DIE INSEL DER HEILIGEN

1

Hiroshi und seine Mutter lebten im dritten Stock in einem der Häuser gegenüber der französischen Botschaft, wo sie als Wäscherin arbeitete. Sie hatten zwei Zimmer und ein Bad. Im kleineren der beiden Zimmer schlief Mutter. Das andere diente als Küche, Esszimmer und Wohnzimmer. Hinter einem Wandschirm standen Hiroshis Bett und das Regal, in dem er seine Sachen aufbewahrte. Über dem Bett hatte er ein schmales Fenster aus drei Glassegmenten, die man schräg stellen konnte, um frische Luft hereinzulassen.

Sofern es welche gab. Das war hier, nahe dem Zentrum von Tokio, nicht zu allen Jahreszeiten selbstverständlich. Im Sommer war es nachts oft so schwül und warm, dass Hiroshi nicht schlafen konnte, und manchmal half nicht einmal Regen.

So war es auch in der Nacht, in der er das Mädchen zum ersten Mal sah.

Es regnete. Leiser, silberner Regen fiel vom Himmel und schimmerte im Licht des Mondes und der Stadt wie ein magischer Vorhang. In der Wohnung roch es nach Misosuppe, die es am Abend gegeben hatte, und nach der Wäsche, die an einer Leine quer durchs Zimmer gespannt war und nicht trocknen wollte. Hiroshi konnte nicht schlafen.

Er stand auf und streckte die Hand aus dem Fenster, um zu fühlen, ob es wenigstens ein bisschen weiter draußen kühler zu werden begann. Tat es nicht. So blieb er eine Weile stehen, sah auf den großen, dunklen Garten der Botschaft hinunter und wusste nicht, ob er müde war oder wach. Schließlich legte er sich wieder hin, weil es sonst nichts zu tun gab.

Als er das dritte Mal aufstand, um hinauszuschauen, stand mitten im Garten ein Mädchen.

Sie stand einfach da, die Arme weit ausgebreitet, und schaute zum Himmel hinauf. Sie hatte langes schwarzes Haar, das ihr den Rücken hinabfiel. Sie trug nur ein Nachthemd, und das klebte ihr völlig durchweicht am Körper.

Hiroshi kniff die Augen zu, zählte bis zehn und machte sie wieder auf.

Das Mädchen stand immer noch da unten, mitten auf dem Rasen. Sie wiegte sich hin und her, ganz langsam und verträumt, während der warme Regen auf sie herabprasselte.

Hatte er einen Laut der Überraschung von sich gegeben? Hiroshi wusste es nicht, aber jedenfalls hörte er die Schiebetür gehen, und seine Mutter kam herein. »Was ist?«, fragte sie. »Du sollst schlafen.«

»Da ist ein Mädchen im Garten«, sagte Hiroshi.

Mutter schlurfte ans große Fenster, besah sich das Schauspiel eine Weile schweigend und meinte schließlich: »So fängt das also an. Dass reiche Leute irgendwann verrückt werden.«

»Wieso tut sie das?«, fragte Hiroshi.

»Es ist ein neuer Botschafter angekommen. Das ist vielleicht seine Tochter. Jemand hat so was gesagt, dass er eine Tochter hat.«

»Sie ist ganz nass.«

»Geh schlafen«, sagte Mutter.

»Ich kann nicht. Es ist so warm.«

»Du musst aber schlafen, sonst fallen dir morgen in der Schule die Augen zu. Leg dich wenigstens hin und ruh dich aus.«

Hiroshi rührte sich nicht von der Stelle, so wenig wie das Mädchen. Es sah aus, als bete es den Mond an. Oder als warte es, dass etwas vom Himmel fiel, das es umarmen konnte. »Was ist mit ihr? Sie muss doch auch in die Schule.«

»Was geht dich an, was sie macht?« Jetzt klang Mutter ungehalten. »Das sind reiche Leute. Mit denen haben Leute wie wir nichts zu schaffen.«

»Wieso sind die reich?«

»Sie sind es eben. Schlaf jetzt«, sagte Mutter und ging wieder.

Das schien das größte Problem der Welt zu sein: dass es Leute gab, die reich waren, und andere, die es nicht waren. Mutter sprach oft davon.

In diesem Moment ließ das Mädchen die Arme sinken. Sie blickte zum Haus zurück, und es sah aus, als würde sie von dort gerufen. Durch das Rauschen des Regens hörte Hiroshi nichts, aber er sah, wie sie sich in Bewegung setzte, widerwillig, und wie sie mit nackten Füßen durch das Gras auf eine offene Tür zuging.

Hiroshi wartete, bis sie verschwunden war, dann legte er sich hin. Diesmal schlief er endlich ein, und natürlich träumte er von ihr.

Von da an lag er auf der Lauer. Jeden Nachmittag beeilte er sich, von der Schule nach Hause zu kommen und seinen Beobachtungsplatz am Fenster einzunehmen. Er gewöhnte es sich an, hier seine Schularbeiten zu machen, und am liebsten hätte er auch am Fenster gegessen, aber das erlaubte seine Mutter nicht.

»Was soll das?«, schimpfte sie. »Was machst du da?«

»Nichts«, sagte Hiroshi, und in gewisser Weise stimmte das sogar: Die meiste Zeit schaute er nur in den Garten der Botschaft hinunter und wartete. Er hätte nicht einmal sagen können, worauf eigentlich. Auf das Mädchen, klar. Aber warum? Was erhoffte er sich davon, sie noch einmal zu sehen? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er nicht anders konnte, als am Fenster auszuharren, obwohl er nicht mehr zu sehen bekam als ab und zu einen hellen Fleck hinter einer Scheibe, der ein Gesicht sein mochte oder auch nicht, und ab und zu einen Schatten, eine Bewegung.

Das Problem war, dass man von der Wohnung aus nur einen ganz kleinen Teil des Gartens einsehen konnte. Hiroshi wusste, dass der Garten sehr groß war, aber die Gebäude darum herum und die vielen Pflanzen versperrten einem die Sicht. Zum Beispiel wusste er, dass mitten in dem Garten der Botschaft ein Swimmingpool lag, doch durch die Bäume sah man nicht den kleinsten Schimmer davon.

Den Gärtner sah er oft. Das war Herr Takagi; Hiroshi kannte ihn nur aus der Ferne. Er mähte den Rasen, beschnitt die Büsche auf eine bestimmte Weise, wie sie in Frankreich üblich war: Das hatte er Mutter einmal erzählt.

Viel mehr passierte nicht. Hiroshi konnte den Vögeln zusehen, die sich ab und zu auf den Zweigen niederließen. Er verfolgte, wie die Schatten wanderten, und versuchte zu erraten, wie spät es war, ehe er auf die Uhr sah. Es war heiß, und es war unbequem am Fenster, aber jetzt hatte er es begonnen, da konnte er es nicht wieder lassen.

Als Hiroshi kurz vor den Sommerferien sein Zwischenzeugnis bekam, schimpfte Mutter über seine Noten. »Du könntest viel besser sein, wenn du dir nur Mühe geben würdest. Was du dir sonst immer alles merken kannst, da müsste die Schule für dich doch ein Kinderspiel sein. Aber es interessiert dich einfach nicht! Du denkst: Schule, Noten – muy! Aber das ist wichtig. Für später. Wenn du einmal einen guten Beruf haben willst, einen, bei dem du dazugehörst, bei einer guten Firma, dann musst du auf eine gute Oberschule gehen. Und die nehmen dich nur, wenn du gute Noten mitbringst.«

»Man muss nur die Aufnahmeprüfung schaffen«, wandte Hiroshi ein.

»Wenn deine Noten zu schlecht sind, darfst du die gar nicht erst machen«, erwiderte Mutter. »Das weißt du genau.«

»Ja«, gab er zu.

Es war immer dieselbe Leier. Es stimmte: Die Schule interessierte Hiroshi tatsächlich nicht. Aber war das seine Schuld? Warum lernten sie denn nichts Interessantes, zum Beispiel, wie Roboter funktionierten? Stattdessen langweilige Mathematik, langweiliges Japanisch, langweilige Erdkunde … Es würden noch Jahre vergehen, bis sie endlich mal etwas annähernd Interessantes wie zum Beispiel Physik bekamen.

Aber wenigstens hatte er nun Ferien. Das hieß, er konnte den ganzen Tag am Fenster auf der Lauer liegen.

Das gefiel seiner Mutter natürlich erst recht nicht. »Kannst du nicht etwas Vernünftiges mit deiner Zeit anfangen wie andere Kinder?«, rief sie jedes Mal, wenn sie von der Arbeit kam. »Wozu hab ich dir den Bastelkasten gekauft, den du unbedingt wolltest? Jetzt liegt er in der Ecke!«

»Ich werd schon noch was damit machen«, erwiderte Hiroshi. Es würde ohnehin lange dauern, ehe er wieder einmal ein so großes Geschenk bekam; das musste er sich gut einteilen. Und der Kasten lief ihm nicht weg.

»Andere Kinder gehen in ihre Schulklubs. Machen Sport. Spielen Fußball, zum Beispiel.«

»Keine Lust«, sagte Hiroshi.

Fußball spielen? Irgendwie schien seine Mutter nicht zu registrieren, dass er kleiner und schwächer war als alle anderen in seiner Klasse, was mit anderen Worten hieß: dass er keine Chance hatte. Im Sportunterricht war er immer der, der als Letzter in eine Mannschaft gewählt wurde, der die wenigsten Punkte machte, der zu nichts zu gebrauchen war.

Abgesehen davon, dass er bei den anderen Jungs ohnehin als Bastard galt, weil sein Vater Amerikaner war. Daken nannten sie ihn, wenn die Lehrer außer Hörweite waren; Promenadenmischung. Und er konnte sich nicht mal wehren.

»Oder geh schwimmen. Du könntest eine verbilligte Ferienkarte fürs Schwimmbad kriegen, wenn du nur mal ins Schulsekretariat gehen würdest. Das wäre doch besser, als hier den ganzen Tag in der Hitze herumzusitzen.«

»So heiß ist es gar nicht«, erwiderte Hiroshi. Aber natürlich war es das. Abends war ihm manchmal schlecht von der Hitze.

»Na schön«, meinte Mutter schließlich. »Spätestens, wenn wir nach Minamata fahren, wirst du von deinem Fenster wegmüssen.«

Hiroshi ließ den Kopf sinken. Schon wieder nach Minamata! »Wann?«, fragte er.

»Zum Bon-Fest natürlich. Wie immer.«

Er überschlug die Zeit bis dahin. O-Bon begann am 13 . August. »Das ist ja noch eine Weile.«

»Ich sag’s dir nur schon mal.«

Ein paar Tage später musste er seine »guten« Hosen anprobieren, ob sie ihm noch passten. Taten sie natürlich nicht; sie waren inzwischen zu kurz geworden. Auch wenn er nach wie vor der Kleinste in der Klasse war, war er doch gewachsen.

»Die hier kann ich auslassen«, überlegte Mutter, während sie vor ihm kniete und an seinen Hosenbeinen herumzog. »Aber die andere ist dir zu eng. Wir werden eine neue kaufen müssen, bevor wir fliegen.«

»Wir fliegen?«

»Ja. Frau Nozomi hat mir die Tickets besorgt, sie kennt da jemanden. Wir werden früh aufstehen müssen, das Flugzeug geht um fünf Uhr fünfzig. Aber es ist billiger als die Strecke mit dem Zug, seit der Shinkansen aufgeschlagen hat.« Sie musterte Hiroshi. »Freust du dich nicht? Es hat dir doch gefallen zu fliegen.«

»Ja«, sagte Hiroshi. Vorletztes Jahr war das gewesen; das erste Mal in seinem Leben, dass er geflogen war.

Aber in Wahrheit gruselte Hiroshi sich vor den Familienbesuchen in Minamata. Nicht so sehr wegen seiner Großeltern, die zwar freundlich zu ihm waren, aber letztlich doch reserviert, weil er ein halber Gaijin war, nicht richtig dazugehörte … Nein, vor allem wegen Tante Kumiko, der älteren Schwester seiner Mutter. Sie hatte in ihrer Jugend eine Quecksilbervergiftung erlitten, wie viele Leute in der Gegend, und lag nur verkrümmt und reglos im Bett, die Arme verkrampft und mit verdrehten Augen. Die Ärzte sagten, es sei erstaunlich, dass sie noch lebe; die meisten mit ihrer Krankheit waren inzwischen gestorben.

Immerhin schrie sie nicht mehr, so wie früher. Und die grässlichen Zuckungen hatte sie auch nicht mehr.

Die Bon-Feste in Minamata liefen immer gleich ab. Sie würden alle so tun, als seien sie eine großartige Familie, in der sich alle liebten und in der alles in Ordnung war. Und wenn Mutter und er wieder zu Hause waren, würde sie wochenlang über die Umweltverschmutzung schimpfen und die Autoabgase und den Lärm. Sie würde sich wieder vor Gift im Wasser ängstigen und jede Menge Wasser in Flaschen kaufen, das Hiroshi dann in die Wohnung hochschleppen musste.

Er beschloss, nicht daran zu denken. Und blieb weiter am Fenster sitzen.

Bis schließlich etwas geschah, das seine Ausdauer belohnte.

Wieder einmal waren überall die Vorhänge zugezogen, war es in allen Zimmern so düster, als sei jemand gestorben. Charlotte bemühte sich, kein Geräusch zu machen, während sie auf der Suche nach ihrer Mutter durch die Wohnung schlich.

Sie fand sie schließlich im Wohnzimmer auf dem Kanapee liegend, einen Arm über dem Gesicht und allem Anschein nach schlafend. Halb zumindest.

»Maman?« Im Grunde wusste Charlotte schon, was los war: Mutter hatte wieder ihre Kopfschmerzen. Sie hatte immer Kopfschmerzen.

Ein entsagungsvolles Ächzen aus Richtung des Sofas. »Kind! Was ist denn?« Ein Stöhnen. »Ich habe Kopfschmerzen!«

»Wir wollten doch heute …«, begann Charlotte und brach mitten im Satz ab. Sie hatte keine Hoffnung, aber sie musste es doch wenigstens sagen, oder?

»Ach so.« Ein geräuschvoller Atemzug. Dann, nach einer Weile: »Ein andermal.«

»Warum darf ich nie raus?«

»Du darfst doch raus.«

»Ich meine nicht in den Garten. Auf die Straße!«

Maman knurrte unwillig. »Schlag dir das aus dem Kopf. Das ist viel zu gefährlich.«

Charlotte spürte Ärger in sich hochsteigen, Ärger und Enttäuschung, die schon eine ganze Weile in ihr gärten, und es wurde immer schwieriger, das alles in sich zu behalten. »In Delhi hat es mir besser gefallen«, erklärte sie fest. »Warum kann ich hier nicht auch auf eine internationale Schule gehen?«

»Ich will nicht, dass du die ganze Zeit auf Schulen gehst, in denen man nur Englisch spricht«, erwiderte ihre Mutter mit ersterbender Stimme.

»Was ist denn daran so schlimm?«

Ein abgrundtiefer Seufzer. »Ein Kind widerspricht seiner Mutter nicht. Geh und mach irgendwas und lass mich in Ruhe; ich habe Kopfschmerzen.«

Also schlich Charlotte weiter. Wie langweilig alles war! Sie ging auf die Terrasse hinaus, setzte sich in den Schatten der Hauswand und sah dem Gärtner zu, der drüben beim Pool die Blumen wässerte. Sie konnte schwimmen gehen. Aber das hatte sie in letzter Zeit so oft gemacht; sie hatte keine Lust mehr dazu.

Nach einer Weile schlich sie zurück zu ihrer Mutter, die immer noch reglos im Dunkeln lag.

»Yumiko könnte doch mit mir in das Museum gehen«, schlug sie behutsam vor.

Mutter fuhr erschrocken hoch. »Was? Mon dieu! Du immer mit deinen Museen! Was bist du bloß für ein Kind? Kein normales Kind geht gern in Museen! «

Das war immerhin kein Nein, erkannte Charlotte. Wenn es überhaupt eine Chance gab, den heutigen Tag noch zu retten, dann jetzt. »Aber Yumiko könnte das doch wirklich machen, oder? Sie kennt sich in Tokio aus. Und sie kann auf mich aufpassen.«

Schweigen. Jammervolles, leidendes Schweigen.

»Es war ein Fehler, ein japanisches Kindermädchen einzustellen«, murmelte Mutter dumpf.

»Yumiko ist sehr nett«, widersprach Charlotte. Das stimmte zwar nicht ganz, aber jedenfalls war mit ihr meistens gut auszukommen.

»Sie ist eine dumme Kuh!«, schrie Mutter unvermittelt los, richtete sich auf, warf ein Kissen quer durchs Zimmer und ein zweites gleich hinterher. »Siehst du nicht, dass es mir schlecht geht? Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen? Musst du keine Schulaufgaben machen? Hast du nichts zu lernen, verdammt noch mal?«

Nein, da war nichts mehr zu retten. Charlotte flüchtete ohne ein weiteres Wort.

Nach einer weiteren Runde durch die riesige, dunkle Wohnung verkroch sie sich in ihrem Zimmer. Schulaufgaben? Sie hatte keine Schulaufgaben. Es waren Ferien, auch wenn man, wie sie, von einem Hauslehrer unterrichtet wurde. Das war ja das Problem.

Sie nahm eine Puppe vom Fußende ihres Bettes, wo sie alle Sachen aufbewahrte, von denen sie noch nicht wusste, wohin sie gehörten. Die Puppe hatte Papa ihr geschenkt, als sie von Delhi nach Tokio mussten. Charlotte wusste noch nicht einmal, wie sie heißen sollte. Auf dem Stoffband in den langen blonden Haaren hatte Denise gestanden, aber das war ein blöder Name für eine Puppe, fand Charlotte.

»Sag doch mal, was willst du denn machen?«, fragte Charlotte, sah die Puppe forschend an und drückte den Knopf an ihrem Rücken, der sie sprechen ließ.

»Ich will tanzen gehen«, erklärte die blonde Puppe.

»Tanzen gehen? Wir dürfen nicht mal aus dem Haus. Schlag dir das aus dem Kopf.«

»Komm, wir machen eine Party«, verlangte die Puppe daraufhin.

»Eine Party?« Charlotte schüttelte die Puppe ärgerlich. Überhaupt, was für eine blöde Pieps-Stimme sie hatte! »Du spinnst wohl? Wir müssen leise sein, weil meine Mutter Kopfschmerzen hat. Wir können nicht mal ins Museum gehen.«

»Ist das Leben nicht wundervoll?«

Das war der Moment, in dem die Blase aus Enttäuschung und Ärger in Charlotte aufplatzte. Mit einem wütenden Aufschrei schleuderte sie die Puppe von sich, quer durch den Raum. »Du bist eine dumme Kuh!«, schrie sie ihr hinterher. »Du begreifst überhaupt nichts!«

Im nächsten Augenblick tat es ihr leid, aber nun war es schon passiert: Der Kopf hing abgebrochen herunter, Drähte standen heraus, das Haarteil war abgefallen und einer der Arme auch.

»Das hast du jetzt davon«, erklärte Charlotte. »Ein Kind soll seiner Mutter eben nicht widersprechen.«

Da war nichts mehr zu machen. Die Puppe ohne richtigen Namen war kaputt. Charlotte sah sich ratlos um. Was sollte sie jetzt mit den Überresten anfangen? Sie irgendwo herumliegen lassen war nicht ratsam; ihre Mutter würde die Bescherung heute Abend beim Gutenachtkuss sehen und schimpfen.

Aber wenn die Puppe gar nicht da war! Das würde ihr nicht auffallen, so viele Puppen, wie Charlotte besaß. Sie holte eine Plastiktüte, verstaute die Trümmer darin und eilte damit aus dem Zimmer, die Treppe hinunter zur Seitentür, neben der, wie sie wusste, die Mülleimer der Hauswirtschaft standen.

Da war das Mädchen. Hiroshi hielt die Luft an.

Sie kam aus derselben Tür, in der sie damals, in jener Nacht, verschwunden war. Sie hielt etwas in der Hand, eine orangefarbene Dai-ei-Plastiktüte. Und sie schien ein schlechtes Gewissen zu haben, so, wie sie sich nach allen Seiten umsah, lauschte, lauerte.

In seine Richtung sah sie nicht.

Hiroshi starrte sie an. Wie hell ihre Haut war! Und wie ihr langes schwarzes Haar glänzte! Auch bei Tageslicht sah sie aus wie ein Engel. Wie sie wohl hieß? Und was mochte sie da drinnen die ganze Zeit gemacht haben?

Jetzt setzte sie sich in Bewegung. Wie der Blitz eilte sie zu den Mülleimern, die in der Ecke zwischen der Hauswand und einem Schiebetor standen, hob einen der Deckel an und warf die Plastiktüte hinein. Im nächsten Moment war sie schon wieder im Haus verschwunden.

Hiroshi sank enttäuscht in sich zusammen. Das war kurz gewesen. Er hatte nicht mal ihr Gesicht richtig gesehen, weil sie dauernd woanders hingeschaut hatte.

Was wohl in der Tüte gewesen war, dass sie sie so heimlich fortgeschafft hatte?

Das ließ sich herausfinden, wenn er sich nur traute.

Und so lange, wie er jetzt gewartet hatte, wäre es blöd gewesen, sich nicht zu trauen. Hiroshi sprang auf, schlüpfte in seine Schuhe und rannte los.

Selbstverständlich kannte er in der näheren Umgebung jeden Stein und jeden Winkel. Und es war gar nicht mehr zu zählen, wie oft er das Gelände der Botschaft schon umrundet hatte. Den Haupteingang versperrte ein großes grünes Rolltor mit Stacheln auf der Oberkante, hinter denen man die französische Fahne an einem Mast hängen sah. Ging man von dort aus nach rechts, kam man auf einen Weg, der zum Meguro Expressway hinunterführte und so schmal war, dass ihn ein Auto nur mit Mühe passieren konnte. Eigentlich war es ein Fußweg. Auf der einen Seite standen Wohnhäuser, manche mit kleinen Vorgärten, die andere Seite bildete die alte Mauer um das Botschaftsgelände, mit einem Stachelgitter auf der Oberkante, das man besser nicht versuchte zu überklettern.

An einer Stelle jedoch machte diese Mauer einen Bogen nach innen, um einem mächtigen Baum Platz zu lassen. Sich zwischen dem Baumstamm und der Mauer nach oben zu schieben war einfach, außerdem sah einen da niemand. Das Gitter oben auf der Mauer rostete an dieser stets feuchten Stelle, und aus einem der Stäbe war ein Stück herausgebrochen. Wenn man klein genug war, konnte man sich hindurchzwängen, und Hiroshi war klein genug.

Natürlich durfte man das nicht. Das wusste er. Man brauchte eine Erlaubnis, um das Gelände der Botschaft zu betreten, und musste einen Ausweis mit sich führen. Seine Mutter hatte einen solchen Ausweis, auf dem in Japanisch und Französisch genau stand, zu welchen Bereichen sie Zutritt hatte: zur Wäscherei und zur Hauswirtschaft.

Aber er würde das Gelände ja eigentlich nicht richtig betreten. Oder nur ein bisschen. Nur am Rand. Er würde bloß nachsehen, was das Mädchen weggeworfen hatte, und gleich wieder verschwinden.

Ja, zugegeben – er war schon öfter hier gewesen. Es hatte ihm keine Ruhe gelassen; nach und nach hatte er das gesamte Gelände erkundet. Das war gar nicht so schwierig, weil überall Bäume und Büsche wuchsen, zwischen denen man sich als Kind gut verstecken konnte. Man musste nur aufpassen, nicht vor eine der vielen Kameras zu geraten.

Seine Mutter wäre mächtig böse gewesen, wenn sie davon gewusst hätte.

Das Schwierigste war, auf der anderen Seite der Mauer auf den Boden hinabzukommen. Man brauchte ein Seil dazu, das man am Gitter hängen lassen musste, um später wieder hinaufzukommen.

Der Garten der Botschaft war wie eine fremde, verzauberte Welt. Seltsam, wenn man überlegte, dass es ja nur eine Mauer war, die ihn von der normalen Welt trennte. Doch heute hatte Hiroshi keine Zeit, sich diesem Zauber hinzugeben. Er musste sich beeilen – womöglich wurden die Mülleimer bald geleert!

Es war nicht weit. Er schlich zwischen der Außenmauer und einem kleinen, fensterlosen Bauwerk hindurch, das wohl irgendetwas mit der Heizung zu tun hatte, jedenfalls führten eine Menge weiß lackierter Rohre in alle Richtungen davon. Von dort robbte er unter einigen Büschen hindurch und gelangte schließlich an den Rand des Rasenstücks, auf dem das Mädchen im Regen gestanden hatte.

Er spähte zu den Fenstern hinauf. War da jemand? Zumindest sah er niemanden. Rasch überquerte er den Rasen und den schmalen, mit feinem weißen Kies bestreuten Platz vor dem Haus, hob den Deckel der zweiten Mülltonne von rechts und holte die Plastiktüte mit dem orangefarbenen Supermarktlogo heraus. Dann huschte er mit seiner Beute zurück in die Deckung der Büsche. Das Ganze hatte keine zwanzig Sekunden gedauert.

Neugierig öffnete er die Tüte. Eine Puppe? Trümmer einer Puppe, besser gesagt.

Seltsam. Er hatte immer geglaubt, dass Mädchen ihre Puppen liebten. Dass sie sie kaputt machten, war ihm neu.

Er betrachtete die Bruchstücke, hielt sie aneinander, überlegte. Der Kopf war abgebrochen, aber vielleicht konnte man ihn ankleben? Es handelte sich offenbar um eine Sprechpuppe, die nicht mehr funktionierte. Hiroshi dachte an seinen neuen Bastelkasten mit dem Werkzeug, das er sich so lange gewünscht hatte. Vielleicht ließ sich das damit reparieren?

Er würde die kaputte Puppe mitnehmen.

Es dauerte drei Tage, die Puppe zu reparieren.

Er tat es natürlich heimlich; tagsüber, wenn seine Mutter arbeiten war. Wenn sie nach Hause kam, registrierte sie mit sichtlichem Wohlwollen, dass er nicht mehr am Fenster saß, sondern stattdessen mit seinem Werkzeug hantierte, obwohl sie nicht sah, woran, denn er räumte die Puppe immer rechtzeitig fort.

Am dritten Tag, einem Freitag, gegen zehn Uhr war Hiroshi fertig. Die Reparatur war ihm gut gelungen, fand er; man sah fast nichts. Die Puppe sah aus wie neu. Und sie funktionierte wieder; wenn man auf den dicken Knopf zwischen ihren Schultern drückte, sagte sie verschiedene Sätze in einer fremden, melodiösen Sprache.

Was sollte er nun damit machen? Er musste sie dem Mädchen zurückgeben, und das, so dämmerte ihm, war ein viel größeres Problem, als die Schäden daran zu beseitigen. Denn das hieß, dass er mit einer Puppe in Händen aus dem Haus gehen musste!

Undenkbar die Schande, falls ihn jemand aus seiner Klasse damit sah. Ihm wurde ganz schlecht bei der bloßen Vorstellung.

Vielleicht war es doch besser, er warf sie einfach weg. Schließlich hatte das Mädchen sie auch weggeworfen; wahrscheinlich wollte sie sie überhaupt nicht zurückhaben. Bestimmt gefiel sie ihr gar nicht.

Hiroshi ging zurück ans Fenster, sah auf den Garten der Botschaft hinab, dachte an die lange Zeit, die er hier gewartet hatte und an die Nacht, in der sie da unten gestanden hatte, im Regen. Nein. Nein, er würde die Puppe nicht wegwerfen. Er würde sie einfach in derselben Tüte transportieren, in der er sie gefunden hatte.

Und er konnte sie ja am Haupttor abgeben! Das war nicht weit, und die Wachleute würden sich um alles Weitere kümmern.

So machte er sich auf den Weg. Dass ihm der Schweiß ausbrach, als er mit der Tüte in der Hand das Haus verließ, lag nur an der Gluthitze draußen, ganz bestimmt. Weit und breit war niemand zu sehen. Er hätte sich also gar nicht so beeilen müssen, wie er es tat, aber irgendwie war es ihm lieber, das Ding so schnell wie möglich loszuwerden. Vielleicht gab es ja einen Briefkasten, in den er es bloß hineinzuwerfen brauchte?

Gab es natürlich nicht. Eigentlich wusste er das auch, so oft, wie er an der Botschaft vorbeigegangen war. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als am Wachhäuschen zu klingeln.

Ein Mann trat an die dicke Glasscheibe. Es war kein Japaner. Er sagte etwas, von dem Hiroshi nur mit Mühe begriff, dass es der Versuch war, ihn auf Japanisch zu fragen, was er wolle.

Hiroshi verbeugte sich höflich, wie es sich gegenüber fremden Erwachsenen gehörte. »Guten Tag, mein Herr«, sagte er. Er hob die Tüte an. »Ich habe etwas gefunden, das der Tochter des Botschafters gehört. Ich würde es gerne bei Ihnen abgeben, damit sie es zurückbekommt, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

Der Mann starrte ihn unwillig an. Es war offensichtlich, dass er kein Wort verstanden hatte.

»Nan desu-ka?«, fragte er, oder zumindest etwas, das so ähnlich klang wie: »Wie bitte?«

Hiroshi wiederholte seinen Spruch, worauf der Mann mitten im Satz die Hand hob, sich abwandte und nach jemandem rief. Kurz darauf kam ein anderer Wachmann, ein Japaner diesmal, mit dem er den Platz hinter der Scheibe tauschte.

»Was ist? Was willst du hier?«, fragte der Mann unfreundlich. »Das ist kein Spielplatz. Geh weiter.«

Hiroshi hielt seinem finsteren Blick stand. Er war finstere Blicke gewöhnt; in der Schule hatte er reichlich Gelegenheit zu üben, wie man ihnen standhielt. »Es geht um die Tochter des Botschafters«, sagte er.

Der Blick wurde regelrecht misstrauisch. »Was redest du da?«

»Sie hat eine Puppe verloren, und ich habe sie gefunden.« Es blieb ihm nichts anderes übrig: Er öffnete die Tüte und holte die Puppe ein Stück weit heraus, sodass der Mann sah, wovon die Rede war. Dann ließ Hiroshi sie rasch wieder verschwinden. »Ich denke, sie würde sie gerne zurückhaben.«

Der Mann verzog das Gesicht voller schlecht verheilter Aknenarben. »Was soll das heißen? Woher hast du die Puppe?«

»Gefunden.« Hiroshi streckte die Hand aus, zeigte vage in Richtung ihres Hauses. »Dort vorne.«

»Und woher willst du wissen, wem sie gehört?«

»Ich hab vom Fenster aus gesehen, wie das Mädchen sie verloren hat, das in dem Haus da wohnt.« Hiroshi deutete in Richtung der Villa des Botschafters, von der vom Haupteingang aus nur ein Teil des Daches zu sehen war.

»Das kann nicht sein. Die Tochter des ehrenwerten Herrn Botschafters verlässt das Haus nur ganz selten, und wenn, dann nimmt sie keine … Puppen mit.« Er sprach das Wort mit unüberhörbarem Widerwillen aus.

Hiroshi begriff, dass ihm das Thema ebenfalls peinlich war! Er hätte beinahe gelacht.

»Es war ein Mädchen, das ungefähr so alt ist wie ich«, sagte er stattdessen. »Eine Yōroppajin mit langen schwarzen Haaren. Genau dasselbe Mädchen habe ich auf dem Rasen vor dem Haus gesehen.«

Der Wachmann überlegte. »Gut«, sagte er schließlich und drückte auf einen Knopf, der die eiserne Tür vor Hiroshi aufgehen ließ. »Komm herein.«

Hiroshi musste voller Unbehagen schlucken, als er durch die Tür trat. Eine Barriere teilte den Raum dahinter, und man gelangte nur durch einen Metalldetektor von dem einen in den anderen Bereich. Auch ein Durchleuchtungsgerät stand da, genau wie auf einem Flughafen.

Der Wachmann trat vor Hiroshi hin und streckte die Hand aus. »Also, zeig her.«

Hiroshi reichte ihm die Tüte mit der Puppe. Der Mann öffnete sie, griff hinein, hob die Puppe an, um zu sehen, ob etwas darunter war, aber er nahm sie nicht heraus. Man konnte sehen, wie wenig ihm das alles gefiel; er hantierte mit der Tüte, als enthalte sie etwas Ekliges.

»Ich muss das durchleuchten«, erklärte der Mann. Er sah Hiroshi streng an. »Du hast das wirklich gefunden? Es hat dir nicht jemand gegeben und gesagt, du sollst es hierher bringen?«

»Nein«, sagte Hiroshi. »Ich hab’s gefunden.« Stimmte in gewisser Weise ja.

»Wie ist dein Name?«

Mist. Daran hatte er nicht gedacht, dass man ihn das fragen würde. Aber es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als diese Frage zu beantworten.

»Kato Hiroshi«, gestand er also. »Meine Mutter arbeitet hier in der Botschaft. In der Wäscherei.« Das hätten sie wahrscheinlich sowieso herausgekriegt.

»Und wie heißt deine Mutter?«

»Kato Miyu.«

Der Mann sah in seinem Computer nach. »Naruhodo«, meinte er schließlich und nickte. »Frau Kato aus der Wäscherei. Ich kenne sie.« Trotzdem schrieb er sich den Namen auf, ehe er die Tüte mit der Puppe darin in das Durchleuchtungsgerät laufen ließ.

Hiroshi sah gespannt zu und fragte sich wieder einmal, wie so ein Gerät wohl funktionierte. In den Büchern, die er gelesen hatte, war nichts Verständliches dazu zu finden gewesen. Mit Röntgenstrahlen, so viel war klar – aber wie konnte man mit Röntgenstrahlen feststellen, ob ein Gegenstand Sprengstoff enthielt? Es wurde wirklich Zeit, dass sie in der Schule endlich Physikunterricht bekamen!

Der Wachmann fand keinen Sprengstoff in der Puppe und auch sonst nichts Verdächtiges. Er ging durch den Metalldetektor, nahm die Tüte vom Band und legte sie auf einen Tisch. »Ich werde das weiterleiten«, versprach er.

Es klang eher so, als würde er die Tüte in den Müll werfen, sobald Hiroshi wieder draußen war, aber das war jetzt auch egal.

»Charlotte!«

Die Stimme ihrer Mutter. Mit einem Unterton, der nichts Gutes verhieß.

Charlotte schaltete den Fernseher aus, blieb einen Moment sitzen. Konnte sie es sich leisten, so zu tun, als hätte sie das nicht gehört? Vermutlich nicht. Sie stand leise auf, folgte dem Ruf, wenn auch langsam und auf Zehenspitzen.

»Charlotte Malroux«, rief Mutter erneut. »Komm bitte sofort her.«

»Ich komm ja schon«, rief Charlotte und durchquerte die Tür zum benachbarten Raum, der Gelber Salon genannt wurde. Aber da war ihre Mutter gar nicht, sondern noch eine Tür weiter, in der Eingangshalle.

Sie erschrak. Mutter hielt ihre Puppe in der Hand, die blonde Puppe ohne Namen!

Bloß dass sie nicht mehr kaputt zu sein schien.

»Ich hab dir nicht erlaubt, auf die Straße hinauszugehen«, sagte Mutter scharf.

Charlotte blinzelte verdutzt. »Was? Ich war nicht auf der Straße!«

Mutter hob die Puppe hoch. »Ein Junge hat gesehen, wie du sie verloren hast. Er hat sie am Tor abgegeben.«

»Was?« Was hatte das alles zu bedeuten? Charlotte schüttelte den Kopf. »Aber ich war nicht draußen!«

»Lüg nicht. Das kann ich nicht leiden.«

»Ich lüg nicht.«

Mutter trat vor sie hin, sah streng auf sie herab und hielt ihr die Puppe vor das Gesicht. »Das ist doch deine Puppe, oder? Ich erinnere mich. Dein Vater hat sie dir mitgebracht, aus Paris.« Paris – das sagte sie so, als müsse die blöde Puppe deswegen was ganz Besonderes sein.

Charlotte streckte die Hand aus, um danach zu greifen, aber ihre Mutter zog die Puppe rasch wieder aus ihrer Reichweite. »Woher hat er sie, wenn du nicht draußen warst?«

»Das weiß ich doch nicht.« Zögernd räumte sie ein: »Die Puppe war kaputt.«

»Kaputt? Was heißt kaputt?«

»Sie ist mir runtergefallen.« Jetzt log sie. Nein. Sie sagte nicht ganz die Wahrheit; das war etwas anderes. »Ein Stück vom Kopf ist abgegangen. Und sie hat nicht mehr gesprochen. Ich hab sie draußen im Garten liegen lassen.« Das war zumindest nicht ganz falsch; schließlich standen die Mülleimer gewissermaßen im Garten.

Mutter studierte die Puppe. Wahrscheinlich dachte sie nun, der Gärtner hätte die Puppe gefunden und mit dem Müll hinausgebracht. Dass die Puppe auf diese Weise nach draußen auf die Straße gekommen war, wo der Junge sie hatte finden können.

»Hmm«, meinte Mutter und fuhr mit dem Zeigefinger am Hals der Puppe entlang. »Jemand muss sie repariert haben. Man sieht eine geklebte Bruchstelle.« Sie drückte auf den Knopf am Rücken, und die Puppe sagte: »Bin ich nicht schön?«

Charlotte streckte die Hand noch einmal aus, und diesmal bekam sie die Puppe ausgehändigt. Sie schloss sie in die Arme, machte die Augen für einen Moment zu. »Das war der Junge«, erklärte sie. »Er hat die Puppe repariert. Er hat mich von seinem Fenster aus beobachtet, die ganze Zeit.«

»Wie bitte?«, fragte Mutter entgeistert. »Wieso erzählst du mir das erst jetzt?«

Hiroshi und seine Mutter saßen gerade beim Abendessen, als es an der Tür klingelte. Hiroshi ging aufmachen. Es war Herr Inamoto, der Chef der Firma, bei der Mutter angestellt war. Die Firma erledigte allerlei Reinigungsarbeiten und arbeitete schon seit Langem für die französische Botschaft.

»Hallo, Hiroshi«, sagte er. »Ich muss deine Mutter sprechen.«

Hiroshi mochte Herrn Inamoto nicht, mit seinen Spinnenfingern und seinem feisten Gesicht. Vor allem schaute er Hiroshi immer an, als verdächtige er ihn, etwas angestellt zu haben. Es war unübersehbar, dass Herr Inamoto keine Kinder mochte.

Mutter kam. Hiroshi ging zurück ins Zimmer, setzte sich wieder an den Tisch und wartete. Er lauschte den Stimmen im Flur. Herr Inamoto klang verärgert, sprach aber so leise, dass Hiroshi fast nichts davon verstand.

»… sagt, sie hat die Puppe im Garten liegen lassen. Und der Gärtner weiß von nichts. Also, wie ist sie hinaus auf die Straße …?«

Mutter murmelte etwas.

»Ich habe Ihnen klipp und klar gesagt, dass der Junge nicht auf das Gelände der Botschaft darf. Dass Sie ihn nicht mitnehmen dürfen und dass Sie Ihre Schlüssel und Zugangskarte sicher verwahren müssen«, mahnte Herr Inamoto.

»Ja«, hörte Hiroshi seine Mutter sagen. »Das haben Sie gesagt. Ich habe es ihm auch gesagt. Er weiß es.«

»Verstehen Sie, das hat nichts mit Unfreundlichkeit zu tun, sondern das sind die Sicherheitsmaßnahmen einer Botschaft. Das ist ganz normal. Das wird überall so gehandhabt.«

»Ja, natürlich.«

Immer, wenn er seine Mutter in diesem unterwürfigen Tonfall reden hörte, wurde Hiroshi wütend. Wütend, dass es Leute wie Inamoto gab, die nur ans Geld dachten und denen man nur deswegen schöntun musste, weil sie reich waren.

»Er zahlt dir übrigens viel zu wenig«, sagte Hiroshi, als das Gespräch endlich, mit schrecklich vielen Höflichkeitsbezeugungen seiner Mutter, zu Ende war und sie zurück an den Tisch kam. »Er berechnet der Botschaft bestimmt das Doppelte von dem, was er dir zahlt.«

Mutter hörte gar nicht hin, wie immer, wenn er mit diesem Thema anfing. Stattdessen verhörte sie ihn wegen dieser Puppe.

»Ich hab sie eben gefunden«, erklärte Hiroshi trotzig. »Und ich hab sie zurückgebracht. Was ist daran verkehrt?«

»Wo hast du sie gefunden?«

Die Antwort auf diese Frage hatte sich Hiroshi schon zurechtgelegt, noch während sie mit Inamoto geredet hatte. Da er unmöglich zugeben konnte, im Garten gewesen zu sein, erklärte er: »Drüben bei dem kleinen Tor.«

Das war zumindest nicht ganz falsch, wenn es auch unterschlug, auf welcher Seite des Tores er die Puppe gefunden hatte. Aber wer wollte ihm das Gegenteil beweisen? Mutter wusste, welches Tor er meinte: das schmale, grau lackierte Eisentor in der Gasse schräg gegenüber, hinter dem die Mülleimer der Botschaft standen und durch das sie abgeholt wurden, in der Regel am Dienstagnachmittag. War doch möglich, dass dabei irgendwas herausfiel, oder?

»Vor dem kleinen Tor lag eine Puppe?« Sie musterte ihn skeptisch. »Ich habe nichts gesehen. Wann war das?«

»Am Dienstag. Und die Puppe war in einer Plastiktüte vom Dai-ei-Markt.«

»Und warum hast du sie erst heute in der Botschaft abgegeben?«

Hiroshi hob die Schultern. »So halt.«

»Wieso warst du überhaupt draußen? Du hast doch die ganze Zeit am Fenster gesessen.«

»Ich war eben draußen. Du hast doch immer gesagt, ich soll mal rausgehen.«

Mutter ließ sich das alles durch den Kopf gehen, die Essstäbchen reglos in der Hand. Das ganze Essen wurde kalt, bloß wegen dieser blöden Puppe! Er hätte sie doch wegwerfen sollen.

»Inamoto-san hat gesagt, jemand hätte die Puppe repariert«, fing Mutter noch einmal an. »Warst du das?«

Hiroshi zögerte, dann hob er die Schultern. »Der Kopf war ab. Ich hab ihn eben wieder aufgesteckt. Damit es nicht heißt, ich hätte sie kaputt gemacht.«

»Und du wusstest, dass sie dem Mädchen gehört?«

»Ich hab gesehen, wie sie damit gespielt hat.« Gespielt war vielleicht nicht genau das richtige Wort, denn das Spiel, das er gesehen hatte, hatte eigentlich nur darin bestanden, sie wegzuwerfen … Aber das waren letzten Endes unwichtige Feinheiten, oder?

Mutter schüttelte kummervoll den Kopf. »Warum tust du das? Sitzt den ganzen Tag am Fenster, um dieses Mädchen zu sehen? Das ist nicht gut. Dafür bist du noch viel zu jung.«

Hiroshi schwieg. Was ließ sich darauf schon sagen? Er hatte es eben tun müssen. Wenn sie das nicht verstand, konnte er auch nichts machen.

Mutter fischte ein Stück Daikon aus der Schüssel mit den Tsukemono und sagte, ehe sie es aß: »Ich möchte nicht meine Arbeit wegen etwas verlieren, das du anstellst. Es ist eine gute Arbeit. Wir haben genug Geld zum Leben und eine schöne Wohnung in einer guten Gegend. Das würden wir alles verlieren.«

Auch darauf wusste Hiroshi nichts zu sagen. Das durfte nicht passieren, das war klar. Schon weil sie im schlimmsten Fall nach Minamata würden ziehen müssen, zu den Großeltern und Tante Kumiko.

Aber wieso sollte Mutter ihre Arbeit verlieren, nur weil er eine Puppe repariert und zurückgebracht hatte?

»Auf jeden Fall«, fuhr Mutter kauend fort, »musst du morgen früh mitkommen. Die ehrwürdige Frau Botschafter will dich kennenlernen.«

2

Man hätte meinen können, sie gingen zu einer Audienz beim Kaiser, so, wie sich alle anstellten. Mutter musste wieder und wieder ihre Zugangskarte vorlegen, musste jedem Wachmann, den sie passierten, aufs Neue Rede und Antwort stehen. Zur ehrenwerten Frau Botschafter seien sie bestellt, jawohl. Heute. Jetzt. Das veranlasste jeden Wachmann, die Stirn zu runzeln und erst einmal zu telefonieren. Jedes Mal lauschte er dem, was ihm vom anderen Ende der Leitung aus mitgeteilt wurde, verbeugte sich zackig, legte auf und winkte sie weiter.

»Heute Abend gibt der ehrenwerte Herr Botschafter einen Empfang«, geruhte einer der Männer, sie wissen zu lassen. »Deshalb ist eine solche Vorladung ungewöhnlich.«

Sie passierten einen Metalldetektor, später noch einen, und dazwischen redete Hiroshis Mutter unaufhörlich auf ihn ein, sich gut zu benehmen. Nur zu reden, wenn er gefragt würde. Sich zu verneigen, wie es sich gehörte. »Am besten stellst du dir vor, du stündest vor dem Kaiser«, meinte sie.

Was hatte er da bloß angefangen! Hiroshi merkte, wie seine Handflächen mit jedem Meter, den sie zurücklegten, schwitziger wurden. Wahrscheinlich würde er kein Wort herausbekommen, egal ob ihn jemand etwas fragte oder nicht. Überhaupt, wozu wollte die Frau des Botschafters ihn sehen? Das hatte er sich die ganze Nacht lang gefragt. Alles war denkbar: Vielleicht wollte sie ihm einen Orden verleihen, weil er die wertvolle Puppe ihrer Tochter gerettet hatte? Oder wollte sie ihn anklagen, die Puppe gestohlen zu haben?

Irgendwann hörten die kahlen, grau gestrichenen Gänge auf, und man führte sie in einen kolossalen, überaus prachtvollen Saal. Es roch plötzlich intensiv nach Blumen und Parfüm. Vor den Fenstern reichten mächtige, gebauschte Vorhänge bis zum Boden, wie in alten amerikanischen Filmen. Überall an den Wänden prangten riesige Ölgemälde in wuchtigen Goldrahmen.

Hiroshi war sich auf einmal nicht mehr sicher, das alles nicht bloß zu träumen. Was hatte er da nur angefangen, bei den Geistern der Ahnen!

Und dann kam ihnen diese große, schlanke Frau entgegen, mit hellblonden hochtoupierten Haaren, in einem golden schimmernden Kleid. Eine wunderschöne Frau mit porzellanfarbener Haut und dunklen Augen – doch sie wirkte, als sei es ihr gar nicht recht, dass sie da waren! Das musste die Frau des Botschafters sein, oder? Die sie herbestellt hatte? Aber weder hatte Hiroshi den Eindruck, dass sie böse auf ihn war, noch, dass sie ihm wohlgesinnt war … Verwirrt wirkte sie, ja. Sie sah aus, als sei ihr gerade erst wieder eingefallen, dass sie kommen sollten.

»Verneigen!«, hörte Hiroshi seine Mutter wispern, was gut war, denn sonst hätte er sämtliche Ermahnungen wieder vergessen.

Also, jetzt aber! Wie es sich gehörte! Zeigen, dass er wohlerzogen war, und sei es nur, um seine Mutter zufriedenzustellen. Hiroshi verbeugte sich, tief, den Rücken gerade, die Hände akkurat auf den Oberschenkeln, und so wartete er, wie es sich geziemte, bis das Wort an ihn gerichtet wurde.

Die Frau sagte etwas. Hiroshi brauchte eine ganze Weile, bis ihm dämmerte, dass sie konnichi wa gesagt hatte, Guten Tag, oder dass sie zumindest versucht hatte, es zu sagen. Tatsächlich hatte es eher wie goninshiki geklungen, wie Missverständnis also, was ja irgendwie sogar witzig war.

Er richtete sich auf, hielt den Kopf aber noch gesenkt. Er erwiderte den Gruß mit der gebotenen Zurückhaltung. Dann wartete er ab, was geschehen würde.

Die Frau schien unzufrieden. Immer wieder rief sie etwas nach hinten, in ihrer eigenen Sprache, die sich wie Gesang anhörte. Ein Wort fiel immer wieder, das sich wie tara doko-têr anhörte, ein Wort, von dem Hiroshi keine Ahnung hatte, was es bedeuten mochte.

»Do you speak English?«, fragte die Frau schließlich.

Hiroshi neigte den Kopf noch ein Stück tiefer. »Yes, madam«, erwiderte er, obwohl ihm das in diesem Moment wie eine tollkühne Behauptung vorkam. Seine Mutter hatte seit jeher darauf bestanden, dass er sich im Englischunterricht besonders viel Mühe gab, weil es die Sprache seines Vaters war. Sie selber sprach sehr gut Englisch, hörte ihn regelmäßig ab und duldete keine schlechten Noten. Tatsächlich jedoch konnte Hiroshi Englisch zwar lesen – was zum Beispiel im Internet hilfreich war – und auch einigermaßen verstehen, aber was seine Aussprache anbelangte, hegte er den starken Verdacht, dass sie allenfalls dazu geeignet war, bei Ausländern Lachkrämpfe hervorzurufen.

Doch als die Frau des Botschafters weitersprach, merkte er, dass sie noch viel schlechter Englisch sprach als selbst Shigeru, einer seiner Klassenkameraden, der Herrn Matsuba, ihren Englischlehrer, regelmäßig zur Verzweiflung trieb: Hiroshi verstand kein Wort!

Hilflos sah er seine Mutter an, die seinen Blick jedoch nur entsetzt erwiderte. Also verstand sie auch nichts!

Was um alles in der Welt wollte diese Frau? Sie schien eine Antwort zu erwarten, aber was sollte er denn sagen? Er konnte ihr doch nicht erklären, dass er sie nicht verstand; das wäre unverzeihlich unhöflich gewesen!

Die Frau rief wieder nach dem ominösen tara doko-têr, und allmählich klang sie ziemlich ungehalten.

Hiroshi wusste sich nicht zu helfen. Er hielt den Blick starr auf den Boden gerichtet und hatte das Gefühl, dass jeden Moment Schweiß in dicken Tropfen von seinen Händen auf den Teppich herabfallen musste.

In diesem Augenblick bemerkte er in den Augenwinkeln eine Bewegung, jemanden, der ins Zimmer kam. Hiroshi drehte den Kopf eine Winzigkeit, um besser zu sehen.

Es war das Mädchen. Sie stand da, und obwohl er wusste, dass es sich nicht gehörte, konnte er nicht anders, als den Kopf zu heben und sie anzusehen.

Und dann sagte das Mädchen in tadellosem Japanisch: »Meine Mutter möchte dir danken, dass du meine Puppe gefunden und zurückgebracht hast, und sie möchte gerne wissen, wo du sie gefunden hast.«

Charlotte musste einfach lauschen, als sie mitbekam, dass ihre Mutter den Jungen erwartete, der die Puppe repariert und zurückgebracht hatte. Vor allem wollte sie wissen, wie er aussah. Was das für einer war, der so was machte.

Maman war heute guter Stimmung. Das war sie immer, wenn ein Empfang bevorstand. Dann lebte sie auf, und Kopfschmerzen hatte sie an solchen Tagen auch nie.

Aber natürlich kam sie mal wieder nicht zurecht. Sie hatte vergessen, dem Übersetzer Bescheid zu sagen, was ihr erst wieder einfiel, als schon die Nachricht vom Haupteingang kam, dass der Junge und seine Mutter unterwegs seien. Sie fegte durch die Räume, riss die Sekretärin, Madame Chadal, aus ihrer Arbeit und befahl ihr, sofort den Übersetzer herbeizuzitieren. Dass der das bei dem Verkehr an einem Samstagmorgen in Tokio nie im Leben schaffen konnte, davon wollte sie nichts hören.

Das Geräusch der sich öffnenden Wohnungstür ließ Maman zusammenfahren. »Sie sind schon da«, murmelte sie. »Quelle horreur!« Dann straffte sich ihre Gestalt, sie setzte ihr bestes Lächeln auf und schritt hinaus in die Eingangshalle.

Charlotte huschte durch den Gelben Salon, um, versteckt hinter den Vitrinen neben der anderen Tür, einen Blick auf die Besucher zu werfen.

Die Frau hatte sie oft gesehen, wie sie Wäschekörbe über den Hof trug. Sie wirkte nicht, als hätte sie diese Art Arbeit schon ihr Leben lang gemacht, sondern auf eine seltsame Weise so, als verstecke sie sich hier vor jemandem. Sie musste einmal schön gewesen sein. Sie hätte es wahrscheinlich immer noch sein können, wenn sie etwas anderes getragen hätte als diese grauen sackartigen Sachen, und sich ein wenig zurechtgemacht hätte.

Mutter begrüßte die beiden mit den paar Brocken Japanisch, die sie sich angeeignet hatte. Aber nicht nur, dass die beiden offensichtlich kein Wort verstanden, es hätte auch zu nichts geführt, weil Mutter die Unterhaltung ja nicht auf Japanisch hätte fortsetzen können.

»Où est le traducteur?«, rief sie ein ums andere Mal, aber auf der anderen Seite der Tür stand nur Madame Chadal, das Mobiltelefon in der Hand und hilflos die Schultern hebend, weil der Übersetzer nicht einmal zu erreichen war und seine Vertreterin auch nicht.

Den Jungen hatte Charlotte noch nie gesehen. Er konnte nicht älter sein als sie selber, und er war relativ klein, aber so, wie er da stand, und obwohl er lächerlich lange in dieser tiefen Verbeugung verharrte, spürte sie etwas Unbeugsames an ihm, etwas wie einen Kern aus Federstahl.

Mutter versuchte es mit Englisch. Das beherrschte sie zwar, sprach es aber mit einem so starken französischen Akzent, dass die beiden Gäste ebenfalls ratlos waren.

Charlotte rang mit sich. Wenn sie einsprang, dann würde Maman wissen, dass sie gelauscht hatte, was ihr ausdrücklich verboten war. Auf der anderen Seite konnte sie nicht mit ansehen, wie ihre Mutter sich blamierte, nur weil sie sich schrecklich ungeschickt mit fremden Sprachen anstellte!

Also gab sie ihr Versteck auf und ging hinaus in die Halle.

»Woher kannst du Japanisch?«, wunderte sich ihre Mutter, nachdem sie ihr die Antwort des Jungen – dass er die Puppe auf der Straße neben dem Tor gefunden habe, durch das die Mülleimer abtransportiert wurden – übersetzt hatte.

»Yumiko hat es mir beigebracht«, erklärte Charlotte, obwohl das übertrieben war, denn Yumiko hatte zwar ihre Vorzüge, aber die Fähigkeit, jemandem etwas beizubringen, zählte nicht dazu. Als Erklärung auf die Schnelle genügte es jedoch.

Mutter kam kaum aus dem Kopfschütteln heraus. »Also so was … Nicht zu fassen.« Sie räusperte sich. »Also gut. Sag ihnen, dass ich mich … nein, dass du dich … nein, dass wir uns über diese, hmm, Aufmerksamkeit sehr gefreut haben und … ähm, ja, wir sollten uns irgendwie erkenntlich zeigen. Ich weiß bloß gerade nicht recht, wie. Versuch doch mal von dem Jungen zu erfahren, wie wir ihm eine Freude machen könnten.«

»Okay«, sagte Charlotte, drehte sich um und fragte den Jungen: »Wieso hast du das gemacht?«

Er blinzelte. »Was meinst du?«

»Meine Puppe repariert.«

Er hob die Schultern. »Ich weiß nicht. Hätte ich es nicht sollen?«

Charlotte nagte an ihrer Unterlippe. Sie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. »Sie ist mir einfach kaputt gegangen«, behauptete sie schließlich.

Er nickte, als sei das das Selbstverständlichste der Welt. »Ach so.«

»Willst du mein Zimmer sehen?«

»Ja.«

»Gut, dann komm mit.« Sie wandte sich ihrer Mutter zu und erklärte: »C’est bon. Wir haben ausgemacht, dass wir miteinander spielen. Ich geh und zeige ihm mein Zimmer und meine Sachen und so.«

»Mais non!« Mutter riss die Augen auf. »Ich meinte ein kleines Geschenk oder so etwas …«

»Das will er nicht«, behauptete Charlotte und erschrak selber ein bisschen über ihre Kühnheit. Der Junge war allerdings irgendwie nett. Vielleicht konnten sie sich anfreunden.

»Aber doch nicht jetzt! Wo doch heute der Empfang ist …!«

»Der ist doch erst heute Abend. Bis dahin ist ja noch lang.« Sie durfte sich jetzt auf keine lange Diskussion einlassen, das wusste sie. Also bedeutete sie dem Jungen kurzerhand, mit ihr zu kommen, und setzte sich in Bewegung.

Der Junge folgte ihr, ohne zu zögern. Seine Mutter rief ihm nach, wohin er gehe. »Sie will mir ihr Zimmer zeigen«, rief er über die Schulter zurück, und das war alles.

Je weiter sie kamen, desto weniger mochte Hiroshi glauben, dass sie sich wirklich in einer Wohnung befanden. Wer hatte eine derart große Wohnung? Was wollte jemand mit so vielen, so riesigen Zimmern? Das sah eher aus wie eine Art Museum, so vollgestopft mit teuer und alt aussehenden Sachen, wie alle Räume waren.

»Wie heißt du?«, fragte das Mädchen.

»Hiroshi«, sagte er und überlegte, ob er ihr erzählen sollte, wie er sie das erste Mal gesehen hatte. Er hätte gern gewusst, warum sie sich im Nachthemd in den Regen gestellt hatte.

»Ich heiße Charlotte«, erklärte sie. »Mit r und l. Kannst du das sagen?«

Er probierte es, während sie eine breite Treppe emporstiegen. »Cha…rotte«, brachte er heraus. Sie lachte, worauf er es noch einmal versuchte. »Cha-re-rotte?«

Sie blieb stehen, öffnete den Mund und machte ihm vor, wie das l ging: »Zungenspitze hinter die Zähne oben. Siehst du?« Es war ein Mund, der aussah wie gezeichnet: ganz fein, mit schmalen Lippen und perlweißen, makellosen Zähnen.

»Ich weiß«, erwiderte er. Im Englischunterricht hatten sie das geübt. Seine Mutter konnte es, hatte es ihn ebenfalls üben lassen. »Char…lotte.« Es fühlte sich seltsam an im Mund, aber er schien es richtig gemacht zu haben, denn sie nickte lächelnd und setzte den Weg die Treppe hinauf fort.

»Yumiko hat mir das erklärt«, sagte sie dabei. »Dass für Japaner das r und das l gleich klingen.«

»Wer ist Yumiko?«, fragte er.

»Mein Kindermädchen«, lautete die Antwort. »Sie ist ganz nett. Sie geht manchmal mit mir raus, zeigt mir Sachen und so.«

»Was für Sachen?«

»Na, die Stadt. Tokio. Ich kann ja nicht alleine raus. Ich kann nämlich Japanisch nicht lesen, ehrlich gesagt.«

Sie hatten den obersten Treppenabsatz erreicht. Ein langer Flur erstreckte sich nach links und rechts, mit noch mehr gerahmten Bildern an den Wänden und dicken gemusterten Teppichen. Es sah wirklich aus wie ein Museum.

»Meiner Mutter ist das gar nicht recht«, fuhr Charlotte fort und wandte sich nach rechts. »Solche Ausflüge, meine ich. Wenn’s nach der ginge, müsste ich die ganze Zeit drinnen bleiben. Oder im Garten halt.«

»Das muss langweilig sein«, meinte Hiroshi.

»Ist es auch.« Charlotte öffnete eine Tür. »So, das ist mein Zimmer.«

Es war riesig, und es war vollgestopft mit lauter Spielsachen, ordentlich auf Regalen und in Schränken aufgestellt: Puppen, Stofftiere, aber auch Malstifte, Bücher und Modellautos. In einer Ecke stand ein enormes Himmelbett und unter dem Fenster ein Schreibtisch, auf dem Schulhefte und Schreibzeug lagen.

Hiroshi sah sofort, dass er richtig vermutet hatte: Dies war das Zimmer, hinter dessen Fenstern er ab und zu Bewegungen gesehen hatte. Er hatte es sich schon gedacht, während sie durch das Haus gegangen waren und er gemerkt hatte, dass sie sich in diese Richtung bewegten.

»Und das ist der Spielplatz.« Charlotte zog ihn zum Fenster. Auf einem Platz unter den Bäumen standen eine Schaukel und ein Klettergerüst. »Da war auch ein Sandkasten, als wir angekommen sind, aber den hat meine Mutter wegräumen lassen, weil ich schon zu groß dafür bin.«

Hiroshi kannte den Spielplatz, aber das ließ er sich nicht anmerken. Von ihrer Wohnung aus war er nicht zu sehen; er hatte ihn bei seinen heimlichen Streifzügen durch das Botschaftsgelände entdeckt. »Ihr habt einen großen Garten.«

»In Delhi hatten wir ein Haus mit einem noch größeren Garten«, behauptete sie. »Nicht so schön gepflegt wie der hier, aber es gab dort Affen, stell dir vor! Einmal ist einer durchs Fenster in mein Zimmer gekommen und hat mir ein Schulheft geklaut.«

»Affen?« Hiroshi staunte. Er wusste gerade nicht, wo dieses Delhi lag – in Indien oder so, konnte das sein? –, aber auf jeden Fall war das Mädchen schon ganz schön in der Welt herumgekommen. Das machte ihn beinahe neidisch. »Das kann dir hier nicht passieren.«

»Ach, eigentlich war es lustig. Außerdem war es mein Matheheft. Um das war es nicht schade«, gluckste sie. Es gefiel ihm, wenn sie lachte.

»In welche Schule gehst du eigentlich?«, fragte er. Wenn sie kein Japanisch lesen konnte, ging sie ja wohl kaum in eine normale Schule.

Das brachte das Lachen zum Verschwinden. Sie seufzte. »In gar keine. Ich habe einen Hauslehrer, der mich unterrichtet. Er kommt aus Paris. Meine Mutter sagt, das ist, damit ich dieselben Sachen lerne, die ich zu Hause lernen würde. Aber ich hätte lieber Klassenkameraden.«

Hiroshi wusste, dass sie aus einem Land kam, das Frankreich hieß und in Europa lag. Er hatte im Atlas nachgesehen, wo das lag, aber es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, wie es dort aussah und wie es sein mochte, dort zu leben.

Er dachte an die Mitschüler in seiner Klasse und wie gern sie ihn piesackten, weil er der Kleinste war. »So toll ist das auch nicht immer«, meinte er.

»In Delhi bin ich auf die Internationale Schule gegangen«, erzählte Charlotte. »Da hatte ich eine beste Freundin, Brenda.« Sie hielt inne. Hiroshi merkte, dass es ihr wehtat, daran zu denken. »Wir haben ausgemacht, uns zu schreiben, aber sie hat mir nie geantwortet.«

»Das ist schade«, meinte er.

Sie nickte. »Ja. Das kommt daher, dass mein Vater Botschafter von Beruf ist. Deswegen muss er alle paar Jahre in ein anderes Land ziehen, und wir müssen natürlich mit. Ich war schon in Indien, davor im Kongo, und als ich ganz klein war, haben wir in San Francisco gelebt.« Charlotte musterte ihn. »Was ist dein Vater von Beruf?«

Hiroshi zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich kenn ihn gar nicht. Ich weiß nur, dass er Amerikaner ist.«

»Hast du ihn noch nie gesehen?«

»Nein.«

»Hast du wenigstens ein Foto von ihm?«

Hiroshi nickte. »Zu Hause.«

»Das musst du mir mal zeigen.« Sie nahm ein gerahmtes Bild von ihrem Schreibtisch, das sie mit ihrer Familie zeigte. Ihr Vater hatte hellbraunes, leicht gewelltes Haar und lächelte amüsiert, beinahe spöttisch. »Das ist vor dem Haus, in dem wir in Delhi gewohnt haben.« Sie deutete auf den Hintergrund, in dem Palmen und graue Bäume mit seltsam ineinander verschlungenen Ästen zu sehen waren. »Das war der Garten. Leider sieht man auf dem Foto keine Affen.«

»In Delhi scheint es dir besser gefallen zu haben als hier«, meinte Hiroshi.

»Ich mag es bloß nicht, dass ich immer allein bin.« Sie huschte an ihr Regal und holte unter all den anderen die Puppe heraus, die Hiroshi repariert hatte. »Wie hast du das überhaupt gemacht? Die war doch total kaputt!«

Hiroshi zuckte mit den Schultern. »Ich hab eine Menge Werkzeug. Ich hab’s halt probiert.«

»Richtiges Werkzeug?«

»Ja. Wenn ich Geburtstag hab, wünsch ich mir immer Werkzeug. Zu Weihnachten auch. Ich bau lieber Sachen, als welche zu kaufen.« Dass er außerdem meistens nicht das Geld dafür hatte, wollte er irgendwie nicht erzählen.

Charlotte betrachtete die Puppe nachdenklich. »Komisch. Vorher mochte ich die Puppe gar nicht, aber jetzt ist sie was Besonderes. Ich glaube, ich nenn sie von nun an Valérie.« Sie wiederholte den Namen, als ließe sie sich etwas Zartes, Schmelzendes auf der Zunge zergehen. »Valérie. Ja, das ist ihr Name.«

Sie ging wieder an ihr Regal und setzte die Puppe sorgsam an genau den Platz zurück, an dem sie vorher gesessen hatte.

»Wir können heute leider nicht richtig spielen, weil meine Eltern heute Abend einen Empfang geben«, erklärte sie dann. »Da muss ich auch dabei sein. Ich muss noch duschen und mich frisieren und herrichten lassen und so. Das dauert immer ewig! «

»Aha«, sagte Hiroshi. Er wusste nicht genau, was er sich unter einem Empfang vorstellen sollte. Das war wohl eines von den Dingen, die reiche Leute so machten. »Schade.«

»Aber du kannst mich ja besuchen kommen«, schlug sie vor. »Wenn du magst. Dann könnten wir in aller Ruhe miteinander spielen. Auch draußen im Garten.«

Hiroshi nickte. »Ja, okay.«

»Morgen Nachmittag vielleicht? Um drei Uhr?«

»Okay«, sagte Hiroshi.

Alles in allem, sagte sich Charlotte abends, war es ein guter Tag gewesen. Auch der Empfang war im Grunde eine tolle Sache. Die Vorbereitungen nicht, klar. Das stundenlange Waschen, Föhnen und Frisieren, das Ausprobieren von Kleidern, das nie ein Ende zu nehmen schien – das war alles entsetzlich nervig. Aber der Empfang selber war immer großartig: Alle waren vornehm gekleidet, unterhielten sich gesittet, man saß an einer festlich gedeckten Tafel und bekam tolle Sachen zu essen …

Die Gäste waren regelmäßig entzückt, wenn sich ein zehnjähriges Mädchen benehmen konnte wie eine feine Dame. Charlotte musste insgeheim immer grinsen, wenn sie das mitbekam. Als ob das so schwierig gewesen wäre! Man musste doch einfach nur fein tun, viel »bitte« und »danke« und »nein, wie interessant« sagen, musste wissen, wann man welches Besteck verwendete (auch einfach: Es ging immer von außen nach innen), durfte nichts verschütten – das war es im Wesentlichen schon. Ja, und man musste natürlich genauso lange ruhig auf seinem Stuhl sitzen bleiben wie die Erwachsenen. Das war eigentlich das Anstrengendste an der ganzen Sache.

Heute Abend benahm sich Charlotte besonders mustergültig, weil sie wusste, dass das ihre Mutter glücklich machen würde. Und sie wollte, dass Mutter glücklich war, denn sie selber war es auch, weil sie jetzt einen Freund gefunden hatte, und das verdankte sie ihrer Mutter: Hätte die Hiroshi und seine Mutter nicht eingeladen, wäre es nicht dazu gekommen.

Sie saß neben einem vornehmen älteren Japaner, der sich ungemein freute, mit ihr auf Japanisch sprechen zu können. Es stellte sich heraus, dass er sogar der Bildungsminister von ganz Japan war. Charlotte erklärte ihm, dass sie viel lieber auf eine richtige Schule gehen und Klassenkameraden haben würde als privaten Unterricht, dass es aber leider gerade nicht anders ginge.

Auf ihrer anderen Seite saß eine junge russische Dame, die, wie Charlotte irgendwann verdutzt feststellte, erstaunliche Ähnlichkeit mit der Puppe hatte, die jetzt Valérie hieß. Sie hieß allerdings nicht Valérie, sondern Oksana und sprach kein Japanisch, nur Englisch, und das nicht besonders gut. Charlotte bat sie, ihr ein paar Worte und Sätze auf Russisch beizubringen, und stellte fest, dass die Sprache ihr gefiel.

»Vielleicht wird mein Papa mal nach Russland versetzt«, sagte sie. »Dann werde ich Russisch lernen.«

Oksana lächelte. »Das wird dir leichtfallen, glaube ich.« Der Bildungsminister stimmte ihr mit heftigem Nicken bei.

Nach dem Essen ging man hinüber in den Gelben Salon. Die Männer versammelten sich in der einen Hälfte, wo sie rauchten und Whisky oder Pastis tranken. Die Frauen machten es sich in der anderen Hälfte, der mit den Sitzgelegenheiten, bequem, schlürften Likör und plauderten.

Charlotte musste noch nicht ins Bett: Das gehörte zu den Bedingungen. Wenn sie sich wie eine feine Dame benahm, dann durfte sie an einem solchen Abend aufbleiben, so lange sie wollte. Und im langen Aufbleiben hatte sie mittlerweile viel Übung.

Das einzig Blöde war, dass man von ihr erwartete, ebenfalls im Frauenteil des Salons zu bleiben. Dabei interessierte sie das, was die Männer redeten, viel mehr als die Unterhaltungen der Frauen. Die diskutierten am liebsten über »gesellschaftliche Entwicklungen« – was das war, wusste Charlotte nicht, auf jeden Fall war es etwas Besorgniserregendes. Oder sie plauderten über Maler, die irgendwo aufsehenerregende Ausstellungen gehabt hatten, und ähnliches Zeug. Heute Abend ging es um einen Roman, den ein amerikanischer Schriftsteller namens Michael Crichton geschrieben hatte und in dem Japan offenbar schlecht wegkam. Alle waren sich einig, dass es sich nicht gehörte, derartige Romane zu schreiben. Was Charlotte nicht verstand, war, wieso man sich dann noch weiter darüber unterhalten musste.

Sie schlenderte zur Bar, die in der Mitte des Salons aufgebaut war, und ließ sich eine weitere Cola geben. Wenn man viel Cola trank, fiel es einem leichter, lange aufzubleiben, hatte sie herausgefunden.

Nicht weit von der Bar entfernt stand Papa mit dem russischen Botschafter zusammen, dem Ehrengast des Abends. Sie unterhielten sich angeregt. Michail Andrejewitsch Jegorow sprach fließend Französisch, mit einem bezaubernden russischen Akzent, der wie Musik klang. Er erzählte Papa gerade lebhaft von einer Insel, die er »Insel des Teufels« nannte.

Es klang rasend interessant. Charlotte beschloss, auf die Sitten zu pfeifen und einfach mal hinüberzugehen.

Den ganzen Tag über hatte seine Mutter nichts gesagt, aber Hiroshi hatte trotzdem gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Es war nicht schwer zu erraten, dass es um das ging, was sich heute Morgen in der Botschaft abgespielt hatte.

Doch erst beim Abendessen rückte sie endlich damit heraus. Dass er das Mädchen in Ruhe lassen solle. Es könne nichts Gutes daraus entstehen. Das seien reiche Leute, und von reichen Leuten müsse man sich fernhalten.

»Wieso eigentlich?«, fragte Hiroshi.

Seine Mutter sah ihn nicht an. Ihr Blick ging ins Leere, schien etwas zu sehen, von dem er keine Ahnung hatte. Nichts Gutes auf jeden Fall.

»Für die sind wir nichts«, sagte sie schließlich bitter. »Leute wie wir sind für die unwichtig. Sie müssen keine Rücksicht auf uns nehmen, und sie nehmen auch keine.«

Hiroshi dachte darüber nach, und auch darüber, wie es gewesen war, mit dem Mädchen zusammen zu sein. Charlotte. Ohne einen Laut von sich zu geben, übte er im Mund das r und das l.

»Ich fand sie nett«, sagte er dann einfach.

Jetzt sah ihn seine Mutter an, musterte ihn lange wie einen Fremden und meinte schließlich: »Du wirst schon sehen, was du davon hast. Glaub mir.«

Der russische Gesandte unterbrach seine Erzählung, als Charlotte näher kam, verneigte sich mit einem breiten, begeisterten Lächeln und sagte: »Ah, die junge Dame gibt uns die Ehre. Mademoiselle Charlotte!«

Sie mochte es, wie er Charlotte sagte, mit diesem russisch-rollenden r. »Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte sie höflich, wie es ihr Maman beigebracht hatte, dass es sich für eine Dame gehörte.

Jegorow richtete sich wieder auf und lachte lauthals. »Nein«, meinte er dann. »Nein, du störst uns nicht. Im Gegenteil! Erzähl mir doch, wie gefällt es dir in Japan?«

»Gut«, antwortete Charlotte. Sie hätte sich natürlich beklagen können, dass sie – abgesehen von ein paar Straßen rund um die Botschaft und ein paar Kaufhäusern – von Japan bisher so gut wie nichts zu sehen bekommen hatte und deswegen eigentlich fast nichts dazu sagen konnte, aber so etwas sagte man nicht auf einem Empfang, wo alle höflich zueinander waren. Bei einem solchen Anlass sagte man einander nur angenehme Dinge. Das war die Kunst der Diplomatie. Also fuhr sie fort: »Wir werden demnächst ein Museum besuchen, das ›Insel der Heiligen‹ heißt. Darauf freue ich mich schon sehr. Das wird bestimmt interessant.«

Der Russe hob die buschigen Augenbrauen. »Tatsächlich? Schön. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich von diesem Museum noch nie etwas gehört habe.«

»Es ist eigentlich nicht ein Museum im strengen Sinne«, warf Papa erklärend ein. »Es handelt sich um einen Shinto-Schrein nördlich von Tokio, der einmal im Monat für Besucher geöffnet wird. Wobei diese Insel nur ein winziges Gebilde innerhalb eines künstlichen Sees ist, kaum größer als eine Tischplatte. Aber es soll ziemlich hübsch sein. Typisch japanisch eben.«

»Man lernt nie aus«, meinte Jegorow. »Dabei dachte ich, ich hätte meinen Reiseführer gründlich studiert.«

Papa schmunzelte. »Sie brauchen sich keinen Vorwurf zu machen, Michail Andrejewitsch. Ich glaube, dass auch die meisten Japaner von diesem Schrein noch nie gehört haben. Charlottes Kindermädchen stammt aus dieser Gegend, von ihr haben wir davon erfahren. Der Name ist Seitou-Jinjya.«

»Das Wort jinjya heißt Schrein und seitou ›heilige Insel‹ oder ›Insel der Heiligen‹«, erklärte Charlotte.

»Sieh an.« Jegorow nickte wohlwollend. »Und was gibt es da zu sehen?«

»Alte Sachen!«, entfuhr es Charlotte. Im nächsten Moment hielt sie erschrocken den Atem an. Nicht dass die Begeisterung mit ihr durchging! So etwas gehörte sich nicht.

»Alte Sachen? Die interessieren dich?«

»Ja, und wie!«

»Der Schrein«, meinte Papa, »soll einige Artefakte beherbergen, die angeblich zu den ältesten Japans gehören. Ein Schwert, das dem allerersten Kaiser gehört hat, zum Beispiel.« Er lächelte. »Man fragt sich bei solchen Behauptungen natürlich immer, ob sie stimmen. Ich weiß nicht, wie viele Schwerter der allererste Kaiser besessen hat, aber es müssen eine ganze Menge gewesen sein, wenn noch so viele davon übrig sind.«

Der russische Botschafter lachte auf, dass sein Bauch unter dem Smoking wackelte. »Ja, wir in Russland haben dasselbe Problem mit Reliquien. Manche Heiligen scheinen zwanzig Finger besessen zu haben und hundert Zähne.« Er blickte auf Charlotte herab. »Das willst du dir also ansehen?«

Charlotte nickte. »Ja, zusammen mit meinem neuen Freund.«

Der Russe zwinkerte ihr zu. »So, du hast also schon einen Freund? Wie heißt er denn?«

»Hiroshi«, gab Charlotte bereitwillig Auskunft. »Seine Mutter arbeitet in unserer Wäscherei, und er hat meine Puppe … gefunden.«

Puh! Um ein Haar hätte sie sich vor lauter Begeisterung verplappert. Sie hatte sich gerade noch rechtzeitig beherrscht. Das war wichtig, wenn man eine Dame sein wollte. Maman hatte ihr das beigebracht. Man musste sich jederzeit beherrschen, und vor allem musste man sich immer gut überlegen, was man sagte und was nicht. Am späten Abend, als der Empfang vorüber war und sie beide nebeneinander im Badezimmer standen, sagte Jean-Arnaud Malroux, Botschafter der Republik Frankreich, Offizier der Ehrenlegion und Autor mehrerer Bücher über Außenpolitik und die Rolle Frankreichs in der Welt, zu seiner Gattin Cécile Malroux, geborene Comtesse de Vaniteuil: »Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie schnell und leicht unsere Tochter fremde Sprachen lernt. Hast du mitbekommen, wie sie sich mit dem japanischen Bildungsminister unterhalten hat? Er konnte sich beim Abschied kaum darüber beruhigen.«

Seine Frau rieb sich gerade mit einem getränkten Wattebausch das Make-up von der Stirn. »Charlotte lernt keine Sprachen«, sagte sie. »Sie atmet sie ein . Ich weiß nicht, von wem sie das hat. Von mir bestimmt nicht.«

Der Botschafter fuhr sich mit der Bürste durch die Haare; eine denkbar unnütze Verrichtung vor dem Schlafengehen, aber er war es so gewohnt. »Nun ja. Ich glaube nicht, dass es damit eine mystische Bewandtnis hat. Kinder tun sich nun mal leichter damit, Sprachen zu lernen; das ist ganz natürlich. Es verblüfft einen nur immer wieder aufs Neue, wenn man es mitbekommt.« Er betrachtete die Bürste, zupfte ein paar seiner Haare heraus, betrachtete sie missmutig und beförderte sie dann in den kleinen Abfallbehälter unter dem Waschbecken. »Aber hast du mitbekommen, was sie Jegorow erzählt hat? Dass sie einen Freund hat?«

»Ich habe sozusagen miterlebt, wie sie sich angefreundet haben, wenn du so willst.«

»Tatsächlich? Wie denn das?«

Seine Gattin legte ihren Wattebausch beiseite und zog ein Zellstofftuch aus der Box. »Das war heute Vormittag. Es ist der Junge, der ihre Puppe zurückgebracht hat. Der Sohn einer Angestellten aus dem Hauswirtschaftsbereich.«

»Du solltest nicht zulassen, dass Charlotte hier engere Freundschaften schließt.« Der Botschafter griff nach Zahnbürste und Zahnpasta. »Ich kann buchstäblich jeden Tag abberufen werden, und dann? Du weißt doch, wie sie immer noch diesem Mädchen nachtrauert, mit dem sie in Delhi zusammen war – wie hieß sie doch gleich? Die kleine Engländerin mit den rotblonden Locken?«

»Brenda«, sagte seine Frau. »Brenda Gilliam. Und eigentlich stammt sie aus Schottland.«

»Die Tochter dieses Medizinprofessors?«

»Genau.«

»Wir sollten ihr nicht schon wieder so eine Trennung zumuten«, meinte der Botschafter und hielt die Zahnbürste in den Strahl warmen Wassers, der aus dem Hahn strömte.

Seine Frau sah ihn im Spiegel an. »Weißt du denn schon, wohin wir dann gehen werden?«

»Vermutlich nach Südamerika. Da werden grade einige Posten neu besetzt – Chile, Argentinien, Guatemala …«

»Argentinien!«, rief seine Gattin enthusiastisch aus. »Argentinien wäre großartig.« Als junges Mädchen hatte sie anderthalb Jahre dort gelebt, in Buenos Aires. Sie hatte Tango getanzt, die Nächte durchgefeiert und sich jeden Monat in einen anderen feurigen jungen Mann verliebt … Es war die einzige wilde Zeit in ihrem Leben gewesen, und von den Erinnerungen daran zehrte sie bis heute.

»Das hängt alles davon ab, wann Bernard wieder gesund ist«, sagte ihr Mann in dem Bemühen, keine verfrühten Hoffnungen aufkommen zu lassen. »Oder zumindest arbeitsfähig; ganz gesund wird er ja wohl nie wieder werden …« Bernard Beaucour war der eigentliche Botschafter Frankreichs in Japan, Jean-Arnaud Malroux vertrat ihn nur. Beaucour war an Krebs erkrankt, hatte aber, ehe er sich in Paris in Behandlung begeben hatte, seine ausdrückliche Absicht erklärt, sein Leben, zumindest aber seine Laufbahn in Japan zu beschließen.

»Je früher, desto besser«, sagte Madame Malroux, nahm einen neuen Wattebausch und tränkte ihn mit einer jener chemisch riechenden Flüssigkeiten, die einem Mann lebenslang Rätsel aufgeben. »Ich weiß nicht … Es muss an dem Klima hier liegen. Oder an der Stadt. Oder an dem Gedanken, dass jeden Moment ein Erdbeben losbrechen könnte. Ein Erdbeben! Man darf gar nicht darüber nachdenken.«

3

Am nächsten Tag stand Hiroshi kurz vor drei Uhr am Tor der Botschaft, doch der Wachmann weigerte sich, ihn passieren zu lassen.

»Aber ich habe eine Verabredung!«, protestierte Hiroshi.

»Die ist abgesagt worden.« Der Wachmann tippte auf eine Zeile in seinem vollgekritzelten Notizbuch. »Hier steht es.«

»Aber warum?«

»Das weiß ich nicht. Solche Dinge sagt man uns nicht.« Er sah Hiroshi bedauernd an. »Tut mir leid, aber es ist am besten, du gehst wieder.«

Hiroshi musterte den Mann, das eiserne Tor, die Fahne, die reglos und schlaff am Mast hing. Es war heiß und windstill. Hier würde er nichts erreichen, das war klar. Er bedankte sich tonlos und ging.

Leute wie wir sind für die unwichtig. Sie müssen keine Rücksicht auf uns nehmen, und sie nehmen auch keine.

Es war ganz bestimmt ein Missverständnis. Es konnte nur ein Missverständnis sein. Charlotte hatte ihn eingeladen, für drei Uhr, heute. Egal, was der Mann am Tor behauptete, das war ausgemacht gewesen!

Du wirst schon sehen, was du davon hast.

Er hatte eine Verabredung. Und er würde sich nicht daran hindern lassen, sie einzuhalten.

Hiroshi umrundete das Botschaftsgelände, schlüpfte hinter den Baum, wo das Loch im Gitter war. Er holte das Seil aus dem Astloch, in dem er es aufbewahrte, zwängte sich durch die Öffnung und ließ sich so leise wie möglich auf den Boden herab. Dann nahm er denselben Weg wie am Dienstag. Er begegnete niemandem. Auf dem Parkplatz, den er passieren musste, stand kein einziges Auto. Wahrscheinlich, weil heute Sonntag war.

Die Tür, die neben den Mülleimern ins Haus führte, war nicht verschlossen. Hiroshi schlüpfte hinein. Der Raum dahinter war kahl und hässlich, aber eine Tür ging auf den Flur, durch den er am Tag zuvor mit Charlotte gegangen und der so kostbar ausgestattet war, mit all den gerahmten Ölbildern und den dicken Teppichen. Er huschte die Treppe hinauf und klopfte an die Tür ihres Zimmers.

Sie riss die Tür auf. »Na endlich«, sagte sie. »Ich dachte schon, du kommst nicht.«

»Die haben mich nicht reingelassen«, erwiderte Hiroshi. »Am Tor.«

»Wieso nicht? Ich hab’s denen extra gesagt.«

»Der Mann hat behauptet, die Verabredung sei abgesagt, und mich wieder fortgeschickt.«

Sie blinzelte. »Und wie bist du dann reingekommen?«

Hiroshi zögerte. »Ich hab einen geheimen Weg. Sonst hätte ich doch deine Puppe nicht aus dem Mülleimer holen können!«

»Ach so.« Ein fasziniertes Leuchten glitt über ihr Gesicht. »Das musst du mir zeigen!«

Sie gingen hinunter in den Garten, und Hiroshi zeigte ihr die Stelle. Mithilfe des Seils zogen sie sich auf die Mauerbrüstung hinauf. Man sah von dort oben aus nur den Baum und ein bisschen von dem Fußweg dahinter, aber Charlotte war begeistert. »Da könnten wir jetzt runter und uns die Stadt ansehen, oder?«

»Klar«, sagte Hiroshi und überlegte, wohin sie gehen konnten. Besonders viel Interessantes gab es in der Gegend eigentlich nicht zu sehen. Er konnte ihr seine Schule zeigen, falls sie wollte.

Aber sie zögerte. »Ach«, meinte sie schließlich, »ein andermal vielleicht.« Sie ließ sich wieder auf den Boden hinter der Mauer hinunter.

Hiroshi war erleichtert. Der Garten gefiel ihm viel besser als die Stadt darum herum.

Sie gingen zurück. Unterwegs zeigte Charlotte auf das Haus, in dem Hiroshi und seine Mutter lebten. »Da wohnst du, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Hiroshi.

Ihr schmaler, fast weißer Arm schwenkte ein Stück zur Seite, sodass ihr Zeigefinger genau auf das Fenster über Hiroshis Bett wies. »Und von da aus hast du mich gesehen, wie ich im Regen gestanden habe.«

Er sah sie verblüfft an. »Woher weißt du das?«

»Ich weiß es eben«, erwiderte Charlotte kokett. Dann schlang sie die Arme um sich, als sei ihr auf einmal kalt. »Ich mach manchmal so verrückte Sachen. Einfach weil ich Lust dazu habe. Ich kann dann gar nicht anders. Und dann wieder trau ich mich nicht, ganz normale Sachen zu machen.«

»Was für normale Sachen?«

Sie hob die Schultern. In diesem Moment sah sie irgendwie aus wie ein kleiner Vogel mit verletzten Flügeln, fand Hiroshi. Als er noch klein gewesen war, hatte er einmal so einen Vogel gefunden und mit nach Hause nehmen wollen, aber seine Mutter hatte es ihm nicht erlaubt.

»Normale Sachen eben«, sagte sie. »Jemanden anrufen. Oder aus dem Haus gehen. Oder ein bestimmtes Kleid anziehen.«

»Was kann denn passieren, wenn man ein bestimmtes Kleid anzieht?«, wunderte sich Hiroshi.

»Nichts«, sagte Charlotte.

Er überlegte, ob er verstand, was sie ihm erzählte. Eigentlich nicht. Aber das spielte irgendwie keine Rolle.

»Gibt es was, was du dich nicht traust?«, wollte Charlotte wissen.

Hiroshi dachte nach. »In der Schule geh ich den Großen aus dem Weg. Denen, die immer gleich prügeln. Ich bin nicht stark genug, das ist das Problem. Ich kann nicht zurückschlagen, wenn die mich schlagen. Ich hab keine Chance gegen die. Und die Lehrer glauben einem nicht.«

Es tat gut, das einmal jemandem sagen zu können. Selbst wenn es nichts änderte. Seine Mutter wollte von solchen Dingen nichts wissen. Und erst recht nichts von seiner Idee, einen Karate-Kurs zu absolvieren, um sich besser verteidigen zu können. Das könnten sie sich nicht leisten, hatte sie gemeint.

Charlotte meinte: »Das ist okay. Das würde ich auch so machen.«

Im nächsten Augenblick schien sie das ganze Thema vergessen zu haben. »Komm«, rief sie. und rannte los. »Wir gehen schaukeln!«

Hiroshi rannte ihr hinterher, war zugleich mit ihr an der Schaukel. Sie hatten einen ganzen Spielplatz für sich alleine! Das hatte er noch nie erlebt; nicht einmal geträumt hatte er von so einem Luxus. Im Kindergarten hatte er sich die Spielplätze immer mit vielen anderen Kindern teilen müssen. Eigentlich hatte er nie genug Zeit gehabt, wirklich zu schaukeln, denn kaum hatte man angefangen, war man schon wieder vertrieben worden – von einem Größeren, Stärkeren, solange er klein war, und als er selber zu den Ältesten in der Gruppe gehört hatte, von der Kindergärtnerin, die verlangte, dass er Rücksicht auf die Kleinen nahm.

Es war toll, reich zu sein!

Er schaukelte, warf sich in die Ketten, vor und zurück, genoss es, höher und höher zu steigen, an den Umkehrpunkten einen Lidschlag lang schwerelos zu sein, um im nächsten Moment umso stärker auf den Sitz gedrückt zu werden … Am Gipfelpunkt endlich ließ er los, glitt vom Sitz und flog durch die Luft – das großartigste Gefühl, das man sich vorstellen konnte!

»Toll!«, rief Charlotte.

Doch als Hiroshi sich wieder vom Rasen aufrappelte, sah er, dass Charlottes Mutter quer über den Rasen auf sie zukam. Alles an ihr – ihre Haltung, ihr Gesichtsausdruck, die Art und Weise, wie sie ging – verriet, dass Ärger drohte. Hiroshi blieb stehen, wo er war, und wartete ab.

Die Frau des Botschafters beachtete ihn gar nicht. Sie marschierte auf ihre Tochter zu, die schon den Kopf einzog, und redete in scharfem Ton auf sie ein. Hiroshi verstand natürlich kein Wort, aber er verstand, dass Charlottes Mutter sehr verärgert war.

Als ihre Mutter aufgehört hatte zu schimpfen, erhob sich Charlotte von der Schaukel und kam mit hängenden Schultern zu ihm herüber. »Sie sagt, du musst gehen.«

»Ah«, meinte Hiroshi enttäuscht, wenngleich nicht wirklich überrascht. »Warum?«

»Weiß ich auch nicht.«

Sie begleitete ihn ein Stück, bis ein Wachmann auftauchte, der Hiroshi am Arm packte und davonführte. Wie er auf das Gelände gekommen sei?, fragte er unterwegs mehrmals, aber Hiroshi antwortete einfach nicht. Stumm ließ er sich abführen, die Lippen fest zusammengepresst, und als sie am Tor ankamen, das gerade offen stand, weil ein Lieferwagen hereinfahren wollte, und der Wachmann einen Augenblick nicht aufpasste, riss sich Hiroshi los und rannte davon.

Abends schimpfte seine Mutter mit ihm, die natürlich von dem Vorfall gehört hatte. Auch sie wollte wissen, wie er in den Garten gelangt war, er wisse genau, dass das verboten sei! Doch auch ihr verriet er es nicht.

Sie schnaubte ungehalten. »Du wirst noch schuld daran sein, wenn ich meine Arbeit verliere und wir wegziehen müssen«, hielt sie ihm vor.

Hiroshi zog den Kopf noch weiter ein. Wahrscheinlich würde er bald keinen Hals mehr haben. »Warum solltest du deine Arbeit verlieren?«

»Das sind reiche Leute, und wir sind arme Leute. Verstehst du? Das Beste ist, man geht sich aus dem Weg.«

»Warum ist das so?«

»Was?«

»Dass es reiche und arme Leute gibt?«

Mutter warf die Arme in die Höhe. »Du stellst Fragen …! Das ist eben so. Das ist schon immer so gewesen. Die Reichen sind die, die viel an sich raffen können, und die anderen sind arm.«

»Das ist ungerecht.«

»Es hat keinen Zweck, sich darüber aufzuregen.«

Natürlich kam Hiroshi am nächsten Tag nicht wieder.

Charlotte wusste kaum, wohin mit der Wut auf ihre Mutter. Und sie durfte nicht mal etwas sagen, weil Mutter natürlich wieder herumlag und ihre üblichen Kopfschmerzen hatte. Irgendwann ging es nicht anders, da musste Charlotte in ihr Zimmer gehen und alle, alle Sachen von den Regalen werfen, blindlings tobend, bis der ganze Boden voller Spielzeug lag.

Danach war ihr ein bisschen besser. Nach einer Weile ging sie daran, alles wieder aufzuräumen, jede Puppe und jedes Stofftier an seinen Platz zurückzusetzen, und all die kleinen Spielsteine, Würfel und Karten aufzusammeln, die aus den Kästen gefallen waren und sich über den Teppich verteilt hatten. Sie konnte es nicht haben, wenn Dinge einfach herumlagen; es brachte nämlich Unglück, wenn man Sachen nicht an ihren Platz zurückstellte.

Als sie fertig war, setzte sie sich ans Fenster, schaute hinaus und beschloss, dass sie nie wieder die feine Dame auf einem Empfang ihrer Eltern spielen würde. Das hatte Mutter jetzt davon. Warum hatte sie auch alles verderben müssen! Nein, in Zukunft würde sie sich weigern. Sie würde sich strikt weigern, sich auch nur frisieren zu lassen. Ungekämmt und ungeduscht würde sie sich in ihrem Zimmer einschließen, und egal, wie Mutter ihr schmeicheln oder drohen mochte, sie würde sich einfach nicht von der Stelle rühren. Irgendwann würden unten die Gäste ankommen und Mutter gezwungen sein, hinabzugehen …

Charlotte seufzte. Die Vorstellung, allein in ihrem Zimmer zu sitzen, während unten in den Salons all die Leute aßen und feierten, gefiel ihr auch nicht besonders, wenn sie ganz ehrlich war.

Vielleicht war das doch keine so gute Idee. Vielleicht war es besser, sie dachte sich etwas anderes aus, um ihre Mutter zu bestrafen.

Ein Geräusch ließ sie aufhorchen. Es hatte geklungen, als klopfe jemand an ihre Tür, doch als sie aufmachen ging, war da niemand. Vor allem nicht Hiroshi.

Hiroshi. Das brachte sie auf eine Idee. Eine Idee von der Sorte, bei der man erst einmal stehen bleiben, die Luft anhalten und genau nachdenken musste, ob man das wirklich machen wollte. Aber als sie wieder atmete, war die Entscheidung gefallen.

Sie eilte in den Garten und zu der Stelle, an der Hiroshi ihr das Loch im Gitterzaun gezeigt hatte. Das Seil hing noch da. Sie zog sich hoch, zwängte sich durch die Öffnung und kletterte auf der anderen Seite zwischen dem Baum und der Mauer hinab. Das war einfach. Und nun war sie draußen! Großartig. Am liebsten hätte sie gejauchzt, aber es war wohl besser, sie blieb so leise wie möglich.

In der Gasse war gerade niemand unterwegs. Sie ging zu dem Haus, in dem Hiroshi wohnte, und stand dann ratlos vor dem Klingelbrett: Alle Klingeln waren natürlich auf Japanisch beschriftet. Was nun?

Sie überlegte, einfach alle Klingeln auf einmal zu drücken. Sie konnte sich ja dann entschuldigen. Und vielleicht waren die meisten Leute sowieso nicht zu Hause.

In dem Moment hörte sie ein Geräusch hinter der Tür, die gleich darauf geöffnet wurde – von Hiroshi!

»Ich hab dich gesehen«, erklärte er anstatt einer Begrüßung.

Charlotte musterte ihn. Er sah größer aus, als sie ihn in Erinnerung hatte. »Ich dachte, ich kann dich ja auch mal besuchen. Wenn du magst.«

»Ja, klar«, sagte Hiroshi und öffnete die Tür noch weiter. »Komm.«

Sie stiegen die Treppen hoch. Das Treppenhaus war dunkel und atemberaubend eng: So also sah ein richtiges japanisches Haus aus!

Die Wohnung, in die sie kamen, war ebenfalls winzig; nicht viel größer als ihr eigenes Zimmer. Durch eine Schiebetür, die einen Spalt weit offen stand, erspähte Charlotte einen winzigen Raum, in dem eine dünne Matratze auf dem Boden lag und auf einem Wandschrank Sachen bis zur Decke gestapelt waren; Koffer, Decken und so weiter. In der vorderen Hälfte des Hauptraums drängten sich ein Tisch, an dem man knien musste, ein Fernseher und eine Küchenzeile. Dann kam ein Raumteiler – ein schwarzes Holzgitter, das mit weißem Papier bespannt war –, und dahinter war Hiroshis Reich: Filmposter an der Wand, ein schmales Bücherregal darunter und ein paar Kisten, von denen eine offen stand, sodass man all die Werkzeuge und Bastelsachen darin sehen konnte. Auf dem Fensterbrett lag etwas, das wie ein zerlegtes Radio aussah.

»Ich versuch, das zu reparieren«, erklärte Hiroshi. »Aber das ist nicht so einfach. Mir fehlen die richtigen Teile.«

Charlotte sah sich um. An der Wand gegenüber dem Fenster stand ein Regal, in dessen unterstem Fach eine zusammengerollte Matratze lag und in dem Fach darüber eine zusammengelegte Bettdecke. »Musst du jeden Morgen dein Bett wegräumen?«, fragte sie.

»Ja«, sagte er. Für ihn schien das selbstverständlich zu sein. »So hat man tagsüber mehr Platz. In der Schulzeit mach ich’s nicht immer, aber in den Ferien schon.«

»Wie lange habt ihr Ferien?«

»Bis Ende August. Am vierundzwanzigsten geht die Schule wieder los, glaube ich. Ein Dienstag auf jeden Fall.«

Charlotte strich sachte über ein paar der Möbel. So viele Eindrücke … »Und was machst du so in den Ferien?«

»Nichts. Basteln. Lesen. Nachdenken.« Hiroshi seufzte. »Meine Mutter schimpft manchmal, weil ich nicht wie die anderen in die Schulklubs gehe, aber ich hab einfach keine Lust.«

»Schulklubs? Was ist denn das?«

»Ach, da macht man Sport. Fußball, Basketball, Karate und so. Oder man nimmt Nachhilfe.«

»Bist du gut in der Schule?«

Er hob die Schultern. »Geht so.«

»Und was liest du?«

»Meistens technische Bücher. Wie Sachen funktionieren und so. Die kann ich mir in der Bücherei ausleihen.«

Jetzt erst bemerkte Charlotte, was allen Filmpostern gemeinsam war, die Hiroshi aufgehängt hatte: Auf jedem davon war ein Roboter zu sehen. Eines zeigte den goldenen Roboter aus Star Wars, ein anderes eine kleine Maschine, die auf einem großen Felsbrocken stand und von einem dunklen Gewitterhimmel herab von einem Blitz getroffen wurde.

»Das interessiert dich ziemlich, hmm?«, meinte Charlotte. »Wie Sachen funktionieren.«

»Ja«, sagte Hiroshi und deutete auf den Star-Wars-Roboter. »Kennst du den?«

»Klar. Das ist C-3PO.« Das wusste sie von Brenda, die den Film auf Video gesehen und ihr alles haarklein erzählt hatte.

»Genau. Ein Protokoll-Droide dritter Klasse. Aber in Wirklichkeit ist das nur ein verkleideter Schauspieler.« Hiroshi deutete auf den anderen Roboter, der, in den der Blitz einschlug. »Das ist Nummer 5, der ist viel interessanter. Das ist ein richtiger Roboter. Eigentlich ist er ein Militärroboter, aber nachdem ihn ein Blitz getroffen hat, wird er friedliebend, und deshalb jagen sie ihn. Er kann tolle Sachen, zum Beispiel kann er ein Buch innerhalb von einer Minute durchlesen. Er macht nur so« – Hiroshi deutete eine rasend schnelle Blätterbewegung an – »und schon hat er alles gespeichert, was in dem Buch steht.«

»Ich darf solche Filme nicht anschauen«, bekannte Charlotte. »Meine Mutter sagt, dafür bin ich noch zu jung.«

»Den hab ich sogar im Kino gesehen«, sagte Hiroshi. »Wenn ich eine gute Note in Englisch habe, geht meine Mutter manchmal mit mir in ein Kino drüben in Shinagawa, das amerikanische Filme auf Englisch zeigt. Dort hab ich den gesehen. War ziemlich lustig.« Er ging vor seinem Regal in die Hocke, durchsuchte einen Stapel von Papieren und hielt ihr dann einen Prospekt vor die Nase, auf dem zwischen lauter grellbunten japanischen Schriftzeichen ein klobiger Spielzeugroboter mit halbkugeligem Kopf und dicken Greifarmen zu sehen war. »So einen hätte ich gern. Das ist ein Omnibot. Der kann Sachen herumtragen und einem Getränke eingießen und so. Aber leider kostet der fünfzigtausend Yen, das kann ich mir nicht leisten.«

»Was würdest du denn damit machen?«, wollte Charlotte wissen.

»Ich würde ihn natürlich ausbauen, damit er noch mehr kann. Er müsste ein richtiger mechanischer Diener werden.«

Diese Idee faszinierte ihn offenbar über alle Maßen. Seltsam, fand Charlotte. Aber sie hatte Jungs eigentlich schon immer seltsam gefunden. »Du könntest mir übrigens etwas zu trinken anbieten«, meinte sie. »Das macht man so, wenn man eine Dame zu Besuch hat.«

»Ah«, meinte Hiroshi. Er eilte zum Kühlschrank und holte eine Dose Cola, die er ihr reichte. »Bitte.«

Charlotte hatte in Wirklichkeit gar keine Lust, etwas zu trinken, und Cola mochte sie auch nicht besonders, aber jetzt gab es ja wohl kein Zurück mehr. Sie trank in kleinen Schlucken und sah sich weiter um. Wie winzig alles war! Es gab noch eine Schiebetür. Charlotte fragte sich, wohin sie führen mochte. Wahrscheinlich in ein Badezimmer.

»Wir könnten ein Zeichen ausmachen«, schlug sie vor.

»Was für ein Zeichen?«

»Wenn meine Mutter nicht da ist. Sie geht manchmal nachmittags weg.«

»Und dein Vater?«

»Der arbeitet eigentlich immer. Außerdem wäre es dem, glaube ich, egal, ob du kommst.« Charlotte ging ans Fenster. »Siehst du mein Zimmerfenster? Das mit dem gelben Vorhang? Wenn die Luft rein ist, stell ich die Puppe, die du repariert hast, hinter die Scheibe.«

»Okay«, sagte Hiroshi.

Sie gab ihm die noch halb volle Dose. »Ich geh jetzt, glaub ich, besser wieder zurück, bevor jemand merkt, dass ich weg war.«

Zwei Tage später fragte ihre Mutter, ob Charlotte mit in die Stadt wolle, einkaufen und ein wenig Eis essen und so weiter. »Du könntest noch ein Kleid brauchen für den Sommer.«

»Gehen wir auch in ein Museum?«, fragte Charlotte.

Mutter verdrehte die Augen. »Nein, ganz bestimmt nicht. Wir gehen in ein funkelnagelneues Einkaufszentrum.«

»Dann hab ich keine Lust.«

Später verfolgte Charlotte von einem der Fenster im obersten Stock aus, wie Mutter zusammen mit Madame Chadal und einer Übersetzerin ins Auto stieg und zum Haupttor hinausfuhr. Sobald der Wagen außer Sicht war, rannte sie in ihr Zimmer und stellte Valérie ins Fenster.

Hiroshi kam keine Viertelstunde später.

»Ich hab mir was ausgedacht«, erzählte er und holte ein dunkles, schwer aussehendes Stück Metall aus der Hosentasche. Ein Magnet, wie sich herausstellte – er war so stark, dass man damit Büroklammern auf Charlottes Schreibtisch herumwandern lassen konnte, indem man ihn unter die Tischplatte hielt. »Ich hab heute gelesen, dass in menschlichem Blut Eisen enthalten ist. Wusstest du das? Da gibt es was, das Hämoglobin heißt. Das ist das, was das Blut rot aussehen lässt, und darin ist Eisen enthalten.«

»Ehrlich?«, wunderte sich Charlotte und musterte ihre Hände. »Eisen?«

»Ja, ganz wenig natürlich, sonst würde der Magnet ja an dir festkleben. Aber ich hab mir gedacht, man müsste das Hämoglobin festhalten können, wenn man einen Magneten auf eine Blutbahn hält.« Er legte seinen linken Unterarm auf den Schreibtisch, die Innenseite mit den Adern nach oben, und legte den Magneten dicht unter das Handgelenk. »Es müsste mit der Zeit dunkler werden.«

Charlotte fand das eine seltsame Idee. Aber irgendwie faszinierend. Sie warteten, ließen den Arm keine Sekunde aus den Augen. Ab und zu hob Hiroshi den Magneten ein bisschen an, sodass sie darunter schauen konnten.

»Vielleicht ist meine Haut zu dunkel«, meinte er nach einer Weile.

Charlotte fand seine Haut nicht dunkel; da hatte sie bei ihren Schulkameraden in Delhi ganz anderes gesehen. Aber ihre war tatsächlich heller. Sie legte ihren Unterarm neben den seinen. »Probier es bei mir.«

Es war ein komisches Gefühl, den Magneten schwer und kalt auf der Pulsader liegen zu haben und sich vorzustellen, dass sich darunter nun dieses Hämoglobin ansammelte. Man sah allerdings auch bei ihr nichts davon.

»Kann das eigentlich gefährlich werden?«, fragte Charlotte. »Dass man da ohnmächtig wird oder so?«

»Ich fang dich auf, wenn du ohnmächtig wirst«, erklärte Hiroshi.

Sie warteten weiter. Es wurde allmählich ein bisschen langweilig.

»Vielleicht ist da einfach nicht genug Blut«, meinte Charlotte. Sie überlegte. Wo am Körper war die Haut denn noch dünner und wo floss mehr Blut?

Sie sprang auf, riss die Tür ihres Kleiderschranks auf und stellte sich vor den Spiegel an der Innenseite. »Am Hals! Da ist die Hauptader; hier, siehst du?« Sie verrenkte den Kopf, um sich selber seitlich auf den Hals sehen zu können. »Da. Halt den Magneten mal da hin!«

Hiroshi trat hinter sie, hielt ihr den Magneten an die dicke Ader, die dort pochte, und so standen sie dann da, reglos, und beobachteten, was geschah. Stundenlang; zumindest kam es ihr so vor.

»Das funktioniert nicht«, befand Charlotte schließlich.

Er nickte und nahm den Magneten wieder weg. »Du hast recht.« Er steckte ihn ein. »Man darf nicht alles glauben, was in Büchern steht.«

»Komm«, sagte Charlotte. »Lass uns schaukeln gehen.« Danach dauerte es drei Tage, bis die Puppe endlich wieder im Fenster auftauchte. Hiroshi ließ das immer noch kaputte Radio liegen und rannte los.

Charlotte empfing ihn mit zwei großen Taschenlampen in den Händen. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, die Kellerräume zu erkunden. Das traute sie sich alleine nicht, aber sie war furchtbar neugierig, was man dort alles finden mochte. So aufgeregt, wie sie war, steckte sie Hiroshi regelrecht mit ihrer Neugier an. Also schlichen sie sich das Treppenhaus hinunter bis zu einer Eisentür, hinter der es in den Keller hinabging.

Kalt war es, vor allem nach der brütenden Sommerhitze draußen. Das Erste, was sie fanden, war die Heizung. Eine Stahltür führte in einen Raum, den ein riesiger Öltank fast vollständig ausfüllte. Die folgenden Kammern enthielten alte Büromaschinen und Kartons mit Formularen. Dann kamen sie in einen großen Kellerraum mit Metallregalen voller Aktenordner.

»Uh!«, meinte Charlotte und schüttelte sich. »Alte Akten. Das hasse ich. Komm, lass uns weitergehen.«

Hiroshi konnte nicht nachvollziehen, was an alten Akten so schrecklich sein sollte, aber andererseits interessierten sie ihn auch nicht besonders, also folgte er ihr.

Schließlich stießen sie auf einen Abstellraum mit lauter wunderlichem Zeug: seltsame Stehlampen, verstaubte Sitzgarnituren, Gartenzwerge, Heizplatten mit stoffumwickelten Anschlusskabeln, gerahmte Fotos von Schlössern, Eisbergen und Schiffen, Blumentöpfe voller verschrumpelter Blumenzwiebeln, eine rostige Säge, ein Dreirad, dem ein Rad fehlte …

»Schau mal hier«, sagte Charlotte und hielt ein versiegeltes Glas hoch, in dem eine tote Schlange zusammengerollt in einer gelblichen Flüssigkeit lag.

Hiroshi hatte etwas noch Tolleres entdeckt: einen großen Metallbaukasten. »Unglaublich«, hauchte er, als er den Deckel abhob und all die Lochstangen, Achsen, Räder, Zahnräder und Grundplatten darunter erblickte. Eine Schachtel enthielt Hunderte von Schrauben und Muttern, eine andere drei Elektromotoren und Kabel. »Damit könnte man fast einen Roboter konstruieren.«

Er legte die Schachtel auf den Boden, kniete sich davor und fing an, etwas zu bauen – irgendwas, nur um zu sehen, wie Zahnräder ineinandergriffen und Achsen sich drehten.

Charlotte hockte sich neben ihn, nahm ein großes Zahnrad in die Hand, runzelte die Stirn und legte es zurück. Sie griff nach einem anderen Teil, einer Bodenplatte mit einer Menge Schraublöchern darin, ließ sie aber auch gleich wieder los.

»Damit solltest du nicht spielen«, erklärte sie.

Hiroshi sah auf. »Wieso nicht?«

»Der Junge, dem das gehört hat, hat Selbstmord begangen.«

»Echt?«

»Er war in ein Mädchen verliebt, die nichts von ihm wissen wollte. Er hat sie erpresst; hat ihr gesagt, dass er sich umbringt, wenn sie nicht mit ihm geht, aber sie wollte ihn trotzdem nicht. Da hat er beschlossen, sich vom Dach des Hauses zu stürzen, in dem sie gewohnt hat, und zwar so, dass er genau unter ihrem Fenster auf dem Pflaster aufprallt«, erzählte Charlotte tonlos. »Das hat er sich ausgedacht, und dann ist er losgegangen und hat es getan.«

Hiroshi sah fasziniert auf den Baukasten hinab, auf all die wunderbaren Teile. Er wusste nicht, ob er sich davor gruseln oder lieber traurig sein sollte, dass er die Sachen wieder aufgeben musste.

»Wenn ich verliebt wäre, würde ich mich nicht umbringen«, erklärte er.

»Und wenn sie dich nicht haben will?«, fragte Charlotte.

Hiroshi schüttelte den Kopf. »Dann würde ich es so lange probieren, bis sie es sich anders überlegt.«

Beim Abendessen fragte Hiroshi seine Mutter, ob sie etwas über einen Jungen wisse, der einmal im Botschaftsgebäude gelebt und der sich vor dem Haus eines Mädchens umgebracht habe. Von dem Metallbaukasten erzählte er nichts, aber er ließ nicht unerwähnt, dass der Junge direkt unter dem Zimmer des Mädchens aufs Pflaster geschlagen war.

Seine Mutter musterte ihn befremdet. »Von wem hast du das?«

»Jemand hat es erzählt«, sagte Hiroshi.

Sie streckte die Hand aus, ordnete die Schalen mit dem Reis und dem eingelegten Gemüse. »Es ist so etwas passiert, ja. Aber das ist lange her. Da war ich noch nicht hier. Eine der alten Köchinnen hat mir erzählt, dass der Sohn eines Gärtners …« Sie ließ das mit den Schalen. »Er wollte einem Mädchen aus seiner Klasse einen Streich spielen – ihr an einer Schnur etwas vors Fenster hängen, um sie zu erschrecken –, und dabei ist er abgestürzt.« Sie musterte Hiroshi streng. »Lass dir das eine Lehre sein. Man spielt Leuten keine Streiche.«

Beim nächsten Mal stellte Hiroshi Charlotte zur Rede. Bloß weil sie in einem großen Haus mit Garten lebte, hatte sie noch lange nicht das Recht, ihm Lügengeschichten zu erzählen.

Er war richtig sauer.

Sie hörte sich seine Vorhaltungen schweigend an, und als er fertig war, sagte sie: »Das war keine Lügengeschichte. Deine Mutter weiß es nur nicht besser.«

»Aber du weißt es besser, ja? Das soll ich glauben?«, pflaumte er sie an. »Du bist erst seit ein paar Monaten hier. Meine Mutter lebt hier schon so lange, wie ich auf der Welt bin.«

Charlotte erwiderte nichts, sah nur zu Boden.

Sie standen auf dem Rasenstück, auf dem er sie damals in der Nacht gesehen hatte. Sie hatte auf ihn gewartet, nachdem sie die Puppe ins Fenster gesetzt hatte. Es war heiß. Der Gartenschlauch, mit dem der Gärtner am Morgen die Pflanzen gewässert hatte, lag zusammengerollt am Boden. In den Büschen raschelten Vögel auf der Suche nach Futter, und von weit her hörte man das Brummen des Verkehrs. Hinter einem offenen Fenster klingelte ein Telefon.

»Wenn ich dir ein Geheimnis verrate«, fragte Charlotte, »wirst du es für dich behalten?«

Hiroshi musterte sie, wie sie da stand. Sie trug ihre Haare heute zu einem Pferdeschwanz hochgebunden. Er merkte, dass er ihr nicht lange böse sein konnte.

»Okay«, sagte er.

Sie setzte sich ins Gras und wartete, bis er sich vor sie gesetzt hatte.

»Ich hab so etwas wie eine besondere Gabe«, erklärte sie ernst. »Früher dachte ich, jeder kann das, aber inzwischen habe ich gemerkt, dass ich wohl die Einzige bin.«

Hiroshi runzelte die Stirn. Das war jetzt doch auch wieder eine Lügengeschichte, oder? »Eine Gabe? Was für eine Gabe?«

»Wenn ich Dinge anfasse, dann weiß ich, was mit ihnen passiert ist. Ich weiß, wie alt sie sind, wem sie gehört haben und was das für Leute waren, denen sie gehört haben. Was sie erlebt haben, wovor sie Angst gehabt haben und so weiter.« Sie strich mit der Hand über den Rasen. »Das Gras ist ganz jung. Es gehört niemandem, es hat keine Erinnerung. Aber wenn ich zum Beispiel den Gartenschlauch berühre«, fuhr sie fort, streckte die Hand aus und legte sie auf den zusammengerollten Schlauch, »dann spüre ich den Gärtner. Ich kann spüren, dass er sich Sorgen macht, weil seine Frau krank ist und die Ärzte nicht herausfinden, was sie hat.«

Hiroshi dachte nach. Er dachte an das, was er in all den Büchern gelesen hatte, von denen die Frau in der Bibliothek immer sagte, sie seien noch zu schwierig für jemanden in seinem Alter. Er versuchte zu verstehen, wie so eine Gabe funktionieren mochte. Nach allem, was er wusste, war das nicht möglich. Er hatte noch nie etwas davon gehört, dass Gegenstände die Gedanken von Menschen speicherten.

»Das glaube ich nicht«, sagte er.

»Als ich die Teile aus dem Baukasten angefasst habe, habe ich die Selbstmordgedanken des Jungen gespürt. Sie umgeben den ganzen Karton, als würde er leuchten, weil er ständig damit gespielt hat«, erklärte Charlotte. »Als ich die reparierte Puppe zurückbekommen habe, habe ich gesehen, wie du mich damals im Regen beobachtet hast und wie du hinterher nach mir Ausschau gehalten hast. Deswegen wusste ich, wo du wohnst.«

»Ich glaube eher, du hast mich einfach am Fenster sitzen sehen.«

»Nein, hab ich nicht.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Ich hab das noch nie jemandem erzählt. Meine Mutter wundert sich immer, warum ich so gerne in Museen gehe. Ich mag aber nur die, wo man auch etwas anfassen kann.« Sie sah auf, hatte plötzlich ein Leuchten in den Augen. »Wenn man ganz alte Sachen berührt – richtig alte Dinge –, das ist, als würde man tausend Bücher auf einmal lesen, in einer Sekunde. Manchmal spürt man Hunderte von Leuten auf einmal, bekommt eine Ahnung, wie sie früher gelebt haben, wovor sie Angst hatten, wovon sie geträumt haben …«

Hiroshi musterte sie skeptisch. »Ich weiß nicht, wie so etwas gehen soll. Ich kann das nicht glauben.«

Eine Weile saßen sie beide schweigend da. Hiroshi fragte sich, wie es nun weitergehen sollte. Wahrscheinlich war Charlotte jetzt beleidigt. Aber was sollte er machen? Er konnte doch nicht einfach behaupten, dass er ihr glaubte, wenn er es in Wirklichkeit gar nicht tat. Das wäre auf eine komplizierte Weise eine Lüge gewesen.

»Ich hab eine Idee«, sagte Charlotte plötzlich. Sie sah ihn an. »Bring mir nächstes Mal etwas mit, das deinem Vater gehört hat.«

4

Ein Gegenstand, der seinem Vater gehört hatte? Das war gar nicht so einfach, wie es sich anhörte.

Charlotte hatte ihm, ehe er gegangen war, noch einmal genau erklärt, was sie brauchte: einen Gegenstand, mit dem sein Vater in Kontakt gewesen war. »Am besten sind Brillen«, hatte sie gesagt.

»Mein Vater hat keine Brille getragen«, hatte Hiroshi erwidert.

»Dann eine Armbanduhr. Ein Kleidungsstück. Ein Stuhl, auf dem er jeden Tag gesessen hat …«

Stühle besaßen sie überhaupt nicht. Das war eine westliche Erfindung; in Japan saß man auf dem Boden. Kleidung seines Vaters hatte seine Mutter bestimmt nicht, oder jedenfalls nicht mehr – wozu auch? Was Armbanduhren betraf, so verwahrte Mutter zwar eine Uhr, von der sie behauptete, sie sei ein Geschenk seines Vaters und Hiroshi solle sie bekommen, wenn er mit der Schule fertig sei. Aber das hieß ja, dass sein Vater diese Uhr nicht selber getragen hatte.

Fotos besaß Hiroshi ein paar. Die eigneten sich vermutlich aber auch nicht, denn darauf war sein Vater nur zu sehen; ob er sie jemals auch nur angefasst hatte, war fraglich.

Hiroshi betrachtete ratlos eines der Bilder. Es zeigte seinen Vater als jungen Mann, und da man im Hintergrund ein in Hiragana beschriftetes Schild erkennen konnte, war es bestimmt in Japan aufgenommen worden. Sein Vater hatte ein schmales, fein geschnittenes Gesicht, sah richtig gut aus. Besonders seine Haare faszinierten Hiroshi: eine locker geschwungene Mähne von der Farbe dunklen Goldes … Niemand, den er kannte, hatte solches Haar. Er selber auch nicht, nicht die Spur, leider.

Und dann das Lächeln seines Vaters … Es war ein eigenartiges Lächeln, und deshalb musste Hiroshi sich dieses Foto immer wieder anschauen. An manchen Tagen kam es ihm vor, als müsse sein Vater an diesem Tag sehr glücklich gewesen sein. An anderen Tagen wiederum schien es ihm ein trauriges Lächeln zu sein. Seltsam.

Mutter sprach selten von seinem Vater. Sie hatte ihm einiges erklärt, als er noch wesentlich jünger gewesen war, und seither hielt sie das Thema für erledigt. Sein Vater war aus den USA nach Tokio gekommen, um hier zu studieren, und bei der Gelegenheit hatten die beiden sich kennengelernt: Das war es, was er wusste. Und dass sie mit ihm nach Amerika gegangen war, wo es ihr aber nicht gefallen hatte. Dann war sein Vater plötzlich sehr krank geworden, und seine Familie hatte ihr gesagt, sie müsse wieder gehen. Also war sie, schwanger mit ihm, Hiroshi, nach Japan zurückgekehrt und hatte seither seinen Vater nicht wiedergesehen und auch nichts mehr von ihm gehört.

Es stimmte ihn immer traurig, wenn er darüber nachdachte. Er erinnerte sich, wie er sich als Kind manchmal ausgemalt hatte, sein Vater sei ein berühmter Mann, ein Berater des amerikanischen Präsidenten vielleicht, oder ein hervorragender Wissenschaftler, jedenfalls damit beschäftigt, wichtige Dinge für die Welt zu erledigen. Aber eines Tages, so hatte er es sich vorgestellt, würde sein Vater doch kommen, würde ihm die Hand auf die Schulter legen und sagen: So, das also ist mein Sohn. Und dann würde alles wunderbar werden.

Eine Idee kam ihm. Hiroshi legte das Foto beiseite und rutschte zu dem Regal unter dem Fenster, in dessen unterstem Fach er die Blechschachtel mit seinen privatesten Privatsachen aufbewahrte. Im Grunde war es lauter Kram: die Kinokarte des Roboterfilms, von dem er Charlotte erzählt hatte. Ein weißer Handschuh, den er als Kind gefunden hatte; er hatte auf der Lehne einer Bank gelegen, so, als habe sich die Person, die ihn getragen hatte, von einem Moment auf den anderen in Rauch aufgelöst. Das hatte Hiroshi so fasziniert, dass er den Handschuh hatte mitnehmen müssen. Ein Notizbuch mit den Figuren der Masters of the Universe darauf, He-Man und Skeletor. Das hatte er sich aus Gründen, die er nicht mehr nachvollziehen konnte, von seinem ersten Taschengeld gekauft, aber nie gewusst, was er hineinschreiben sollte. Seither lag es eben in der Schachtel.

Ein kleiner blauer Plastikhund. Eine Muschel von irgendeinem Strand, an dem er mit seiner Mutter gewesen war; er hatte keine Ahnung mehr, an welchem.

Und ein Taschenmesser, das seinem Vater gehört hatte.

Es war ein dickes Taschenmesser mit roten Schalen, auf denen ein weißes Wappen mit einem Kreuz darin prangte. Man konnte elf verschiedene Werkzeuge wie Messer, Schraubenzieher, Flaschenöffner oder Schere ausklappen, und als Kind hatte Hiroshi sich beim Spielen damit einmal bös in den Finger geschnitten, weil eine Klinge unversehens wieder zugeschnappt war. Seither hatte er das Messer nicht mehr angerührt, hatte es sogar fast vergessen.

Aber das hatte seinem Vater gehört. Das hatte er jahrelang bei sich getragen. Zumindest hatte Mutter das erzählt.

Hiroshi zögerte. Auf einmal war er sich nicht mehr sicher, ob er überhaupt wollte, dass Charlotte ihm irgendetwas über seinen Vater erzählte. Selbst wenn sie sich nur Lügengeschichten über ihn ausdachte. Vielleicht würde sie etwas Hässliches über seinen Vater behaupten, und er wusste nicht, ob er das hören wollte.

Er musste darüber nachdenken.

Tag um Tag verging, ohne dass die Puppe im Fenster auftauchte. Als sie endlich wieder auf dem Fensterbrett saß, zögerte Hiroshi einen Moment, dann steckte er das Taschenmesser ein und rannte los.

»Hast du was dabei?«, wollte Charlotte gleich wissen, und als er nickte, sagte sie: »Dann komm.«

Sie ging mit ihm hinaus in den Garten. »Ich dachte schon, meine Mutter geht überhaupt nicht mehr aus dem Haus«, erzählte sie, während sie über den Rasen marschierten. »Sie hat eine Freundin, mit der sie sich trifft, die Frau des italienischen Botschafters, glaube ich, aber die ist gerade nicht da. Heute ist sie wenigstens mal zum Friseur, das dauert auch mindestens drei Stunden.«

»Warum gehen wir in den Garten?«, wollte Hiroshi wissen.

»Es funktioniert besser in der Natur«, erklärte Charlotte und trat über den Rand des Rasens in ein dicht mit Büschen und Bäumen bewachsenes Areal.

Zwischen all den Bäumen herrschte richtiggehendes Dickicht; man sah die Gebäude nicht mehr, zerkratzte sich die Haut und blieb überall mit den Kleidern hängen. Charlotte schien sich hier gut auszukennen. Sie marschierte bis zu einer Stelle, an der sie Platz hatten, setzte sich auf den Boden und streckte die Hand aus. »Okay. Gib’s mir.«

Hiroshi zog das Taschenmesser seines Vaters aus der Tasche und legte es ihr zaghaft in die ausgestreckte Hand. Sie umschloss es, machte die Augen zu – und schmunzelte.

»Das hat dir einen ganz schönen Schreck eingejagt«, sagte sie, ohne die Augen zu öffnen.

»Was?«, fragte Hiroshi.

»Als das Messer zugeschnappt ist.«

Hiroshi atmete überrascht ein. Wie konnte sie das wissen? Davon hatte er noch nie jemandem erzählt, nicht mal seiner Mutter!

Charlotte schwieg eine Weile, die Augen geschlossen, das Messer fest in der Hand. »Dein Vater stammt aus Texas«, begann sie schließlich. »Aus einer reichen Familie. Sehr reich. Seine Eltern wollten, dass er eine Stelle in der Firma übernimmt, aber das hat ihn nicht interessiert. Er hat für Japan geschwärmt, hat alles darüber gesammelt. Eines Tages ist er nach Japan gekommen, obwohl seine Familie dagegen war, und hat hier studiert.«

Hiroshi betrachtete sie fassungslos. Er wusste nicht, was er denken sollte.

»Er hat erst in einem Wohnheim gelebt«, fuhr sie fort. »Das hat ihm nicht gefallen, weil er dort nur unter anderen Ausländern war, Amerikanern vor allem. Also hat er nach einem Zimmer in der Stadt gesucht, bei Leuten, die an Studenten vermieten. Bei einem Ehepaar hat ihm das Zimmer eigentlich nicht gefallen, weil es sehr dunkel war und nicht schön eingerichtet, aber in dem Moment, als er das sagen wollte, ist ein Mädchen hereingekommen, in das er sich auf der Stelle verliebt hat. So hat er das Zimmer trotzdem genommen.«

»Und wer war das?«, wollte Hiroshi wissen.

»Deine Mutter.«

»Oh.«

»Er war so verliebt, dass er sich nicht mehr um sein Studium gekümmert hat. Er ist in das Reisebüro gegangen, in dem deine Mutter gearbeitet hat, und hat so getan, als sei er ganz überrascht, sie dort zu treffen. In Wirklichkeit ist er ihr nachgeschlichen.«

Hiroshi musste grinsen. Er dachte an das Foto seines Vaters und versuchte ihn sich vorzustellen, wie er durch die Straßen und Gassen Tokios schlich. Bestimmt hatten ihn alle Leute bemerkt!

»Er hat sich ständig überlegt, was er tun kann, um öfter mit deiner Mutter zu reden. Sie war sehr schüchtern, aber sie hat gut Englisch gesprochen. Schließlich hat er die Idee gehabt, sie zu bitten, ihm bei seinem Japanisch-Kurs zu helfen und seine Aussprache zu korrigieren. Das war schwierig, denn sie musste erst ihre Eltern um Erlaubnis fragen. Die haben sich die ersten Male dazugesetzt, im Wohnzimmer, und genau aufgepasst.« Sie hielt inne, kicherte auf einmal.

»Was ist?«

»Dein Vater war ganz schön raffiniert. Nach ein paar Wochen haben deine Großeltern die beiden allein gelassen. Dein Vater hat so getan, als käme eine Lektion dran mit lauter so Sätzen wie ›Ich liebe dich‹ und ›Du bist wunderschön‹ und so weiter.« Sie kicherte immer stärker. »Er hat sich die Sätze von jemandem an der Universität aufschreiben lassen und daraus Kursunterlagen gebastelt, die ausgesehen haben wie die echten. Er hat die Sätze absichtlich falsch ausgesprochen, damit ihn deine Mutter immer wieder korrigieren musste. Sie ist dabei ganz rot geworden, aber sie hat mitgemacht …« Charlotte hielt inne, hörte auf zu kichern, lächelte nur noch. »Am Ende haben sie sich geküsst.«

Hiroshi musterte sie unangenehm berührt. Mädchen gefiel so etwas, das bekam er in der Schule mit, aber er fand Küsse widerlich. Es reichte ihm schon, dass ihn demnächst seine Großeltern wieder abküssen würden.

Allerdings würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als eines Tages trotzdem ein Mädchen zu küssen, sonst konnte er ja nicht heiraten.

»Er wollte deine Mutter heiraten, doch er hat sich nicht getraut, es zu tun, ohne seine Eltern um Erlaubnis zu fragen. Deswegen wollte er, dass deine Mutter mit ihm nach Amerika kommt. Als er sie das dritte Mal gefragt hat, war sie schließlich einverstanden. Er hat sich aber nicht wirklich gefreut, sondern sich ziemliche Sorgen gemacht wegen seiner Familie.« Charlotte öffnete die Augen wieder und gab ihm das Messer zurück.

»Und weiter?«, wollte Hiroshi wissen.

»Nichts weiter. Danach hat er das Messer nicht mehr bei sich gehabt.«

Hiroshi steckte es ein. »Ich weiß ganz wenig über meinen Vater«, bekannte er. »Ich wusste nicht, dass er aus einer reichen Familie stammt. Eigentlich weiß ich nicht mal, ob er noch lebt.«

»Bestimmt lebt er noch«, meinte Charlotte.

»Meinst du?«

»Klar«, sagte sie, stand auf und klopfte sich den Staub von ihrem Kleid. »Wenn er gestorben wäre, hättest du ja was geerbt.«

An diesem Abend hatte Hiroshis Mutter, als sie von der Arbeit nach Hause kam, so starke Rückenschmerzen, dass sie sich erst mal hinlegen musste. »Heute haben wir die Vorhänge in den beiden großen Salons gewaschen und neu aufgehängt. Das bringt mich immer fast um.«

»Soll ich dir eine Schmerztablette bringen?«, bot Hiroshi an.

»Ach, nein.« Sie klopfte mit der Hand neben sich auf den Futon. »Setz dich lieber zu mir und erzähl mir was. Was du den Tag über so gemacht hast.«

Hiroshi trat unschlüssig näher. »Das interessiert dich doch nie, wenn ich was Technisches erkläre.«

Sie verzog das Gesicht; es war kein richtiges Lächeln. »Ich will bloß, dass du mich ein bisschen ablenkst.«

Er überlegte, befühlte das Taschenmesser, das er immer noch in der Hosentasche trug, dann setzte er sich, zog es heraus und legte es ihr hin. »Stimmt es, dass das meinem Vater gehört hat?«

Mutter hob mühsam den Kopf, betrachtete das Messer. »Du hast es also.«

»Du hast es mir mal gegeben.«

»Ah ja. Richtig.« Sie ließ sich ächzend zurücksinken. »Ja, das hat deinem Vater gehört.«

»Und wieso hattest du es?«

»Es war damals, als wir nach Amerika geflogen sind, in einer Hose, die er vergessen hat einzupacken. Oma und Opa haben alles aufbewahrt, und als ich zurückgekommen bin, habe ich es gefunden.« Sie lächelte schmerzlich die Zimmerdecke an. »John hat sich so geärgert. Er hat geglaubt, er hätte es im Taxi verloren.«

»Erzähl mir von ihm«, verlangte Hiroshi und steckte das Taschenmesser wieder ein. Es war praktisch, mit den verschiedenen Schraubenziehern und so weiter. Das konnte er gut brauchen.

»Ach je. Was soll ich dir denn da erzählen? Du weißt doch schon alles. Und überhaupt – hatten wir nicht gesagt, dass du mir was erzählen sollst?«

»Nein«, sagte Hiroshi. »Ich sollte dich bloß ablenken.«

Seine Mutter bewegte ächzend die Schultern, drehte den Kopf ein wenig hin und her. »Es ist immer das Gleiche. Jedes Mal, wenn es mir schlecht geht, ist Doktor Uchiyama in Urlaub.«

»Warst du verliebt in ihn?«

Sie seufzte, musterte Hiroshi. »In deinen Vater? Natürlich. Sehr. Ich war jung und dumm, und er war ein schöner Mann …« Sie hielt inne, blinzelte. Ihre Augen schimmerten auf einmal.

Und sie begann zu erzählen. Wie er eines Tages im Wohnzimmer ihrer Eltern gestanden hatte, gerade als sie hereinkam. Wie sie ihn von ihrem Fenster aus insgeheim beobachtet hatte, wie er kam und ging. Dass sie sich nicht getraut hatte, mit ihm zu reden, weil sie fürchtete, dass ihr Englisch nicht gut genug sein könnte oder dass sie womöglich sein Japanisch nicht verstünde. Wie er kurz darauf ausgerechnet in dem Reisebüro aufgetaucht war, in dem sie damals arbeitete; einem Büro, das sich auf Reisen nach Australien spezialisiert hatte …

Wie sie sich das erste Mal geküsst hatten, das erzählte sie nicht.

»Er wollte unbedingt, dass ich mit nach Amerika komme und seine Eltern kennenlerne«, fuhr sie schließlich fort, nach einer langen Pause, die sich wie ein langer Seufzer angefühlt hatte, obwohl sie ganz still gewesen war. »Ich wollte das eigentlich nicht, aber er hat mich am Ende überredet. Er hatte so etwas an sich, dass man ihm auf die Dauer nichts abschlagen konnte. Ich jedenfalls nicht. Also sind wir geflogen.«

Es klang, als spreche sie von einer Hinrichtung.

»Es war alles sehr fremd für mich. Amerika, die endlosen Straßen dort, das viele Land. Und dann das Haus – nein, das Anwesen der Leaks, seiner Familie. Sie waren schrecklich reich, wohnten in einem Gebäude mit hundert Zimmern, Dienstboten, Swimmingpool; hatten Dutzende Autos, Pferde, eine Kegelbahn und ein eigenes Kino im Keller … Das hat mich erst einmal überwältigt.«

Hiroshi versuchte sich das vorzustellen. So, wie sie es sagte, klang es, als sei dagegen selbst die französische Botschaft klein.

»Seine Familie empfing uns sehr freundlich – zumindest kam es mir zuerst so vor. Ich kannte bis dahin ja keine Amerikaner außer deinem Vater; mir war nicht klar, dass sie zu allen freundlich sind. In Wirklichkeit waren sie völlig gegen unsere Beziehung, seine Geschwister genauso wie seine Eltern. Johns Großvater hatte noch im Krieg gegen Japan gekämpft. Als ich ihn eines Tages allein antraf, hat er mir erklärt, er hasse Japaner, und ich solle mir nicht einbilden, dass irgendjemand in dem Haus einer Heirat zwischen John und mir zustimmen würde. Wenn John mich trotzdem heiraten würde, würde er enterbt, und da er nichts gelernt habe, mit dem sich Geld verdienen ließe, würden wir verhungern.«

»Ganz schön gemein«, sagte Hiroshi.

»Ja, das waren sie. Nach der Begegnung mit dem alten Mann ist mir klar geworden, dass in vielem von dem, was sie sagten und was freundlich klang, in Wirklichkeit Gemeinheiten versteckt waren. Seltsamerweise war ich aber fast erleichtert, weil ich endlich wusste, warum ich mich so abgewiesen und missachtet fühlte.«

»Warum seid ihr nicht einfach wieder gegangen?«

»Das hatten wir vor. Aber John wollte zuerst einen Anwalt konsultieren, um herauszufinden, ob ihn die Familie nach texanischem Recht wirklich enterben konnte. Wir waren gerade dabei, uns zu überlegen, wohin wir gehen und was wir auf uns allein gestellt machen würden, als uns beiden schlecht wurde – erst mir, am nächsten Tag auch John. Wegen mir haben sie keinen Arzt gerufen, aber als John sich unwohl fühlte, kam natürlich einer.« Sie begann sich die Seiten zu reiben, als versuche sie, auf diese Weise ihren Körper in die Länge zu strecken. »Ich weiß noch, der Arzt sah aus wie dieser amerikanische Schauspieler, John Wayne. Er trug schwere Lederstiefel, hatte einen Cowboyhut auf dem Kopf und ein Stethoskop um den Hals. Er ließ sich von den Leaks nichts sagen, sondern untersuchte mich als Erste. Gratuliere, sagte er mir, Sie sind schwanger. Dann untersuchte er John, stand auf und sagte: Sofort ins Krankenhaus. Und dort hat sich dann herausgestellt, dass John einen Hirntumor hatte, der rasend schnell wuchs.«

Hiroshi schluckte. Davon hatte sie ihm noch nie ein Wort erzählt. Das hieß wahrscheinlich, dass sein Vater nicht mehr lebte.

»Sie haben ihn noch am selben Tag operiert. Es war eine sehr lange, sehr schwere Operation, und es ging nicht so gut, wie sie gehofft hatten. Wir saßen in der Klinik, bis endlich, weit nach Mitternacht, einer der Ärzte herauskam und uns berichtete, wie es aussah. Er sagte, dass der Tumor an einer sehr empfindlichen Stelle säße, dass Johns Zustand sehr kritisch sei und dass er, selbst wenn er am Leben bleiben sollte, danach nicht mehr derselbe sein würde. Selbst im besten Fall, meinte er, würde John jahrelang pflegebedürftig bleiben, wahrscheinlich aber für immer.« Hiroshis Mutter legte ihre Hände vors Gesicht. »Und am nächsten Tag, während sein Sohn im Krankenhaus im Koma lag, während die Ärzte um sein Leben kämpften und niemand wusste, ob er den nächsten Tag oder selbst nur die nächste Stunde überlebt – während all dieser Zeit hat Johns Vater auf mich eingeredet, hat mich bedrängt, mein Kind abtreiben zu lassen. Er hatte alles schon vorbereitet, stell dir vor, den Arzt, die Klinik, alles. Ich hätte nur aus der Tür gehen und mich in das Auto setzen müssen, und es wäre passiert. Dann wärst du niemals geboren worden.«

Hiroshi rieb sich unbehaglich am Hals. Das war ein eigenartiger Gedanke: nie geboren worden zu sein.

»Ich wusste erst gar nicht, warum er das wollte und wieso er es so eilig hatte. Erst nach einer Weile habe ich verstanden, worum es ihm ging: Für den Fall, dass John starb, wollte er nicht, dass es einen Erben gab, der seinen anderen Kindern Probleme hätte machen können! Es ging ihm nur um das Geld, nur um das Vermögen der Familie. Nur weil er sich darum Sorgen gemacht hat, wollte er dich umbringen! « Sie holte tief Luft, keuchte beinahe. »Das war der schrecklichste Tag meines Lebens. Ich kann es bis heute nicht vergessen, wie dieser dicke, schwitzende Mann dasitzt und mich überreden will, mein Kind töten zu lassen. Und wie alle, alle Leute bereitwillig mitgemacht hätten – der Arzt, der Chauffeur, alle. Nur weil dieser Mann das Geld dazu hatte. Weil er reich war. Du warst ihm egal, ich war ihm egal – das Einzige, was ihm nicht egal war, war sein Geld.«

»Und was hast du dann gemacht?«, fragte Hiroshi entgeistert.

»Ich bin geflohen.« Ihr Atem zitterte. Sie legte die Hand auf ihre Brust und musste eine Weile ein- und ausatmen, ehe sie weitersprechen konnte. »John hatte mir irgendwann amerikanisches Geld gegeben, ziemlich viel, mehrere Hundert Dollar, und ich hatte noch mein Flugticket. Als Johns Vater von einem Telefonanruf weggerufen wurde – irgendetwas Geschäftliches –, bin ich auf mein Zimmer gerannt, habe wie von Dämonen gehetzt die nötigsten Sachen in eine Umhängetasche gestopft, bin über eine Hintertreppe hinunter und aus dem Haus. Und dort bin ich zu meinem großen Glück einem Mann über den Weg gelaufen, der aus Japan stammte. Ich habe ihm gesagt, dass man mich zwingen will, mein Baby zu töten, und dass ich wegmuss. Er hat mich einfach mitgenommen. Er war Fahrer für einen Supermarkt und hatte gerade, wie jede Woche, Lebensmittel auf das Leak-Anwesen gebracht. Ich habe mich in seinem Wagen versteckt, und niemand hat uns angehalten. Er hat mir geholfen, das Ticket umzubuchen in eines, das von einem anderen Flughafen aus zurückging und auf dem vor allem mein Name anders geschrieben stand, damit sie mich, falls sie hinter mir her waren, nicht so leicht aufspüren würden. Und so bin ich nach Tokio zurückgekommen. Als ich aus dem Flugzeug stieg, hatte ich gerade noch genug Geld, um in die Stadt zu fahren.«

»Wow«, meinte Hiroshi. Das war ja vielleicht eine Geschichte! Nie im Leben hätte er gedacht, dass seine Mutter derartige Abenteuer erlebt haben könnte.

Sie schien ihn ganz vergessen zu haben. Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. »Ich habe mich bei meinen Eltern versteckt. Ich habe dich bekommen, und danach habe ich mich weiter versteckt. Ich hatte jahrelang Angst, Johns Vater könnte jemanden schicken, der mich aufspürt und dir etwas antut. Deshalb habe ich die Stelle bei Inamoto-san angenommen: weil ich mir gesagt habe, dass jemand, der nach mir sucht, in Büros Ausschau halten würde, in Berufen, für die man Englisch beherrschen muss. In so einer niedrigen Tätigkeit wie in einer Wäscherei, so habe ich gehofft, würde man mich nie finden. Mich nicht. Und dich auch nicht.«

Hiroshi überlegte. »Aber er hätte Oma und Opa finden können. Und die hätten gewusst, wo du bist.«

»Deshalb habe ich sie überredet wegzuziehen. Minamata ist weit weg, habe ich mir gesagt.«

Hiroshi saß da wie erschlagen. Kein Wunder, dass sie früher oft so ein Theater gemacht hatte, wenn er mal zehn Minuten später als üblich aus dem Kindergarten gekommen war. Bestimmt hatte sie in solchen Momenten befürchtet, jemand habe ihn entführt oder so.

»Denkst du, dass sie uns immer noch suchen?«, fragte er.

»Ach, wahrscheinlich haben sie uns nie gesucht«, meinte Mutter. »Aber ich hatte eben derartig Angst um dich.«

Hiroshi nickte. Das war verständlich. »Und seither magst du keine reichen Leute.«

»Ja. Das stimmt.« Sie streckte die Hand aus, fuhr ihm über den Kopf. »Dabei habe ich reiche Leute bewundert, als ich jung war. Wenn sie ins Reisebüro kamen, elegant gekleidet, mit guten Manieren, wenn man gemerkt hat, es spielt für sie keine Rolle, wie viel eine Reise kostet … Dann habe ich immer gedacht, so müsste es sein, das Leben: dass es bloß darum gehen sollte, was einem gefällt, was man haben oder erleben will, ohne dass man sich darum kümmern müsste, was es kostet. Und ehrlich gesagt – irgendwo denke ich das immer noch. Dass das Leben vor allem schön sein sollte. Nicht Arbeit von früh bis spät, die meistens keinen Spaß macht. Aber wenn man dazu reich werden muss … Wenn man dazu rücksichtslos werden muss, so hartherzig, dass man imstande ist, das, was man will, anderen einfach wegzunehmen, sogar dafür zu töten – dann ist das zu teuer bezahlt. Dann ist das Leben, das man auf diese Weise gewinnt, auch nicht das Leben, wie es sein sollte, verstehst du?«

Hiroshi nickte. »Ich glaube schon.« Er zögerte. »Hast du je erfahren, was aus meinem Vater geworden ist?«

»Nein«, sagte sie.

»Und was denkst du?«

»Manchmal denke ich, er hat es doch überlebt. Aber wenn das so ist, dann hat er mich vergessen.« Ihre Augen schimmerten feucht. »Du siehst ja an Tante Kumiko, wie so etwas gehen kann. Da ist jemand vorher ein lebhafter, kluger Mensch – und nachher liegt er im Bett und weiß kaum noch seinen eigenen Namen!«

Hiroshi sah zu Boden und versuchte, sich den Mann, den er nur von Fotos kannte, bettlägerig vorzustellen, hilflos, auf Pflege angewiesen wie Tante Kumiko. Er konnte es nicht – und eigentlich wollte er es auch nicht. Überhaupt fand er das alles eine entsetzlich traurige Geschichte.

Aus irgendeinem Grund fiel ihm noch ein zu fragen: »Der Mann, der dir geholfen hat – weißt du, wie er hieß?«

Seine Mutter zögerte. »Er hieß wie du«, sagte sie schließlich. »Hiroshi.«

»Du hast mich nach ihm benannt?«

»Er hat dir das Leben gerettet. Das war das Mindeste, was ich tun konnte.«

Das alles gab Hiroshi einige Tage lang eine Menge zum Nachdenken. Da sich in Charlottes Fenster nichts tat, hätte er auch die Zeit dazu gehabt, doch das Bon-Fest und damit die Reise nach Minamata rückten immer näher, was Mutter wie jedes Jahr in zunehmende Nervosität versetzte. Die Koffer wurden hervorgeholt, gepackt, umgepackt, geleert und wieder von Neuem gepackt. Die Anzahl und Dauer der Telefonate mit ihren Eltern, in denen es um Ankunftszeiten, Abholung und dergleichen ging, nahm mit jedem Tag zu. Und wie angedroht, schleppte sie ihn in die Stadt, um ihm eine neue Hose zu kaufen – eine Tätigkeit, die er schon für sich allein genommen hasste, und diesmal umso mehr, als er befürchtete, deswegen einen Besuch bei Charlotte zu verpassen.

»Wenn es nach dir ginge, würdest du alle deine Kleider tragen, bis sie dir in Fetzen vom Leib fallen«, regte sich Mutter auf, als er in der Umkleidekabine anhaltendes Desinteresse an Bekleidungsfragen zur Schau trug.

»Wenn es nach mir ginge«, erwiderte Hiroshi, »dann würde Kleidung überhaupt nie kaputtgehen. Und mitwachsen würde sie auch.«

»Na, dann erfind das mal. Aber bis dahin wirst du wohl oder übel noch ein paar Hosen anprobieren müssen«, sagte sie und hielt ihm weitere drei Beinkleider hin, die in seinen Augen auch nicht anders aussahen als die, die er schon anprobiert hatte.

Doch in den Zeiten, in denen er nichts anderes tun musste, dachte Hiroshi nach. Über seinen Vater. Über reiche und arme Leute. Darüber, ob die Welt besser wäre, wenn es keine reichen Leute gäbe. Sollte man sich das wünschen? Dass alle arm blieben? Irgendwie kam ihm das auch nicht richtig vor.

»Eigentlich sind wir doch nicht arm«, erklärte er seiner Mutter eines Morgens beim Frühstück. »Ich meine, wir haben doch alles, oder?« In diesem Moment fiel ihm der Omnibot ein, den er gerne gehabt hätte, der aber viel zu teuer war. »Zumindest alles, was wir brauchen.«

Mutter nickte. »Ja, aber nur, weil ich arbeite. Wenn ich nicht mehr arbeiten würde, dann hätten wir nächsten Monat nichts mehr zu essen und übernächsten Monat keine Wohnung mehr.«

»Und reiche Leute? Arbeiten die nicht?«

»Nein. Die kommandieren nur andere Leute herum. Das können sie, weil sie reich sind und die anderen Leute ihr Geld brauchen. Und die lassen sie für sich arbeiten, damit sie reich bleiben

Das leuchtete Hiroshi ein. Endlich verstand er etwas ganz Grundlegendes: »Die reichen Leute brauchen die armen Leute, damit die die Arbeit erledigen!«

»Genau so ist es«, sagte seine Mutter und sah auf die Uhr. »Und deswegen muss ich jetzt los.«

Nachdem sie gegangen war, blieb Hiroshi noch lange am Tisch sitzen und fühlte sich wie geblendet von der plötzlichen Erkenntnis.

Es ging, was Reichtum anbelangte, in Wirklichkeit gar nicht um Geld, wie alle immer dachten. Es ging darum, wer die Arbeit tat!

Diese Erkenntnis, so einleuchtend sie Hiroshi erschien, entmutigte ihn zugleich. Denn das hieß ja, dass es niemals so weit kommen konnte, dass alle Leute reich waren: weil dann niemand mehr übrig wäre, der all die Arbeit tat, die nun einmal getan werden musste!

Später, nachdem er den Tisch abgeräumt hatte (noch eine Arbeit, die jemand tun musste), stand er lange am Fenster und sah hinab auf die Botschaftervilla und den großen Garten. Er dachte daran, wie prächtig das Haus innen ausgestattet war. Auch wenn er selber nicht so hätte wohnen wollen, einen solchen Garten und so viel Platz hätte er eines Tages auch gern gehabt.

Doch es war viel Arbeit nötig, um so ein Anwesen zu unterhalten, das wusste er von seiner Mutter. Die Botschaft beschäftigte einen Gärtner, der den ganzen Tag nichts anderes tat, als den Garten zu versorgen. In der Villa arbeiteten Köche, Kellner, Putzfrauen, Chauffeure, Wächter und so weiter, damit die Familie des Botschafters sich um nichts kümmern musste. Damit diese drei Leute reich sein konnten, mussten eine Menge anderer Leute arbeiten, für die wiederum niemand arbeitete, weil sie eben nicht reich waren. Deshalb blieb die Arbeit an ihnen hängen.

Hiroshi ließ den Kopf nach vorn sinken, bis er mit der Stirn das kühle Glas berührte. Er arbeitete nicht gern, wenn er ehrlich war. Nicht, wenn das bedeutete, Dinge tun zu müssen, zu denen er keine Lust hatte. Und das bedeutete es in der Regel; das sah er ja an seiner Mutter. Wäsche zu waschen gehörte wahrhaftig nicht zu den Tätigkeiten, die sie mit Begeisterung erfüllten.

Tatsächlich ging er nicht mal besonders gern zur Schule. Gut, hin und wieder erfuhr man etwas, das interessant war, aber lohnte das den Aufwand? Wenn er die Zeit einfach in einer Bücherei hätte verbringen dürfen, hätte er mehr gelernt und interessantere Dinge noch dazu.

Und später im Leben …? Man musste sich in der Schule anstrengen, um gute Noten zu bekommen, weil man dann einen guten Studienplatz und später mit einem guten Abschluss eine gute Stellung in einer guten Firma bekommen würde. Das war es, was sie einem immer erzählten; seine Mutter auch. Aber wenn er versuchte, sich das vorzustellen, ganz konkret, dann konnte er es nicht. Oder jedenfalls nicht so, dass er das Gefühl bekam, es würde eine tolle Sache werden.

Einfach reich zu sein, reich und frei – das stellte er sich entschieden angenehmer vor.

Doch er wollte dafür nicht böse werden müssen. Nicht so hartherzig wie sein Großvater in Texas, der ihn hatte umbringen lassen wollen aus Angst um sein Geld.

Und er wollte auch nicht, dass andere Menschen auf ein schönes Leben verzichten mussten, nur damit er es schön hatte. Wenn man das wollte, dann war man auch hartherzig.

Wie man es auch drehte und wendete, das alles schien ein unlösbares Problem zu sein. Trotzdem konnte Hiroshi es nicht lassen, darüber nachzudenken. Es summte regelrecht in seinem Kopf, fast so, als würde jeden Augenblick etwas darin durchschmoren.

Nein, er konnte einfach nicht aufhören zu grübeln. Er aß und trank und dachte nach. Er ging zu Bett und dachte nach, bis er einschlief. Er wachte morgens auf und hatte das Gefühl, dass sein Kopf ohne ihn die ganze Nacht über weiter nachgedacht hatte. Er dachte nach beim Zähneputzen und wenn er auf dem Klo saß, er dachte nach, wenn er sich anzog und wenn er fernsah, und immer war ihm, als drehten sich seine Gedanken um und um, wie riesige Mühlsteine, die sich gegenseitig zu Pulver zerrieben.

Schließlich versuchte er, das Ganze zu vergessen. Er setzte sich zu seinen Spielsachen und seinen Werkzeugen, blätterte zum tausendsten Mal den Prospekt durch, in dem der Omnibot beschrieben wurde, und versuchte sich noch einmal an dem kaputten Radio, obwohl er wusste, dass er es nicht würde reparieren können, solange er nicht Ersatz für die defekten Teile kaufen konnte. Aber es schadete auch nichts, alle Leitungen noch einmal zu überprüfen.

Und dann, abends, kurz vor dem Einschlafen, hatte er auf einmal die Idee. Die Idee, wie man es machen konnte.

Aufgeregt setzte er sich auf, schaltete die Leselampe an der Wand wieder ein, dachte die Idee noch einmal durch und noch einmal und noch einmal und fand keinen Fehler darin. Keinen Grund, warum es so nicht funktionieren sollte. Es stimmte gar nicht, dass es arme Leute geben musste, damit es reiche Leute geben konnte! Ein Denkfehler! Ein totaler Irrtum! Es konnten sehr wohl alle Menschen reich sein. Es konnte sehr wohl jeder alles haben, was er wollte – niemand musste herzlos oder böse dafür werden.

Und das Beste: Es war im Grunde ganz einfach! Kinderleicht!

Das Erstaunlichste war eigentlich, dass vor ihm noch niemand auf diese naheliegende Idee gekommen war.

Unmöglich, jetzt zu schlafen. Hiroshi zerrte einen Notizblock aus dem Regal, zog einen Kugelschreiber hervor und begann alles aufzuschreiben. Diese Idee war wichtig! Auf keinen Fall durfte er sie vergessen!

Aber er würde sie nicht vergessen. Im Gegenteil, je mehr er schrieb, je länger und genauer er darüber nachdachte, desto sicherer war er sich, dass er die Lösung gefunden hatte, die Lösung für alle Probleme, die mit Reichtum, Armut, Geld und Arbeit und so weiter zu tun hatten.

Es dauerte lange, bis er alles aufgeschrieben hatte, was es aufzuschreiben gab, und er den Block beiseitelegen und das Licht wieder ausschalten konnte. Er würde Charlotte davon erzählen, wenn sie sich das nächste Mal trafen: Das war sein letzter Gedanke, ehe er einschlief.

Am nächsten Tag – ungewöhnlich für die Jahreszeit – regnete es morgens, ein weicher, sanfter Sommerregen, der zu verdunsten schien, ehe er den Boden berührte, und der trotzdem guttat: Danach war die Luft herrlich frisch, und alle Leute schienen guter Laune zu sein. Und am späten Nachmittag standen fünf Puppen in Charlottes Fenster!

»Ich geh noch mal weg«, sagte Hiroshi zu seiner Mutter, die gerade zur Tür hereinkam.

»Wohin?«, wollte sie wissen.

Er war bereits in den Schuhen und halb zur Tür hinaus. »Ich bin mit Charlotte verabredet«, rief er und machte, dass er davonkam, ohne ihre Einwände hören zu müssen.

Charlotte empfing ihn höchst aufgeregt. »Ich dachte schon, die gehen nie wieder weg! Ehrlich, es war fast nicht auszuhalten. Komm rein«, sagte sie und zog ihn am Ärmel in ihr Zimmer und an den Schreibtisch, wo ein Tablett mit allerlei Sachen zum Essen stand – winzige panierte Fleischstücke, bunte Salate, gerollte Schinkenstücke mit einer hellen Füllung und eine Menge Dinge, die Hiroshi noch nie gesehen hatte. »Ich hab der Köchin was abgeschwatzt; das ist vom Abendessen übrig geblieben. Damit du nicht gleich wieder heimgehen musst, habe ich mir gedacht. Komm, iss! Ich ess auch noch ein bisschen, aber nur höflichkeitshalber, denn eigentlich bin ich schon satt.«

»Und wo sind deine Eltern?«, fragte Hiroshi, während er sich unsicher setzte.

»Ach, auf einem Empfang bei irgendeiner anderen Botschaft. Argentinien oder Chile oder so, was weiß ich. Hier, damit musst du anfangen.« Sie schob ihm einen Teller hin, auf dem etwas Salat mit fein geschnittenen geschälten Orangen, einer Scheibe dunklen Schinkens und einer hellroten Soße angerichtet war.

Es schmeckte fremd, aber unwirklich gut. Während er aß und aß und es kaum fassen konnte, wie gut das war, kroch ein hässliches, beklemmendes Gefühl in ihm hoch, von dem er noch nicht wusste, dass es Neid war, schlichter, einfacher Neid, dass Charlotte jeden Abend so etwas Gutes zu essen bekam und er nicht und dass er auch gerne immer so köstlich zu Abend essen würde.

Dann fiel ihm wieder ein, dass er jetzt ja wusste, wie man es machen musste, damit alle Menschen reich sein konnten, auch er. Der Gedanke erfüllte ihn mit heiterer Zuversicht. Er war gespannt, was Charlotte für ein Gesicht machen würde, wenn er es ihr erklärte.

»Wenn du satt bist, können wir noch rausgehen und ein bisschen schaukeln«, meinte sie gerade, während er noch überlegte, wie er es ihr am besten erklären konnte. »Es ist heute herrlich draußen!«

»Okay«, sagte Hiroshi, schob den geleerten Teller beiseite und griff nach dem nächsten. »Aber erst, wenn ich satt bin.«

Er aß alles auf. Er konnte nicht anders, es war einfach zu gut. Nachher hockte er matt auf der Schaukel und sah ihr zu, wie sie sich höher und höher schwang. Er versuchte, ihr zu erklären, was er sich ausgedacht hatte, aber sie hörte kaum zu, wollte nur, dass er ebenfalls schaukelte. Sie wollte gar nicht wissen, was für eine Idee er gehabt hatte, sondern meinte gleich, das ginge nicht, dass alle Menschen reich seien.

Er verstand, dass sie das dachte; dasselbe hatte er ja bis gestern auch noch gedacht. Aber es war eben nicht so. Es gab eine Lösung, und er wollte gerade ansetzen, sie ihr zu erklären, als ihm etwas klar wurde, über das er bis zu diesem Moment nicht nachgedacht hatte: Seine Idee war einfach, geradezu kinderleicht. Wenn er es ihr erklärte, würde sie es weitersagen, ihrem Vater vielleicht, und der würde es bestimmt auch weitersagen, und dann? Auf einen Botschafter hörte man eher als auf einen zehnjährigen japanischen Jungen, und einem Botschafter trauten die Leute auch mehr zu. Die Idee würde sich selbstständig machen, und niemand würde je erfahren oder glauben, dass es am Anfang seine Idee gewesen war. Dass er es war, der die Lösung gefunden hatte.

Mit der Plötzlichkeit eines Blitzschlags wurde Hiroshi klar, dass er seine Idee selber verwirklichen musste. Und dass er, bis es so weit war, darüber schweigen musste.

Und seltsam … Genau in dem Moment, in dem er diesen Entschluss fasste, schien Charlottes Interesse zu erwachen. »Wie willst du das denn machen?«, rief sie, während sie immer wilder schaukelte.

»Verrat ich nicht«, gab Hiroshi zurück.

»Weil du’s nicht weißt. Weil du bloß angeben willst.«

Hiroshi schwang den Oberkörper nach hinten, stieß die Beine in die Höhe, um noch mehr Schwung zu bekommen. Sie hatte ja keine Ahnung. Niemand hatte eine Ahnung. Nur er. »Wart’s ab«, rief er und machte sich bereit zu springen. Von der Schaukel zu springen, einfach loszulassen und durch die Luft zu fliegen, das war immer noch das Größte!

So sprach er nicht mehr über seine Idee, den ganzen Abend nicht, zumal Charlotte auch nicht wieder davon anfing. Aber als es dunkel wurde und er wieder nach Hause kam, holte er, nachdem er die Standpauke seiner Mutter über sich hatte ergehen lassen, das Masters-of-the-Universe-Notizbuch hervor. Endlich wusste er, was er hineinschreiben würde.

5

Das Erste, was Charlotte tat, nachdem sie es erfahren hatte, war, in ihr Zimmer zu rennen und Valérie ins Fenster zu stellen. Dann rannte sie gleich weiter in den Garten und zu der Stelle, an der Hiroshi über den Zaun klettern würde.

Es dauerte eine ewige Viertelstunde, bis sein Kopf über der Mauer auftauchte. »Oh, du bist hier«, meinte er überrascht, als er sie sah.

»Morgen fahren wir ins Museum«, erklärte sie ihm aufgeregt. »Und du musst unbedingt mitkommen!«

Er runzelte die Stirn. »In was für ein Museum?«

»Das Seitou-Jinjya. Die ›Insel der Heiligen‹. Morgen ist der letzte offene Tag in diesem Jahr, und Yumiko geht mit mir. Meine Mutter will nicht. Das heißt, du kannst mitkommen.«

Hiroshi zögerte. »Ich weiß nicht. Wir fliegen doch in zwei Tagen zu meinen Großeltern; ich weiß nicht, ob ich da noch mal fort darf.«

»In zwei Tagen!« Hiroshi machte sich immer viel zu viele Gedanken, fand Charlotte. Alle Menschen reich machen wollte er, aber ins Museum zu gehen war ein Problem. »Sei einfach morgen um neun am Haupteingang«, sagte sie und rannte davon.

Natürlich stand er am nächsten Morgen da, als Yumiko und sie das Tor passierten. Charlotte hatte ihre Mutter überzeugen können, dass es kein Problem war, wenn sie mit der S-Bahn fuhren anstatt mit dieser langweiligen Limousine. Allerdings war es nötig gewesen, dass Papa ihr beisprang und erklärte, Tokio sei im Grunde eine sichere Stadt; man werde Charlotte und Yumiko schon nicht entführen. Und dass gerade sie als Botschafter die Pflicht hätten, Vertrauen in die japanischen Ordnungskräfte zu demonstrieren.

Es war aufregend! Charlotte war noch nie mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch Tokio gefahren und nie so weit weg von zu Hause gewesen. Was U-Bahnen und dergleichen anbelangte, kannte sie eigentlich nur die Pariser Metro. In Delhi war zwar darüber diskutiert worden, eine Metro zu bauen, herumgefahren waren aber nur ziemlich unappetitliche Busse, die zu benutzen Charlotte keine Lust gehabt hätte.

Und nun diese Untergrundstation! Hiroo Station hieß sie und war viel sauberer als die Metro in Paris. Entlang des Bahnsteigs verlief am Boden ein gelb genoppter Streifen, an dem man stehen bleiben musste, wenn man auf die U-Bahn wartete. Darauf bestand Yumiko streng.

Ein kantiger silbergrauer Zug mit roten Streifen kam hereingefahren und hielt. Anders als in Paris gingen die Türen von selber auf. Viele Leute stiegen aus und ein, sie bekamen keinen Sitzplatz. »Haltet euch gut fest«, ordnete Yumiko an.

Etliche der Leute, die einen Sitzplatz hatten, schliefen; manche sanken fast auf ihre Nachbarn nieder. Dann, als der Zug in die nächste Station einfuhr, schreckten einige hoch, standen hastig auf und verließen den Wagen: Dabei wirkten sie, als machten sie das jeden Tag so.

Sie mussten ein paar Mal umsteigen, ehe sie wieder an die Oberfläche kamen. Dort ging es mit einem grünen Bus weiter, dessen Sitze mit Stoff voller seltsamer Comic-Figuren bezogen waren. Man musste hinten einsteigen, ein Ticket aus einem Automaten ziehen und gut aufbewahren, weil man nämlich erst beim Aussteigen bezahlte.

Sie fuhren lange. Erst kurvte der Bus durch enge Gassen, die nicht viel anders aussahen als die Gassen rings um die Botschaft, dann ging es ein Stück über eine Schnellstraße. Irgendwann tauchten die ersten Gärten, Bäume und Wiesen entlang der Straße auf.

Schließlich stiegen sie aus. Sie gingen durch ein hölzernes Tor, das von zwei fauchenden Löwen aus grauem, stumpfem Stein bewacht wurde. Eine sehr flache Treppe führte bergauf, zwischen Büschen und Bäumen hindurch. Sie gelangten auf einen Platz, auf dem viele Menschen herumstanden und irgendwie feierlich wirkten. Vor dem eigentlichen Eingang, einem weiteren Tor, mussten sie sich tief verneigen, danach traten sie an ein Wasserbecken, an dem man sich wusch: zuerst die linke Hand, dann die rechte, dann den Mund ausspülen.

Die ›Insel der Heiligen‹ war zu Charlottes Überraschung nur ein winziger Teil der Tempelanlage. Zwei Reihen dicker Säulen aus fast schwarzem Holz trugen ein klobiges Dach, darunter lag ein künstlicher, rechteckiger See, kaum größer als ihr Kinderzimmer. In diesem See hatte man eine Insel aufgeschüttet, die ganz mit feinem weißem Kies bedeckt war. Von der Stirnseite des Sees blickte man über die Insel hinweg auf einen Bereich des Tempelgartens, den man nicht betreten durfte. Dort waren bemooste Steine, hellgrüner Bambus und winzige Bäume, die wirkten, als hätten unablässig wehende Winde sie gebeugt, zu einer bezaubernden Landschaft angeordnet. Kniff man die Augen ein bisschen zu, konnte man sich vorstellen, man sei ein Riese und schaue auf eine menschenleere Welt hinab.

Jemand hatte den Kies auf der Insel zu sanften Mustern gerecht, die aussahen, als gingen versteinerte Wellen von einem kleinen Altar aus, der an der Stirnseite der Insel stand. Er war aus hellbraunem Holz, das matt und müde glänzte, Bambus vielleicht und viele Jahrhunderte alt. Mehrere Gegenstände lagen darauf, darunter ein schartiges, nachtschwarzes, gefährlich glänzendes Messer.

Es war dieses Messer, dessen Anblick Charlotte den Atem verschlug.

»Was ist das?«, fragte sie Yumiko.

Yumiko lächelte gutmütig. »Das ist die ›Insel der Heiligen‹. Man sagt, dass auf dieser Insel die Überreste zweier Jinin begraben sind, die hier vor tausend Jahren Wunder bewirkt –«

»Nein, ich meine das Messer!« Charlotte packte Yumiko am Ärmel und zog sie zu einer Tafel, die aussah, als stünde darauf eine Erklärung zu dem, was man sah – leider nur auf Japanisch. »Lies vor. Steht da was über das Messer?«

Yumiko studierte den Text. »Hmm. Das ist ein Dolch aus Kokuyōseki. Er stammt aus dem Besitz von Jimmu, dem allerersten Kaiser, und ist wahrscheinlich vor dreitausend Jahren in Honshu hergestellt worden.«

Charlotte starrte auf das Messer. »Was ist Kokuyōseki? « Sie kannte das japanische Wort für Obsidian nicht, wobei ihr auch das französische Wort dafür – obsidienne – nichts gesagt hätte.

»Eine besondere Art Stein, glaube ich«, sagte Yumiko zögernd. »So wie Marmor, nur eben schwarz.«

Charlotte blickte das Messer an und spürte, dass sie von dieser Erklärung enttäuscht war. Diese Erklärung war viel zu … klein für dieses Ding, das ihre Blicke magnetisch anzog. Seit sie das Messer auf dem Altar entdeckt hatte, konnte sie sich nicht mehr davon lösen, konnte sich für nichts anderes interessieren, musste immer wieder hierher zurückkehren, als sei dies der einzige Punkt im gesamten Tempel, den zu betrachten sich lohnte.

Sie ließ sich mitziehen, als es weiterging, schaute aber immer wieder zurück. Sie musste über den Wassergraben zwischen dem gepflasterten Hof und dem Altar nachdenken, darüber, wie breit er wohl sein mochte und wie tief und ob man hindurchwaten konnte.

»Was hast du denn?«, wollte Hiroshi wissen. Sie sagte nichts. Sie wusste nicht, wie sie ihm das hätte erklären können. Jedes Mal, wenn sie zurückblickte, war ihr, als erwidere das schwarz schimmernde Messer ihren Blick – als wäre das Messer hinter dem Wassergraben ein wildes Tier in einem Zoo.

Schließlich ergab sich doch noch eine Gelegenheit. Yumiko gab zu verstehen, dass sie kurz zu den Toiletten gehen würde, die sich im Eingangsbereich befanden, und ermahnte Hiroshi und Charlotte, auf sie zu warten.

»Oder vorne bei der Insel?«, schlug Charlotte sofort vor. »Dort ist es viel schöner.«

»Also gut, bei der Insel«, gab Yumiko nach, gutmütig, wie sie war, und ging eilig davon.

Charlotte wandte sich sofort an Hiroshi. »Schnell«, flüsterte sie. »Hilf mir. Ich will das Messer anfassen!«

Hiroshi musterte sie verdutzt. »Was für ein Messer?«

»Komm!« Charlotte nahm ihn bei der Hand und zog ihn zurück zur ›Insel der Heiligen‹, vor die Stirnseite, wo sie nur der Wassergraben von dem Altar trennte.

Wie durch ein Wunder war gerade weit und breit niemand zu sehen, obwohl der Schrein gut besucht war.

»Halt meine Hand fest«, verlangte sie und streckte Hiroshi die Linke hin, während sie an den Rand des Grabens trat. »Dann kann ich mich vorbeugen und hinüberlangen.«

Hiroshi gehorchte, packte ihre linke Hand und hielt sie, indem er sich mit den Füßen gegen die kaum einen Zentimeter hohe Umrandung des Vorplatzes stemmte.

Charlotte setzte die Füße aufgeregt tiefer und tiefer, bis ihre Schuhspitzen das Wasser des künstlichen Sees berührten. Dann ließ sie sich nach vorn kippen, gehalten von Hiroshi, die rechte Hand so weit ausgestreckt wie nur irgend möglich. Ihr Herz schlug wie eine Trommel. Sie wusste nicht, warum, aber sie musste dieses Messer anfassen, dieses unglaubliche, verlockende, magnetische Messer auf dem Altar der heiligen Insel.

Doch obwohl sie den Arm reckte, als wolle sie ihn länger machen, und die Finger ausstreckte, so weit es ging, reichte es noch nicht.

»Weiter!«, ächzte sie. »Lass mich weiter runter!«

Hiroshi keuchte, sein Griff begann sich zu lockern. »Ich weiß nicht. Ich kann dich kaum noch halten!«

Charlotte starrte das Messer an und die paar Zentimeter, die ihre Fingerspitzen davon entfernt waren.

»Komm!«, rief sie. »Nur noch ein bisschen!« Hiroshis Mutter bekam es natürlich gleich in den falschen Hals, als er ihr sagte, dass er mit Charlotte ins Museum fahren würde. »Siehst du?«, hielt sie ihm vor. »Schon kommandiert sie dich.«

Obwohl Hiroshi durchaus das Gefühl hatte, dass Charlotte das getan hatte, erwiderte er: »Tut sie nicht. Sie will eben, dass ich mitkomme. Weil wir befreundet sind. Und sie hat ja sonst niemanden in Tokio.«

Worauf seine Mutter schwieg und sich damit begnügte, intensive Missbilligung auszustrahlen.

»Außerdem«, fuhr Hiroshi fort, »wird das sowieso alles anders, wenn ich mal groß bin. Ich weiß nämlich jetzt, was ich dann mache. Dann wird das aufhören mit armen Leuten und reichen Leuten. Dann werden alle Leute reich sein, und niemand wird mehr irgendwen herumkommandieren oder verächtlich anschauen können.«

Mutter schüttelte seufzend den Kopf. »Was du wieder redest!«

»Du wirst sehen«, sagte Hiroshi. Mehr als je zuvor war er sich sicher, dass er die Welt verändern würde, und deswegen machte es nichts, wenn er sich jetzt noch ein bisschen von Charlotte herumkommandieren ließ.

So bekam er am nächsten Tag zum ersten Mal Yumiko zu Gesicht, das Kindermädchen, von dem Charlotte ihm schon erzählt hatte. Yumiko hatte stämmige Beine und watschelte eher, als zu gehen, war aber die Gutmütigkeit in Person. Sie trug eine schwarze Umhängetasche bei sich, aus der sie alles zutage zu fördern imstande schien, was man bei einem Ausflug je brauchen würde – etwas zu trinken, etwas zu knabbern, ein Taschentuch, einen Stadtplan und so weiter.

Charlotte war so aufgedreht, als befänden sie sich auf einer Expedition in den Dschungel. Schon die simple Fahrt mit der U-Bahn begeisterte sie, dass man hätte meinen können, sie sei noch nie mit einem Zug gefahren. Als sie in Akabane in den Bus umstiegen und man die Stadt sah, die endlosen Häuser, Straßen und Dächer, klebte sie an der Scheibe, zeigte hierhin und dorthin und wollte wissen, was dies und das für Gebäude seien.

Im Schrein selber fasste sie tatsächlich alles an, was sich nur anfassen ließ. Hiroshi beobachtete fasziniert, wie sie das machte: wie sie die Augen halb schloss, während ihre Hände über Balken strichen, steinerne Statuen und Laternen streichelten oder an hölzernen Schnitzereien entlangfuhren. Wie sie dabei in sich hineinlächelte, wie sie ab und zu staunend die Augenbrauen hob, gerade so, als sähe sie in ihrem Inneren einen Film, den niemand sonst sehen konnte.

»Und?«, fragte er sie leise. »Was siehst du?«

Sie blieb stehen, schaute ins Leere, lange, blinzelte ratlos dabei. »Ich weiß es nicht«, gestand sie schließlich. »Ich verstehe das alles nicht. Aber es ist … sugoi! «

Und dann hatte sie es auf einmal mit dem schwarzen Dolch, der zwischen dem anderen Krempel auf dem Altar lag. Wollte ihn unbedingt anfassen. Nicht die Haarspangen aus Horn, nicht den Spiegel aus Silber oder die verschiedenen Amulette – nein, das alte Steinmesser.

Sie festzuhalten, damit sie sich bis dorthin vorbeugen konnte, hatte sich Hiroshi leichter vorgestellt, als es tatsächlich war. Als ihre Finger das Messer schon fast berührten, konnte er ihre andere Hand kaum mehr halten. Er fürchtete jeden Moment, das Gleichgewicht zu verlieren und zusammen mit ihr in den Wassergraben zu fallen.

Aber sie verlangte natürlich, dass er sie noch ein Stück weiter herabließ!

»Also gut«, meinte Hiroshi. Er stemmte den rechten Fuß ein Stück tiefer auf die Böschung und stellte sich vor, er sei He-Man oder Clamp-Champ oder sonst eine superstarke Figur der Masters of the Universe . Er würde nicht loslassen, und er würde auch nicht das Gleichgewicht verlieren, nein. Er würde Charlotte einfach so lange festhalten, wie sie wollte.

Es durfte nur niemand kommen. Keiner der anderen Besucher und vor allem keiner der Shinto-Priester.

Hiroshi verfolgte, wie Charlottes Fingerspitzen die letzten Zentimeter überbrückten. Er bedauerte, dass ihr Gesicht von ihm abgewandt war. Er hätte gerne dieses nach innen gewandte Lächeln gesehen in dem Moment, in dem sie das Messer endlich berührte.

Doch diesmal lächelte Charlotte nicht.

Charlotte schrie.

In derselben Sekunde, in der ihre Finger den Dolch berührten, stieß sie einen Schrei aus, so markerschütternd, dass Hiroshi sie beinahe losgelassen hätte. Er ließ sie nicht los, doch als sie gleich darauf schlaff wurde und in sich zusammensank, konnte er nicht verhindern, dass sie abrutschte und ins Wasser fiel.

Er ließ sie nicht los, keine Sekunde lang. Erfüllt von der panischen Angst, der Dolch könnte unter Strom gestanden haben, um ihn vor Diebstahl zu schützen, zerrte er Charlotte aus dem Wasser, zurück auf den gepflasterten Platz. Sie zitterte am ganzen Körper, ihr Brustkorb ging wie ein Blasebalg. Aber wenn das Messer unter Strom gestanden hatte (wie sollte das überhaupt möglich sein, schoss es Hiroshi durch den Kopf, ein Messer aus Stein? ), dann hätte er doch auch etwas davon spüren müssen, oder? Dann hätte er auch einen Schlag bekommen müssen. Er war schließlich mit ihr in Kontakt gewesen.

»Charlotte!«, flüsterte er angsterfüllt und schüttelte sie. »Sag doch was! Was ist denn?«

Leute tauchten auf, aufgeschreckt durch Charlottes Schrei, umringten sie, bückten sich, wollten wissen, was geschehen war. Warum sie geschrien hätte.

»Sie ist ins Wasser gefallen«, erwiderte Hiroshi hilflos und fügte hinzu: »Abgerutscht.«

Endlich tauchte Yumiko auf, was, da sie offensichtlich außerstande war, sich Sorgen zu machen, die Situation sofort entschärfte. »Dich kann man aber auch keine fünf Minuten allein lassen«, meinte sie amüsiert und kramte ein kleines Handtuch aus ihrer Umhängetasche, mit dem sie Charlotte notdürftig abtrocknete.

Das brachte Charlotte so weit zu sich, dass sie wieder sprach. »Ich will nach Hause«, flüsterte sie.

»Ja, darauf wird’s wohl hinauslaufen«, meinte Yumiko. »So nass kannst du schließlich nicht in der Stadt herumlaufen.«

So endete der Ausflug abrupt. Zum Glück kam gleich ein Bus, denn Charlotte schlotterte schon ziemlich, durchnässt, wie sie war. Sitzplätze gab es jede Menge, aber Yumiko musste Charlotte das Handtuch unterlegen.

Das Kindermädchen ließ sich von dem Vorfall die Laune nicht verderben. Sie plapperte fröhlich drauflos, erzählte von ihrer Kindheit in diesem Teil der Stadt und von allerlei Gelegenheiten, bei denen sie und andere Kinder sich gegenseitig in Brunnen, Seen oder Wasserfässer geschubst hätten. Dass Hiroshi das alles nicht die Bohne interessierte und dass Charlotte nur glasig ins Leere starrte, schien sie überhaupt nicht zu registrieren.

Dann stieg eine Frau ein, die Yumiko offenbar von früher kannte, denn es gab ein großes Hallo. Ob sie sich wohl auch gegenseitig ins Wasser gestoßen hatten? Zumindest schwatzten die beiden drauflos wie Wasserfälle zur Regenzeit, und Hiroshi und Charlotte waren abgemeldet.

Endlich. Hiroshi hatte es schon fast nicht mehr ausgehalten. Rasch beugte er sich zu Charlotte hinüber und fragte leise: »Was ist denn?«

Es war einer jener Momente, die er sein Leben lang nicht vergessen sollte: Wie sie sich zu ihm umdrehte, ihn ansah mit Augen, die wie Brunnenschächte in die Unendlichkeit waren, wie Fenster ins Weltall, wie Schwarze Löcher, und mit einer Stimme, die ihm Gänsehaut den Rücken hinablaufen ließ, sagte: »Das war so unglaublich alt! «

Was?, hätte Hiroshi am liebsten gefragt. Das Messer? Aber er brachte es nicht über die Lippen, war wie versteinert von der Art und Weise, wie sie das gesagt hatte.

Mehr sagte Charlotte nicht mehr, auf der ganzen Rückfahrt nicht. Sie starrte blicklos ins Leere, ließ sich willenlos von Yumiko an der Hand führen, und als sie wieder zu Hause angelangt waren und Hiroshi meinte: »Morgen fliegen wir nach Minamata. Für eine Woche«, da nickte Charlotte nur, wirkte aber nicht, als habe sie das verstanden. Hiroshi sah ihr und Yumiko nach, wie sie durch das Haupttor verschwanden, und ging mit dem unbestimmten Gefühl nach Hause, irgendetwas falsch gemacht zu haben, wenn er auch nicht um alles in der Welt hätte sagen können, was.

Am nächsten Tag hieß es, grausam früh aufzustehen, um nach Minamata zu fliegen, zu den Großeltern, auf die Hiroshi sich nicht freute, und zum Bon-Fest, das ihm gleichgültig war. Er freute sich nur auf den Flug selbst.

Aber noch nicht, während er sich schlaftrunken anzog, und auch noch nicht, als sie das Haus verließen und er in der schweigenden, vom gelben Licht der Straßenlampen durchlöcherten Nacht fröstelte. Er konnte es kaum fassen, dass um diese Zeit schon Autos fuhren, auch wenn es nur wenige waren. Vielleicht wollten die ebenfalls zum Flughafen?

Und die Metro hatte er noch nie so leer erlebt.

Als sie endlich das Flugzeug bestiegen, fiel Hiroshi zum ersten Mal auf, dass es dort einen Bereich mit breiteren Sitzen als im Rest des Flugzeugs gab, Sitze mit mehr Platz darum herum, ein Bereich, vor dem nach dem Start Vorhänge zugezogen wurden.

»Was ist das?«, wollte Hiroshi wissen.

»Die erste Klasse«, sagte seine Mutter.

Ihre Plätze waren relativ weit vorne, sodass Hiroshi durch den Spalt im Vorhang spähen konnte. So sah er, dass die dort reisenden Passagiere größere Tabletts mit besserem Essen bekamen als sie.

»So reisen die reichen Leute«, fuhr seine Mutter fort. »Die erste Klasse ist viel, viel teurer als das, was wir bezahlt haben. Für dieselbe Strecke, stell dir vor, und eher ankommen tun sie auch nicht. Dummheit!«, befand sie und schüttelte missbilligend den Kopf. »Das ist, weil sie eingebildet sind. Sie glauben, sie würden es nicht ertragen, zwei Stunden mit normalen Menschen zusammen sein zu müssen.«

Um zehn Uhr landeten sie in Kagoshima und nahmen den Zug bis nach Minamata, wo die Großeltern sie am Bahnhof erwarteten. Hiroshi war noch so erfüllt vom Anblick der gewaltigen Wolken und der winzigen Landschaft in der Tiefe, dass er die obligatorische Begrüßung mit Küssen und den Sprüchen, wie sehr er gewachsen sei, problemlos über sich ergehen lassen konnte. Vielleicht würde es ja doch nicht ganz schlecht werden.

Beim Abendessen war Doktor Suzuki zu Gast, der Tante Kumiko seit Jahren behandelte. Inzwischen gehörte er quasi zur Familie. Er trank viel Sake und wurde nicht müde zu betonen, wie großartig es sei, dass Tante Kumiko so lange durchgehalten habe, vor allem angesichts der Schwere ihrer Erkrankung.

Hiroshi sank währenddessen in sich zusammen und konzentrierte sich auf das Essen. Er wollte das nicht hören. Er konnte nichts Großartiges daran finden, sein Leben lang krank zu sein, im Bett herumzuliegen, in die Hose zu pinkeln und zu schreien, als jagten einen tausend Dämonen. Er fand es gruselig, dass so etwas möglich war: dass die kleinsten Teilchen der Materie, die Atome, so etwas in einem Menschen anrichten konnten. Dass Tante Kumiko dieses Schicksal ereilt hatte, weil sie gerne Fisch gegessen und weil dieser Fisch mehr Quecksilberatome enthalten hatte, als gut gewesen wären. Ein paar falsche Atome am falschen Ort, und schon konnte es passieren, dass man Zuckungen bekam und alles vergaß, was man je gewusst hatte: Wenn das nicht grauenhaft war, was dann? Und es gab nichts, was man dagegen tun konnte. Atome waren zu klein, als dass man sie sehen konnte. Er hatte viel darüber gelesen. Man konnte Quecksilber sogar einatmen, ohne es zu merken. Und das war nicht die einzige Sorte Atome, die einem gefährlich werden konnten; es gab einen ganzen Zoo davon – Kadmium, Plutonium, Arsen, Natrium, Chlor und noch viele mehr.

Am nächsten Tag überwand er sich und ging doch einmal zu Tante Kumiko ins Zimmer. Sie schrie nicht mehr, lag nur noch da, und als er an ihr Bett trat, tat sie etwas, das sie schon ewig nicht mehr getan hatte: Sie drehte den Kopf, als wolle sie ihn ansehen. Aber ihr Blick ging irgendwohin; vielleicht war es nur eine zufällige Bewegung gewesen. Hiroshi blieb so lange, bis das gruselige Gefühl nachließ und sie anfing, ihm leid zu tun.

Anschließend stahl er sich aus dem Haus und streunte durch die Gegend, suchte die Plätze, wo er früher, als kleines Kind, in den Ferien gespielt hatte. Die meisten fand er nicht mehr, so sehr hatte sich die Stadt verändert, und die, die er fand, hätten sich nicht mehr als Spielplatz geeignet. Ein Bach, an dem er einmal zusammen mit einem Jungen aus der Nachbarschaft einen Damm aus Lehm gebaut hatte, war völlig zugeschüttet worden, und nun stand ein Supermarkt genau darüber. Es war ein trauriger Anblick.

Er musste immer wieder an Charlotte denken und an den Schrei, den sie im Schrein ausgestoßen hatte. Sie hatte in dem Moment geklungen wie Tante Kumiko früher, genauso entsetzt: Man hatte das Gefühl gehabt, sie blicke in einen Abgrund voller Dämonen. Genauso hatte sie geschrien.

Hiroshi hätte gern gewusst, was das zu bedeuten hatte. Was Charlotte gesehen hatte, als sie den Dolch aus Obsidian berührt hatte.

Vielleicht war es gar nicht möglich, das jemand anderem zu erzählen. Vielleicht hatte sie deshalb geschwiegen.

Einen Moment durchzuckte ihn die Angst, Charlotte könnte genauso enden wie Tante Kumiko. Dann dachte er schnell an etwas anderes.

Die nächsten Tage hielt sie das Totenfest beschäftigt. Hiroshi bekam wie immer die Aufgabe, Namensschilder für die Ahnen zu schreiben, all die toten Vorfahren, an die man sich erinnerte und für die man überall im Haus Teller aufstellte. Die Frauen standen in der Küche und bereiteten kleine Leckerbissen, die Lieblingsspeisen der Toten, soweit man darüber noch Bescheid wusste. Sie verteilten sie auf die Teller als Willkommensgruß für die Geister der Toten. Das ganze Haus duftete köstlich, und Hiroshi hörte eine Menge Anekdoten, von denen er manche noch nicht kannte.

Dann gingen sie zu den Bondori und verfolgten die Tänze, mit denen die Geister wohlwollend gestimmt werden sollten. Am letzten Abend wanderten sie, wie alle, hinunter an den Fluss, um aus Papier gefaltete Boote mit kleinen Laternen darauf auszusetzen. Sie sahen zu, wie all die vielen sanften Lichter sich zu einem großen, glimmenden Muster vereinten, das gemächlich davontrieb und in der Ferne entschwand: Der Überlieferung zufolge half man damit den umherirrenden Seelen, den Weg zurück in die Unterwelt zu finden.

Hiroshi versuchte, überschlagmäßig auszurechnen, wie bevölkert die Unterwelt sein musste, wenn sich dort tatsächlich die Seelen aller Menschen aufhalten sollten, die jemals gelebt hatten. Er kam auf Zahlen, bei denen ihm ganz schwindlig wurde. Hatte sich schon einmal jemand überlegt, was los war, wenn diese Seelen beschlossen, nicht mehr in der Unterwelt zu bleiben? Was geschehen würde, wenn die Unterwelt eines Tages zu voll war?

Aber soweit er das beobachtete, glaubte sowieso niemand mehr im Ernst daran, dass an o-bon wirklich die Seelen der Toten um sie herum waren. Es war nur noch eine Tradition, ein Anlass, dass die Familie zusammenkam.

»Gut, dass ihr erst ein paar Tage später zurückfahrt«, sagte Großvater am nächsten Morgen.

Mutter erklärte, es wäre nicht anders gegangen.

»Ja, unmittelbar um o-bon herum ist immer alles ausgebucht«, meinte Großmutter. »Da ist ganz Japan unterwegs.«

Alle waren sich einig, dass es eine gute Idee gewesen war, noch ein paar Tage zu bleiben. Hiroshi war der Einzige, der es nicht erwarten konnte, wieder nach Hause zu fahren, und er hütete sich, einen Ton zu sagen.

Als sie zurückkamen, war Charlotte nicht mehr da. Botschafter Malroux war überraschend abberufen worden, erfuhren sie. Die ganze Familie hatte von heute auf morgen ihre Sachen gepackt und war abgereist.

Einen Tag zuvor. Sie hatten sich ganz knapp verpasst.

Hiroshi stand wie gelähmt, als ihm seine Mutter die Neuigkeiten aus der Botschaft erzählte. Die Ankunft des vorherigen Botschafters, Bernard Beaucour, den Jean-Arnaud Malroux lediglich während einer längeren Krankheit vertreten hatte, war für die folgende Woche angekündigt.

Charlotte war fort!

Und sie hatte ihm nicht einmal einen Abschiedsbrief hinterlassen.

»Da siehst du’s«, sagte Hiroshis Mutter voller Ingrimm. »Du warst nur Spielzeug für sie. So sind sie, die reichen Leute.«

Hiroshi dagegen sagte sich, dass Charlotte ihm ja gar keinen Brief schreiben konnte, weil sie Japanisch nur sprechen, aber nicht schreiben konnte. Dass es nur daran lag. Dass es eben Pech gewesen war.

Doch nach und nach ging ihm auf, dass Charlotte ihm ja einen Brief auf Englisch hätte schreiben können. Sie hatte in Indien gelebt, natürlich beherrschte sie das Englische. Und sie wusste, dass Hiroshi Englischunterricht hatte, englische Filme sah und Englisch zwar nicht gut sprach, aber doch lesen konnte.

Ja, tatsächlich musste man sich sagen, dass Charlotte, wenn sie es gewollt hätte, durchaus die Möglichkeit hatte, ihm eine Nachricht zukommen zu lassen.

Es kam aber keine. Damit musste er sich abfinden.

»Wer weiß, wozu es gut war«, meinte seine Mutter irgendwann, als sie gerade philosophisch gestimmt war.

Immerhin, sagte sich Hiroshi, hatte ihn Charlotte auf seine große Idee gebracht. Dafür zumindest war es gut gewesen.

Er würde Charlotte vergessen und sich ganz auf seine Idee konzentrieren, damit er sie eines Tages, wenn er groß war, in die Realität umsetzen konnte.

Da es dazu notwendig war, gute Noten zu bekommen, wurde er von diesem Tag an zu einem hervorragenden Schüler.