7
Die Activity
McKinney wurde bewusst, dass sie in einem Flugzeugsitz festgeschnallt war und etwas sich auf ihr T-Shirt presste – ein Stethoskop.
Eine Männerstimme, ganz in der Nähe: «Atmung normal. Puls konstant.» Das Stethoskop verschwand. «Blutdruck hundertsiebzehn zu sechsundsiebzig.» Das Ratsch von Klettband, und der Druck an ihrem linken Arm ließ nach. «Sie ist stabil.»
Eine zweite Männerstimme. Tiefer. «Danke, Mooch.»
McKinney sah, dass sie jetzt einen grauen Fliegeranzug anhatte, fokussierte den Blick aber auf ihre Handgelenke. Sie war nicht nur angeschnallt, sondern auch noch mit Kabelbindern an die Armlehnen gefesselt. Das dumpfe Dröhnen von Turboprop-Triebwerken vibrierte um sie herum. Die Sonnenblende am Fenster war heruntergezogen, sie konnte nicht feststellen, ob es Tag oder Nacht war. Sie blickte geradeaus in die schummrige Kabine. Vor ihr zwei leere Sitzreihen, dann eine Trennwand. Sie saß auf dem Gangplatz rechts. Asymmetrische Sitzanordnung – zwei Plätze rechts des Gangs, einer links. Irgendein kleinerer Shuttle-Flieger. Höhe und sonstige Dimensionen der Kabine kamen ihr bekannt vor. Ehe sie sich’s versah, hörte sie sich sagen: «Eine Twin Otter.»
Wieder diese tiefe Stimme, irgendwo ganz in der Nähe. «Sie kennen sich mit Buschflugzeugen aus.»
Noch immer benebelt, antwortete sie reflexhaft der unbekannten Stimme: «Wir sind immer aus DHC-6 abgesprungen.»
«Warum haben Sie’s aufgegeben?»
«Hab’s meinem Dad versprochen. Nach Moms Tod.» McKinneys Blick wanderte zu dem Sitz gleich über den Gang: Da saß ein schlanker, wohlproportionierter Mann. Er hatte graublaue Augen in einem sonnengegerbten Gesicht, das größtenteils von einem schwarzen Vollbart und einer Red-Sox-Basecap verdeckt war. Durch die Kappe sah er aus wie ein Baseballlegionär aus der Taliban-Liga. Ansonsten trug er ausgewaschene Jeans und eine verwitterte Fotografenweste mit unzähligen Taschen. Der Mann sah vage mediterran aus … oder zentralasiatisch? Aber vielleicht war es ja einfach nur tiefe Sonnenbräune. Schwer zu sagen. Er sprach mit einem lupenreinen Mittelwesten-Akzent.
Bizarrerweise flüsterte er jetzt beruhigend auf einen großen Raben ein, der auf seiner Armlehne saß. Dabei löste er behutsam einen kleinen Transponder vom Bein des Vogels. Der antwortete mit sanften Kiek-kiek-Lauten und plusterte Hals- und Kopfgefieder zu Punkstacheln.
So benommen, wie sie war, konnte der Vogel durchaus eine Halluzination sein, und McKinney beschloss, stattdessen lieber den bärtigen Mann zu fixieren. «Was ist passiert? Ein Unglück?»
Er sah sie an, während er dem Raben den Kopf streichelte. «Nein, alle sind okay. Und Sie sind jetzt in Sicherheit.»
«Ich erinnere mich an eine Explosion.» Sie zuckte zusammen und hielt sich die Seite. «Warum habe ich solche Schmerzen?» Da war ein Stechen in ihrer Rippengegend. Ihr ganzer Körper fühlte sich zerschunden an.
«Das ist das Naloxon – es blockiert die Opioidrezeptoren.»
«Nalox… warum … was …» Sie konnte nicht richtig denken.
«Wir mussten es Ihnen als Gegenmittel zu dem Sufentanil geben. Bis die Wirkung nachlässt, wird Ihre Schmerzempfindlichkeit erhöht sein.»
Sie schüttelte den Kopf, um irgendwie den Nebel loszuwerden, und schaffte es schließlich, den Blick auf den Raben zu zentrieren. Der mächtige Vogel war offenbar real und musterte sie seinerseits. Sie erinnerte sich wieder an den Raben vor ihrem Fenster.
«Da war ein Vogel. Und eine Explosion.»
«Das war Hugin, den Sie gesehen haben. Der hier ist Munin.» Auf ihre verwirrte Miene hin erklärte er: «Nordische Mythologie. Der Gott Odin hat zwei Raben, Hugin und Munin – ‹Gedanke› und ‹Erinnerung›. Sie fliegen umher und bringen ihm Nachrichten aus der Welt der Menschen.»
«Und das tun die beiden auch?»
Er öffnete die Hand und zeigte ihr einen winzigen Transponder an einem Fußriemen. McKinney sah auf der Oberfläche des Dings eine Art Gitter aus Kupferleitern.
«Plenoptische Kamera. Man nennt sie auch ‹Lichtfeldkamera›. Die Technik erlaubt die nachträgliche Regulierung der Schärfeebene eines Bilds und das Eliminieren von Okklusionen durch Synthetic Aperture Tracking. Das heißt, wir können Observierungsobjekte auch dann noch klar sehen, wenn sie etwa durch Fenstergitter oder Blattwerk verdeckt sind.»
«Wie lange beobachten Sie mich schon?»
«Lange genug, um zu wissen, dass Sie Adwele jederzeit helfen würden.»
«Ihr Rabe hat mich ausgetrickst.»
«Hugin hat Ihnen das Leben gerettet. Für uns sind Spotterdrohnen manchmal schwer auszumachen, aber er hat da eine besondere Gabe.»
«Spotterdrohnen? Wer sind Sie?» Sie zerrte an den Kabelbindern. «Und warum zum Teufel bin ich an diesen Sitz gefesselt?»
«Sie können mich Odin nennen.» Zu dem Raben sagte er: «Geh fressen, Munin.»
Der Vogel krächzte und hopste in Richtung Heck davon.
McKinney sah den Mann an, als wäre sie in ein Irrenhaus geraten.
«Die Fixierung ist eine Vorsichtsmaßnahme. Manche Leute reagieren ungut auf die Drogen. Werden hysterisch. Problematisch in einem Flugzeug.»
Sie bemühte sich, trotz ihrer wachsenden Wut ihre Stimme ruhig zu halten. «Ich bin nicht hysterisch.»
Er musterte sie, blickte dann zu jemandem hinter ihnen. «Mooch.»
Sie hörte Bewegung, dann das Swisch einer Klinge, die gezogen wurde. Ein gutaussehender, gepflegter Mann in den Zwanzigern mit kakaobrauner Haut beugte sich über sie. Er schien südasiatischer Herkunft, möglicherweise Inder, trug eine frischgewaschene weiße Galabia und auf dem Kopf eine weiße Taqiyah. Um seinen Hals hing ein Stethoskop. Er schob geschickt ein mörderisch scharfes Messer unter die Kabelbinder. Im Nu war sie frei und rieb sich die Handgelenke, während Mooch sich wieder zurückzog.
Jetzt, da sie sich umdrehen konnte, inspizierte McKinney die gesamte Kabine. Die Hälfte war Frachtraum, voll mit Metallcases und elektronischem Equipment. Ein weiterer Bärtiger mit heller Haut und wilder brauner Rockstarmähne saß eine Reihe weiter hinten. Er sah aus, als könnte er Albaner oder Russe sein, mit einem weichen, rundlichen Gesicht und weit auseinanderstehenden Augen. Er trug Faded Jeans und ein Fan-T-Shirt einer Heavy-Metal-Band mit arabischer Schrift. Seine beiden Unterarme bedeckten Tattoos von Pferden und flammenden Totenköpfen. Surrealerweise stimmte er gerade eine Kora – ein traditionelles westafrikanisches Saiteninstrument. Hinter ihm saß eine eher unscheinbare Frau mit olivfarbener Haut, in einem rotbraunen Sari und farblich abgestimmtem Hijab. Sie hielt eine Ausgabe der Small Arms Review in den Händen, erwiderte jetzt aber McKinneys Blick. Die Frau nickte und wandte sich wieder ihrer Lektüre zu.
Hinter der Frau sah McKinney einen jungen Eurasier, ein Bürschchen in den Zwanzigern mit Hipsterbrille und Soul Patch. Er trug Khakihosen, einen dunkelgrünen Pullover und ein Headset mit Mikrophon und war ganz auf eine Elektronikkonsole im Frachtbereich konzentriert.
«Wer sind Sie alle? Wohin fliegt dieses Flugzeug?»
Odin streckte die Hand hinter sich. «Gib mir den Rover, Foxy.»
Der albanisch aussehende Mann stellte seufzend die Kora beiseite und kramte in einer Ledertasche zu seinen Füßen. «Bring’s ihr schonend bei, Boss.»
«Den Rover, bitte. Danke.» Odins Hand erschien wieder, mit einem robusten Outdoor-Tablet. Er tippte ein paarmal aufs Display, hielt dann den Tablet McKinney hin. Auf dem Gerät lief bereits etwas, das sich als Schwarz-Weiß-Luftaufnahmen entpuppte – der Blick eines Kameraauges, das in tausend Fuß Höhe über einem Dschungeldorf kreiste.
McKinney erkannte das Dorf. «Die Marikitanda-Forschungsstation.»
«FLIR-Aufnahmen aus einer MC-12, gemacht vor etwa zwanzig Minuten.» Er zeigte mit der narbigen, schwieligen Hand darauf. «Sehen Sie, da?»
«Meine Hütte.»
«Richtig. Schauen Sie hin.»
McKinney sah eine leuchtende menschliche Gestalt aus ihrer Hütte stürzen. Das waren offensichtlich Infrarotaufnahmen, die Wärmequellen abbildeten. Sie sah sich in den Dschungel rennen, wo sie rasch unter dem dichten Blätterdach verschwand. Sekunden später sauste ein Objekt ins Bild und schlug in ihre Hütte ein – der Screen wurde schlagartig weiß.
Sie sah Odin an. «Ich verstehe nicht, was da passiert.»
«Sie waren heute Nacht Ziel eines Drohnenangriffs, Professor McKinney.»
«Drohnenangriff – Moment mal, woher wissen Sie meinen Namen?»
«Wir wissen alles über Sie. Alter zweiunddreißig, geboren in Knoxville, Tennessee, Bachelor in Evolutionsbiologie, UCLA, Master und Postdoc-Tätigkeit in Entomologie, Cornell University. Seit einiger Zeit ordentliche Professur und Forschungsmittelbewilligung für Ihre Arbeit im Bereich Modellieren von Hautflügler-Sozialsystemen. Sie sind Bills-Fan. Sie hassen Erbsen. Soll ich noch weitermachen?»
Sie starrte ihn verdutzt an.
Foxy, der jetzt wieder die Kora stimmte, murmelte: «Social Media ist so eine Sache …»
McKinney war jetzt hellwach. «Sie sagten Drohnenangriff.» Sie taxierte Odin. «Wie … warum waren Sie dort?»
«Wir haben Sie wie gesagt schon einige Tage beobachtet.»
«Aber warum?» McKinney wurde jetzt laut. «Und warum zum Teufel haben Sie mich nicht gewarnt? Ich hätte umkommen können!»
«Beruhigen Sie sich.»
«Ich beruhige mich, wenn mir jemand erklärt, was hier verdammt noch mal vor sich geht. Warum bin ich betäubt und entführt worden?»
Odin sagte in besänftigendem Ton: «Die Forschungsstation hat doch bewaffnete Sicherheitsleute, Professor. Was wäre passiert, wenn Sie um Hilfe gerufen hätten? Unschuldige Wachleute hätten beim Versuch, Sie zu schützen, verletzt oder getötet werden können.»
«Wer sind Sie und diese Leute hier? Warum sollte mich eine Drohne angreifen?»
Er hob begütigend die Hand. «Wir sind hier, um Ihnen zu helfen.»
«Dann hätten Sie mich warnen sollen statt –»
Odin schüttelte den Kopf. «Das hier ist eine Geheimoperation, Professor. Ich musste sicher sein, dass sie es auf Sie abgesehen hatten. Wir mussten bis zum letztmöglichen Augenblick warten.»
«Dass wer es auf mich abgesehen hatte?»
«Das versuchen wir herauszukriegen.» Odin drehte das Tablet-Display zu sich und tippte wieder mehrfach darauf. «Bis heute Nacht konnten wir das genaue Ziel dieser Drohnenangriffe nicht vorhersagen. Aber durch Sie hat sich dieses Problem gelöst.»
«Wovon in aller Welt reden Sie?»
«Gehen wir es schrittweise an.»
«Warum sollte jemand eine Drohne auf mich ansetzen? Ich erforsche Ameisen.»
«Hier …» Er drehte den Rover wieder zu ihr.
McKinney sah jetzt Infrarotnahaufnahmen ihres Bungalows und seines Wellblechdachs. Vor ihrem Fenster schwebte ein nur vage erkennbares Objekt. Ein pizzablechgroßes, vierrotoriges fliegendes … Etwas. Es bewegte sich von Fenster zu Fenster, so systematisch wie eine Biene von einer Blüte eines Buschs zur nächsten.
Sie starrte ungläubig auf das Display. «Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn.»
«Sieht aus wie das Flugwerk einer chinesischen F50, aber das sagt noch nichts über die Firmware oder die Leute, die sie losgeschickt haben. So was kann man in Dubai oder Moskau im Hunderterpack auf dem Schwarzmarkt kaufen.»
Sie betrachtete immer noch das bedrohlich aussehende Insekt, das da vor ihrem Bungalow umherschwirrte, und ihre eigene leuchtende Wärmesignatur auf dem Bett, die durchs Fenster erkennbar war.
«Soweit wir wissen, spürt die Mutterdrohne ihr Opfer über deren IMEI auf.»
McKinney sah immer noch auf das Display. «Ich weiß nicht, was das ist.»
«Die International Mobile Equipment Identity. Jedes Handy wird bei der Herstellung mit einer individuellen Seriennummer versehen. Anhand dieser ID kann man jedes Handy auf der Welt bis auf fünfzig Meter genau orten.»
McKinney sah ihr ladendes iPhone auf dem Case neben ihrem Bett vor sich.
«Aber das ist für einen gezielten Luftschlag nicht genau genug. Also führt die Mutterdrohne eine Beobachterdrohne mit sich, die sie freisetzt, um sich die Anwesenheit der Zielperson am ermittelten Ort bestätigen zu lassen. Die Spotterdrohne geht runter und sucht höchstwahrscheinlich den Bereich nach dem Gesicht der Zielperson ab, wobei sie vermutlich den Gesichtserkennungschip irgendeiner Pocketkamera benutzt, um eine Liste von menschlichen Gesichtern zu erstellen und mit Fotos der Zielperson zu vergleichen, die sie im Speicher hat. Genaueres werden wir wissen, sobald wir sie in die Hände kriegen.»
«Aber woher sollte sie ein Foto von mir haben?»
«Facebook, LinkedIn, Profil auf der Universitätsseite. Das ist wirklich kein Problem.»
Sie verfolgte mit Entsetzen, wie die Beobachterdrohne plötzlich ein Grid von Hunderten Infrarot-Dots ins Innere ihres Bungalows projizierte – auf ihren Körper! In einem Lichtspektrum, das sie gar nicht wahrgenommen hatte.
«Erfassungsgitter. Sobald die Anwesenheit der Zielperson bestätigt ist, sendet die Spotterdrohne ein verschlüsseltes Signal an die Mutterdrohne und gibt ihr damit das ‹Klar zum Angriff!›. Dadurch wussten wir, wann wir eingreifen mussten.»
McKinney sah ihre helle Gestalt die Taschenlampe aufs Fenstergitter richten. Der LED-Strahl war im Infrarotbild nicht sichtbar, aber das Video zeigte, wie die Quadrocopterdrohne davonschwebte. Auf ihrem Rücken blinkte ein helles Licht in einer schnellen, komplizierten Sequenz.
«Die Spotterdrohne geht auf sicheren Abstand, um den Einschlag zu filmen, Detonation und Wirkung zu bestätigen etc. Elektronische Aufklärungsergebnisse deuten darauf hin, dass sie sich dann mit dem nächsten WLAN-Hotspot, den sie hacken kann, verbindet, um das Video auf eine vorher festgelegte Web-Domain hochzuladen. Danach zerstört sich die Beobachterdrohne selbst.» Er blickte in den hinteren Teil des Flugzeugs. «Haben wir diesen Videoupload gestoppt, Hoov?»
Der Eurasier an dem Elektronikpult antwortete: «Haben wir. Da war eine Verbindung mit unserem offenen WLAN-Netzwerk unmittelbar vor dem Angriff. Es erfolgte ein Testupload, den habe ich durchgelassen, und danach dann die Übertragung einer großen, verschlüsselten Datei … die ich abgefangen habe.»
«Bingo. Das heißt, sie haben nichts. Keine Wirkungsmeldung.» Odin gab ihr den Tablet, ohne den Blick von Hoov zu wenden. «Was hast du noch?»
Hoov studierte mehrere Displays auf seinem Pult. «Dem Wirkungsradius nach würde ich sagen, es war wieder eine lasergelenkte Fünfzehn-Kilo-Aerosolbombe.»
«Foxy, wir müssen Leute in die tansanischen Militärkräfte vor Ort einschleusen, um an die Bombenfragmente zu kommen.»
Foxy antwortete: «Schon in Arbeit.»
«Und die Mutterdrohne – bitte sag, dass wir zur Abwechslung mal klare Videobilder haben.»
Alle wandten sich Hoov erwartungsvoll zu.
Hoov kostete die Spannung aus, lächelte dann. «Kanal zwei.»
Odin klatschte einmal in die Hände und schnappte sich den Rover. Er tippte ein paar Sekunden auf dem Display herum, während die anderen sich um ihn drängten und über die Sitzlehnen zusahen. Es war offensichtlich, dass sie schon lange darauf warteten, ihr Jagdobjekt zu Gesicht zu bekommen. Ihre Augen wurden groß, und sie nickten befriedigt.
Odin sah auf. «Verdammt gute Arbeit, Hoov. Da ist der Feind, Leute. Endlich sehen wir ihn vor uns.»
Die Frau im Hijab zeigte mit dem beringten Zeigefinger. «Südafrikanische Bateleur?»
Foxy schüttelte den Kopf. «Nicht mit dieser Flügelkonfiguration. Sieht mir eher nach einer Rustom-H aus. Oder vielleicht einer indischen Aura.»
Er drehte den Rover zu McKinney. «Hier sehen Sie, was Sie heute Nacht beinahe getötet hätte, Professor.»
Sie studierte das Schwarz-Weiß-Bild. Es war, wie eine Videoaufnahme von Bigfoot vor sich zu sehen. Die ihr vage bekannte Form einer Drohne – rechtwinklig abstehende Tragflächen, Entenruder und Heckpropeller. Gefilmt von schräg unten, sodass man ein bombenartiges Objekt in einer Halterung an der Rumpfunterseite erkennen konnte. Der Blickwinkel veränderte sich langsam, als ob die Aufnahmen von einem Flugzeug aus gemacht worden wären, das sich in eine andere Richtung bewegte.
Die ganze Gruppe schien ziemlich zufrieden, aber McKinney machte ein grimmiges Gesicht. «Warum haben Sie sie nicht abgeschossen, bevor sie mich angreifen konnte?»
«Nicht unser Ziel. Die sollen auf keinen Fall merken, dass wir ihnen auf der Spur sind. Noch nicht jedenfalls. Und da wir den Video-Upload ihrer Spotterdrohne abgefangen haben, können sie nicht wissen, ob Sie tot sind oder noch leben.»
«Können Sie dieses Ding nicht irgendwie zurückverfolgen? Über Funksignale oder so was? Herauskriegen, wer es gesteuert hat?»
«Das ist ja das Problem», sagte Odin düster. «Diese Drohnen steuert niemand. Sie sind autonom – darauf programmiert, ihr Opfer zu finden und zu töten und sich dann selbst zu zerstören. Bisher war es unmöglich, eine auch nur richtig zu Gesicht zu bekommen, geschweige denn, unversehrt in die Hände zu kriegen. Aber wir arbeiten daran, und dank Ihnen sind wir heute Nacht ein Stück weitergekommen.» Er wandte sich wieder an Hoov. «Wann haben wir sie verloren?»
«Vom Radar verschwunden neun Kilometer südlich von Ziel eins in zweiundzwanzigtausend Fuß Höhe.»
Foxy murmelte: «Passt.»
Auch Odin schien nicht überrascht. «Irgendwas von dem Spotter?»
«Negativ. Ist nach dem Treffer davongeflogen. Tin Man und Smokey grasen die Gegend danach ab, aber auf der Forschungsstation ist die Hölle los. Überall bewaffnete Wächter mit Taschenlampen.»
«Ruf sie zurück. Warten wir ab, was unsere verdeckten Mitarbeiter morgen finden. Lade jetzt erst mal alles ins Gateway hoch, und sag dem Experten vier, ich möchte eine schriftliche Einschätzung, wenn ich zurück bin.»
«Geht klar.»
McKinney versuchte immer noch, diesen ganzen Wahnsinn zu sortieren. «Nur damit ich’s recht verstehe: Jemand hat versucht, mich mit einer selbststeuernden Selbstmorddrohne umzubringen?»
«Mir ist klar, dass Ihnen das alles absonderlich vorkommen muss.»
Sie sah ihn an, als sei er verrückt.
«Okay. Vielleicht ist es absonderlich. Aber es gibt heutzutage ein Mittel, Menschen zu eliminieren, ohne Konsequenzen zu riskieren. Und es wird um sich greifen.»
McKinney versuchte immer noch, gedanklich hinterherzukommen. «Aber … ich habe Dokumentationen über Flugzeugabstürze gesehen, kann man denn nicht die Wrackteile untersuchen und feststellen –»
«Was? Dass die Bestandteile in China produziert worden sind? Alles ist doch made in China. Wer auch immer hinter dieser Sache steckt, benutzt frei gehandelte Komponenten – Chips und Platinen, wie sie in Computern und Spielkonsolen verbaut werden. Was wir brauchen, ist die Firmware, die das Ding betreibt – sein Gehirn. Aber diese Drohnen steigen unmittelbar nach dem Angriff auf zwanzig-, fünfundzwanzigtausend Fuß und zerstören sich dann selbst. Und wenn ich ‹zerstören› sage, meine ich, dass sie sich regelrecht pulverisieren. Sprengstoffrückstände auf den wenigen Trümmerteilen, die wir gefunden haben, belegen, dass es sich um Pentaerythrityltetranitrat handelt – Primacord, Sprengschnur, die zum Sprengen von Stahl benutzt wird.»
Foxy zupfte eine Tonfolge auf der Kora. «Was die finnische Armee anopin pyykkinaru nennt – ‹Schwiegermutters Wäscheleine›.» Noch ein unterstreichendes Ploing.
Odin bedachte ihn mit einem Seitenblick und wandte sich dann wieder McKinney zu. «Eine chemische Spur endete bei einem Packen Sprengschnur, der vor zwei Jahren von einem Abrissgelände auf Zypern gestohlen wurde – keine Verdächtigen. Die Sprengschnur macht aus der Drohne Konfetti, und aus solcher Höhe verteilen sich die Überreste auf eine Fläche von zwanzig Quadratmeilen. Was wir bis jetzt gefunden haben, füllt noch nicht mal einen Müllsack.»
Hoov rief von hinten: «Kein verdächtiger Funkverkehr während des Ereignisses.»
«Wie zu erwarten.»
McKinney hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. «Was – zum – Teufel – geht – hier – vor? Warum will mich jemand töten?»
Der Albaner namens Foxy zog die Augenbrauen hoch. «Sie wissen es wirklich nicht?»
«Weil ich Amerikanerin bin? Wegen der Sache in Kerbela? Wenn es das ist, müssen Sie die ganze Forschungsstation evakuieren.»
Odin trommelte mit den Fingern auf die Armlehne. «Leider ist die Motivation persönlicher. Jemand hat es speziell auf Sie abgesehen, Professor McKinney.»
Sie war komplett verwirrt. «Ich erforsche Ameisen.»
«Genau das ist der Grund, warum Sie jemand töten will. Ihr spezielles Fachwissen.»
«Mein Fachwissen …» McKinney lehnte sich zurück und starrte ihn an. «Wer zum Teufel sind Sie?»
«Wir sind vom US-Militär.»
«US-Militär.»
«Ja.»
Sie beäugte sie skeptisch. «Nach US-Militär sehen Sie nicht gerade aus.»
«Das ist ja Sinn der Sache.»
«Ich will, dass Sie sich ausweisen. Jetzt.»
«So läuft das bei uns nicht.»
«Aber bei mir läuft es so. Ich bin da irgendwie komisch.»
«Wir sind diejenigen, die Sie eben vor dem sicheren Tod bewahrt haben. Das ist alles, was Sie über uns wissen müssen.»
«Woher soll ich wissen, dass Sie mich nicht gekidnappt, meinen Bungalow mit einer Stange Dynamit in die Luft gejagt und ein Video mit ein paar eindrucksvollen Drohnenszenen zusammengeschnitten haben?»
Odin blickte nach hinten zu Foxy.
Foxy sagte achselzuckend: «Da ist was dran.» Er setzte die Kora ab und kramte in seiner Ledertasche. Zog einen Ordner heraus und reichte ihn nach vorn.
Odin nahm den Ordner. «Es steht nicht in meiner Befugnis, Ihnen zu sagen, wer wir sind. Das könnte unsere Mission gefährden.» Er entnahm dem Ordner ein Blatt Papier, blickte kurz drauf und hielt es ihr dann hin. «Kennen Sie irgendeine dieser Personen, Professor McKinney?»
Noch immer gereizt, zögerte sie, ehe sie das Papier nahm. Es war ein Ausdruck der Titelseite der New York Times von vor ein paar Tagen. Die Schlagzeile lautete: SECHS TOTE BEI ANSCHLAG IN STANFORD. Die Namen einiger Opfer waren gelb markiert: Lei Li, Vijay Prakash, Gerhard Koepple …
«Gott, jetzt hat es auch in Stanford einen Anschlag gegeben?»
«Kannten Sie diese Forscher oder ihre Arbeit?»
«Nein. Nie gehört.»
«Sind Sie sicher, Professor? Nie jemandem von ihnen auf einem Kongress begegnet? Nie irgendwas von ihren Publikationen gelesen?»
«Nein. Ganz sicher nicht.»
Odin nahm das Blatt wieder an sich. «Sie haben mit diesen Forschern eines gemeinsam, Professor. Deren Arbeit und Ihre wurden auf einem Dateiserver in Shenyang, China, gefunden, einem Teil einer Spionagepipeline, die Spitzentechnologieforschung aus dem Westen abgezapft hat. Zuerst hatten wir die nordkoreanische Einheit 21 im Verdacht, eine Cyberkriegtruppe, aber dorthin führt die Spur nicht.»
Sie war sprachlos.
«Diejenigen, die die Forschungsergebnisse der Stanford-Leute gestohlen haben, haben auch Ihre gezielt abgegriffen.»
«Aber meine Forschung ist nicht geheim. Ich habe meine Ergebnisse der Wissenschaftsgemeinde zur Verfügung gestellt.»
«Diese Leute hatten Ihre Ergebnisse und Methoden aber schon, bevor sie veröffentlicht waren. Was heißt, sie sind ins Cornell-Netzwerk eingebrochen. Was wiederum heißt, Ihre Arbeit ist einer der beiden Forschungsansätze auf der Welt, an denen sie interessiert waren. Wir haben Spezialisten auf den Netzwerkeinbruch in Cornell angesetzt, aber mir geht es um die Art der wissenschaftlichen Erkenntnisse, die Ihnen diese Leute entwendet haben. Was auch immer diese Leute planen – nachdem sie jetzt versucht haben, Sie zu töten, wissen wir, wie wichtig Ihre Ergebnisse für diese Pläne sind.»
«Das ist doch Wahnsinn. Ich erforsche Insekten.»
«Sie entwickeln im Zuge Ihrer Forschung Computer-Verhaltensmodelle.»
«Ja. Simulationen – ich modelliere die Sozialsysteme bestimmter Insektenarten.»
«Gerade entwickeln Sie ein Computermodell, das das Schwarmverhalten von Weberameisen simuliert.»
Sie taxierte ihn. «Und darauf haben die es abgesehen?»
«Ihre Arbeit ist von direkter praktischer Relevanz für eine Strategie, die Feinde der USA derzeit verfolgen. Ich bin hierhergekommen, um Sie zu briefen, Professor McKinney.»
«Was heißt ‹briefen›? Worüber?»
«Über die Terroranschläge in den Vereinigten Staaten.»
«Was ist damit?»
«Es sind keine Terroranschläge.»
Sie starrte ihn an, sah sich dann um. Keine Hilfe.
«Seit einigen Monaten verübt jemand in den USA Drohnenangriffe. Es sind keine blinden Terrorakte. Es sind gezielte Morde, die der Eliminierung bestimmter Personen dienen. Das hier ist die neue Form der Kriegführung, Professor, und wir haben es mit einem technisch hochversierten Gegner zu tun. Jemandem, der verborgen bleiben will – und der glaubt, dass Sie zu viel über seine Systeme wissen.»
Wieder starrte sie ihn nur sprachlos an.
Er blickte mit undeutbarer Miene zurück.
Schließlich nickte sie bitter. «Haben Sie wirklich geglaubt, wir könnten einfach in anderen Weltgegenden Menschen aus der Luft mit Raketen töten, ohne dass es uns irgendwann heimgezahlt wird? Sie haben gegen internationales Recht verstoßen, und jetzt tun Sie erstaunt, wenn –»
«Wie dem auch sei –»
«Ich weiß es zu schätzen, dass Sie mich gerettet haben, aber ich will nicht hineingezogen werden in Ihre … Ihren Krieg oder was es auch ist. Ich betreibe Grundlagenforschung an der Natur.»
Er wurde ernst. «Ich bitte Sie von Mensch zu Mensch um Ihre Hilfe.»
«Ich habe aus gutem Grund alle militärischen Forschungsmittel abgelehnt. Ich will nichts mit diesem ‹permanenten Krieg› zu tun haben, von dem Sie und Ihresgleichen leben. Wir sollten ins Bildungs- und Gesundheitswesen investieren, nicht in den Krieg.»
Er blätterte in dem Ordner. «Sie unterstützen Menschenrechtsgruppen und Antikriegsorganisationen.»
«Und das macht mich für Sie wohl zu einer Art Verräterin.»
«Nein. Es macht mir Hoffnung, dass Sie uns helfen werden.»
«Das ist doch absurd.»
«Nein, ist es nicht.» Er beugte sich zu ihr. «Wir haben Grund zu der Annahme, dass diese feindlichen Drohnen ein Softwaremodell benutzen, das auf dem Verhalten von Weberameisen basiert. Ein Modell, das Sie entwickelt haben.»
Sie fühlte, wie Adrenalin durch ihren Körper schoss. «Mein Gott …»
Er blätterte ihr jetzt Farbfotos auf den Schoß. Bilder von verkohlten und zerfetzten Leichen, Verstümmelten und Verletzten an Anschlagsorten – darunter auch Kinder. «Dutzende unschuldiger Menschen sind umgekommen. Politiker, Wissenschaftler, Menschenrechtsaktivisten, Manager, Studenten. Jemand hat Amerikas Abwehreinrichtungen unterlaufen, um diese Personen zu töten. Und es sterben jede Woche weitere. Sie müssen mir sagen, wie man das stoppen kann.»
Sie blickte entsetzt auf die Fotos und suchte nach irgendeiner Antwort. «Aber ich … ich habe keine Ahnung, wie meine Ergebnisse dazu –»
«Sagen Sie mir, warum jemand eine Maschine ausgerechnet mit den Denkmechanismen von Weberameisen ausstatten wollen könnte. Was ist an denen so Besonderes? Warum Weberameisen?»
Ihr war übel und zum Heulen, als sie auf das Foto von einem toten Kind sah. In der Nähe lag ein verbogener, verbrannter Kinderwagen. «Weil die Weberameise höchstwahrscheinlich die kriegerischste Kreatur auf dieser Welt ist.»