bett stehen zu sehen.
»On va t’amener à Paris«, sagte sie.
Charlotte erschrak. Nach Paris? In die Obhut ihrer Mutter? In diese Wohnung womöglich, die ein Museum der Familiengeschichte war, ach was, ein Familiengrab? »Ich will nicht nach Paris.«
»Red keinen Unsinn. Du gehörst in die Hände der besten Ärzte der Welt, und das so schnell wie möglich«, erklärte sie mit derartiger Bestimmtheit, als müsse der Tumor in Argentinien zurückbleiben und sich ein anderes Opfer suchen, wenn sie nur rasch genug aufbrachen. »Dein Vater spricht gerade mit dem Chefarzt.«
»Ich will aber nicht«, wiederholte Charlotte.
Mutter sah sie ungläubig an. »Was soll das heißen?«
»Dass ich hierbleibe.«
»Hier?« Sie sagte es auf eine Weise, die dieses eine Wort wie Hier? Am Ende der Welt? Bei den Wilden? klingen ließ.
Später tauchte endlich Brenda wieder auf. »Was ist denn mit deiner Mutter los?«, wollte sie wissen. »Ich bin ihr auf dem Flur begegnet. Sie war ganz … ich weiß nicht. Habt ihr gestritten?«
Charlotte schluckte. »Brenda?«, bat sie leise und mit dem Gefühl, sich etwas Ungehöriges anzumaßen, »ich würde gern … Darf ich …?«
Brenda riss die Augen auf. »Was denn?«
»Darf ich noch eine Weile bei euch bleiben?«
Brenda schluchzte los, fiel ihr um den Hals. »Bleib«, flennte sie. »Bleib, so lange du willst.«
Die Direktflüge in die USA waren so kurz nach Silvester alle aus gebucht. Hiroshi musste einen Flug über Hawaii nehmen, wo er drei Stunden Aufenthalt hatte. Drei Stunden, die es irgendwie herumzubringen galt. Er hielt zunächst Ausschau nach Videokameras und Verfolgern. Videokameras entdeckte er reichlich, Verfolger keine, was daran liegen mochte, dass da keine waren, oder daran, dass er keine Ahnung hatte, wie man Verfolger erkannte.
Als er seine Paranoia ausreichend gepflegt hatte, ging er in eines der Restaurants im Transitbereich. Während des Fluges hatte es geradezu lächerlich wenig zu essen gegeben, und ein Hamburger war jetzt besser als nichts.
Viel war nicht los um diese Zeit. Zwei Tische weiter saß eine Frau mit zwei Kindern, Jungs, die mit Pommes und irgendwelchen gebackenen Teilen beschäftigt waren, die man in Soße tunkte. Die Frau sah zu ihm herüber, einen Tick zu lange, als dass es nur ein Blick gewesen wäre, den man einem Fremden zuwarf.
Hiroshi musste zweimal hinschauen, ehe ihm klar wurde, dass er diese Frau kannte.
»Dorothy?«, fragte er verdutzt.
Sie lächelte. Es war ein seltsames Lächeln, in dem sich Schmerz und Erleichterung mischten. »Hallo, Hiroshi. Ich war mir ehrlich gesagt nicht ganz sicher …«
Er konnte es nicht fassen. »Was machst du denn hier?« Er betrachtete die beiden Buben, von denen der ältere sechs oder sieben sein mochte. »Sind das etwa deine?«
Dorothy nickte. »Nathan und Matthew.«
»Du bist also verheiratet.«
»Ja. Schade, dass Jim schon ein paar Tage eher zurückmusste, sonst hättest du ihn gleich kennenlernen können. Er ist IT-Spezialist, da gibt’s zum Jahreswechsel immer irgendwelche Probleme. Wir waren über Weihnachten bei meinen Schwiegereltern hier. Die Kinder lieben das, den Strand vor allem …«
»Das kann ich mir vorstellen.« Aber eigentlich konnte er es nicht.
»Und du?« Sie musterte ihn.
Und er? »Na ja«, meinte Hiroshi.
»Hast du …«, begann sie, biss sich auf die Lippen, fragte: »Bist du glücklich geworden?«
Hiroshi sah sie an. Sie war es zweifellos: glücklich.
»Nein«, gestand er. »Nein, bin ich nicht.« Ganz und gar nicht. Er hielt inne, dachte zurück, an alles, was geschehen war, was er getan hatte. »Dorothy … es tut mir leid wegen damals. Ich hätte nicht anders handeln können. Aber ich hätte es … taktvoller tun sollen.«
Dorothy musterte ihn einen Moment lang, unergründlich, und versicherte ihm, es sei in Ordnung, sie trage ihm nichts nach. Und dann musste sie schon aufbrechen, zumindest sagte sie das, für ihren Flug nach Portland.
Sein Flug ging nach Los Angeles und erst eine Stunde später, sodass er viel Zeit hatte nachzudenken. Auch auf dem Weiterflug tat er nicht viel anderes. Konnte dieses Wiedersehen Zufall sein, wenn das mit Charlotte damals keiner gewesen war? Es wäre intellektuell unredlich gewesen, sich das so zurechtzubiegen. Hiroshi hatte das deutliche Gefühl, dass ihm das alles etwas sagen wollte – er verstand nur nicht, was.
Was er auch gerne gewusst hätte, war, wie Dorothy heute über die Sache damals dachte. Über jenen Sonntagmorgen, an dem er so brutal mit ihr Schluss gemacht hatte. Ob sie heute froh war, dass es so gekommen war, weil sie andernfalls nicht glücklich mit ihrem Jim verheiratet gewesen wäre und es Nathan und Matthew nicht gegeben hätte? Oder ob sie es in einem versteckten Winkel ihres Herzens doch noch bedauerte, ein ganz kleines bisschen zumindest? Das hätte er wirklich gerne gewusst.
Aber so viel Zeit war nicht gewesen, und die Situation hatte auch nicht zu derartigen Fragen eingeladen. Zwar hatte er jetzt ihre Telefonnummer – sie lebte in Oregon –, doch irgendwie wusste er, dass er sie das nie fragen würde. Und sei es nur, um sich die Illusion zu bewahren, dass dieser Jim, den kennenzulernen er nicht die geringste Lust verspürte, letzten Endes nur ein Ersatz gewesen war.
Wenn er auf sein Leben zurückblickte, auf alles, was geschehen war, erschien ihm in diesem Augenblick alles überschaubar, alle Ereignisse und Entscheidungen von unausweichlicher Folgerichtigkeit. Doch das half ihm nicht weiter. Als er in Los Angeles landete, war er immer noch so ratlos wie vor dem Flug.
Dafür war er beim Aussteigen so in Gedanken versunken, dass er die Männer, die auf ihn warteten, erst bemerkte, als es schon fast zu spät war.
Bud, dem es gefiel, wenn ihn die anderen The Brain nannten, hob sein Funkgerät an die Lippen. »Bingo. Er steht in der Schlange vor der Passkontrolle.«
Er hatte keinen Zweifel, dass das der Mann war, den sie suchten. Zwar war es nicht gerade einfach, Japaner voneinander zu unterscheiden, aber er hatte sich in die Fotos vertieft wie ein Bekloppter; er hätte den Typ selbst mit falschem Bart und Sonnenbrille erkannt.
Ziemlich clever, wie Coldwell das anpackte. Nicht nur, dass er tatsächlich Kontakte zum Heimatschutzministerium hatte und damit zu der Stelle, die die Daten aller Flugpassagiere sammelte, die nach Amerika kamen – nein, auch die Sache mit den verschiedenartigen Schreibweisen japanischer Namen: Da musste einer erst mal drauf kommen. An so was merkte man, dass Coldwell ziemlich lange in Asien gelebt hatte. Er kannte die ganzen Tricks.
Es war fast schon langweilig, wie einfach das laufen würde.
Er hob das Funkgerät wieder, das verschlüsselt funkte und selbstredend völlig illegal war. »Bud an alle. Wir schnappen ihn uns, wenn er aus dem Zoll kommt. Gruppe Blau wartet im Gang rechts, Gruppe Gelb im Gang links. Und denkt dran: Es soll möglichst unauffällig ablaufen.«
Im Grunde war das eine überflüssige Durchsage, denn sie hatten auf der Herfahrt alles haarklein durchdekliniert. Aber ein paar von seinen Jungs waren eher Muskeln als Hirn, da konnte es nicht schaden, die Details noch mal in Erinnerung zu rufen.
Jetzt stand Kato vor dem Schalter, reichte dem Beamten seinen Pass und die Greencard. Der Beamte checkte beides, nickte, reichte alles zurück und winkte ihn weiter.
»Er kommt«, gab Bud The Brain durch.
Aber irgendwie musste Kato etwas gemerkt haben. Jedenfalls ging er weder nach rechts noch nach links, sondern bückte sich blitzschnell unter einem Absperrband durch und flitzte dann die Treppe dahinter hinauf, die in einen Bereich führte, den Bud nicht kannte.
Shit. Nun wurde es doch nicht langweilig.
»Brain an alle. Er hat Lunte gerochen. Er ist die Treppe hinter der Immigration hoch – weiß jemand, was da oben ist?«
Ein Knacken. Jemand meldete sich kichernd. »Nichts. Da oben ist nichts.«
»Was soll das heißen? Irgendwas muss da sein, wenn eine Treppe raufführt.«
Es war Sergej. Sergej hatte hier bis vor zwei Wochen noch als Taschendieb gearbeitet und kannte den Flughafen besser als die Architekten, die ihn gebaut hatten. »Da sollen die Büros der Zollverwaltung reinkommen, wenn die Baracke beim Terminal 1 aufgelöst wird. Im Oktober oder so. Bis jetzt sind da oben nur leere Räume und verschlossene Türen.«
»Und wo kommt er raus?«
»Nirgends«, kicherte Sergej. »Das ist ’ne Sackgasse. Unser Freund steckt in der Falle.«
Das war ja nun doch wieder langweilig. »Okay, dann holen wir ihn uns. Gruppe Gelb zu mir, Gruppe Blau sichert.«
Er wartete an der Treppe, die freie Hand in der Tasche, die Knarre griffbereit, falls der Typ zurückkam und kämpfen wollte. Das hätte zwar Aufsehen gegeben, aber lieber ein bisschen Aufsehen, als den Typen entwischen zu lassen. Coldwell würde das zur Not schon irgendwie regeln.
So weit kam’s dann doch nicht. Die vier Jungs von Gruppe Gelb waren da wie der Blitz. Bud öffnete die Absperrung. Er trug einen offiziellen Overall und einen Ausweis auf der Brust, er durfte das. Und nach oben.
Der Gang war tatsächlich völlig kahl, die meisten Türen steckten noch in Schutzfolie, sogar die Schlösser waren versiegelt. Die erste Ecke. Sie sicherten, ehe sie die Kurve nahmen. Dahinter war nur noch mehr leerer Gang.
Sergej grinste sich eins. »Ende Gelände«, meinte er. »Hinter der nächsten Ecke hört der Gang auf.«
Bud musste auch grinsen. Er räusperte sich und rief: »Mister Kato? Wir wissen, dass Sie da sind. Wir wollen Ihnen nichts tun. Wir wollen Sie nur zu jemandem bringen, der unbedingt mit Ihnen reden muss.«
Keine Antwort. Er gab Sergej ein Zeichen. Der sicherte, spähte um die Ecke, drehte sich wieder um. »Bist du sicher, dass er hier hoch ist?«
Shit, dachte Bud The Brain, als er selber nachsah. Der Rest des Ganges war auch leer! Der Flur endete in einer elfenbeinfarbenen Lamellenwand, und es war kein Schwein zu sehen.
»Shit!«, rief Bud. »Los, schnell zurück. Er muss doch durch eine der Türen sein.«
»Wie soll er das gemacht haben?« Sergej nervte allmählich. »Das sind Sicherheitsschlösser. Richtig gute. Für den Zoll, verstehst du? Da sparen die nicht.«
»Irgendwo muss er schließlich sein.«
»Bist du wirklich sicher, dass er hier hoch ist?«
»Du kriegst gleich eine in die Fresse, Serg.«
Sie rasten zurück zur Treppe, gingen noch mal alle Türen ab. Diejenige, bei der das Siegel fehlte, brachen sie auf. Aber dahinter war nur ein einziger großer Raum, alles Baustelle, rings um den Gang herum. Noch nicht einmal die Klimaanlage war installiert, und die Trennwände auch noch nicht.
Und es gab tatsächlich keinen anderen Ausgang und keine Spur. Es war, als hätte Kato sich in Luft aufgelöst.
Auf einmal verstand Bud The Brain, warum Coldwell ihn ermahnt hatte: »Rechnen Sie damit, dass er ein paar Tricks auf Lager hat.«
So etwas wie das hier hatte er damit wohl gemeint.
Hiroshi stand reglos hinter der Lamellenwand, die er mithilfe des Zauberstabes und der Naniten gerade noch rechtzeitig eingezogen hatte, hielt die Luft an, lauschte. Er hörte sie kommen, hörte sie erregt diskutieren und wieder abziehen. Gleich darauf hörte er etwas krachen: Offenbar brachen sie eine der Türen auf, die er passiert hatte, weil sie ihn dahinter vermuteten.
Er senkte den Blick, spähte auf das Display seines Zauberstabs, scrollte mit geräuschlosem Tastendrücken die darin gespeicherten Steuersequenzen durch. Der Platz im Speicher war begrenzt. Das Programm, um Gänge zu machen, hatte er auf seinen Laptop zurückverlagert, als es darum gegangen war, den Jägerkomplex zu entwickeln. Dumme Sache. Zum Glück war das Programm, das Garagen baute, noch drauf gewesen. Und zum Glück hatte es auch funktioniert, eine extrem verformte Garage zu bauen – kein Dach, ein nur zehn Zentimeter breites Garagentor, das zur Flurwand hin zeigte und dadurch unsichtbar blieb, eine Lamellenwand vom Boden bis zur Decke.
Das war knapp gewesen. Richtig, richtig knapp.
Immerhin, was das Verfolgtwerden anbelangte, hatte er sich auf Hawaii unnötig Sorgen um seinen Amateurstatus gemacht: Er hatte die Männer, die ihm auflauerten, erkannt.
Die Frage war, ob sie sich das nächste Mal noch genauso auffällig verhalten würden. Wohl nicht.
Keine Frage dagegen war, ob es ein nächstes Mal geben würde. Das würde es ohne Zweifel.
Irgendwann wurde es still. Hiroshi wartete trotzdem weitere zwei Stunden, was in der drangvollen Enge seines Verstecks eine Qual war. Als die Luft unerträglich wurde, löste er das Programm aus, das die Naniten veranlasste, alle Atome, die sie herbeigeschafft hatten, an ihren Ursprungsort zurückzuschaffen. Es dauerte ein paar Minuten, dann war die Wand wieder spurlos verschwunden.
Der Gang war verlassen, niemand lauerte ihm auf. Als er unter der Absperrung am Fuß der Treppe hindurchschlüpfte, tauchte ein Wachmann neben ihm auf und herrschte ihn an, was er da wolle und ob er nicht sehe, dass hier kein Zugang sei?
»Ich dachte, da sind vielleicht Toiletten«, erwiderte Hiroshi.
»Die sind da vorne links«, erklärte der Mann missgestimmt und wedelte mit der Hand in eine schwer auszumachende Richtung. »Folgen Sie einfach den Symbolen.«
Hiroshi bedankte sich und sah zu, dass er in der Menge verschwand.
Er würde eine Entscheidung treffen müssen.
6
Vom Auto aus betrachtete Hiroshi die still daliegende Vorortstraße und das Haus von Rodney und Allison Alvarez, in dem er so oft zu Gast gewesen war und das er heute zum letzten Mal betreten würde.
Sie waren beide daheim. Er hatte sie ankommen sehen, hatte beobachtet, dass sie die Garage schon ganz selbstverständlich benutzten, so, als habe sie seit jeher da gestanden. Das gefiel ihm.
Er warf einen Blick auf die Zeitung, die neben ihm auf dem Beifahrersitz lag. Sind die Haie ausgestorben?, lautete eine der Überschriften auf der Titelseite.
Das gefiel ihm nicht.
Noch hatte niemand die Verbindung gezogen, aber das war nur eine Frage der Zeit. In einem Artikel über die Minamata-Krankheit hatte Hiroshi gelesen, dass Haie besonders viel Methylquecksilber einlagerten; das Fleisch mancher Haie wies einen so hohen Methylquecksilber-Gehalt auf, dass man die maximal tolerierbare Tagesdosis schon überschritt, wenn man nur fünf Gramm davon verzehrte. Kein Wunder, dass diese Tiere die hauptsächlichen Opfer seiner Sammler geworden waren.
Er seufzte, stieg aus. Jeder Schritt fiel ihm schwer.
Sein Besuch überraschte sie. Sie freuten sich und meinten es so. Allison war ganz aus dem Häuschen. »Und ich hab bloß Spaghetti auf dem Herd! Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst –«
»Spaghetti sind großartig«, versuchte Hiroshi sie zu beruhigen.
»Und das mit der Garage … und mit der extraterrestrischen Sonde … Rod hat mir alles erzählt, aber ehrlich, ich hätt kein Wort geglaubt, wenn nicht plötzlich diese Garage da gewesen wäre … eine Garage! Ausgerechnet! Ich hab eine Million Fragen an dich, damit du’s gleich weißt.«
Hiroshi musste lächeln. »Aber vielleicht muss ich die nicht alle hier im Flur beantworten?«
»Nein, klar. Hach, was bin ich für eine lausige Gastgeberin! Komm rein, immer nur rein; warte, ich hol noch Teller und Besteck … Rod, kümmerst du dich um den Wein?«
Dann saßen sie am Tisch, und erstaunlicherweise reichten die Spaghetti auch für drei. »Ich koch immer die doppelte Menge und mach aus dem Rest Nudelsalat für’s Büro«, erklärte Allison. »Und Tomatensoße, na, die lässt sich leicht strecken mit ein bisschen Konzentrat …«
»Schmeckt großartig«, versicherte Hiroshi.
»Genieß es«, sagte sie und richtete ihre Gabel auf ihn. »Denn nachher musst du uns alles über die Alien-Sonde erzählen. Haarklein. Ehrlich gesagt habe ich auch vor, dich zu überreden, dass wir das publik machen dürfen. Ich meine – wenn wir das hieb- und stichfest beweisen könnten, dass Außerirdische schon vor Jahrtausenden eine Forschungssonde auf die Erde geschickt haben, dann wäre das die Sensation des Jahrhunderts. Und wer, wenn nicht wir, das SETI-Institut, sollte das bekannt geben? Die Suche nach außerirdischem Leben, nach fremder Intelligenz, das ist schließlich unser Daseinsgrund! Okay, Rodney hat dir versprechen müssen, nichts zu verraten, aber warum? Ich meine … das musst du mir wirklich genauer erklären!«
»Deswegen bin ich hier«, sagte Hiroshi.
»Jetzt lass ihn doch erst mal zu Ende essen, Ally«, meinte Rodney. Dann musterte er die Schüsseln und Teller. »Hast du eigentlich neues Geschirr gekauft?«
Allison blinzelte, warf ihrem Mann einen misstrauischen Blick zu. »Jetzt lenk nicht ab. Hab ich schon jemals Geschirr gekauft, ohne dich zu fragen, ob es dir … Oh.« Sie blickte auf ihren Teller hinab. »Das ist ja echt seltsam. Ich hab doch unsere ganz normalen … Der glänzt auf einmal so golden. Liegt das am Licht?« Sie hob den Teller hoch. »Der ist richtig schwer!«
»Er ist aus Gold«, sagte Hiroshi, weil es Zeit war, dass sie es erfuhren.
Rodney runzelte die Stirn. »Das ist ein neuer Trick von dir, oder?«
»Was für ein Trick?«, wollte Allison wissen.
Hiroshi nickte. »Während ich hier sitze, umschwirren mich Milliarden von Naniten. Sie bewegen sich in meinem Körper, außerhalb davon, im Boden unter mir, in der Luft … überall. Auf meinem Weg hierher haben sie die jeweilige Umgebung nach Goldatomen abgesucht, sie eingesammelt und mit sich transportiert. Als ich mich an euren Tisch gesetzt habe, haben sie angefangen, diese Goldatome herzutransportieren, durch eine mikroskopisch dünne Transportröhre, die den Boden eures Hauses und eines der Tischbeine durchquert. In der Tischplatte selber waren Naniten aktiv, die nach und nach alle Atome, aus denen das Porzellan eurer Teller bestand, abtransportiert und durch Goldatome ersetzt haben, und zwar von innen nach außen, weil der Goldglanz erst sichtbar werden sollte, wenn alles fertig ist. Auf diese Weise seid ihr jetzt zu drei goldenen Tellern gekommen.«
Die beiden starrten ihn mit offenen Kinnladen an.
»Sozusagen mein Mitbringsel«, fügte Hiroshi hinzu und dachte: Mein Abschiedsgeschenk. Denn wir sehen uns heute Abend zum letzten Mal.
Allison blinzelte, sah auf ihren Teller hinab und bekannte mit matter Stimme: »Ich hab keine Ahnung, woraus Porzellan überhaupt besteht.« Es war eine seltsam unpassende Reaktion, die nur zeigte, wie geschockt sie war.
»Kaolin, Feldspat und Quarz«, sagte Hiroshi. »Viel Silizium und Sauerstoff, etwas Natrium und Aluminium.«
»Und woher wussten diese … Naniten, dass sie die Spaghetti nicht auch in Gold umwandeln sollen?«
»Spaghetti bestehen aus Stärke. Das sind Polysaccharide. Ein Unterschied wie Tag und Nacht.«
Allison barg ihr Gesicht in Händen, verharrte einen Atemzug lang so. »Oh my god!« Sie gab ihr Gesicht wieder frei. »Teller, die sich in reines Gold verwandeln, während ich davon esse! Das ist so was von abgefahren, ich kann’s gar nicht sagen.«
Rodney musterte Hiroshi von oben bis unten. »Und wie hast du das gesteuert? Ich seh deinen Zauberstab gar nicht.«
»Ich brauche keinen Zauberstab mehr. Die Naniten sind inzwischen direkt mit meinem Gehirn gekoppelt. Sie lesen sozusagen meine Gedanken.«
»Mit deinem Gehirn gekoppelt?« Rodneys Augen wurden so groß, dass man befürchten musste, sie könnten herausfallen. »Das willst du mir nicht im Ernst erzählen, oder?«
»Doch, Rodney. Es ist so. Ich habe eine Funktion entdeckt, die jedes meiner Neuronen mit einem Anschluss –«
»Du willst mir weismachen, dass die Technik von Aliens mit einem menschlichen Gehirn kombinierbar ist?« Rodneys Augen funkelten. Er war dicht davor, ernsthaft ärgerlich zu werden.
Hiroshi legte das Besteck zur Seite, mit bedächtigen Bewegungen und in dem Bewusstsein, das dies der Abend des Abschieds war. »Es gibt eine Erklärung dafür«, sagte er. »Aber sie wird dir nicht gefallen.«
»Raus damit. Und lass meine Sorge sein, was mir gefällt und was nicht.«
»Die Sonde war nicht das, wofür wir sie gehalten haben. In Wirklichkeit ist alles ganz anders.«
Und dann sagte er es ihnen.
Eine Woche später entdeckten Astronomen bei einer routinemäßigen Durchmusterung des Sternenhimmels ein helles Objekt im Sternbild der Fische, das sich auffallend schnell bewegte. Es dauerte nicht lange, bis feststand, dass es einem Kurs folgte, der es direkt zur Erde führen würde.
Man richtete das Weltraumteleskop darauf. Die Aufnahmen zeigten ein längliches Objekt, das mindestens zwanzig Kilometer lang sein und einen Durchmesser von wenigstens fünf Kilometern haben musste. Ein Gigant. Wenn dieses Objekt mit der Erde kollidieren sollte, würde dies gleichbedeutend sein mit dem Ende der Welt.
Die Staatschefs aller raumfahrenden Nationen setzten sich miteinander in Verbindung. Pläne, die man für den Fall eines bevorstehenden »Deep Impact« mehr oder minder eingehend vorbereitet hatte, wurden aus den Schubladen gezogen, in denen sie vor sich hin gestaubt hatten. Es stellte sich heraus, dass die meisten dieser Pläne hoffnungslos veraltet waren.
Trotz aller Bemühungen, die Sache geheim zu halten, ließ sich nicht verhindern, dass etwas durchsickerte. Im Internet kursierten Gerüchte, ein Meteorit sei auf Kollisionskurs mit der Erde. Regierungssprecher weigerten sich, diese Gerüchte zu kommentieren. Zur selben Zeit rechneten Militärs die Reichweiten ihrer Atomraketen nach, bildeten sich verblüffende Allianzen zwischen einstigen Todfeinden. Satelliten und Radarantennen richteten sich auf das näher kommende Objekt.
Sie stellten etwas fest, das allen, die davon erfuhren, einen Schauder über den Rücken jagte.
Das sich nähernde Objekt, das zeigten die Computerberechnungen eindeutig, würde nicht mit der Erde kollidieren.
Denn – es bremste ab …
7
Heute war der Tag. Sein Computer erinnerte ihn daran, obwohl es nicht nötig gewesen wäre. Er hätte es nicht vergessen.
Jens Rasmussen ging zu seinem Bürosafe, öffnete ihn und nahm den wattierten Umschlag heraus, den ihm Hiroshi Kato in die Hand gedrückt hatte, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Er hatte ihm ein Datum genannt und gesagt, wenn ich mich bis dahin nicht bei Ihnen gemeldet habe, öffnen Sie ihn bitte.
Das tat er nun. Ein Blatt Papier und eine beschreibbare CD waren darinnen. Er las den Brief, musste nach Luft schnappen und ihn noch einmal lesen.
Wenn alles so funktioniert hat, wie ich es erwarte, dann sollte sich seit einigen Tagen ein sehr großes Objekt auf die Erde zu bewegen, stand da in Hiroshis eleganter, präziser Handschrift. Das wird möglicherweise noch nicht öffentlich bekannt sein, aber es könnte sein, dass entsprechende Gerüchte kursieren: Sie sind wahr.
Auf der beiliegenden CD habe ich einen kurzen Vortrag aufgenommen, in dem ich alle Hintergründe erkläre. Bitte senden Sie diese Datei an alle Pressedienste und stellen Sie sie ins Internet.
Was sollte das jetzt? Rasmussen nahm die CD aus der Jewelbox, legte sie ins Laufwerk seines Computers und startete das Video.
Hiroshi Kato erschien auf dem Bildschirm. Er saß in dem Sessel vor dem Fenster seines Denkzimmers, vor der Kulisse des Gartens. Er lächelte nicht. In seinen Händen hielt er Karteikarten, die wohl Stichworte für seine Ansprache trugen, doch er warf keinen einzigen Blick darauf.
»Die meisten von Ihnen erinnern sich noch an den rätselhaften Raketenstart im Norden der kanadischen Provinz Saskatchewan«, begann er. »Das war ich. Ich habe diese Startrampe gebaut, die Rakete gestartet und die Startrampe anschließend wieder aufgelöst, was bedauerlicherweise zu beträchtlichen Schäden in dieser Region geführt hat. Was die meisten von Ihnen nicht wissen, ist, dass es schon einmal einen solchen rätselhaften Raketenstart gegeben hat, und zwar von einer russischen Insel aus. Er ist damals offiziell als Raketentest bezeichnet worden und nach kurzer Zeit aus den Nachrichten verschwunden. Ich will Ihnen in den kommenden Minuten erzählen, was tatsächlich geschehen ist und was das alles mit dem Objekt zu tun hat, das sich derzeit der Erde nähert.«
Er berichtete von den Vorfällen auf der Insel Saradkov, von der Forschungssonde, die vor Jahrtausenden auf der Erde aufgeschlagen und all die Zeit im ewigen Eis gefangen gewesen war, und was passiert war, als sie aktiv wurde. Er erzählte, wie er einige der Naniten gerettet hatte, um sie auf eigene Faust zu erforschen. Er umriss seine eigenen Studien auf dem Gebiet sich selbst replizierender Roboter und wie ihm die dabei gewonnenen Erfahrungen geholfen hatten, die Funktionsweise der Naniten zu entschlüsseln.
»Bei dem Flugkörper, der sich in diesen Stunden und Tagen auf die Erde zubewegt, handelt es sich um eine Raumstation, ein Habitat für mindestens eine Million Menschen. Erbaut wurde sie von Naniten, die ich in den Asteroidengürtel geschickt habe, jene Zone zwischen dem Planeten Jupiter und dem Planeten Mars, in dem die Trümmer eines zerbrochenen Planeten kreisen. Diese Asteroiden bieten sich als Abbaustelle für Rohstoffe aller Art an, und das haben sich die Naniten in meinem Auftrag zunutze gemacht. Sie haben sich zunächst selbst vervielfältigt, bis sie zahlreich genug waren – und mit dem Wort ›zahlreich‹ sind hier Größenordnungen von Trillionen von Trillionen solcher Roboter gemeint, derart viele, dass wir kaum geeignete Zahlwörter dafür haben, sondern Zuflucht zu Zehnerpotenzen nehmen müssen. Anschließend haben sie den Bau dieser Raumstation in Angriff genommen, im Dämmerlicht des Asteroidengürtels, in der Leere des Alls. Als sie fertig war, haben die Naniten sich daraus zurückgezogen und ihr den Startbefehl erteilt, worauf sie sich mithilfe ihrer Triebwerke in Richtung Erde in Bewegung gesetzt hat. Nach meinen Berechnungen sollte sie in wenigen Wochen in eine stabile Umlaufbahn um die Erde einschwenken, einsatzbereit für jeden Zeitpunkt, an dem wir entscheiden, sie zu besiedeln.
Ich würde gern sagen können, dass ich diese Raumstation konstruiert habe, aber das ist nicht der Fall. Vielmehr enthält die Steuereinheit jedes einzelnen Komplexes von Nano-Robotern einen Informationsspeicher, den man sich am besten als eine Art Äquivalent zu der DNS einer Zelle vorstellt. So wie unsere DNS in gewisser Weise eine Geschichte unserer gesamten Evolution enthält, Gene, die, einfach gesagt, Körperteile entstehen lassen könnten, die wir gar nicht mehr benötigen – diese Gene sind zwar vorhanden, aber abgeschaltet –, so enthält auch dieser Informationsspeicher Bauanleitungen für Dinge, die zu bauen bestimmt nicht Teil der Aufgabe war, mit der die Naniten einst ins All geschickt worden sind. Es gibt Millionen dieser Anleitungen. Sie sind schwierig zu entschlüsseln, und es wird Jahrzehnte dauern, allein um herauszufinden, was jedes dieser Programme erbaut. Und wenn wir das wissen, wissen wir noch nicht viel über die Eigenschaften dieser Dinge.
Was ich damit sagen will, ist, dass der Bauplan für diese Raumstation von den Schöpfern der Nano-Roboter stammt. Ein Handbuch dafür haben sie jedoch nicht beigelegt. Entsprechend umsichtig sollte vorgehen, wer sich ihr nähert. Meinen Simulationen zufolge droht keine Gefahr; es scheinen keine Waffen oder dergleichen eingebaut zu sein. Aber wer diese Raumstation betritt, ist in der Situation eines Menschen des Mittelalters, der versucht, sich an Bord eines Jumbo-Jets zurechtzufinden: Mit Missverständnissen ist zu rechnen.
Sie werden fragen, warum ich das getan habe. Der Grund ist einfach: Ich wollte ein Zeichen setzen. Diese Raumstation ist so groß, dass man sie von überall auf der Welt am abendlichen Himmel sehen wird, und sie verkörpert eine der unseren weit überlegene Technologie. Ich fordere alle raumfahrenden Nationen auf, Expeditionen auf diese Raumstation zu entsenden mit dem Auftrag, ihre Funktionsweise zu ergründen. Wir bekommen als Menschheit dadurch die Chance, unendlich viel zu lernen.
Und das ist erst der Anfang. Die Naniten können, sobald wir den Umgang mit ihnen gelernt haben, unser Leben in einer Weise verändern und verbessern, wie es sich heute noch kaum vorstellen lässt. Die Möglichkeiten, die sich durch die Manipulation der Materie auf atomarer Ebene bieten, sind ungeheuer. Es wird nie mehr Mangel an Energie herrschen und nie mehr Mangel an Rohstoffen. Wir werden alles, was wir nicht mehr benötigen, zu hundert Prozent wiederverwerten. Niemand wird mehr hungern, niemand wird mehr unangenehme Arbeit verrichten müssen. Wir können die Erde in ein Paradies verwandeln – und es wird nicht einmal anstrengend sein.«
Er hielt inne, schien fertig zu sein, doch dann fiel ihm noch etwas ein. »Ach ja, eins noch: Es wird nicht bei dieser einen Raumstation bleiben. Die Naniten im Asteroidengürtel arbeiten bereits am nächsten Habitat, und sie vervielfältigen sich weiter. In wenigen Jahren werden so viele Habitate zur Verfügung stehen, dass wir alle in den Weltraum übersiedeln können, wenn wir wollen.«
Das Video stoppte mit dem letzten Bild.
Rasmussen schloss einen Moment die Augen. Das also war das Geheimnis gewesen. Das hatte hinter allem gesteckt. Er hatte immer das Gefühl gehabt, dass ihm Hiroshi nicht alles gesagt hatte, aber nun … nun fielen sämtliche Puzzlesteine an ihren Platz. Nun passte alles zusammen.
Doch nicht das war es gewesen, was ihn nach Luft hatte schnappen lassen, sondern die Schlusszeilen des Briefes.
Jens – wenn Sie dies hier lesen, heißt das mit großer Wahrscheinlichkeit, dass wir uns nicht mehr wiedersehen werden. Ich möchte, dass Sie wissen, dass ich Ihnen sehr dankbar bin für alles, was Sie für mich getan haben, und dass ich Sie immer als einen Freund betrachtet habe. Das Geschäftliche war nur das Spiel, das wir gespielt haben.
Alles Gute,
Hiroshi
Sie überließen es einem nicht selbst, sich anzuschnallen; nicht in einem Space-Shuttle. Bill Adamson sah zu, wie der Mann im Overall der russischen Raumfahrtbehörde ROSKOSMOS an ihm und seinen Gurten herumfingerte, und fragte sich wieder einmal staunend, wie alles so weit hatte kommen können.
Die Besprechung im Büro der Direktorin: Wie lange lag die zurück? Ein paar Tage, so kam es ihm vor. Wochen. Monate. Egal, jedenfalls war Roberta Jacobs nicht allein gewesen; eine Menge Männer waren bei ihr gewesen, als er, von geradezu hysterischen Telefonanrufen des Sekretariats aus seinem Büro geholt, den Raum betreten hatte. Alte Männer. Männer, denen man ansah, dass sie wichtig waren. Einer hatte ausgesehen wie ein Zwillingsbruder von Sidney Poitier, in Uniform, mit einer kilometerlangen Ordensleiste auf der Brust.
»Weltraumkolonisation ist nun mal Ihr Gebiet«, hatte die Direktorin gesagt, nach einleitenden Worten, deren Sinn ihm vor lauter Verblüffung entgangen war.
Mein Gebiet sind Roboter! Aber das hatte er nicht gesagt, sondern nur gefragt: »Und was heißt das bitte konkret?«
Worauf der Sidney-Poitier-Zwilling ihn unduldsam angesehen und gesagt hatte: »Dass Sie fliegen.«
Rhonda war fast ausgeflippt, als er es ihr erzählt hatte. »Du bist doch kein Astronaut, Bill! Das können die nicht von dir verlangen!«
»Ich bin fit genug, sagt der Arzt.«
»Die wollen, dass du zu einem von Aliens gebauten Raumschiff fliegst?«
»Einer muss es tun«, hatte Adamson gesagt und mühsam verborgen, dass er insgeheim jubilierte. Halleluja! Das hatte sich Kato bestimmt nicht träumen lassen, der arrogante Japs, der sich zu fein gewesen war, bei seinem Roboter-21-Projekt mitzumachen: dass er ihm, Bill Adamson, dereinst zum Trip seines Lebens verhelfen würde.
Auf dem Flug nach Baikonur hatte ihm gedämmert, dass er in einen der ganz neuen Shuttles steigen würde, und da hatte er dann plötzlich doch Bedenken bekommen. Ob man das eigentlich schon erprobt habe, hatte er jemanden gefragt.
»Klar«, war die Antwort gewesen.
»Und wie oft?«
»Einmal.«
Es war, weil es schnell hatte gehen müssen, eine von diesen internationalen Kooperationen, bei denen man nur hoffen konnte, dass niemandem irgendwelche blöden Umrechnungsfehler zwischen Inches und dem metrischen System passiert waren. Der Space-Shuttle hing an einer gigantischen russischen Trägerrakete, die der Copilot, ein blonder, verwegen aussehender Russe namens Boris, während der Aufstiegsphase steuern würde. Anschließend würde Jackson, der Pilot, den Shuttle steuern.
»Jungs«, sagte Boris gerade in das Headset, über das er mit der Leitstelle sprach, »wie wär’s, wenn ihr uns allmählich starten lasst? Nicht, dass uns am Ende noch die Chinesen zuvorkommen.«
Tatsächlich lief der Countdown längst. Luken wurden geschlossen und verriegelt, Checklisten abgehakt, es klang alles nach Routine und beruhigend. Sie waren acht Leute an Bord, vier Amerikaner und vier Russen, alles schön gleichberechtigt und politisch ausgewogen, wenn man davon absah, dass nur eine einzige Frau mitflog, eine russische Ingenieurin namens Ilena.
Endlich der Start. Eine Faust hieb ihn in seinen Sessel, ganz genau, wie man es ihm gesagt hatte. Das weiche Material, auf dem er lag, fühlte sich auf einmal steinhart an. Das Atmen wurde mühsam, geriet eher zu einer Art Hecheln. Und alles ringsum dröhnte, klar, wenn auch nicht so laut, wie er sich das ausgemalt hatte. Im Grunde fühlte es sich an wie eine besonders lange Achterbahnfahrt, auf einer Anlage mit verrosteten Schienen, so, wie es ruckelte und rumpelte.
Dann fiel der ganze Druck auf einen Schlag weg. Sein Magen hüpfte nach oben, stieß am Kehlkopf an. Gut, dass er so gut wie nichts gegessen hatte. Irgendwo krachte es, als sei etwas Wichtiges zerbrochen.
»Trägerrakete ausgekoppelt«, erklärte Boris.
»Übernehme Steuerung«, sagte Jackson.
Im nächsten Moment brüllte das Triebwerk des Shuttles los. Das war lauter als vorhin, aber nicht mehr ganz so brutal. Adamson holte mühsam Luft. Er war schon angenehmer gereist, alles, was recht war. Der Teufel sollte Hiroshi Kato holen. Wie er ihn damals auf der Party abgekanzelt hatte! Als sei sein Projekt nur so eine blöde Spielerei gewesen, die man nicht ernst nehmen musste. Dabei hatten damals wirklich wichtige Leute mitgearbeitet, fähige Leute, die Besten der Besten. Hiroshi Kato war verdammt eingebildet gewesen.
Und auch noch zu Recht, wie sich herausgestellt hatte. Das waren die Schlimmsten.
Endlich war der Aufstieg vollbracht, schwiegen die Triebwerke, herrschte Schwerelosigkeit. Dabei könne es einem leicht übel werden, hatte man ihm erklärt und ihn mit reichlich Kotztüten versorgt, aber ihm wurde nicht übel, im Gegenteil, er geriet geradezu in Euphorie. Natürlich, sie mussten angeschnallt bleiben, der Flug ging weiter. Doch er konnte seinen Kugelschreiber vor sich in der Luft schweben lassen, und wenn er ihn sacht mit den Fingerspitzen anstieß, rotierte das Ding vor ihm herum, tanzte, eierte. Faszinierend.
Er musste an alte Fernsehbilder von Weltraummissionen denken und an das, was sein Vater über Apollo 11 erzählt hatte. »Damals haben wir geglaubt, jetzt wird alles möglich«, hatte Dad mehr als einmal gesagt, mit verklärtem Glanz in den Augen. »Wir dachten, das ist der Aufbruch ins All, jetzt gibt es keine Grenzen mehr. Ich war überzeugt, dass meine Kinder auf dem Mond leben werden, meine Enkel auf dem Mars und dass meine Urenkel zu fremden Sternen aufbrechen.«
Was das anbelangte, hatte Adamson seinen Vater zeitlebens für naiv gehalten. Die Mondlandung, das gehörte für ihn in eine Reihe mit dem Sommer von ’68, Hippies, freier Liebe, LSD und Flower Power. Damals hatte ganz Amerika eine wilde Party gefeiert; klar, dass man an so was verklärt zurückdachte.
Aber jetzt und hier, in einem Space-Shuttle sitzend, auf dem Weg zu einem absolut unglaublichen Objekt, verstand er seinen Vater zum ersten Mal. Aufbruch ins All, jawohl!
»Da ist sie«, sagte Jackson plötzlich.
Durch das Fenster sah man einen hellen Fleck, der zu groß war, um ein Stern zu sein. Die Raumstation. Das Habitat in seiner rund achtzehnhundert Meilen hohen Umlaufbahn um die Erde. Das Ziel ihrer Mission.
Der Fleck wurde rasch größer, wuchs zu einem verwaschenen Kreis, war bald größer als die eingedellte Scheibe des Mondes, wuchs und wuchs, während sie sich ihm näherten. Die Raumstation war ein Koloss. Sechs Meilen lang! Ihr Shuttle war verglichen damit nur eine Fliege, die auf einen Lastwagen zuflog. Selbst ein Flugzeugträger, hätte man es geschafft, ihn ins All zu hieven, wäre klein dagegen gewesen, ach was, sogar ein ausgewachsener Öltanker hätte zwergenhaft ausgesehen gegen diese fliegende Stadt, die da vor ihnen aufwuchs!
Sich vorzustellen, dass dieses unvorstellbar große Gebilde Atom für Atom zusammengesetzt worden war, wie Hiroshi in seiner Videoansprache erklärt hatte, von Quadrillionen von Nano-Assemblern! Nicht zu fassen.
Nun war tatsächlich alles möglich.
Aber das ist alles geklaut, sagte sich Adamson verbissen. Hiroshi Kato hat sich nur eine fremde Technologie zunutze gemacht, weiter nichts.
Sie flogen über das Ding hinweg. Er musste unwillkürlich an Star Wars denken, an die Sequenz, in der Luke Skywalker und die anderen den Todesstern angriffen. Alles war so riesig, so endlos, so randvoll bebaut mit seltsamen Aggregaten, Antennen, Maschinen …
»Man wartet irgendwie darauf, dass Darth Vader auftaucht«, meinte Ilena zu ihm, und der Pilot lachte zustimmend.
Sie dachten alle dasselbe! Das berührte ihn eigentümlich. Er musste blinzeln, hatte etwas im Auge. Verdammt noch mal – er bewunderte Kato! Hatte ihn schon immer bewundert, es sich nur nie eingestanden. Hiroshi Kato war ein Genie, wenn er jemals im Leben einem begegnet war; er hatte das bloß nie gesehen, hatte sich nur bedroht gefühlt … Wie idiotisch. Kato hatte es durchgezogen, war dabei, Geschichte zu schreiben, den Weg der Menschheit in eine andere, bessere Zukunft zu lenken. Und er, Bill Adamson, war ihm immer noch gram, weil dieser magere kleine Japse damals auf eine Idee gekommen war, die ihm selber hätte einfallen können, wenn … ja, wenn sie ihm eben eingefallen wäre.
Die Raumstation rotierte langsam. Es stimmte also. Radarmessungen hatten das ergeben, und Raumfahrtexperten hatten es erwartet. Es war einfach sinnvoll, eine große zylindrische Raumstation rotieren zu lassen, weil auf diese Weise an der Innenseite eine Art Pseudoschwerkraft entstand.
Das hieß allerdings auch, dass ein Andocken auf der Außenseite praktisch unmöglich war.
Jackson steuerte den Shuttle nun über die Stirnseite, mit kleinen Stößen aus den Steuerdüsen, die sich anhörten, als klopfe jemand mit einem Hammer gegen die Außenhülle. Sie näherten sich der Nabe.
»Sieht aus wie ein Andockbereich«, meinte der Pilot.
Es war mehr als das: Es war eine Schleuse. Die Nabe war ein etwas vorstehender Zylinder, der nicht mit der Station rotierte, sondern sich so gegen sie drehte, dass er stillzustehen schien. Als sich der Shuttle näherte, fuhr eine riesige Luke auf, eine Bewegung von eleganter Leichtigkeit.
»Okay. Houston, habt ihr das gesehen? Sieht aus, als seien wir willkommen.«
»Alles Gute«, sagte die Stimme der Leitstelle.
Adamson hielt den Atem an, als der Shuttle in die Schleuse einschwebte, die so groß war, dass ein Kreuzfahrtschiff darin Platz gefunden hätte. Die Luke glitt hinter ihnen zu. Einen Moment lang geschah nichts, dann öffnete sich die Luke vor ihnen.
»Wir haben jetzt Atmosphäre draußen«, erklärte der Bordingenieur, nicht ohne Staunen in der Stimme. »Sauerstoff-Stickstoff-Gemisch. Luftdruck nur wenig unter Normalnull.«
»Funkkontakt mit der Erde abgerissen«, meldete der Copilot.
»Dann wollen wir mal«, meinte Jackson. Ein weiterer Schub brachte sie in die gewaltige Halle hinter der Schleuse, wo etwas sie sanft erfasste und zu Boden führte, zu einer weichen Landung.
»Scheint ein magnetischer Effekt zu sein«, sagte der Pilot.
Vier von ihnen würden rausgehen, in Raumanzügen, trotz allem, sicherheitshalber. So war es geplant, und es gab im Moment keinen Anlass, davon abzuweichen. Und Bill Adamson war dabei, einzig aus dem Grund, dass man ihn vor ein paar Monaten auf den Posten der bis dahin unbedeutenden Abteilung Weltraumkolonisation strafversetzt hatte.
Er war froh, dass ihm die erfahrenen Astronauten beim Anlegen des Raumanzugs halfen. Zwar hatte er den Umgang damit trainiert, so gut das in der kurzen Zeit möglich gewesen war, aber eben nicht in Schwerelosigkeit. Er war aufgeregt, als er die Bordschleuse passierte – nach Ilena, die auf ladies first bestanden hatte und damit zum ersten Menschen wurde, der den neuen Himmelskörper betrat.
Die magnetischen Sohlen der Raumanzüge funktionierten. Es war eigenartig, so einen Fuß vor den anderen zu setzen; es fühlte sich an, als hinge man kopfüber.
Schritt um Schritt. Türen, die sich in neue Räume öffneten, in Gänge, in Hallen. Von allem Bilder machen, alles beschreiben, alles dokumentieren. Bislang blieb die Funkverbindung zum Shuttle unbeeinträchtigt. Verstrebungen, Wände, Bauelemente, Schiebetüren – alles war verblüffend dünn und doch, wenn man es anfasste, versuchsweise Druck ausübte, ultrastabil. Und vor allem unfassbar präzise gefertigt. Eine Treppe, ein Geländer mit spaghettidünnen Stangen – und man konnte förmlich sehen, dass sie alle exakt den gleichen Durchmesser besaßen, dass so etwas wie Fehlertoleranz an Bord dieses Gebildes nicht existierte.
Klar, dachte Adamson. Wenn man alles aus einzelnen Atomen zusammensetzt, dann sind die abgezählt. Verglichen damit waren sämtliche herkömmlichen Herstellungsverfahren – Schmieden, Fräsen, Drehen, Schleifen, Polieren, Bohren, was auch immer – grobschlächtig, nichts als marginale Verbesserungen des Faustkeils, mit dem die technische Entwicklung einst begonnen hatte.
Ein Aufzug. »Wir riskieren es«, gab Ilena an den Shuttle durch. Die Steuerung war simpel; Adamson war schon in Hotels gewesen, in deren Aufzügen er sich schlechter zurechtgefunden hatte. Es ging abwärts, und sie konnten spüren, wie die Schwerkraft zurückkehrte. Oder zumindest etwas, das sich so ähnlich anfühlte. Die Zentrifugalkraft der rotierenden Walze. Wenn man den Kopf drehte, merkte man den Unterschied; eine eigentümliche Irritation des Gleichgewichtsempfindens.
Sie betraten einen Raum, der Fenster besaß, riesige, makellose Glasscheiben vom Boden bis zur Decke. Und jenseits davon …
Ilena hauchte etwas, das russisch klang und sehr, sehr ehrfürchtig.
Die Raumstation war hohl. Vor ihren Augen erstreckte sich eine Landschaft aus Metall, die die gesamte Innenseite der Walze bedeckte – Häuser, Wege, Seen unter ihnen, konkav an den Wänden hochsteigend, über ihnen. Eine eingerollte Welt aus schimmerndem Stahl, ein fremder Planet, der einer völlig anderen, ungewohnten Geometrie folgte. Klar, wenn man hinabging, war an jedem Ort, an den man trat, unten; man würde überall das Gefühl haben, am tiefsten Punkt eines Tals zu stehen, das sich über einem zu einer Röhre schloss.
»Eine Arche«, hörte sich Adamson sagen, dem in diesem Augenblick zu Bewusstsein kam, dass er hier und jetzt den Höhepunkt seines Lebens erlebte, den Moment, von dem er bis zu seinem letzten Tag erzählen würde. »Eine Sternenarche. Wir müssen nur an Bord gehen.«
Wasser gab es, Luft zum Atmen gab es … Menschen würden hier leben können. Sie würden diese künstliche Welt besiedeln, so ungewohnt sie auch war, und weil sich Menschen an alles gewöhnen, würden sie sich auch daran gewöhnen, jeden Punkt dieser Welt jederzeit sehen, ihren Freunden im Nachbardorf zuwinken zu können, indem sie einfach den Blick emporhoben.
Ilena seufzte. »Es wird ein Problem werden, genug Boden heraufzuschaffen, um Ackerbau und Viehzucht zu betreiben. Oder meinen Sie, dass es hier Maschinen gibt, die Nahrung herstellen?«
Adamson starrte sie entgeistert an. Na klar! Plötzlich begriff er, was ihn an dem Bild störte, das sich ihnen darbot, ohne dass er bislang den Finger hätte drauflegen können.
Es gab hier nichts Lebendiges! Keine Tiere, keine Pflanzen – nicht einmal Erdboden. Was nur logisch war, denn eins immerhin hatte er in seiner Zeit als völlig demotivierter Verantwortlicher für das Projekt Weltraumkolonisation gelernt: Das, was so schwarz oder braun auf Äckern herumlag und verächtlich als »Dreck« bezeichnet wurde, das Zeug, in dem Pflanzen, Büsche, Bäume wuchsen, war alles andere als eine simple Angelegenheit. Im Gegenteil – Ackerboden war ein hochkomplexes, noch längst nicht vollständig verstandenes System aus Mineralien, organischen Zerfallsprodukten, Mikroorganismen und Kleinstlebewesen.
Und er begriff auch, wieso es hier nichts dergleichen gab: weil die Nano-Assembler es nicht herstellen konnten. Computerchips unerhörter Dichte und Präzision, Bauteile aus Werkstoffen mit sagenhaften Eigenschaften, selbst Papiertaschentücher oder Diamantringe – all das herzustellen war ein Klacks für sie. Aber vor der Aufgabe, eine lebende Zelle zu bauen, mussten die Nano-Assembler kapitulieren. In lebenden Zellen liefen fortwährend und mit hoher Geschwindigkeit hochkomplexe Prozesse ab, wurden Proteine produziert, Abfallstoffe ausgeschieden und so weiter: Aus diesem Grund ließen sie sich nicht Atom für Atom zusammensetzen. Das zu versuchen wäre gewesen, als wolle man einen mit Vollgas laufenden Motor bauen.
Zwar bestand Lebendes aus den gleichen Atomen wie die unbelebte Welt, doch es musste heranwachsen: Das war der einzige Weg, wie es entstehen konnte. Das war ein ganz anderer Ansatz als der, den die Nano-Roboter von den Sternen verfolgten, und auch ein ganz anderer als der, den Hiroshi Kato seinen eigenen Forschungen zugrunde gelegt hatte.
Mochten die Nano-Assembler ein noch so perfektes Werkzeug sein – sie hatten dennoch ihre Grenzen.
»Was er in seiner Ansprache nicht gesagt hat«, erklärte der Verteidigungsminister in der Sondersitzung des Nationalen Sicherheitsrats, »ist, dass er die Welt genauso leicht vernichten kann, wenn er will. Diese Technologie stellt eine Waffe dar, wie es sie noch nie gegeben hat, Mr President, meine Damen und Herren. Hiroshi Kato ist damit der gefährlichste Mann, der je gelebt hat. Wir müssen seiner habhaft werden, koste es, was es wolle.«
Die anderen in der Runde nickten. Niemand war anderer Ansicht.
»Okay«, sagte der Präsident schließlich. »Tun Sie, was nötig ist. Und halten Sie mich auf dem Laufenden.«
Er war nicht der einzige Staatschef, der derartigen Rat erhielt und eine derartige Anweisung erteilte. Tatsächlich suchten schon wenige Tage nach Veröffentlichung von Hiroshis Ansprache alle Geheimdienste der Welt nach ihm, und das mit allen Mitteln.
Alle Geheimdienste – und noch jemand …