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Auge am Himmel
Kinshasa und Brazzaville waren typische Drittweltstädte des einundzwanzigsten Jahrhunderts: riesig – mit zusammen rund zwölf Millionen Einwohnern –, rapide weiterwachsend und vollgestopft mit jungen Männern und Schusswaffen. Als Hauptstädte benachbarter Staaten lagen sie sich an den Ufern des Kongo-Flusses gegenüber, bildeten aber einen einzigen großen Ballungsraum. Sie waren im Grunde die Leber Afrikas – hier wurde die Bevölkerung des gesamten Flusseinzugsgebiets durch einen gnadenlosen Darwin’schen Filter geschleust.
Um den Kern aus Kolonialzeit- und Firmengebäuden waren mangels planvoller Stadtentwicklung wildwuchernde Slums entstanden. Sie gehörten zu den kriminellsten und gefährlichsten Orten Afrikas.
Aus dem Westen war immer derselbe Refrain zu hören: Allein wirtschaftliche Entwicklung und Modernisierung könne etwas an diesen Problemen ändern. Aber Odin wusste, dass die moderne Welt im Gegenteil die Gewalt in dieser Region Afrikas verursachte. Das hing damit zusammen, dass sich in der Demokratischen Republik Kongo fast achtzig Prozent der weltweiten Vorkommen an Coltan befanden – dem Mineral des Informationszeitalters. Coltan war die industrielle Bezeichnung für Columbit-Tantalit, ein mattschwarzes Erz, aus dem sich die Elemente Niob und Tantal gewinnen ließen. Das Tantal aus dem Coltan diente zur Herstellung von Kondensatoren, die man für Handys, DVD-Spieler, Videospielsysteme und Computer brauchte. Und das zu einem Straßenpreis von hundert US-Dollar pro Pfund gehandelte Mineral finanzierte seit 1998 einen Bürgerkrieg, der inzwischen geschätzte fünfeinhalb Millionen Menschenleben gefordert hatte.
Doch das Informationszeitalter war in seinem Informationswesen selektiv, und ebenjene industrielle Welt, die den Konflikt anheizte, nahm diesen Krieg kaum zur Kenntnis. Die Amerikaner und Briten begannen sich erst dafür zu interessieren, als die kongolesische Regierung die Coltanminen verstaatlichen wollte – da wurde der Krieg auf einmal zur nicht hinnehmbaren humanitären Katastrophe. Jetzt schwelte er in Form von Dutzenden lokaler Glutnester vor sich hin, bereit, bei der erstbesten Gelegenheit wieder aufzuflammen. Diese Glutnester abwechselnd zu schüren und einzudämmen – das sorgte dafür, dass die einheimischen Strukturen instabil blieben und das Coltan weiterhin billig abgebaut wurde.
Es gab Westler, die das Leiden der wachsenden Drittweltbevölkerungen betroffen machte, aber Odin wusste, Mutter Natur war nun mal nicht der weichherzige Typ. In ihren Augen waren die stabilen Bevölkerungen der westlichen Länder vielleicht sogar ein Missstand – ein Verstoß gegen die ewige Ordnung der Dinge. Die Natur wollte nur eins: dass Organismen überlebensfähigen Nachwuchs produzierten. Danach war man genetisch tot. Die Natur konnte einen nicht mehr brauchen. Die ganze verlängerte Lebenserwartung, die vielschichtige Biographie, die man besaß, die Hummel-Figuren-Sammlung – das nahm alles nur Platz weg. Es war ein gigantischer kosmischer Witz: Fast das gesamte menschliche Leben stand in Widerspruch zur Logik der Natur.
Aus Sicht der Natur waren also Kinshasa und Brazzaville absolute Erfolgsmodelle. Glück und Zufriedenheit waren Mangelware, aber es gab jede Menge junger Leute, die darauf brannten, die Grundlagen für eine nächste Generation zu schaffen. Die Wut hier war von einer Art, die Odin in allen Slums dieser Welt gesehen hatte: perspektivlose junge Männer, die nicht einverstanden waren mit ihrer Situation. Bei der großen darwinistischen Reise nach Jerusalem gab es immer viele Leute, die keinen Sitzplatz abbekamen, wenn die Musik abbrach – und irgendein Schlaumeier hatte ihnen Waffen verkauft.
Das war es, was die meisten Konflikte auf der Welt hervorbrachte – der Wille der Menschen, zu überleben, es zu etwas zu bringen und sich fortzupflanzen. Mit dem «Bösen» hatte das nichts zu tun. Und Odin, der jahrelang mit solchen Konflikten zu tun gehabt hatte, wusste auch, dass die meisten Kämpfe nur Symptom eines grundlegenderen Problems waren: der Konkurrenz zu vieler Menschen um begrenzte Ressourcen. Und daran änderten auch Kriege nicht viel. Ruanda zum Beispiel war immer noch eins der dichtbevölkertsten Länder Sub-Sahara-Afrikas, auch nach dem Genozid. Das beste Mittel, diese Konflikte zu entschärfen, war es, den Frauen Zugang zu Bildung und Berufschancen zu geben. Unabhängigkeit. Wenn das erst mal griff, ließ das Bevölkerungswachstum nach, und echte Zukunftspläne wurden möglich.
Aber das war keine Strategie, die den Waffenherstellern gefiel.
Odin stand an der Besucherbarriere und studierte eine glimmende Konstellation von HD-Bildschirmen rund um den Kontrollraum. Wuchernde Slumsiedlungen brodelten unter den Eye-in-the-Sky-Plattformen vor sich hin. Eine Masse von Menschen, die nicht wussten, dass sie die Versuchskaninchen bei einem großangelegten Experiment waren.
«Haben Sie EITS schon mal in Aktion erlebt, Master Sergeant?»
«Nein, General.»
Ein uniformierter afroamerikanischer JSOC-Brigadegeneral stand in der Mitte des Kontrollraums, während an den meisten Workstations in den Arbeitsabteilen um ihn herum Kontraktkräfte mit grünen Sichtausweisen saßen. Der General nahm einen Schluck aus einem weißen Al-Qaida-Kaffeebecher. «Willkommen in Stuttgart. Was Sie hier sehen, ist nichts weniger als die Zukunft des Low-Intensity-Conflict-Managements.»
«Ich weiß es zu schätzen, dass Sie etwas Zeit für mich erübrigen konnten, Sir.»
«Die Activity zu unterstützen ist mir immer ein Anliegen.» Er blickte auf die Bildschirme an den Wänden. «Sie mögen ja zu einem anderen Kommandobereich gehören, aber unsere Systeme könnten bei Ihrer Art von Tätigkeit eine enorme Hilfe sein.» Der General streckte die Hand aus und drehte den Besucherausweis an Odins Umhängeband richtig herum. Darauf stand lediglich «Besucher».
«Ich bin sehr gespannt, Sir.»
Der General nahm noch einen Schluck aus seiner Al-Qaida-Tasse.
Odin hatte diese Tassen schon oft in Kommandozentralen gesehen. Sie waren bei den Etappenhengsten sehr gefragt. Al-Qaida war ja hauptsächlich eine Medienorganisation – mit einer Webpräsenz, die Ashton Kutcher vor Neid erblassen ließe. Sie versorgte Dschihadisten weltweit in regelmäßigen Abständen mit ihren Markenträgerfiguren und -produkten. Sie hatte sogar professionell gestaltete Zeitschriften und Zeitungen und eigene Podcast-Realityshows: mit westlicher Videobearbeitungssoftware produzierte Dschihad-Dokumentarfilmchen. Beide Seiten konnten auf die Ironie verweisen, wenn auch mit ganz verschiedenem Tenor. Wenn selbst Terroristen Franchise-Unternehmen betrieben, gab es ja vielleicht doch noch einen gemeinsamen Nenner.
Odin betrachtete wieder die HD-Bildschirme und die Reihen von Kontrollpultoperatoren. Dutzende von Leuten an Supportsystemen. «Man sagte mir, das hier sei ein Testbed – ein Prototyp –, aber es wirkt doch voll betriebsfähig.»
«Für einen begrenzten geographischen Bereich ja. Was Sie hier vor sich haben, ist ein Public-Private-Partnership-Projekt. Mit Hilfe wichtiger Partner aus dem privaten Sektor wurde diese Operationszentrale errichtet, um zu demonstrieren, wie ein wahrhaft übergreifendes Kommandosystem des einundzwanzigsten Jahrhunderts aussieht. Wir glauben, dass diese Technologie eine enorme Zukunft hat.»
«Wir, Sir?»
«Es ist schwer, keine proprietären Gefühle zu entwickeln. Meine Leute und ich haben viel Zeit und Mühe investiert, um sicherzustellen, dass dieses System realen Einsatzerfordernissen gerecht wird.»
Odin wusste eine ganze Menge über die in EITS integrierten Systeme, Gorgon Stare etwa und was die Kontraktfirmen des Verteidigungsministeriums noch so entwickelten: automatisches 3-D-Mapping von Drittweltstädten, Gebäude für Gebäude, oder ARGUS-IR, das autonome Echtzeit-Boden-Gesamtüberwachungs-Infrarotsystem. Es handelte sich um vernetzte, unbemannte Kamera-und-SAR-Plattformen – fliegende optische Systeme, die aus Einzelvideos hochdetaillierte Live-Aufnahmen ganzer Landstriche in Echtzeit zusammensetzten. Ein stets waches Auge, das ein digitales, dreidimensionales Modell der Realität im jeweiligen Augenblick lieferte.
Odin deutete mit dem Kopf zum Hauptbildschirm hinauf, der einen weiten Blick auf die rauchverhüllten Slums von Brazzaville zeigte – er hatte dort in den letzten zehn Jahren etliche Operationen durchgeführt. «Was haben wir da?»
«Sie erkennen es nicht?»
«Mit der Zeit sehen diese Drecklöcher alle gleich aus, Sir.»
Der General hob eine Augenbraue. «Der Ort ist nicht wichtig. Wichtig ist, was die Systeme können. Im Vergleich zu einer Plattform wie Gorgon Stare ist das Bildmaterial einer Predator-Drohne, als ob man Polaroidfotos durch einen gottverdammten Strohhalm schießt. Wir können auf jeden beliebigen Teil eines ausgedehnten Kampfgebiets einzoomen – jedes Flugsystem hat einhundertfünfundsechzig individuell gesteuerte hochauflösende Kameras. Mehrere Systeme können so vernetzt werden, dass sie zusammenhängende hochauflösende Überwachungsaufnahmen weiter Regionen in Echtzeit liefern. SAR erlaubt uns, durch Wolken und Dunkelheit hindurchzusehen. Das hier ist ein Auge, das alles sieht, Master Sergeant, und das permanent jedwede Aktivität am Boden aus einer Höhe von sechzigtausend Fuß aufzeichnet – weit über der Waffenreichweite dieser Populationen.»
Odin nickte. Die Namen aus der griechischen Mythologie trugen zweifellos das ihre dazu bei, den Eindruck eines unangreifbaren Olymps zu erwecken. «Die Technologie – wurde sie in den Staaten entwickelt oder –»
«Internationale Partnerschaft, aber in voller Übereinstimmung mit den DOD EAR-, ITAR- und OFAC-Exportkontrollbestimmungen. Unseren internationalen Partnern liegt genauso viel an erfolgreichen Antiterroroperationen unter den jeweiligen Regionalkommandos.»
«Und das sind Live-Bilder?»
«Ja. Alles, was Sie da auf dem Hauptscreen sehen, ist Realität live. Aber Live-Bilder sind noch das Geringste.» Der General ging zu einer Workstation, an der ein uniformierter JSOC-First-Lieutenant mit einem Headset saß – ein strammer blonder Bursche mit reiner Haut und guter Haltung. «Gartner, gehen Sie noch mal zurück zu der Lastwagensequenz in Sektor H-sechs, die wir eben gesehen haben.»
Der Lieutenant hielt das Video auf seinem Bildschirm an und tippte ein paar Koordinaten ein.
Der General sah ihm aufmerksam zu, sprach aber mit Odin. «Der entscheidende Unterschied zwischen EITS und früheren Überwachungssystemen ist, dass diese hochauflösenden Videoaufnahmen in einer Datencloud aufbewahrt werden, was es Analysten ermöglicht, das ganze Kampfgebiet ‹zurückzuspulen› und zu sehen, was an einem bestimmten Ort im zeitlichen Verlauf vor sich gegangen ist.»
Das Bild auf dem Monitor des Lieutenants zoomte auf einen kleinen Winkel des riesigen Slums. Leute gingen vorüber, erstarrten dann aber mitten im Schritt. Das Video spulte zurück: Menschen und Fahrzeuge sausten rückwärts, bis ein verschossen-roter Toyota-Pick-up ins Bild kam. Das Video stoppte und lief dann wieder vorwärts, zeigte, wie mehrere bewaffnete Männer Kisten auf die Ladefläche des Wagens hievten.
Lieutenant Gartner war solche Vorführungen mit dem General offensichtlich gewöhnt. Er schien genau zu wissen, was sein Vorgesetzter sehen wollte, und arbeitete synchron zu dessen Erläuterungen.
«Wir können Gesichter heranholen …»
Auf dem Monitor war es schon geschehen.
«… und sogar die Ansicht drehen.»
Die Perspektive wanderte bereits um die Männer herum, nicht in einer durchgehenden Fahrt, sondern in Fünfzehn-Grad-Sprüngen.
Trotzdem, es war eine beeindruckende technische Leistung. Odin zeigte keine Regung. «Wie weit können Sie zeitlich zurückgehen?»
«So weit, wie wir Speicherplatz dafür aufwenden wollen. Wir können sogar bestimmte Bereiche für die Langzeitspeicherung markieren. Problempunkte.»
Das Bild zoomte schon auf die Übersicht aus. War jetzt wieder live.
«Wir können mit bestimmten Algorithmen die menschliche Aktivität parsen – den Puls und Charakter eines Ortes ermitteln. Das automatisieren, was wir ‹Lebensmuster-Analyse› nennen. Einen Fingerabdruck, eine Signatur der normalen Abläufe einer Stadt erstellen. Luftgestützte persistente Video-Mustererkennungssysteme werden die Rolle bei solchen Überwachungsmaßnahmen spielen – Bayes-Modelle …»
Noch während der General dies sagte, sah Odin, wie sich ein Gewimmel von glimmend roten Punkten und Quadraten über die Stadt legte – es hatte etwas von Ameisen.
«Dieses Layer repräsentiert beobachtbare menschliche Aktivität. Die Punkte sind Menschen, die Quadrate Fahrzeuge. Im Zeitverlauf unterscheidet das System, welcher Teil des Bildes statische Stadt ist und welcher dynamische menschliche Aktivität. Das ist aber noch nicht alles. Innerhalb dieses Menschliche-Aktivität-Layers sammelt EITS mit der Zeit Erkenntnisse über diejenigen Muster menschlichen Lebens, die das normale Hintergrundrauschen der Stadt darstellen – die Norm. Welche Bewegungsmuster von Ort zu Ort werden Tag für Tag eingehalten – wobei jeder getrackte Punkt einen Tripmarker repräsentiert, der in die Datenbank aufgenommen wird. Das Gesamtgewebe dieser Trips ergibt dann ein Verhaltensmuster. Wie konsistent ist dieses Muster? Welcher Teil der Bewohner hält sich an eine Routine, bewegt sich nach einem generellen Zeitplan zwischen gleichbleibenden Orten? Welcher Teil der Bewohner hat keine solche Routine? Das erlaubt es, uns auf Zonen verdächtiger Aktivität zu konzentrieren, einen gemeinsamen Punkt irgendwo in der Stadt, wo sich Individuen, die an früheren ‹Problempunkten› anwesend waren, später versammeln könnten, einen Ort, der der Schlupfwinkel einer Aufständischengruppe sein könnte – die Art von Erkenntnissen, die Ihre Leute bislang durch HUMINT gewinnen mussten. Jetzt erschließt sie uns ein System, das die Gesamtheit der menschlichen Aktivität beobachtet. Sie sich merkt. Ein System, das alles sieht und nichts vergisst.»
Odin betrachtete den Bildschirm, auf dem Lieutenant Gartner den Lobgesang des Generals aufs eindrücklichste visuell untermalte. Odin schien tief in Gedanken. «Bei unseren Aufklärungsaufgaben geht es gewöhnlich darum, ein bestimmtes Individuum zu orten, und dafür reicht Handy-SIGINT. Unsere Knöpfchendreher können bekannte Stimmenmuster isolieren und dann –»
«Sie meinen, solange sich bemannte Horchflüge über dem Zielgebiet durchführen lassen. Wir machen das bereits mit unbemannten Luftschiffen, die wochenlang in der Luft bleiben können.» Der General schob Lieutenant Gartner beiseite und klickte sich durch ein paar Menüs, um ein anderes Informationslayer zu öffnen.
Der Screen wechselte jäh zu einem neuen Feld von Hunderttausenden mehr oder weniger dicht formierter Punkte, die sich durch die Stadt bewegten.
«Sämtliche Handys samt IMEI und der jeweiligen Basisstation. Dieses System vereinfacht das Abhören. Wählen Sie einfach nur das gewünschte Handy aus» – er zoomte ein und klickte auf eine Seriennummer, die sich gerade durch das Zentrum von Brazzaville bewegte – «und Sie können die Gespräche der betreffenden Person aufzeichnen.»
Gesprächsfetzen in einer fremden Sprache kamen über die Lautsprecher.
Der General überließ die Tastatur wieder Gartner und drehte sich zu Odin um. «Eine Kombination von persistenter Telekommunikations- und Videoüberwachung mit der Möglichkeit, zeitlich zurückzugehen und zu sehen, was an einer bestimmten Straßenecke vor zwei Monaten passiert ist, als Sie noch gar nicht wussten, dass es sich bei jemandem um eine relevante Person handelt.» Der General deutete auf ein Bild der riesigen Stadt, übersät mit Punkteclustern. «Dieses System zeigt die Social Map einer ganzen Stadt anhand der Kommunikations- und Geolokationsdaten ihrer Bewohner …»
Lieutenant Gartner vernahm sein Stichwort und ließ ein aus Verbindungsdaten gewonnenes Diagramm auf dem Bildschirm erscheinen – ein dichtes Geflecht, das das Beziehungsnetz der Stadtbewohner abbildete.
Der General ging auf und ab und gestikulierte zum großen Bildschirm hin, während er mit einem guteinstudierten Monolog loslegte. «Eine detaillierte soziale Enzyklopädie. Automatische Erkennung verdächtiger Aktivität …»
Gartner sorgte dafür, dass auf dem großen Bildschirm genau das passierte: Man sah, wie eine Horde junger Kongolesen Autoreifen, die den Rumpf eines anderen Mannes umschlossen, mit Benzin übergossen und anzündeten – mit entsetzlichen Folgen.
«Jetzt haben wir nicht nur die Handys dieser Gruppe, sondern auch die Gesichter.» Das Bild zoomte auf einen Anführer mit Sonnenbrille und Barett ein. «Die Anführer. Ihre Fahrzeuge. Die Schergen – kurz, alles.»
Hier war eine Menge Geld geflossen, dachte Odin. In Vietnam hatte es im Schnitt fünfzigtausend Kugeln gebraucht, um einen Vietkong-Kämpfer zu eliminieren. Hatte sich der Einsatz hierbei noch erhöht? Und wie hoch war die Falsch-positiv-Quote? Wie viele Nichtaufständische – Leute, die einfach nur nicht das richtige Bewegungsmuster zeigten – wurden vom System markiert und wegen vermeintlicher oder prognostizierter Verbrechen Sicherheitsdiensten oder Kontrakt-Killerkommandos ausgeliefert? Es war gewiss nicht im Interesse der Betreiber zuzugeben, dass ihr System Fehler machte.
Natürlich wusste Odin, dass ein System wie EITS nicht dazu gedacht war, Konflikte zu lösen. Es sollte sie lediglich managen. Die Gewalt lange genug unorganisiert, kanalisiert und isoliert halten, um die ungestörte Ausbeutung von Ressourcen zu ermöglichen. Wenn das getan war, würde man die Einheimischen wieder sich selbst überlassen. Durch dieses System wussten sie mehr über die Einheimischen, als diese selbst über sich wussten. Und das war nur der Anfang. Es gab keinen Grund, warum das System nicht überall angewandt werden konnte – auch in Amerika, das war Odin klar. Die Frage war nur, ob es dort bereits implementiert war und, wenn ja, ob ganz oder nur teilweise.
Odin unterbrach den General mitten im Redefluss. «Man hat mir gesagt, dieses System beinhalte auch eine autonome Luftschlagskapazität, General. Ist das der Fall?»
Der General zögerte, trank von seinem Kaffee und nickte dann. «Wir wissen doch beide, dass autonome tödliche Waffensysteme unausweichlich sind, Sergeant. Im Augenblick setzen wir jedoch über diesem Operationsgebiet noch keine bewaffneten Systeme ein. Dies ist eine reine Überwachungsplattform.»
«Aber autonome Drohnen sind Teil der Designspezifikation?»
«Für Überwachungszwecke, ja. Mittels unbemannter Systeme koordinieren wir die vollständige Erfassung des Zielgebiets.»
«Aber Waffen ließen sich integrieren?»
Der General stellte seinen Kaffeebecher ab und musterte Odin. «Die selbständige Tötungsentscheidung durch Drohnen ist ein heikles Thema, Master Sergeant. Auf absehbare Zukunft belassen wir einen Menschen in der Entscheidungsschleife.»
«Ist das hier derzeit die einzige aktive Implementierung des EITS-Systems, General?»
«Worum geht es Ihnen, Sergeant?»
Odin trommelte mit den Fingern auf die Besucherschranke, während er auf die Bildschirme blickte. Dann sah er den General an. «Wir wissen doch beide, dass die Tage der bemannten Kampfflugzeuge gezählt sind. Autonome Drohnen werden billiger, manövrierfähiger und leichter ersetzbar sein. Und ferngelenkte Drohnen werden gegen einen technisch hochentwickelten Gegner wie China, Russland, Iran oder Nordkorea nichts nützen – der wird einfach unsere Funksignale stören. Das heißt, wir müssen autonome Drohnen in unsere militärischen Einheiten integrieren. Zu Patrouillenzwecken und um auf feindliche Übergriffe zu reagieren.»
Der General nickte und griff wieder zu seinem Kaffeebecher. «Da sind wir uns einig. Die Frage ist nur, wann Washington zu dieser Einsicht gelangt.»
Sie musterten sich einen Moment lang schweigend, während Tastaturgeklapper und leiser Funkverkehr den Kontrollraum erfüllten.
Der General deutete auf die Bildschirme. «Beeindruckend, was?»
Odin betrachtete die Bilder. «Nur eins beschäftigt mich noch, General.»
«Und das wäre?»
«Amerika bezahlt die immensen Forschungs- und Entwicklungskosten für diese komplexen Systeme, und wenn diese dann entwickelt sind, könnten sie in die falschen Hände geraten. Und dann sind da die Sekundär- und Tertiäreffekte dieser Art von Technologie. Schleppnetzüberwachung erzeugt Opposition – den Widerstand einer Öffentlichkeit, die keine Technologieherrschaft will. Die Leute werden neue Wege finden, ihr zu entgehen, und es ist durchaus möglich, dass wir am Ende mehr Konflikte erzeugen, als wir ohne diese Systeme je gehabt hätten.»
Der General starrte ihn an.
«Nur so ein Gedanke …»