12
Im Untergrund
Linda McKinney stieg die Treppe eines ungekennzeichneten weißen Privatjets hinunter in eine kalte Winternacht. Auch im Leerlauf waren die Triebwerke der Maschine ohrenbetäubend laut, die Navigationslichter und Strobelights blinkten.
Eisiger Wind fegte über das trostlose Rollfeld eines kleinen Flugplatzes. Weiter links befand sich ein privates Terminalgebäude, und dahinter erblickte sie eine triste Hochstraße. Vor ihr lagen ein Parkplatz hinter einem Maschendrahtzaun und ein geschlossener weißer Metallhangar. Ansonsten nur noch eine Reihe gelblicher Parkplatzlampen, die sich in die Ferne zog.
McKinney schloss den roten Gore-Tex-Anorak, der wie auch ihre rote Strickmütze ein weißes Firmenlogo trug: Ancile Services. Sie hatte keine Ahnung, was das war und warum jetzt auch alle anderen solche Anoraks trugen, nur in Schwarz.
Andere Teammitglieder schoben sich mit See- und Rucksäcken an ihr vorbei. Die Frau, Ripper, nickte ihr im Vorbeigehen zu. Ihr langes schwarzes Haar war jetzt offen, und McKinney sah mehrere Ohr-Piercings. Überaus amerikanisch. Die Verwandlung war schnell gegangen.
Hoov und Mooch öffneten die Laderaumluke des Jets. Tin Man und Ripper schienen zu dem weißen Hangar zu wollen.
Foxy klopfte McKinney auf die Schulter und überbrüllte den Triebwerkslärm: «Kommen Sie?»
«Wohin?»
Er deutete mit zwei behandschuhten Fingern auf den Hangar, und McKinney ging hinter ihm her. Es war verblüffend, wie durch und durch amerikanisch auch er jetzt aussah, in dem Firmenanorak und mit Hipsterbrille. Er trug die afrikanische Kora über der Schulter, aber in diesem Kontext wirkte sie wie ein albernes Souvenir. Als sie weiter vom Triebwerkslärm weg waren, fragte sie: «Wo sind wir?»
Er drehte sich kurz um. «Kansas City.»
«Mein Pass. Meine sämtlichen Papiere waren in –»
«Das ist kein Problem, Professor.»
«Was ist das hier, ein Militärflugplatz?»
«Privater Jetport.»
Vor ihnen drehte Tin Man jetzt einen Schlüssel in einem Schloss neben dem Hangartor. Das Tor öffnete sich ein Stückchen, und das Team schlüpfte rasch hinein. Leuchtstofflampen erwachten flackernd zum Leben und erhellten zwei weiße Kastenwagen in einer leeren Halle.
Foxy winkte McKinney in den Hangar und gab Hoov und Mooch eine Reihe von Handzeichen. Sie rollten Cases aus dem Jet herbei, der sich jetzt schon wieder in Bewegung setzte.
Es folgte hektische, wortlose Aktivität: Das Team zog die Cases in den Hangar und öffnete Schließen. Hoov legte Batterien in ein Wegwerfhandy ein. Dann tippte er eine Nummer, spähte durch den schmalen Spalt des Tors und sagte leise: «Sind gerade angekommen. Was ist über uns?»
McKinney sah zu, wie die anderen elektronische Geräte aus den Cases zogen. Eins sah aus wie ein Metalldetektor zum Aufspüren von Landminen. Dann war da ein Ding, das sie für ein Oszilloskop hielt. Die Teammitglieder setzten Akkus ein und schalteten Geräte an, ohne auch nur ein Wort zu sprechen. Gleich darauf hatte Ripper ein Headset auf und fuhr mit dem detektorartigen Ding die Seitenwände des nächststehenden Kastenwagens ab.
McKinney sah Foxy fragend an.
Er nickte zu Ripper und Tin Man hin – die jetzt den zweiten Kastenwagen auf die gleiche Art absuchten. «Nichtlinearer Verzweigungsdetektor. Spürt ungebetene Gäste auf.»
«Glauben Sie wirklich, die könnten uns bis hierher verfolgt haben?»
«Standardmaßnahme. Wir sind immer vorsichtig.» Foxy zeigte in die Höhe. «Wir müssen wissen, dass der Luftraum sauber ist, bevor wir uns auf den Weg zur Basis machen.»
Hoov kam heran, noch immer das Handy in der Hand. «Da kreist eine Predator dreiundvierzig Kilometer südöstlich von hier. NORAD sagt, sie ist vom US-Grenzschutz, aber Troll ist sich da nicht sicher. Dann ist da noch ein DEA-Flug aus Wichita fünfzig Kilometer östlich, der könnte aber den Funkverkehr überwachen.»
«Spionagesatelliten?»
«Noch neunzehn Minuten keiner über uns.»
Ripper zog das Headset herunter und trat von den Kastenwagen zurück. «Die Vans sind sauber.»
Foxy nickte und tippte McKinney auf die Schulter. «Sie fahren mit mir, Professor.»
Sie folgte Foxy zum nächststehenden Van. Tin Man warf ihm die Schlüssel zu. Foxy sagte: «Wir treffen uns im Hauptsitz. Nehmt den langen Weg nach Hause.»
«Wilco. Haltet die Augen offen.»
Foxy stieg ein, und McKinney kletterte unsicher auf den Beifahrersitz. Der Wagen roch nagelneu. Foxy verstaute die Kora und seine Segeltuchtasche hinter seinem Sitz und ließ den Motor an. «Anschnallen, Professor, wir sind hier nicht in Afrika.»
Tin Man öffnete das Tor auf der Rückseite des Hangars. Er steckte den Kopf hinaus, gab dann das Daumenzeichen.
Foxy fuhr hinaus auf den leeren Parkplatz und in Richtung der Hauptflughafeneinfahrt.
McKinney hätte gedacht, dass amerikanische Flughäfen besser gesichert wären als dieser hier, aber offenbar galten für private Jetports andere Regeln. Da war nur ein unbesetztes Torhäuschen zwischen ihnen und dem Rollfeld. Es brachte sie ins Grübeln, was die Sicherheitsmaßnahmen anging, die sie auf Großflughäfen über sich ergehen lassen musste.
Foxy fuhr an einer Highway-Auffahrt, die mit Rt. 169/Kansas City Zentrum ausgeschildert war, vorbei und nahm stattdessen eine schmale Unterführung. Auf der anderen Seite der Schnellstraße kamen sie in einem schmutzigen, menschenleeren Industriegebiet heraus.
McKinney war noch nie in Kansas City gewesen. Sie suchte den dunklen Horizont nach den unvermeidlichen Bankentürmen des Zentrums ab, sah aber nur Sicherheitsleuchten an Lagerhäusern und Fabrikgebäuden und ab und zu eine Plakatwand – das Amerika-Inbild von einst. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte 01:23 Uhr. Auf den Straßen war praktisch kein Verkehr. Die Gewerbe- und Handelsbetriebe, Lagerhäuser und Schrottplätze zu beiden Seiten lagen hinter alten Maschendrahtzäunen und waren mit Tags besprüht, aber es wirkte doch alles viel ordentlicher als in irgendeiner ostafrikanischen Stadt.
Foxy warf immer wieder prüfende Blicke in die Spiegel und spähte in jede Querstraße, die sie passierten. Seine seltsam gelassene Paranoia machte sie kirre. McKinney hatte auf beiden Flügen, von Afrika nach Deutschland und von Deutschland hierher, kein Auge zugetan. Sie fühlte sich halb wahnsinnig vor Erschöpfung und Stress, und Foxys Verhalten machte es nicht besser. Sie musste die ganze Zeit daran denken, wie ihr Vater wohl die Nachricht von ihrem Verschwinden verkraftete. Oder genau genommen – von ihrem Tod. Davon würde doch wohl jeder vernünftige Mensch ausgehen, wenn jemand bei einer Explosion verschwunden war. Und Adwele? Wie würde er mit dem Tod einer weiteren wichtigen Bezugsperson klarkommen? Zuerst sein Vater, jetzt McKinney …
Plötzlich merkte sie, dass Foxy sie beobachtete. «Alles okay, Professor?»
«Jemand hat meine Welt in die Luft gejagt.» Sie zuckte die Achseln. «Mir geht es prima, Foxy. Einfach super.»
Er nickte. «Soll ich Ihnen einen Rat geben?»
«Nehmen Sie’s nicht persönlich, aber nein.»
«Na ja, ich geb ihn Ihnen trotzdem. Sie haben gerade bei der beschissensten Lotterie der Welt gewonnen, das ist alles. Sie können nichts dafür – also beißen Sie sich nicht an Sachen fest, die Sie nicht beeinflussen können. Konzentrieren Sie sich auf das, was Sie beeinflussen können. Damit bin ich über die Jahre ganz gut gefahren.»
McKinney dachte darüber nach. Eigentlich ein ganz guter Rat. Sie musterte Foxy. «Danke, dass Sie mir das Leben gerettet haben. Dort in Afrika, meine ich.»
«Gern geschehen.»
«Können Sie diese Kora wirklich spielen?»
Foxy sah sie ungläubig an und lachte dann. «Klar spiele ich sie. Ich kann fast jedes Instrument spielen, das ich mir vornehme. Aber ich muss zugeben, diese Einundzwanzig-Saiten-Dinger sind schwierig. Schon mal von Foday Musa Suso gehört?»
«Kann sein. Afrikaner?»
«Ursprünglich aus Gambia, lebt aber schon seit Jahrzehnten in Chicago. Ich versuche mich zurzeit an Songs von ihm. Konnte in letzter Zeit nicht viel üben, weil meine alte Kora in die Luft gesprengt wurde. Zusammen mit ein paar Leuten, die ich kannte.»
McKinney fühlte, wie die Normalität des Gesprächs verpuffte. Sie sah jetzt in Foxys Gesicht die harten Züge des Elitesoldaten. «Tut mir leid.»
Kurz darauf war sein Ernst wieder verflogen, und er grinste sie an. «Dieser Trip war für mich die Chance, mir eine neue zuzulegen.»
«Ich hätte nie gedacht, dass jemand in Ihrem Metier Musiker ist.»
«Per Musik kann man mit jedem reden.»
Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück. «Dann ist die Musik also Mittel zum Zweck?»
«Das ist nicht der richtige Ausdruck. Hören Sie, unser Job ist nicht das, was Sie denken. Aufklärung durch menschliche Quellen, HUMINT, wie wir das nennen, besteht hauptsächlich darin, zu Leuten Kontakt aufzubauen – nicht ihnen etwas anzutun. Man weiß nie, was für Möglichkeiten sich aus Freundschaften ergeben können. Und Musik ist etwas Tolles, um in fremden Ländern Freunde zu finden. Nehmen Sie nur mal die arabische Metal-Szene …»
«Es gibt eine arabische Heavy-Metal-Szene?»
Er nickte und lächelte wehmütig. «O ja, und ob. Das ist meine Musik. Der Soul der politisch Unzufriedenen. Sie finden nichts Authentischeres als Heavy Metal in einer repressiven Gesellschaft. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, spiele ich Ihnen mal was davon vor.» Er tätschelte sein T-Shirt. «Das ist von einer saudi-arabischen Band namens Eltoba, aber ich bin ein Riesenfan von Arsames – iranischer Death Metal –, und, äh, Mordab sind auch gut. Ah ja, und es gibt eine hammergeile bahrainische Black-Metal-Band namens Narjahanam. Hab sie letztes Jahr bei einem Underground-Festival in Manama gesehen. Wäre um ein Haar verhaftet worden. Der Bandname bedeutet ‹Höllenfeuer›, und, wow, man fühlt die ganze jugendliche Wut dieser Jungs – nicht das keimfreie, pseudoharte Getue von Bürgersöhnchen, die Kohle machen wollen. Ich rede von echter, zielgerichteter Scheißwut.»
McKinney grinste unsicher. «Sie hätten Nahostkorrespondent des Rolling Stone werden sollen.»
«Ich befürchte, der Zug ist abgefahren … ach ja, da gibt’s noch Acrassicauda, die einzige Heavy-Metal-Band im Irak – immerhin schon mal ein Anfang. Aber, hey, meine persönliche Nummer eins ist momentan eine afghanische Folk-Metal-Band –»
«Afghanischer Folk Metal? Jetzt nehmen Sie mich aber auf den Arm.»
«Ehrlich, Musik kann jede Kluft überbrücken. Es ist eine afghanische Folk-Metal-Band namens Al Qaynah, eine umwerfende Kombination von traditionellen zentralasiatischen Instrumenten – etwa dem Rubab und der Tanbur – mit einer treibenden Heavy-Metal-Basis. Wie alle gute Kunst fordert sie die Leute heraus.»
«Hat es überhaupt Sinn zu fragen, was Sie in diese Länder geführt hat?»
Er zuckte die Achseln. «Ich kann Ihnen so viel sagen: Ich habe den Arabischen Frühling kommen sehen. Man konnte ihn in der Musik der jungen Leute hören. Ihn in ihren Augen sehen. Ihn darin spüren, wie sie Technologie benutzten, um sich künstlerisch auszudrücken, kreativ. Das Außenministerium? Die CIA? Die NSA? Trotz all ihrer Satelliten und Gartenparty-Spione ist ihnen irgendwie entgangen, dass es da eine riesige Welle der Empörung über die herrschenden Zustände gab. Nein, um ein Volk zu verstehen, muss man in seiner Kultur baden. In der Kultur äußert es sich. Und Musik ist Kultur.»
McKinney dämmerte, dass in Foxy viel mehr vor sich ging, als man auf den ersten Blick gedacht hätte.
«Zum Beispiel wissen die meisten Leute nicht, dass der britische Punkrock ursprünglich aus einem jugendlichen Backlash gegen die Schuldgefühle der Holocaust-Überlebenden erwachsen ist.»
«O Himmel!», sagte McKinney mit einem gequälten Blick. «Würden Sie bitte einfach nur Auto fahren. Wo fahren wir eigentlich hin?»
«Ist nicht weit.»
«Warum haben wir uns aufgeteilt?»
«Wir nehmen immer getrennte Wagen und verschiedene Wege zur Basis. Die anderen werden eine ganze Weile nach uns ankommen.»
«Wer sollte uns denn unter all den Menschen in dieser Stadt bemerken?»
«Sie würden staunen, was man alles für Anomalien vor dem Hintergrundrauschen erkennen kann. Deshalb lassen wir jeden Tag mehrmals Wagen wie diese vom Flughafen abfahren, auch wenn niemand zu befördern ist.» Er registrierte ihre Reaktion. «Man merkt, dass Sie noch nicht so oft jemand töten wollte, Professor. Das verändert die persönliche Auffassung davon, was angemessene Vorsichtsmaßnahmen sind.»
«Na ja, anscheinend habe ich da keine große Wahl.»
«Ich hoffe, Sie fühlen sich nur so weit als Gefangene wie wir Übrigen auch. Wir sind alle an diese Mission gekettet, bis sie erfüllt ist – das gilt auch für die anderen zivilen Experten. Kein Urlaub bei der Familie, für keinen von uns. Ich würde Sie gern als ein weiteres Teammitglied betrachten, wenn’s recht ist.»
«Die anderen zivilen Experten? Sie haben also noch andere Leute zwangsrekrutiert?»
«Sie sind alle nicht in Ihrer speziellen Situation, aber Sie werden sie bald kennenlernen. Fachexperten, die meisten mit Top-Secret-Freigabe.»
«Also hatten sie die Wahl.»
«Nicht, nachdem sie erst mal gebrieft waren.»
Er fuhr jetzt auf einer rissigen vierspurigen Straße mit schmutzigen Schneeflecken auf dem Grasmittelstreifen. Sie passierten eine Kiesgrube. Die Gegend wurde heruntergekommener. Auf der anderen Straßenseite war eine Raststätte, voraus blinkten die Neonlichter eines Ufercasinos so grell, dass umherstreunende Nachttiere einen epileptischen Anfall riskierten.
McKinney bemerkte linker Hand einen bewaldeten Hügelhang. Das erstaunte sie, weil sie immer das Bild gehabt hatte, dass der Mittelwesten flach war. Hier gab es offensichtlich Hügel. Sie achtete auf das Kennzeichen eines entgegenkommenden Wagens: Missouri. Richtig. Kansas City lag ja nicht in Kansas, sondern in Missouri. Jedenfalls teilweise. Anscheinend hatten sie sie in diesem Punkt nicht angelogen. Sie sichtete einen weiteren Lastwagen: Kansas-Kennzeichen.
Der Blinker tickte, und der Van fuhr langsamer. Sie bogen links ab, über Bahngleise, und fuhren offenbar direkt auf einen grasbewachsenen Hang zu. Merkwürdigerweise führte eins der Gleise neben ihnen her, als sie sich einer weißen Felsfront näherten, die aussah, als wäre der Hang dort senkrecht abgeschnitten worden.
McKinney blickte zu einem beleuchteten Schild empor, auf dem «SubTropolis» stand. Es war über dem betongefassten Eingang eines Tunnels angebracht. Über dem Tunnelloch hingen an schrägen Stangen Fahnen aus aller Welt. Die Öffnung war mindestens sieben Meter hoch und über fünfzehn Meter breit. Eine Fahrbahn, breit genug für zwei Sattelschlepper, führte in den Hügel. McKinney sah, ein Stück weiter die gutbeleuchtete Felswand entlang, auch das Bahngleis ins Innere führen. Offenbar konnten ganze Züge in diesen Hügel einfahren.
Foxy öffnete das Beifahrerfenster und zog eine Magnetkarte durch ein Lesegerät, worauf sich das Rollgittertor hob.
«Was ist das hier?»
«Der Hauptsitz. Hat ein über dreißig Meter dickes Dach aus massivem Kalkstein. Dreimal so widerstandsfähig wie Beton. Da unten kriegt uns kein Drohnengeschoss. Odin geht nicht gern Risiken ein.»
Foxy fuhr durch das Tor, und sogleich weitete sich der Felstunnel zu einer hellerleuchteten, gitterförmigen Anlage von mächtigen Gesteinspfeilern und unterirdischen Gebäuden. An die Felswände waren Schilder geschraubt mit Pfeilen und Parzellennummern verschiedener Produktionsbetriebe, Lagerhäuser und Transportfirmen. Die Zufahrt führte in Kurven leicht bergab und wurde dann zu einer geraden Durchfahrtsstraße, erhellt von gelblichen Metallhalidlampen. Das hier war ein riesiger Untergrundgewerbepark.
Von so etwas hatte McKinney noch nie gehört. Etwa alle dreißig Meter erhob sich ein mächtiger Pfeiler aus massivem Gestein, bestimmt sieben mal sieben Meter stark, aber ansonsten schien sich dieses unterirdische Gelände in drei Richtungen endlos auszudehnen – helle Lichter bis zu einem fernen Fluchtpunkt. «Mein Gott, das ist ja riesig.»
Foxy nickte. «Sechs Meilen Straßen. Fünfhundert Hektar Fläche. Nur hundert davon sind ausgebaut, und davon wiederum ist nur die Hälfte belegt.»
McKinney verrenkte den Hals, um die Endlosreihen von Gesteinspfeilern entlangzublicken. «Aber wieso …?»
«Hier wurde seit den vierziger Jahren Kalkstein abgebaut. Jemand kam auf die geniale Idee, dass dieses Gestein, das schon zweihundertachtzig Millionen Jahre existiert, eine stabile Umgebung für Archive, Datencenter und dergleichen wäre. Tornadogefahr besteht auch nicht. Inzwischen haben sich hier unten alle möglichen Unternehmen angesiedelt. Verpackungsfirmen, Beleuchtungshersteller. LKW-Zufahrt und Gleisanschluss haben sie auch. Für unsere Operation hat das hier große Vorteile. Niemand kann aus der Luft oder per Satellit beobachten, was wir tun, und es gibt mehrere Einfahrten – jede Menge Kommen und Gehen rund um die Uhr. Und es liegt zentral – nur ein kurzer Flug in fast alle Ecken der Staaten.»
Foxy bog nach links in einen Quertunnel ab, und kurz darauf kutschierten sie eine weitere Höhlenstraße entlang, die sich in der Ferne verlor. «Wir operieren unter dem Deckmantel verschiedener Tarntätigkeiten – Öl- und Gasgewinnung, Mikrowellenkommunikation und so was. Gibt uns das, was wir cover for status nennen – simpler gesagt, einen Vorwand, an einem bestimmten Ort zu sein. Und mit jeder Menge Equipment durch die Gegend zu fahren. So, da wären wir …»
Foxy bremste ab und bog nach rechts in einen weiteren Seitengang ein. Wieder weitete sich der Gang zu einem endlosen Feld von Steinpfeilern – aber es gab keine Lampen mehr. Sie fuhren jetzt in völliges Dunkel, das auch ihr Scheinwerferlicht zu verschlucken schien.
McKinney beugte sich auf ihrem Sitz vor. «Hier gibt es bestimmt interessante Fossilien.»
«Ah, ja? Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass es ein toller Ort für absolute Abschottung ist. Wir haben fünfundzwanzig Hektar, weit weg von allen übrigen Parzellenmietern. So kriegen wir keinen Besuch, und niemand bemerkt uns. Wir liegen arschweit draußen im Dunkeln, da kommt niemand mal eben rüber, um sich ein Tässchen Zucker auszuborgen. Da …» Er zeigte voraus.
McKinney sah in der Ferne eine einzelne Sicherheitsleuchte.
«Haustürlampe brennt, also ist die Luft rein.»
Sie fuhren auf das Licht zu und hielten schließlich vor einem Rolltor in einer weißen Wellstahlwand, die vom Boden bis an die Decke reichte und sich nach beiden Seiten ins Dunkel zog. Mehrere Kameras waren auf die Einfahrt gerichtet. Foxy winkte, und das Rolltor begann sich zu heben. Inmitten des ganzen nackten Gesteins hallte das Rasseln ohrenbetäubend zwischen den Wänden.
Sie sah ein Logo von Ancile Services – der Schriftzug auf einer schlichten weißen Schildform – genau wie auf ihrem Anorak. Die Gebäude hier unten wurden wohl maßgefertigt, auf Funktionalität ausgerichtet. Die Außenwand sah ähnlich aus wie bei den anderen Gewerbebetrieben, nur dass hier in Intervallen Dome-Kameras installiert waren.
McKinney war überrascht, als sich hinter dem Rolltor nur weiteres Dunkel auftat.
Foxy deutete mit einer Kopfbewegung geradeaus. «Pufferzone – ein dreißig Meter breiter Sicherheitsgürtel, damit niemand mithören kann, was wir vorhaben.» Er fuhr durch das Tor, das sich hinter ihm wieder herabsenkte.
Als sie weiterrollten, kam aus dem Schwarz etwas auf sie zu geschwommen. Buchstäblich. Ein kleiner Hai, komplett mit Zähnen und Flossen, arbeitete sich mit vehementen Schwanzschlägen durch die Luft heran, um den ankommenden Van zu inspizieren.
McKinney sah genau hin. «Was zum Teufel …?»
Gleich darauf «schwammen» noch weitere Haie aus dem Dunkel herbei und scharten sich um den Van wie ein Schwarm Raubfische.
Sie lachte verdutzt. «Okay … was sind das für Dinger?»
«Luftschwimmer – billige Kindergeburtstagsgags, die Experte Fünf für Securityzwecke umfunktioniert hat. Ballons mit neutralem Auftrieb und einer batteriegetriebenen Schwanzflosse. Ich weiß nicht, wie viele er hier draußen rumfliegen hat, aber sie suchen die Pufferzone nach eventuellen Eindringlingen ab.»
Tatsächlich kamen jetzt noch Dutzende aus dem Dunkel, angelockt vom Licht und der Bewegung des Vans. Sie drängten sich vor den Scheiben, als wäre der Wagen ein Unterseeboot.
McKinney konnte nicht umhin, sie zu bewundern. «Sie agieren als Schwarm.» Sie bemerkte jetzt auch eine kleine Traglast unter den ferngesteuerten Haien, einen kleinen schwarzen Plastikquader – und das Spiegeln einer Kameralinse.
Foxy nickte. «Ja, Fünf ist KI-Experte. Sie werden ihn mögen. Soweit ich es verstanden habe, erkunden seine Fische einen Raum, merken sich die genauen Verhältnisse und patrouillieren dann nach irgendeinem Routing-Algorithmus.»
«Einem Nahrungssuchmuster. Wissen Sie, auf welcher Spezies das Modell basiert?»
«Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass sie den Raum erkunden und ihn sich merken. Wenn sie auf etwas stoßen, das vorher nicht da war, geben sie Alarm. Dass sie selbständig umherfliegen, macht ihre Bewegungen unvorhersehbar. Sie schwimmen sogar eigenständig zu einer Ladestation.» Er lachte leise. «Abgefahren, wie sehr das nach Fischfütterung aussieht.»
«Also wird eine Antidrohneneinheit von Drohnen bewacht.»
«Feuer mit Feuer bekämpfen.»
«Oh, da ist ein Clownfisch.» McKinney zeigte mit dem Finger.
«Ja, wird langsam voll hier. Los jetzt, macht mal Platz.» Foxy hupte und manövrierte den Van im Schneckentempo durch die immer dichter werdende Wand von Fischen. «Die anderen schlafen vermutlich alle, aber ich werde Ihnen in Ihr Quartier zeigen.»
«Wir wohnen hier unten?»
Er zuckte die Achseln. «Ist gar nicht so übel. Was gibt’s Gemütlicheres, als zu wissen, dass man im Schlaf nicht in die Luft gejagt werden kann?»
McKinney ließ das auf sich wirken, während sie einen weiteren Hai an ihrem Fenster vorbeischwimmen sah.
Gleich darauf hielten sie vor einer weiteren Wellstahlwand mit einem Rolltor, diesmal ohne Logo. Das Tor hob sich automatisch. Dahinter lag eine hellerleuchtete Garage, etwa dreißig Meter breit und halb so tief; sie enthielt mehrere große Transporter, schweres Gerät und sonstiges Equipment. Der Boden war grau gestrichen, mit gelben Parkbox- und Fahrbahnlinien. Metallbearbeitungsmaschinen, Schweißtische und Werkbänke standen herum. Innenwände mit mehreren Türen trennten die Garage offenbar von anderen Bereichen des Komplexes ab.
In der Mitte der Garage stand ein athletischer Latino in den Zwanzigern und zeigte mit beiden behandschuhten Händen auf einen freien Stellplatz. Er hatte zwei verschiedene Tattoos von Frauen auf den Oberarmen und kleine, brezelchenartige Ohren, die flach am Kopf mit dem kurzgeschorenen Haar anlagen. Er trug ein blaues Ancile-Services-Polohemd, Jeans und ockerfarbene Kampfstiefel – und eine kleine schwarze MP vor der Brust.
«Home sweet home.» Foxy parkte den Van und stellte den Motor ab.
Das Rolltor rasselte noch herab, als der Latino an den Wagen kam. McKinney nickte ihm zu, und er nickte zurück. Die Luft hatte etwa zwanzig Grad und roch intensiv nach Steinstaub.
Foxy und der Mann vollführten ein kompliziertes Ganzkörper-Begrüßungsritual. «Smokey, Mann, wie geht’s?»
«Okay. Alles okay.»
Foxy deutete auf McKinney. «Smokey, das ist –»
«Ich weiß, wer das ist, Blödmann.» Er zog einen Handschuh aus und streckte ihr die Hand hin. «Professor. Freut mich. Man nennt mich Smokey. Sie haben mich in Afrika nicht gesehen, aber ich war vor Ort. Schön, dass Sie heil da rausgekommen sind.»
Foxy war damit beschäftigt, seine Sachen aus dem Van zu holen. «Habt ihr diese F50 gefunden?»
«Nee, Mann, da war die Hölle los. Überall bewaffnete Leute.»
McKinney fielen fast die Augen zu.
Foxy schlug Smokey auf die Schulter. «Hey, sieht aus, als ob die Frau Professor ein kleines Nickerchen nötig hätte. Ich übrigens auch.»
«Okay, wir reden später.»
Sie ließen Smokey stehen und steuerten auf eine zweiflüglige Schwingtür zu. Im Gehen merkte McKinney, dass der Boden nicht aus Beton war. Es war gewachsener Fels, wahrscheinlich zig Meter dick, von schwerem Bergbaugerät plan gewetzt und poliert. Ihre Schritte machten praktisch kein Geräusch.
Als McKinney sich in der großen Garage umsah, bemerkte sie, dass manche der anderen Fahrzeuge das schildförmige Ancile-Services-Logo trugen, andere dagegen türkisgrün lackiert und mit dem Emblem der Nationalen Forstverwaltung versehen waren. Zwei Dodge-Power-Wagon-Allrader mit Doppelkabine und Pritsche waren gerade in der Metamorphose zu Dienstfahrzeugen des Landverwaltungsamts – mit der halbfertigen Aufschrift Ranger auf der Seite. Es waren durchweg robuste, sichtlich für den Offroad-Einsatz gemachte Fahrzeuge, bis hin zu monströsen Allrad-Zehntonnern. Sie hatte solche Unimogs in Afrika gesehen, als Transportmittel für reiche Europäer oder Südafrikaner auf organisierter Safari. Offenbar hatte man hier keine Kosten gescheut: Da standen auch noch drei funkelnagelneue schwere Amerigo-Trucks mit einem verglasten, von Sensoren und Antennen starrenden Kontrollraum auf der Ladepritsche. Sie sahen aus wie seismische Messfahrzeuge einer Ölgesellschaft, befanden sich aber offensichtlich im Umbau, denn einiges an ihnen war zerlegt, und in der Nähe lagerte Schweißgerät.
McKinney deutete auf die Fahrzeuge und sah Foxy fragend an.
«Need-to-know-Prinzip, Professor.»
«Ihnen ist schon klar, dass verdeckte militärische Operationen innerhalb der Vereinigten Staaten illegal sind.»
«Jemand greift uns an, Professor. In diesem Fall haben wir das Recht zurückzuschlagen. Und fürs Erste hat es keinen Sinn, das ganze Land in Panik zu versetzen.»
Sie gingen durch die Schwingtür und gelangten in einen schlichten weißen Flur, wo es stark nach Spachtelmasse, frischer Farbe und Klebstoff roch. Alles hier war nagelneu. Es wirkte wie ein Klinikgebäude. Foxy führte sie geradeaus, dann nach rechts, einen Quergang entlang.
«Ihre Bude ist da lang …»
McKinneys Blick huschte in alle Richtungen. «Das alles hier ist speziell für dieses Projekt gebaut worden?»
Foxy seufzte. «Ja, und ich kann Ihnen sagen, Bauleute mit Top-Secret-Freigabe sind nicht billig.»
Sie bogen um eine Ecke, und da stand mitten im Flur ein Mann mit dem Rücken zu ihnen; er hatte krauses graues Haar und trug Pullover und Jeans. Einen Tablet in den Händen, beobachtete er ein rasenmähergroßes Roboterfahrzeug mit breiten Geländereifen, das durch Türen fuhr und wieder herauskam, offenbar nach einer Art Suchmuster.
Foxy rief: «Sie sind aber noch spät auf.»
«Basteln ist für mich wie Schlaf», meinte der Mann, ohne den Blick von dem Fahrzeug zu wenden. Als sie bei ihm anlangten, drehte er sich um.
Er hatte eine Stirnglatze und eine Adlernase. Ein drahtiger, energisch wirkender Mann um die sechzig. Er musterte McKinney fast schon abschätzig.
Foxy deutete auf McKinney. «Experte Eins, darf ich bekannt machen, Experte Sechs.»
Der Mann musterte sie, während er ihr die Hand hinstreckte. «Brian Singleton, Emeritus, Technische Informatik und Robotik, Carnegie Mellon University.»
Foxy verdrehte die Augen. «Meine Güte, Singleton, wie oft muss ich Ihnen noch sagen, keine Namen!»
«Der Teufel soll mich holen, wenn ich mich hinter einem kindischen Decknamen verstecke.»
«Es könnte Ihre eigene Sicherheit gefährden, ganz zu schweigen von –»
«Sollen diese Terroristen doch ihr Glück versuchen.» Singleton fixierte wieder McKinney, richtete seine Worte aber an Foxy. «Im Bericht steht, sie ist Myrmekologin. Sagen Sie nicht, diese junge Frau ist hier, weil Odin mal wieder sein Schwarmverhalten-Steckenpferd reitet.»
«Erstens, was Odin tut oder nicht tut, ist nicht mein –»
«Das ist nämlich Zeitverschwendung.» Singletons Blick hielt immer noch McKinney erfasst, die jetzt sein Fahrzeug unbeaufsichtigt hinter ihm umherflitzen sah. «Die Drohnen, mit denen wir es zu tun haben, sind gezielt vorgehende Jäger, keine schwärmenden Horden.» Er deutete hinter sich auf sein flinkes Fahrzeug. «Einzeljäger. Wir dürfen keine Zeit mit Spekulationen vergeuden.»
McKinney starrte zurück. «Ich bin nicht aus freien Stücken hier, und ich habe nicht die Absicht, Ihnen irgendeine Vorgehensweise aufzunötigen.»
«Gut. Weil ich nämlich nicht zulassen werde, dass wir eine falsche Fährte verfolgen.»
«Schön.»
«Da draußen sterben nämlich Menschen.»
«Ich hab’s verstanden, okay? Lassen Sie’s gut sein.»
Foxy intervenierte. «Genug das Revier markiert.» Er zeigte den Flur entlang. «Möchten Sie Ihren gezielt vorgehenden Jäger vielleicht zurückpfeifen?»
Singleton sah McKinney noch eine Sekunde lang an, nickte dann. Er klatschte laut in die Hände, und das Roboterfahrzeug blieb augenblicklich stehen.
Foxy schob sich mit McKinney an Singleton vorbei. «Danke. Sehen uns morgen.»
«Gute Nacht.»
Als sie um die Ecke waren, schüttelte McKinney resigniert den Kopf. «Ich wusste doch, es hatte einen Grund, dass ich lieber Feldforschung machen wollte.»
Foxy lachte. «Ach, er ist ganz in Ordnung, wenn man ihn erst mal besser kennt. Ist nur schon eine ganze Weile hier.» Foxy führte sie zu einer Reihe von Türen aus hellem Holz. Vor einer mit einem Plastikschildchen, in das eine Sechs eingraviert war, blieben sie stehen. «Da sind wir.»
McKinney erkannte, dass unter der Ziffer die Zimmernummer auch noch in Braille stand. Sie fuhr mit der Fingerkuppe über die erhabenen Pünktchen.
Foxy öffnete die Tür. «Ja, wir halten uns an das Antidiskriminierungsgesetz.» Er betätigte den Lichtschalter. Leise surrend gingen Lampen an und erhellten ein spartanisches Wohnheimzimmer mit nagelneuen stabilen Möbeln. Ein Bett, eine Kommode, ein Schreibtisch und darauf ein Laptop – verkabelt mit einer Netzwerkdose in der Wand. Dem Bett gegenüber hing ein Flachbildfernseher. Ein Zimmer, wie sie es sich nie für sich hätte vorstellen können. Es war so surreal! Sie konnte es immer noch nicht ganz glauben, erwartete halb, die nächtlichen Geräusche des Dschungels zu hören. Aber da war nur das sterile Surren der Lampen.
Foxy ging an den Schreibtisch und klappte den Laptop auf. «Ihrer, solange Sie hier sind. Er hat so ziemlich alles an Software, was auf Ihrem alten Laptop war.»
«Will ich hören, woher Sie wissen, was auf meinem alten Laptop war?»
«Sie können morgen mal Hoov fragen. Vielleicht hat er ja einen Tipp in puncto Firewall für Sie.» Er zeigte wieder auf den Laptop. «Da in unserem Intranet ist ein Team-Wiki, dem Sie alles Nötige über die Mission entnehmen können. Willkommen in Regierungsdiensten.»
«Eine verdeckte militärische Operation mit einem Wiki.»
Foxy ging zur Tür. «Es wird nur noch seltsamer werden, Professor. Also würde ich Ihnen jetzt raten, eine Runde zu schlafen. Ihr Bad ist da, Toilettenzeug ebenfalls. Kleider und Schuhe sind in der Kommode und im Schrank. Der Wecker klingelt um Punkt sechs. Zusammenkunft im Teamraum um sieben. Frühstücken können Sie dort – ich schicke jemanden rum, der Ihnen den Weg zeigt. Wenn Sie was zum Einschlafen brauchen oder sonst irgendwas, drücken Sie den Knopf hier neben der Tür.» Er betrachtete ihre müden Augen. «Irgendwelche Fragen?»
Sie schüttelte matt den Kopf.
«Perfekt …» Er legte zwei Finger an die Schläfe. «Dann bis in fünf Stunden.» Und damit machte er die Tür hinter sich zu.
Sie starrte auf die Verriegelung, ging dann hin und betätigte sie: ein befriedigendes Klack. Allein schon den Stahlbolzen in den Türrahmen fahren zu hören senkte ihren Stresspegel um die Hälfte.
McKinney setzte sich auf die Bettkante und schlug die Hände vors Gesicht. Das war doch alles Wahnsinn.
Sie sah die Fernbedienung für den Fernseher auf dem Nachttisch liegen, ergriff sie und drückte den Ein-Knopf. Es erschien ein Wetterkanal. Eine Meteorologin gestikulierte über dem Nordosten, erklärte, dass ein Hoch von den Großen Seen herabzog. Ein Fenster zur Normalität, aus einem Irrenhaus.
Sie drückte die Programmtaste, und es kam ein Kabelnachrichtenkanal. Videobilder von einem brennenden Bürohochhaus, rußumflorte Fensteröffnungen und herausgeborstene Scheiben. Die Laufschrift am unteren Bildschirmrand lautete: «… Anschlag in Washington, D.C. Sechs Tote, zwölf Verletzte …»
McKinney fühlte sich schon fast persönlich betroffen.
Die Nachrichtenmoderatorin kommentierte das Video: «… diesmal im Herzen des amerikanischen Verteidigungssektors, ganz in der Nähe des Pentagon. Opfer des Bombenanschlags wurden der geschäftsführende Direktor von Alerion Aeorospace, Brad Oliphant jr., sowie mehrere Vorstandsmitglieder und Manager. Da Alerion Zulieferer für mehrere Drohnenprogramme des Pentagon ist, vermuten Sicherheitsexperten, dass Rache für den Angriff auf den Schrein von Kerbela das Motiv sein könnte, obwohl inzwischen alles darauf hindeutet, dass die USA für den Vorfall nicht verantwortlich sind. Obwohl Al-Qaida und andere Terrororganisationen den heutigen Angriff verbal begrüßt haben, hat sich nach Auskunft der Behörden bislang noch keine Gruppierung glaubhaft zu der Tat selbst be–»
Klick.
Ein anderer Kabelnachrichtensender. Ein Foto desselben brennenden Bürogebäudes hinter dem Moderator, der gerade erklärte: «… Explosion in der gesamten Hauptstadt zu hören, was bei vielen schreckliche Erinnerungen an 9/11 wachrief. Zur Stunde ist Washington eine Stadt im Belagerungszustand: Die Einwohner ringen mit der Erkenntnis, dass sie jetzt in einem Kampfgebiet leben.»
Klick.
Ein weiterer Nachrichtenkanal. Bilder von Verletzten, die auf Rolltragen zu bereitstehenden Krankenwagen gebracht wurden. Feuerwehrfahrzeuge. Die eindringliche Stimme des Nachrichtenmoderators: «Teile Washingtons sind abgeriegelt, während Ermittler den Tatort und die Umgebung durchkämmen und Überwachungsvideos wieder und wieder analysieren, um Hinweise darauf zu finden, wie die Attentäter durch die Sicherheitskontrollen gelangen konnten.»
Eine präzisionsgelenkte Bombe oder Rakete brauchte keine Sicherheitskontrollen zu passieren, dachte McKinney. Sie fragte sich, ob das da eine gezielt lancierte Story war oder ob die meisten Regierungsvertreter die Wahrheit auch nicht kannten.
Klick.
Wieder Nachrichten. Dieselbe Story.
Klick.
Auch Nachrichten. War das denn alles, was dieses verdammte Ding zu bieten hatte? Wetter und Nachrichten?
Klick.
Eine Kommentatorenrunde. Mehrere Experten, versammelt an einem Tisch, der aussah wie aus Raumschiff Enterprise, um die jüngsten Geschehnisse zu gewichten. Ein Glatzkopf mit schiefsitzender Krawatte redete im Schnellfeuertempo. «… sich doch die Frage, warum – nach über zehn Jahren Krieg gegen den Terror, der Billionen verschlungen, Tausende amerikanischer Menschenleben gekostet und zigtausend Verwundete hinterlassen hat, nach all den Opfern an Blut und Geld, nicht zu vergessen Hunderttausende getöteter Zivilisten in Übersee – warum wir dieser Form des Terrorismus noch immer genauso hilflos gegenüberstehen wie zum Zeitpunkt von 9/11.»
Ein anderer Experte: «Darum geht es doch hier nicht, Howard. Ich meine, nach all dem, was wir an Privatsphäre und bürgerlichen Grundrechten aufgegeben haben, leben wir praktisch in einem Überwachungsstaat – Kameras an jeder Straßenecke, in jedem Geschäft und jedem Bürogebäude, massive Telekommunikationsüberwachung –, und trotzdem gelingt es der Regierung nicht, diese Terroristen zu finden. Nehmen Sie nur mal die Anschläge in den spanischen Zügen, in der Londoner U-Bahn, da hatte man binnen Stunden Überwachungsvideos, die zu den Tätern führten. Aber hier sind es Monate und fast zwei Dutzend Anschläge, ohne dass –»
Der Talk-Gastgeber warf ein: «Es gab doch Verhaftungen.»
«Aber die Anschläge gehen weiter, und es ist niemand für schuldig befunden worden. Im Gegenteil, mehrere Verdächtige wurden sogar wieder freigelassen.»
Der Gastgeber lenkte das Gespräch in eine andere Richtung. «Stattdessen hört man vom Capitol Hill, dass die Geheimdienstausschüsse von Repräsentantenhaus und Senat die Bereitstellung von Sondermitteln, angeblich in zweistelliger Milliardenhöhe, für ein Drohnen-Verteidigungssytem prüfen, wobei ich mich frage, wie viel Geld wir noch für Sicherheit ausgeben können, das nicht –»
Klick.
Wieder der Wetterkanal. McKinney warf die Fernbedienung auf den Nachttisch, fiel aufs Bett und lauschte der beruhigenden Stimme der Meteorologin …
«… vereinzelt Schauer in weiten Teilen Südostasiens und Indonesiens. Während ein Hoch langsam über die Halbinsel Kamtschatka südwärts zieht …»