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24

Myrmidonen

Linda McKinney verbrachte ihre Tage damit, bei dem warmen, trockenen Wetter auf Lalenias Rancho umherzuwandern, mit einem Stecken als Stütze und zugleich zur Verteidigung gegen streunende Hunde. Ihre Kräfte kehrten zurück, und sie konnte schon wieder beträchtliche Strecken gehen. Erstaunlich, wie durch ein so kleines Loch beinahe ihr Leben aus ihr herausgeströmt wäre.

Aber was war das für ein Leben, das ihr geblieben war? Wo konnte sie hin? Sie versteckten sich jetzt schon zwei Monate hier in Mexiko, und es war bald März. Sie musste immer wieder daran denken, dass es keinen Weg nach Hause gab. Ob sie sie wohl für tot erklärt hatten?

Sie dachte an das Anti-Drohnen-Team – oder das, was noch davon übrig war. Foxy war nach Mexico City geflogen, um Kontakt mit Informanten aufzunehmen, Waffen zu kaufen oder das Flugzeug zu verkaufen – Genaues wollte ihr niemand sagen. Tin Man war weg, um seine Beinverletzung von Spezialisten behandeln zu lassen. Und Odin und Mouse waren meistens zusammen in irgendwelchen undurchsichtigen Angelegenheiten unterwegs. Sie sah Odin kaum.

War das jetzt ihr Leben? Als Exilamerikanerin, die sich im ländlichen Mexiko versteckte? Sie fragte sich, wann die Jagd wieder losgehen würde. Ob überhaupt.

Während sie nachdachte, wanderte sie weiter, den Blick am Boden, wie es ihr in zehn Jahren Feldforschung zur Gewohnheit geworden war. In letzter Zeit beobachtete sie Argentinische Ameisen – Linepithema humile. Sie bemerkte eine Straße der winzigen Insekten und folgte ihr zum Nest. Obwohl so viel kleiner, waren es wohl diese Lebewesen, die den Weberameisen die Zukunft streitig machen würden. Aus einem einfachen Grund: Sie hatten sich zu einer einzigen Superkolonie entwickelt, die sich über Kontinente erstreckte – mit Billiarden von Koloniemitgliedern und wahrscheinlich Millionen Königinnen. Sie waren der Wal-Mart-Konzern unter den Ameisen – ein riesiges multinationales Unternehmen. Selbst wesentlich aggressivere Arten konnten nicht alle Argentinischen Ameisen töten, und irgendwann wurde ihnen einfach jede Nahrung weggefressen.

Die Argentinischen Ameisen schadeten der Biodiversität. Andere Insektenarten unterlagen ihrer Invasion, und die Vogelarten, die sich von diesen Insekten ernährten, litten ebenfalls – und so weiter, die Nahrungspyramide hinauf. Offenbar waren die Menschen nicht die Einzigen, die ihr Ökosystem zerstörten, indem sie zu erfolgreich waren.

Aber irgendwie schien McKinneys Begeisterung für Schwarmintelligenz beträchtlich abgekühlt. Jetzt war das alles nicht mehr akademisch. Wie lange noch, bis die Weberameisendrohnen auch anderswo auftauchten? Sie versuchte nicht darüber nachzudenken.

Sie wanderte einfach nur weiter. Auf einem Pfad am Rand eines Orangenhains hörte sie plötzlich ein vertrautes Krah, und als sie sich umdrehte, sah sie einen von Odins Raben auf einem nahen Zaunpfahl sitzen. Er musterte sie neugierig. Sie bemerkte, dass er weder das Drahtheadset noch den Transponder trug. «Hallo, Munin. Wie geht’s?»

Der Rabe breitete die Flügel aus, plusterte das Kopfgefieder, krächzte und kam den Zaundraht entlanggehüpft.

Sie trat direkt vor Munin und stützte sich auf ihren Wanderstab. «Wo bist du gewesen?»

Der Rabe legte den Kopf schief.

Gleich darauf landete Hugin auf einem benachbarten Zaunpfahl.

«Hallo, Hugin.»

Beide Vögel krächzten zur Antwort, doch dann begann der erste, den neu angekommenen zu putzen, während dieser sanfte Kiek-kiek-Laute von sich gab. Es war fast, als liebkoste Munin Hugin.

«Für euch beide ist das hier wohl Urlaub, was? Eine kleine Vergnügungsreise nach Mexiko?»

McKinney beschloss, sie allein zu lassen, und ging weiter den Orangenhain entlang. Die Raben aber kamen mit, flogen in Etappen den Zaun entlang und dann über den Weg in eine Pfirsichplantage. Sie spazierten beide auf Ästen herum und interessierten sich sehr für ein Eichhörnchen, das faulende Pfirsiche vom Boden auflas. Einer der Raben beschloss offensichtlich, sich ein bisschen zu amüsieren, und zerrte mit dem Schnabel an einem noch festsitzenden Pfirsich, bis dieser über den Boden kullerte, wo sich das Eichhörnchen sofort darüber hermachte.

Fasziniert sah McKinney zu, wie die Raben geradezu entzückt im Geäst herumhüpften und klickende Geräusche von sich gaben. Sie fütterten Eichhörnchen einfach zum Spaß.

Bald aber wurde ihnen das Spiel langweilig; sie schwangen sich davon und flogen auf ein etwas weiter entferntes Wäldchen zu. McKinney sah ihnen nach, doch plötzlich kamen sie im Bogen zurück und krächzten ihr aus der Luft zu. Schwenkten wieder um und flogen erneut das Wäldchen an. McKinney beobachtete sie diesmal genauer. Die Vögel kommunizierten eindeutig im Fliegen miteinander. Faszinierend.

McKinney warf noch einen Blick auf die Argentinischen Ameisen und beschloss dann, für eine Weile Schwarmmodelle Schwarmmodelle sein zu lassen. Sie schlüpfte unterm Zaun durch und ging über eine Weide auf das zwei-, dreihundert Meter entfernte Wäldchen zu. Sie sah die Raben dort auf einem Ast sitzen, bis einer von ihnen herunterflog, vermutlich aufgelegt zu neuen Streichen.

Sie musste daran denken, wie sie nach ihrer Ankunft auf der Ancile-Basis in Kansas City die Gänge erkundet hatte. Da hatte Munin Alarm gegeben. Inzwischen schienen die beiden Vögel sie akzeptiert zu haben. Sie staunte selbst, wie sehr sie das freute.

Noch mit diesen Gedanken beschäftigt, folgte sie einem schmalen, aber gut ausgetretenen Pfad in das Wäldchen hinein. Weiter vor ihr bekrächzten die Raben irgendetwas. McKinney fragte sich, ob es töricht war, allein diesen Pfad entlangzugehen, aber die Anwesenheit der Raben war seltsam beruhigend. Sie klangen nicht alarmiert. Es war ihr normales Krächzen.

Bald schon kam sie an einen Bach, der in klaren Strudeln über rundgeschliffene Steine floss und in stillen Bassins die Bäume widerspiegelte. Und dort am Ufer stand, an einen Baum gelehnt, Odin.

Er starrte grimmig ins Wasser, offenbar tief in Gedanken. Als ein Zweig unter ihrem Fuß knackte, sah er erschrocken auf.

Dass er so überrascht war, verblüffte McKinney. «Ich dachte, Sie hätten überall Augen. Ihre Gefährten scheinen Sie diesmal im Stich gelassen zu haben.»

Er blickte stirnrunzelnd zu den Raben im Geäst über ihm hinauf. «Da gewöhnt sich jemand wohl ein bisschen zu sehr an Sie.»

Sie ging zu ihm und blickte aufs Wasser. «Schön hier. Davon wusste ich gar nichts.»

Er nickte.

Sie bemerkte, dass er einen Spiegel und eine Schere in den Händen hielt. «Was haben Sie vor?»

«Mir den Bart abrasieren.»

McKinney machte ein übertrieben schockiertes Gesicht. «Ach? Muss doch ewig gedauert haben, den wachsen zu lassen.»

Er nickte wieder.

«Weit scheinen Sie ja noch nicht gekommen zu sein. So schwer der Abschied?»

«Offenbar schon. Aber der Bart war für eine Mission, auf die ich zu viel Zeit verwandt habe.»

Sie musterte sein Gesicht und trat dann näher auf ihn zu, als er sich in dem winzigen Handspiegel zu sehen versuchte.

Er hielt inne. «Was ist?»

Sie streckte die Hand aus, und als er zögerte, nahm sie ihm die Schere ab. «Ich kann es besser sehen. Soll er ganz ab?»

Er nickte.

Sie begann zu schneiden und bemerkte etwas Grau im schwarzen Barthaar. Mehr und mehr begann seine kräftige, klar konturierte Kinnpartie sichtbar zu werden.

Sein Gesichtsausdruck war immer noch hart und ernst.

«Alles okay?»

«Sie werden irgendwann gegen uns vorgehen, und ich will die Menschen hier nicht mit reinziehen. Was heißt, wir müssen weg.»

«Wohin?»

Er schien um Antwort verlegen. «Das ist ja das Problem. Ich versuche eine Möglichkeit zu finden, wie Sie zurückkönnen.»

«Und Sie? Sie werden weiter diese Leute jagen, stimmt’s?» Sie schnitt weiter und erahnte jetzt allmählich erstmals sein eigentliches Gesicht.

«Mir bleibt keine Wahl.»

«Wissen Sie denn inzwischen irgendetwas darüber, wer hinter dem Ganzen steckt?»

«Das ist das andere Problem, aber es ist mein Problem.» Er sah sie an. «Tut mir leid, dass ich Sie da hineingezogen habe.»

McKinney schnipselte immer noch weiter. «Sie haben mir das Leben gerettet. Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.»

Er nahm das schweigend auf.

Sie trat einen Schritt zurück, fasste sein Kinn und drehte seinen Kopf hin und her. Sein Bart war jetzt millimeterkurz – Rasierlänge. McKinney wurde zum ersten Mal klar, was für ein attraktiver Mann David Shaw war, jetzt, wo sie sein ganzes Gesicht erkennen konnte. «Ohne diesen Bart sehen Sie viel besser aus.»

Sie ließ ihn los, und er prüfte ihr Werk im Spiegel, rieb sich über die Kieferpartie.

Er kniete sich hin und entnahm der Tasche zu seinen Füßen Rasierschaum und ein Klapprasiermesser. Als er sich wieder erhob, streckte sie die Hand aus.

«Lassen Sie mich das machen.»

Er beäugte sie skeptisch und hielt das Rasiermesser hoch. «Sie können mit so was umgehen?»

Sie nickte. «Ich war mal mit einem Schwimmer zusammen.»

Er sah sie komisch an.

«Fragen Sie nicht.»

Zögernd gab er ihr das Rasiermesser, zog sein T-Shirt aus und hängte es über einen Ast. McKinney bemerkte Narben auf seinem Rücken und seinen Schultern. Alte Verletzungen auf den Rippen, eine andere über dem rechten Schulterblatt. Sein schlanker, muskulöser Körper beugte sich geschmeidig, als er sich das Gesicht mit Wasser befeuchtete.

Er drehte sich zu ihr, und jetzt sah sie auch auf seiner Brust Narben; eine zog sich als haarlose Linie über seinen rechten Pektoralmuskel. Es war praktisch kein Gramm Fett an ihm.

Odin registrierte ihren Blick und deutete mit dem Kinn auf das Rasiermesser in ihrer Hand. «Und Sie kommen wirklich damit klar? Weil ich nämlich schon genug Narben habe.»

«Keine Sorge. Sind das alles Kampfverletzungen?»

Er sagte achselzuckend: «Bringt der Beruf so mit sich, wenn man ihn lange genug macht. Ich hatte mehr Glück als die meisten anderen.»

Sie zeigte auf die böse Narbe auf seiner Brust. «Was war das?»

Er blickte an sich herunter. «Trainingsunfall in Texas. Wir wurden über Bäumen abgesetzt. Mich hat ein Ast aufgespießt.»

Er registrierte ihren Gesichtsausdruck.

«Ach, Sie dachten, es wäre ein messerschwingender Terrorist gewesen?»

Sie nickte. «Dachte ich wohl.»

Er spritzte sich Rasierschaum in die Hand und verrieb ihn auf Kinn und Wangen. «Das ist diese hier …» Er zeigte auf seine Körperseite.

Sie lachte, klappte dann das Rasiermesser auf und hielt sein Kinn fest. «Bringen Sie mich nicht zum Lachen.» Sie sah in seine graublauen Augen und zog das Rasiermesser über seine Haut. Er zuckte mit keiner Wimper. «Wie können Sie jetzt zurückgehen, David? Wissen Sie denn überhaupt, hinter wem Sie her sind?» Wieder eine Bahn mit dem Rasiermesser.

«Ich kann nicht hier sitzen und zulassen, dass jemand eine Armee von autonomen Tötungsmaschinen aufbaut. Wir wissen doch, wo das hinführt.»

«Die werden Sie umbringen.»

«Vielleicht. Aber wenigstens habe ich es dann versucht.»

Sie rasierte jetzt zügig weiter. Sein Gesicht war noch attraktiver, als sie vorhin gedacht hatte. Sie studierte es einen Moment.

Aber vielleicht veränderte sich ja auch ihr Blick?

Sie beugte sich dicht an ihn heran, um das letzte bisschen Bart auf seinem Kinn abzuschaben, vorsichtig mit der kleinen Kinnspalte. Sie blickte auf seine Lippen, dann in seine Augen. Direkt vor ihr.

Und dann senkte sie das Rasiermesser und küsste ihn. Er erwiderte den Kuss augenblicklich. Sie ließ das Rasiermesser fallen, und im nächsten Moment waren sie in einer leidenschaftlichen Umarmung.

McKinney fühlte die Kraft seiner Arme, als er sie an sich zog. Es war lange her, dass sie mit einem Mann zusammen gewesen war, aber jetzt wurde ihr klar, dass sie sich von Anfang an zu ihm hingezogen gefühlt hatte – und ihn jetzt erst recht wollte. Als sie mit den Händen über seine Haut strich und seinen Geruch einsog, sah sie die Wärme in seinen Augen. Er ließ sie ein, und sie wollte eingelassen werden, wollte es so sehr.

Sie liebten sich am Bachufer, unter einer alten Eiche, und sie küsste die Narben an seinem Körper, und seine rauen Fingerkuppen fuhren die Narbe ihrer Schussverletzung nach.

Er flüsterte ihr sanft ins Ohr, als sie ihn in sich fühlte.

«Ich hab dich angelogen.» Er suchte ihren Blick. «Ich bin froh, dass du in diese Sache hineingeraten bist, Linda …»

Die Raben saßen über ihnen im Geäst und sahen neugierig zu.


Stunden später lagen McKinney und Odin auf der Hazienda im Bett. Sie hatten sich noch einmal geliebt, und sie fühlte sich verausgabt und erstmals seit vielen Wochen innerlich ruhig. Odin war ein einfühlsamer Liebhaber. Sie sah ihn im schwachen Lampenlicht an, den Arm über seiner Brust. Strich dann mit den Fingern über sein glattrasiertes Kinn. Er schien jetzt ein ganz anderer Mann. Nicht mehr der Taliban-Warlord oder ZZ-Top-Drummer. «Mein Gott, siehst du gut aus.»

«Es gab Streit, wer dich retten durfte. Ich musste meine Teamführerautorität geltend machen.»

«Mich retten? Ich bin gefährdeter denn je. Feine Rettung.»

Er zog sie an sich und küsste sie auf die Stirn. «Wir finden eine Lösung. Wir müssen eine finden.»

Sie legte den Kopf auf seine Brust. «Du hast da vorhin am Bach etwas gesagt, was mich beschäftigt.»

«Was?»

«Das mit den autonomen Tötungsmaschinen. Der Gedanke ist mir erst jetzt gekommen, aber wenn auf Insektenintelligenz basierende Maschinen weltweit zu Kriegszwecken eingesetzt werden, könnte das evolutionäre Sicherungsmechanismen aushebeln, die seit Jahrmillionen existieren. Von allen bekannten Lebewesen sind bestimmte Ameisenarten die Einzigen, die hemmungslos töten.»

«Aber der Holocaust? Oder Hiroshima?»

«Selbst das hatte ein Ende. Die Leute haben nicht immer weitergetötet. Und sie haben auch nicht jeden getötet, der sich ergab. Säugetiere sind nicht darauf ausgerichtet, ihre eigene Art auszulöschen; sie haben urzeitliche Kampf-, Flucht-, Droh- und Unterwerfungsmechanismen, die verhindern, dass sie sich gegenseitig ausrotten. Aber das durch ein Insektenparadigma zu ersetzen heißt Töten ohne Ausnahme. Es könnte die Entstehung eines selbstzerstörerischen Musters sein, das Jahrmillionen Evolution über den Haufen wirft – vor allem den Sicherheitsmechanismus, der Menschen daran hindert, unbegrenzt Artgenossen umzubringen.»

«Deshalb muss ich zurück.»

«Müssen wir zurück.»

Er sah sie an.

«Mit diesen Dingen kennt sich niemand so gut aus wie ich. Das weißt du, und das weiß ich. Und es ist nicht verhandelbar.»

Er musste leise grinsen, sagte aber nichts.

«Außerdem – du erinnerst dich, wie in Kansas City diese Experten versucht haben, bei den Opfern der Drohnenangriffe irgendein Muster zu finden?»

«Experte Drei und Experte Fünf.»

«Ja. Damals dachten wir noch, die Drohnenbauer seien Außenstehende, aber jetzt wissen wir, dass diejenigen, die da dahinterstecken, Leute innerhalb des Verteidigungskomplexes sind – oder zumindest Zugriff auf dieselben Daten haben wie dein Team. Vielleicht sogar noch auf mehr.»

«Ich verstehe nicht, inwiefern uns das weiterbringt.»

«Das Internet ist in gewisser Weise wie die Pheromonmatrix einer Ameisenkolonie: Populäre Botschaften werden verstärkt, weniger populäre verblassen. Das erzeugt Datenspuren, denen andere folgen können. Also musste ich an all die Daten denken, die über jeden von uns gesammelt werden – Einkaufsdaten, Telefonverbindungsdaten, soziale Medien, E-Mails und alles. Wenn nun eben die Systeme, die die privaten Sicherheitsunternehmen errichtet haben, um diese Daten zu unserer Sicherheit zu analysieren, in Wirklichkeit das Gegenteil getan haben? Wenn diejenigen, die hinter den Drohnenangriffen stecken, diese Daten benutzt haben, um Ziele herauszufiltern?»

Odin stützte sich auf den Ellbogen hoch und betrachtete sie. Er nickte nachdenklich. «Vielleicht hätten wir nicht nach Mustern unter den Opfern suchen sollen, sondern unter denjenigen, die zuletzt deren Datenspur überwacht haben.»

McKinney nickte. «Das könnte ein Ansatzpunkt sein.»

«Aber das wäre der Überwachungskomplex. NSA, Telekommunikation, Verbraucherdatenauswertung. Dazu haben wir keinen Zugang mehr, seit sie von der Existenz meines Teams wissen …» Er schien einem Gedanken nachzuhängen.

«Was denkst du?»

Er sah sie an. «Es gibt da jemanden, den wir besuchen müssen. Einen ganz üblen Burschen …»


Acht, neun Meilen außerhalb von Reynosa, Mexiko, und nah an der Grenze zu den USA standen Mouse, McKinney, Odin und die verbliebenen Teammitglieder tief unter der Erde auf dem Grund eines Bergwerkschachts in einem von Leuchtstofflampen erhellten Aufzugraum. Gelber Maschendraht umgab den Lastenaufzug, der sie hier abgesetzt hatte. An der Decke befand sich eine Art Laufschienensystem, offenbar um Lasten einen angrenzenden Stollen entlangzutransportieren. Der Fahrstuhlführer zog die Türen mit schallendem Gerassel zu. Die Elektromotoren sprangen jaulend an, und der Aufzug verschwand ohne sie nach oben.

Mouse, dessen Beinprothesen unter Jeans verborgen waren, marschierte selbstbewusst an mehreren knallhart aussehenden Mexikanern mit Sturmgewehren vorbei. Bizarrerweise trugen sie Jacketts und Seidenhemden. Die Männer nickten Mouse zu, als er das Team in den Stollen führte.

Sie waren von Kalitlen mehrere Stunden nach Norden gefahren, durch Gebiet, das von den Kartellen kontrolliert wurde, und schließlich bei einer unschuldig aussehenden Maquiladora angekommen, Schildern zufolge Scholl Manufacturing. Unter Mouse’ Führung waren sie durch mehrere von Schmuggler-Security bewachte Türen hierhergelangt.

McKinney sah sich um, während sie dem Stollen zu einem etwa hundert Meter entfernten verschlossenen Tor folgten. Die Laufschienen zogen sich über die gesamte Strecke. «Ich dachte, wir überqueren die Grenze.»

«Das werden Sie auch gleich tun.»

«Aber es sind doch Meilen bis dorthin.»

«Das macht die Sache ja so verlässlich. Willkommen im sichersten Tunnel in die USA. Über zweihundert Meter unter der Erde und sechzehn Meilen lang.»

«Guter Gott, sechzehn Meilen?»

«Keine Sorge, Professor, Sie müssen nicht laufen.»

«Haben das die Kartelle gebaut?»

Odin fasste sie am Arm, um sie weiterzubugsieren. «Unwichtig. Wichtig ist nur, dass das hier einer der verlässlichsten Wege in die Staaten ist, und wenn jemand etwas wirklich Gefährliches oder jemand wirklich Gefährlichen dorthin schmuggeln wollte, würde er diesen Weg wählen.» Odin deutete mit dem Kinn auf die Männer um sie herum. «Diese Leute erstatten Mouse Bericht. Sie arbeiten für ihn.»

«Mouse betreibt einen illegalen Tunnel in die USA?»

«Besser ein Tunnel, von dem wir wissen, als einer, von dem wir nichts wissen. Wenn man sie alle zumacht, graben die Kartelle einfach neue.»

«Je mehr ich über dieses Geschäft erfahre, desto weniger will ich wissen.»

Sie kamen an ein Stahltor. Mouse öffnete es und ließ das Team hindurch in einen dunklen, runden Tunnel von etwa drei Meter Durchmesser, der senkrecht zu dem Stollen verlief, aus dem sie kamen. Der Tunnel endete rechts von ihnen nach wenigen Metern, nach links aber ließ der Hall auf ausgedehnte Leere schließen. Schienen führten ins Dunkel, und vor ihnen stand an einem Betonbahnsteig ein gut drei Meter breites und zehn Meter langes Fiberglasfahrzeug, geformt wie ein Geschoss. Bis auf die Tatsache, dass es keine Fenster hatte, sah es aus wie ein Mini-Regionalzug.

Mouse öffnete einen Kasten an der Wand und legte Schalter um. Stück für Stück erwachte eine Kontrollkonsole auf einem Podest zum Leben: Dutzende von Knöpfen leuchteten auf. Das hier war offensichtlich eine hochtechnisierte Operation.

McKinney bemerkte Stromleitungen entlang der Wände. Ein leises Summen vibrierte durch den Tunnel. Und gleich darauf hob sich das Schienenfahrzeug mehrere Fingerbreit.

Sie nickte. «Sie betreiben eine illegale Magnetschwebebahn in die Staaten.»

Mouse machte sich jetzt an der Konsole zu schaffen. «Für Personenzüge mag so was vielleicht nicht wirtschaftlich sein, Professor, aber für harte Drogen ist es das mit Sicherheit. Und leise ist das Ding auch. Keine seismischen Erschütterungen bei den aufmerksamen Leuten drüben in McAllen, Texas.»

Ihre Neugier gewann die Oberhand, als sich die massiven grauen Türen zischend öffneten und den Blick in einen spartanischen, aber funktionalen Passagier- und Frachtraum freigaben. «Wie schnell ist diese Bahn?»

Mouse sah auf sie herab. «Sie kann fast zweihundert Meilen erreichen, aber Sie werden nur mit hundertzwanzig fahren. Da müssten Sie in etwa acht Minuten drüben sein.»

McKinney war beeindruckt. Ihre Sorge, dass sie in verborgenen Hohlräumen von LKWs die Grenze würden überqueren müssen, war verflogen.

Mouse nahm einen leichten Rucksack von der Schulter und öffnete ihn. Er reichte Odin etwas, das wie ein Stapel schwarzer Pässe in Plastikbeuteln aussah. «Kanadisch – zwei für jeden, falls eure erste Tarnung auffliegt. Außerdem ein paar Kreditkarten, aber Vorsicht damit. Ich kann nicht garantieren, dass die Nummern noch aktiv sind. Ach ja …» Er griff in den Rucksack und zeigte ihnen dicke Päckchen von Zwanzigdollarscheinen. «Für die operativen Kosten.» Er machte den Rucksack zu und reichte ihn Odin. «Die Jungs am anderen Ende stellen euch einen Minibus zur Verfügung, der auf eine Reality-TV-Produktionsfirma aus Toronto zugelassen ist, und ein paar Videokameras, damit habt ihr fast überall eine plausible Tarnaktivität.» Er blickte die Teammitglieder an.

Odin, Foxy und die Übrigen traten nacheinander auf ihn zu, umarmten ihn und klopften ihm auf den Rücken.

Am traurigsten schien Foxy. «Mouse, Mann. Wir stehen tief in deiner Schuld. Wieder mal.»

«Ihr schuldet mir nichts. Bringt einfach nur eure Mission zu Ende und verdient euren verflixten Sold.»

«Ich wollte, du kämst mit.»

Er sagte mit einem warmen Lachen: «Sonst noch was? Ich habe hier meinen eigenen Krieg zu führen. Findet die Schweine, und kommt heil wieder zurück – und passt auf die Frau Professor hier auf.»

McKinney umarmte Mouse ebenfalls.

Er musterte sie mit seinem einen Auge. «Denken Sie dran, was ich gesagt habe.»

Sie nickte. «Mache ich. Sagen Sie Lalenia viele Grüße. Ich hoffe, wir sehen uns alle bald wieder.»

Er salutierte, als sie in die Bahn stiegen und die Türen sich hinter ihnen schlossen.

Kill Decision
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