10
Dekonfliktualisierung
Linda McKinney starrte aus dem Fenster eines Büros auf einem Militärflughafen bei Wiesbaden. Jedenfalls hatten sie ihr gesagt, dass das der Ort war, an dem sie sich befand. Es war Nacht, niemand mehr in den Büros. Kein Start-und-Lande-Verkehr. Draußen erhellten grelle Natriumdampflampen das Vorfeld, wo Schnee über die Betonfläche wehte. Drinnen hing Weihnachtsdekoration an den Türrahmen. Fotos von Kindern standen auf den Schreibtischen.
Die Telefone waren tot. Tasten und Knöpfe zu drücken brachte gar nichts. Auch den Computern ließ sich kein Lebenszeichen entlocken. Sämtliche Festplatten schienen entnommen, und unter jedem Schreibtisch war ein abgeschlossener kleiner Safe. Die Schubladen waren ebenfalls abgeschlossen. Hier war alles gründlich dichtgemacht worden.
McKinney spreizte die Lamellen der Innenjalousie weiter auseinander, um mehr vom Vorfeld sehen zu können. Soldaten in Uniform und olivgrünen Parkas waren im böigen Wind zugange. Junge Amerikaner verschiedenster ethnischer Herkunft. Sie zeigten mit Fingern und redeten miteinander, während sie Paletten mit Armeematerial auf hydraulischen Hubwagen umherkarrten. Lachten gelegentlich, erkennbar an den Atemwolken in der kalten Luft. Was sie sagten, war durch die Doppelfenster nicht zu hören.
Es kam ihr unwirklich vor. Es war alles so schnell gegangen. In Tansania war jetzt gerade die heiße Trockenzeit, in der es mit den Forschungsarbeiten fertig zu werden galt, bevor die Frühjahrsregenzeit einsetzte. Hier schneite es. Sie fragte sich, was jetzt wohl aus ihrem Weberameisenprojekt werden würde, nachdem die Regierung sie entführt hatte. Sie hatte Jahre gebraucht, um die Mittel zu bekommen.
Ihr war klar, dass das egoistisch war, aber ein bisschen Selbstmitleid konnte sie sich nicht verkneifen. Andererseits hätte es viel schlimmer kommen können. Wenn Odin und sein Team sie nicht gerettet hätten, wäre sie jetzt tot und es gäbe gar kein Projekt mehr, Punkt.
Ihre Ergebnisse wurden also von irgendjemandem missbraucht, um Angriffe auf die USA zu verüben. Es hatte schon über hundert Tote gegeben. Sie sah die Fotos wieder vor sich, verbrannte Leichen, nicht die entschärften Nachrichtenbilder, sondern drastische Aufnahmen von grässlich verstümmelten Menschen. Was in den Medien all die Monate als Terroranschläge bezeichnet worden war, ging letztlich auf ihre Forschungsarbeit zurück. Und jetzt waren sie nach einem kurzen Flug zum Flughafen von Morogoro in eine wartende, ungekennzeichnete Gulfstream V umgestiegen und sieben Stunden hierher nach Deutschland geflogen. Sie hatte fast die ganze Zeit schweigend dagesessen. Wenigstens hatten sie sie mit ihren Gedanken allein gelassen.
Vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden hatte sie noch in glücklicher Ahnungslosigkeit auf einem harten, schmalen Bett in Afrika gelegen. Schwer zu fassen, dass ihre stickige, vollgestopfte kleine Hütte samt allem, was darin war – samt ihrer vorhersehbaren Zukunft – auf einen Schlag in Flammen aufgegangen war. Nichts schien mehr wirklich, auch nicht der Raum, in dem sie jetzt stand.
McKinney dachte daran, wie oft sie schon dieses surreale Gefühl gehabt hatte, plötzlich aus allem herausgerissen und ganz woandershin versetzt worden zu sein. Ins Unbekannte. Ihre gesamte Kindheit war davon geprägt gewesen. Ihr Vater war als Chemieingenieur in der Planung von Ölraffinerien tätig gewesen – ein Beruf, der ihre Familie rund um den Globus führte. Dadurch hatte sie schon früh ganz verschiedene Lebenswelten kennengelernt. Aufgeschlossen und neugierig, wie sie war, hatte sie davon profitiert, indem sie Insekten, Pflanzen und Freunde aus allen Erdteilen sammelte. Das war wohl der Grundstein ihres anhaltenden Interesses für die Menschen und Lebewesen dieser Welt. Bis heute pflegte sie Freundschaften aus ihren Jahren in Südamerika, Osteuropa, Afrika, Australien und Asien.
Ihre Kindheitserfahrungen hatten sie vor allem eins gelehrt: dass die Welt nicht voll von Gefahr war. Natürlich gab es manchmal Gefahren, aber das war nicht die Regel. Die Gemeinsamkeit aller Kulturen, die sie erlebt hatte, bestand darin, dass die meisten Leute anständig waren und einfach nur in Frieden ihre Kinder großziehen wollten. Dieser grundlegende Wunsch verband sie alle.
Deshalb war die derzeitige allgegenwärtige Angst in Amerika für sie ja so irritierend. Sie fühlte sich wie jemand, der von einer langen, horizonterweiternden Reise zurückkehrt und feststellen muss, dass ein alter Freund in der Zwischenzeit klinisch paranoid geworden ist. Sie erkannte Amerika kaum wieder.
Und jetzt sagte ihr dieser alte Freund, dass ihre Arbeit irgendwie zur jüngsten Bedrohung geworden war.
War das in irgendeiner Weise ihre Schuld? Sie hatte Primärforschung an der Natur betrieben. Haben wir jetzt schon Angst vor Ameisen? Die Ameisengesellschaft gab es schon zig Millionen Jahre – schwer vorstellbar, dass sie plötzlich so existenzielle Bedeutung erlangen sollte. Und wie zum Teufel sollte man Wissen kontrollieren – zumal in einer Welt, in der Amerikas technologischer Vorsprung rapide schrumpfte? Der Fortschritt der anderen war nicht aufzuhalten.
Es klopfte, und die Bürotür hinter ihr ging auf. Sie drehte sich gar nicht erst um. Der bärtige «Odin» trat neben sie. Auch er spreizte die Lamellen der Jalousie und blickte hinaus.
«Ihre Maschine ist demnächst startbereit.»
«Meine Maschine?»
«Sie fliegen zurück in die Staaten.»
Sie nickte düster. «Aha.» Sie hatten seit ihrem Gespräch an Bord der Otter kein Wort mehr gewechselt. Sie war zu schockiert und verwirrt gewesen. Doch in den Stunden seither hatte sie etwas rationaler über die Implikationen nachgedacht.
«Ich muss schnellstmöglich meinen Vater anrufen, um ihm zu sagen, dass mir nichts passiert ist. Die Telefonleitungen hier sind alle tot.»
«Sie begreifen die Situation nicht ganz.»
«Hören Sie, Odin – oder wie immer Sie heißen –, ich muss meinen Vater anrufen.»
«Strikte Abschottung. Bis auf weiteres ist Ihnen gemäß Titel zehn des US-Bundesgesetzbuchs jeglicher Kontakt mit Außenstehenden untersagt.»
Sie starrte ihn ungläubig an, versuchte aber trotz des aufsteigenden Zorns, Ruhe zu bewahren. «Es besteht kein Grund, mich so zu behandeln. Ich will Ihnen ja gern alles erzählen, was ich über mein Forschungsgebiet weiß, aber Sie müssen doch verstehen, dass ich gerade bei einer Explosion spurlos verschwunden bin. Meine Familie muss wissen, dass ich noch lebe.»
Er schüttelte den Kopf. «Das wird nicht möglich sein. Das US-Außenministerium hat Professor Linda McKinney für ‹nach einem Bombenanschlag in Ostafrika vermisst› erklärt. Es werde davon ausgegangen, dass es sich um einen Racheakt für Kerbela handle.»
«O Gott …» McKinney fühlte, wie ihr die Tränen kamen, wollte aber vor ihm keine Schwäche zeigen. Ihre Stimme klang belegt, kaum noch beherrschbar. «Der Tod meiner Mutter hat meinen Vater beinahe umgebracht. Sie haben ja keine Vorstellung, was das hier mit ihm macht. Bitte, lassen Sie mich –»
«Ich weiß, dass es noch schlimmer für ihn wäre, wenn Sie tatsächlich tot wären. Und da Foxy und ich den Hals riskiert haben, um Sie zu retten … aber, bitte, gern geschehen.»
McKinney versuchte, ihre Stimme unter Kontrolle zu bringen. Die Wut half. «Ich bin Ihnen ja dankbar, dass Sie mich gerettet haben, aber es gibt keinen Grund, warum ich nicht –»
«Es gibt hundert Gründe.»
McKinney starrte ihn an, schüttelte dann den Kopf. «Nein. Ich lasse mir von Ihnen keine Schuldgefühle einreden. Ich habe keine biochemischen Waffen entwickelt, sondern mich mit Ameisen beschäftigt. Wenn Leute Grundlagenforschung missbrauchen, ist das nicht mein –»
«Rationalisieren ist ein nützlicher Überlebensinstinkt, ändert aber, was mich betrifft, nichts.»
McKinney funkelte ihn finster an. Sie hatte das Gefühl, dass die Wände näher auf sie einrückten.
Er ließ einen Moment verstreichen. «Ich nehme an, Sie haben Fragen.»
McKinney atmete tief durch, um sich zu beruhigen. «Wohin fliege ich?»
«Sie sind einer geheimen Operation angegliedert worden. Unser Auftrag ist es, den Ursprung dieser Drohnenangriffe zu identifizieren. Wir glauben, dass Sie uns helfen können, das Verhalten dieser Dinger vorherzusagen, was es uns ermöglichen könnte, eins davon unversehrt in die Hände zu kriegen – mit seinem gesamten Quellcode –, was uns wiederum zu den Hintermännern führen könnte.»
Sie suchte nach einer vernünftigen Reaktion auf aberwitzige Umstände, fand aber keine. Nichts in ihrem erfahrungsreichen Leben hatte sie hierauf vorbereitet.
Er musterte sie, und sein hartes Gesicht wurde etwas weicher. Er bedeutete ihr, sich auf die Kante des Schreibtischs neben ihr zu setzen. «Kann ich Ihnen etwas Wasser holen oder eine Tasse Kaffee? Tee?»
Sie schüttelte den Kopf und lehnte sich an die Schreibtischkante.
Er setzte sich auf den Rand des Schreibtischs gegenüber und verschränkte die Arme. «Ich will Ihnen erklären, wie ich Sie gefunden habe. Vielleicht verstehen Sie dann, warum Sie momentan mit niemandem Verbindung aufnehmen sollten, der Ihnen etwas bedeutet. Diejenigen, die hinter diesen Drohnen stecken, wollen mit allen Mitteln unerkannt bleiben; ihre Anonymität verhindert, dass wir unsere Feuerkraft gegen sie richten. Und sie werden buchstäblich alles tun, damit es so bleibt – auch sich an Ihnen nahestehende Menschen halten, um an Sie heranzukommen.»
Sie nickte langsam. «Ich kann das alles ja nachvollziehen. Aber es ist so bizarr …»
«Wissen Sie, was ein ROM-Chip ist?»
«Ja, ich glaube schon.»
«Es ist ein Nur-Lese-Speicherchip. Enthält Maschinencode, Code, der Instruktionen für elektronische Geräte liefert. Vor ein paar Monaten hat ein Forensikteam des FBI nach einer Explosion in Texas ein kleines Trümmerteil aus einem Golfplatz-Teich gefischt. Es stammte von einer feindlichen Drohne, die sich in großer Höhe über Dallas selbst zerstört hatte.»
McKinney erinnerte sich an die Nachrichten damals. «Das habe ich mitgekriegt – die Ölmanager. Das war auch ein Drohnenangriff?»
«Alle neunzehn Anschläge waren welche. Und es gab noch ein Dutzend weitere, die nicht geglückt sind.»
«Mein Gott.»
«Das Wrackteil, das das FBI gefunden hat, enthielt eine handelsübliche Platine mit einem ROM-Chip darauf. Spezialisten des Verteidigungsministeriums haben den Chip in einen Logikanalysator gesteckt und den Maschinencode zu einer Art von Code dekompiliert, den Menschen lesen können. Es war die Spitze der Spitzentechnologie – Visuelle-Intelligenz-Algorithmen. Die Cyber-Defence-Leute haben gesucht, ob es irgendwo im öffentlichen Internet etwas Ähnliches gab. Sie haben den gleichen Code auf Warez-Sites in Russland und China gefunden – aber der Compiler-Fingerabdruck für die ausführbaren Dateien wies in die USA. Noch mal, das ist nicht mein Spezialgebiet, aber die Cyber-Warfare-Leute können Kultur-Codes, MAC-Adressen, Debug-Zeitstempelformate und Compilerpfade aus Programmdateien extrahieren. Das führte uns zu einem Projekt des Vision Lab der Stanford University.»
«Sie meinen diese Forscher, die getötet wurden.» McKinney begann sich jetzt auf die unmittelbare Situation zu konzentrieren. Es tat gut, Information aufzunehmen. Es lenkte sie von ihren Problemen ab.
«Ja. Zu diesem Stanford-Team gehörten Leute aus Russland, China und Indien – von denen jeder den Code hätte ins Ausland weitergeben können.»
Sie sah ihn ungehalten an. «Es hätte ihn auch ein Amerikaner verkaufen können.»
«Wie auch immer. Ich habe das Stanford-Team auf Umwegen wissen lassen, dass sein Code gestohlen und auf Warez-Sites gestellt worden war – um zu schauen, ob einer dieser Forscher Verbindung mit einem Händler aufnehmen würde. Das hat auch zu einem gewissen Grad geklappt, und wir konnten der Spur zu einem Server in Shenyang, China, folgen – wo wir auch Ihr Weberameisen-Softwaremodell entdeckten. So bin ich auf Sie gekommen.»
«Mir scheint, Sie haben sich etwas über den Teil der Geschichte hinweggemogelt, wie das Stanford-Team in die Luft gejagt wurde.»
Er schwieg einen Moment. «Es kann sein, dass keiner aus dem Stanford-Team ein Spion war. Der Projektleiter, ein Amerikaner, hat herausgefunden, dass ihr Netzwerk kompromittiert war, und es geschafft, die Spuren zurückzuverfolgen. Das erwies sich für unsere Ermittlungen als Goldgrube, aber er war leichtsinnig. Die Leute, die hinter dieser Sache stecken, haben sein Manöver bemerkt, und als das Team das nächste Mal zusammenkam, wurde es Ziel einer lasergelenkten Bombe.»
McKinney sah ihn stirnrunzelnd an. «Er war leichtsinnig? Wusste er überhaupt, womit er es zu tun hatte? Haben Sie ihn gewarnt?»
«Dafür war keine Zeit, Professor.»
«Durch Ihre Einmischung sind all diese Leute umgekommen.»
«Das hier ist ein Krieg. Da gibt es nun mal Opfer.»
«Nur keine Selbstzweifel.»
«Nach meinem damaligen Wissensstand konnten sie mit diesen Drohnenangriffen zu tun haben. In diesem Fall hätte ihnen eine Warnung die Möglichkeit gegeben, sich in alle Winde zu zerstreuen und ihre Spuren zu verwischen.»
«Woher wissen Sie, dass ich nichts mit diesen Angriffen zu tun habe? Ach, ja – ich bin eine weiße Amerikanerin, also muss ich unschuldig sein. Ich bin aber in allen möglichen Weltgegenden aufgewachsen. Vielleicht wurde ich ja in einer Madrasah auf die Seite des Bösen gezogen.»
«Sind Sie fertig?»
«Ich hoffe, der Rest Ihrer Mission hat mehr Sinn und Verstand als das, was Sie mir bisher erzählt haben.»
In seinem Blick lag jetzt eine gewisse Gereiztheit. «Ich habe bei den Stanford-Leuten einen Fehler gemacht, und ich musste Sie finden, bevor die Drohnenbauer Sie erwischen würden. Ich bin dafür verantwortlich, dass das Stanford-Team umgebracht wurde, das weiß ich. Wir tun, was wir können, Professor, mit unvollständigen Informationen und extrem wenig Zeit.»
McKinney hob seufzend die Hände. «Ich wollte nicht sagen, dass Ihnen diese Leute gleichgültig waren.» Sie suchte immer noch nach einer Logik in dem Ganzen. «Aber es sind doch Tausende von Schwarmalgorithmen unterwegs. Warum wollten diese Leute ausgerechnet meine? Ich bin doch wohl kaum die Expertin für Schwarmintelligenz.»
«Vielleicht geht es ja speziell um die Weberameisen. Um Aggression. Vielleicht haben sie durch Zufall Ihre Algorithmen genommen oder weil es sich anbot oder weil es da irgendeinen Zusammenhang gibt, den wir noch nicht sehen. Wenn man auch nur ein bisschen was über die Strategien unserer geopolitischen Rivalen weiß, ist klar, dass Schwarmverhalten ein zentrales Thema ist. Diejenigen, die diese VI-Software benutzt haben, um einer Drohne Augen zu geben, haben auch vor, Ihre Software zu benutzen, um diese Drohnen zu einem geschlossen agierenden Kampfverband zu machen. Zu einem anonymen Schwarm, der es uns unmöglich macht, gegen die wahren Angreifer vorzugehen.»
McKinney stutzte, fixierte ihn dann. «Sagten Sie gerade, sie haben vor, meine Schwarmalgorithmen zu benutzen? Hieß es nicht vorher, sie hätten mein Weberameisenmodell bereits eingesetzt?»
Odin verzog keine Miene. «Ich habe Ihnen erzählt, was nötig war, um Sie möglichst problemlos unter US-Jurisdiktion zu bringen.»
McKinney fühlte Wut in sich aufsteigen. «Herrgott!» Sie marschierte ärgerlich auf und ab. «Jetzt kapiere ich. Sie laden mir die moralische Last auf, am Tod von hundert Menschen beteiligt gewesen zu sein, nur damit ich vor lauter Schuldgefühl brav alles mitmache. Sie manipulatives Arschloch!»
«Professor, beruhigen Sie sich. Das ändert nichts an der Sachlage.»
«Was haben Sie mir noch alles nicht erzählt?»
«Eine ganze Menge.»
«Das geben Sie zu?»
«Dies ist ein Kampf auf Leben und Tod. Da ist keine Zeit für Schnickschnack.»
«Wie beispielsweise Ehrlichkeit. Wie praktisch für Sie! Das ist das Problem bei all diesen Kriegen, in die Sie und Ihresgleichen uns verwickeln.»
«Gerade Sie als Biologin sollten doch wissen, dass Konflikte zu den Grundkonstanten des Lebens gehören. Konkurrenz ist nun mal das Mittel der Evolution.»
«In der Evolutionsbiologie geht es um wesentlich mehr als nur ums Überleben der Tauglichsten – auch wenn das anscheinend das Einzige ist, was jeder kennt. Alfred Russel Wallace, übrigens ein Zeitgenosse Darwins, hat ein interessantes Detail ergänzt: nämlich dass der Mensch ein soziales Wesen ist. Dass wir uns im Wechselspiel mit anderen weiterentwickeln, als Teil eines Gewebes von interagierenden Lebewesen, die aufeinander angewiesen sind. Auf der Welt geht es nicht nur um Konkurrenz und Dominanz. Und evolutionärer Erfolg ist eher eine Folge von Kooperation als von Konkurrenz. Genau das ist Zivilisation – Kooperation.»
«Und wenn nicht genug für alle da ist, wer überlebt dann? Wer darf sich fortpflanzen? Wie wird das in der Natur entschieden?»
«Wir müssen danach streben, mehr als nur Tiere zu sein – denn im Unterschied zu Tieren haben wir Menschen das Potenzial, die Erde zu zerstören. Wir sind bereits dabei, sie zu zerstören, und was Sie tun, trägt dazu bei.»
Odin sah sie finster an. «Sie brauchen mich nicht zu mögen, Professor. Aber ich kann Ihnen aus persönlicher Erfahrung sagen, dass es in jeder Population kriminelle Elemente gibt – Leute, die alles tun werden, um Macht zu erlangen und zu behalten. Diejenigen, mit denen wir es hier zu tun haben, sind solche Leute, und sie bauen sich eine Roboterarmee, die alles tut, was sie ihr befehlen. Ich möchte, dass Sie uns helfen, sie aufzuhalten.»
Sie starrte ihn an, sah dann schließlich weg. Es hatte gutgetan, ihrem Ärger Luft zu machen, aber es änderte nichts an ihrer Situation. «Und wer sind Sie? CIA?»
«Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass diese Frage sinnlos ist.»
«Sie verlangen von mir, dass ich blind irgendwelche Befehle befolge. Ich darf nicht mal fragen, von wem sie kommen – und Sie haben mich schon mal belogen. Sie wollen, dass ich mich wie eine gehorsame Maschine verhalte. Tun Sie nicht genau das Gleiche wie diese Leute?»
Er schaute sie schweigend an.
«Es ist eine Frage des Vertrauens, Odin. Und ich vertraue Ihnen nicht. Sie haben mir keinen Anlass dazu gegeben. Woher soll ich wissen, dass Sie sind, was Sie zu sein behaupten?» Sie deutete auf das Büro um sie herum. «Und als ob das US-Militär noch nie etwas Unmoralisches oder Unethisches getan hätte. Überzeugen Sie mich. Überzeugen Sie mich, oder werfen Sie mich ins Gefängnis – weil ich niemandem helfen werde, dem ich nicht vertraue.»
Er fuhr sich durchs lange, widerspenstige Haar. «Herrgott, Sie sind wirklich ein harter Brocken. In Ihrer Akte stand schon, dass Sie schwierig sein würden.» Er stöhnte. «Also gut. Wir sind eine Elite-Aufklärungseinheit der US Army.»
«Spezialkräfte.»
«Nein. Die Existenz von Spezialkräften ist allgemein bekannt. Uns gibt es offiziell nicht.»
«Delta Force …»
«Nein. Nicht Delta Force. Das ist eine Terrorismusbekämpfungseinheit. Wir gehen vor denen rein. Allein und in aller Stille. Wir stellen fest, was am Boden Sache ist. Das ist alles, was ich versuche, Professor.»
McKinney beäugte ihn misstrauisch. «Was ist Ihr Dienstgrad?»
«Wofür ist das wichtig?»
«Ich will wissen, mit wem ich’s zu tun habe.»
«Ich bin Master Sergeant.»
«Sie schicken einen Sergeant? Ich hätte doch gedacht, die Hintermänner der Drohnenangriffe auf die USA ausfindig zu machen wäre mindestens einen Lieutenant wert.»
«Was ist das, Klassendünkel?»
«Nein, aber Offiziere gehen doch auf eine Militärakademie, wo sie angeblich lernen, Menschen zu führen und komplexe Operationen zu managen – wo sie sich mit Ethik auseinandersetzen. Ich meine, ich forsche an Insekten und habe dafür mein halbes Leben lang gelernt und studiert.»
«Zu Ihrer Information, ich habe auf jede Beförderungsmöglichkeit verzichtet, um in dieser Einheit zu dienen. In meiner Einheit ist jeder vom Dienstgrad her Sergeant – und bleibt es während seiner gesamten Dienstzeit.»
Sie war verwirrt.
«Offiziere werden vom Kongress ernannt. Das heißt, verantwortlich für ihr Tun ist letztlich die Zivilregierung. Unteroffiziere sind nur der Militärführung unterstellt. Unser Dienstgrad hat mit dem Bloßstellungsrisiko für die Regierung zu tun.»
«Heißt, Sie treiben sich auf der ganzen Welt herum und brechen Gesetze, und wenn Sie erwischt werden, verleugnen die Sie.»
«Heißt, ich bin derjenige, der Probleme lösen muss, ob es dafür nun einen internationalen Gesetzesrahmen gibt oder nicht. Und für Drohnen gibt es keinen.»
McKinney nahm ihm ab, dass er die Wahrheit sagte, schon deshalb, weil die Antwort sie zur Weißglut brachte. «Uniform tragen Sie offensichtlich nicht.»
«Unsere Spezialität besteht darin, uns unauffällig zu bewegen.»
«Sind Sie schon mal auf den Gedanken gekommen, dass die Anwesenheit amerikanischer Einheiten wie Ihrer in anderen Ländern überhaupt erst der Grund für diese Drohnenangriffe sein könnte?»
«Und glauben Sie wirklich, dass die Welt ein friedlicher Ort wäre, wenn wir uns nur heraushielten?»
«Ich behaupte nicht, dass die Welt voller Einhörner und Regenbögen ist. Ich habe zehn Jahre in der Dritten Welt verbracht. Ich kenne mich aus mit Korruption und Gesetzlosigkeit. Ich bin die Patin eines Jungen, dessen Vater von Elfenbeinwilderern getötet wurde. Ich verstehe also durchaus, dass die Zivilgesellschaft von Leuten mit Waffen verteidigt werden muss – aber diese Leute dürfen nicht über dem Gesetz stehen. Und Sie haben mir gerade erklärt, warum Sie Sergeant sind – um besser internationale Gesetze umgehen zu können.»
«Okay. Sie vertrauen Ihrer Regierung nicht. Aber wenn Sie Drohnen in den Händen von Amerikanern für etwas Schlimmes halten, dann stellen Sie sich mal welche vor, die von Nordkorea oder Burma kontrolliert werden oder von Drogenhändlern oder Dominionisten oder von AT&T. Wenn Sie sich für internationale Gesetze in Bezug auf diese Roboterwaffen stark machen wollen, dann wünsche ich Ihnen allen viel Erfolg – aber bis ihr Zivilisten dieses Scheißproblem geregelt kriegt, müssen mein Team und ich uns darum kümmern. Für mich ist das keine verflixte Theorie, okay? Mir geht es darum, ob Menschen in zukünftigen Kriegen noch Kämpfer sein werden oder nur noch Ziele. Das ist mir verdammt wichtig, wahrscheinlich wichtiger als Ihnen, also wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie jetzt Ihre Bedenken hintanstellen und verdammt noch mal mit anpacken würden.»
McKinney war verdutzt: Offenbar hatte sie es doch geschafft, an seiner gelassenen Überlegenheit zu kratzen. Endlich. Sie nickte. «Okay. Schon gut. Wollte nur meine Karten auf den Tisch legen.»
«Danke.»
Foxy, der Albaner mit dem wilden Haar und dem Metal-T-Shirt, streckte den Kopf herein. «Klopf, klopf. Sorry, dass ich den Hochgeschwindigkeitsdatenaustausch unterbreche, aber das musst du dir anschauen, Odin.»
«Was?»
«Kabelnachrichten. Sie haben in Pakistan was gefunden.»
«Was?»
«Drohnen.»
«Heilige Scheiße.»
Odin sah zu McKinney hinüber, nickte dann. «Gleich mittenrein, Professor!»
Sie gingen zur Tür.
Odin deutete auf den Albaner. «Professor, das ist Foxy, mein zweiter Mann. Wenn Sie irgendwas brauchen und ich nicht da bin, reden Sie mit ihm.»
Foxy streckte ihr eine schwielige Hand hin. «Freut mich, Sie kennenzulernen, Professor. Wünschte, es wäre unter netteren Umständen.»
«Gleichfalls.»
Odin führte sie einen gefliesten Korridor entlang. Sie gelangten in einen spartanischen Aufenthaltsraum am Ende des Bürotrakts. Dort saßen auf robusten Sofas Mooch, Hoov und die Frau, die sie bereits gesehen hatte, jetzt im rotbraunen Hijab und einer schokoladenbraunen Abaya. Außerdem war da noch ein hellhäutiger Mann, klein und untersetzt, mit einem dichten rötlichen Bart – irischer oder schottischer Herkunft vielleicht. Alle blickten gebannt auf einen Fernseher, der in geneigter Stellung an der abgehängten Decke montiert war. Die Frau saß zurückgelehnt da, die in Sandalen steckenden Füße auf einem Couchtisch. Sie nickte McKinney zu.
Foxy sagte über die Stimme des Nachrichtenmoderators hinweg: «Werkstatthalle im guten alten Karatschi. Reverse-Engineering-Operation an amerikanischen Drohnenwracks. Die Story ist, dass die unbekannten Betreiber hinter dem Kerbela-Angriff stecken.»
«Wer hat sie gefunden?» Odin blickte ausdruckslos auf den Fernseher.
«Pakistanisches Militär. Möglicherweise ISI. Sie haben der CIA Bescheid gegeben.» Foxy zeigte auf die groben, amateurhaften Aufnahmen. «Da ist ein Predator-Heck. Im Hintergrund ein paar Reaper-Teile.»
Odin wandte sich ihm zu. «Getürkt.»
Foxy nickte. «Klare Sache.»
McKinney sah sie verblüfft an. «Warum glauben Sie, dass es ein Fake ist?»
«Zu perfekt. Eine amerikanische Drohne verübt eine Gräueltat, und eine Woche darauf finden wir eine ganze Scheune voller Beweise dafür, dass uns Aufständische etwas untergeschoben haben?» Odin schüttelte den Kopf, was die Länge seines Barts noch unterstrich. «Ich würde sagen, das ist eine Beeinflussungsoperation. Selbst wenn es stimmen sollte, wird es im Ausland kaum jemand glauben. Foxy, lass deine CIA-Kontakte spielen, krieg raus, wer da die Hühner hypnotisiert. Bis auf weiteres gehen wir davon aus, dass es eine Beeinflussungsoperation ist, die sich an die Inlandsöffentlichkeit richtet.»
Foxy fragte stirnrunzelnd: «Und wenn es doch echt ist? Sollten wir nicht jemanden hinschicken, den Laden mal unter die Lupe zu nehmen?»
«Zu riskant. Sie werden den Zugang strengstens überwachen. Wenn dieselben hypervorsichtigen Leute, die die Drohnenangriffe in den Staaten verüben, hinter der Kerbela-Sache stecken, dann müssen sie gewollt haben, dass wir diese Beweismittelorgie finden – was heißt, das Ganze ist mehr als nutzlos, es ist eine gezielte Täuschung. Und wenn sie nichts damit zu tun haben, dann hat das da für unsere Mission keinerlei Relevanz.»
Auf dem Fernseher lief jetzt ein Werbespot für Ford-Pick-ups: Transporter schleppten unrealistische Lasten auf unrealistische Art unrealistische Steigungen hinauf. Er legte die Hand auf McKinneys Schulter. «Alle mal herhören. Professor Linda McKinney von der Cornell University ist jetzt Mitglied dieses Teams. Intern heißt sie ab jetzt Experte sechs oder schlicht ‹Professor›. Ist das klar?»
Die Teammitglieder nickten.
«Professor, das ist mein Team. Foxy kennen Sie ja schon.» Er zeigte auf die Frau im Hijab. «Ripper. HUMINT – Erkenntnisgewinnung aus menschlichen Quellen. Geben Sie nichts auf ihr Outfit. Sie ist so muslimisch wie ein Casino in Vegas.» Er zeigte auf den jungen Eurasier, der das Elektronikpult hinten im Flugzeug bedient hatte. «Das ist Hoov. SIGINT – elektronische Aufklärung. Unser Knöpfchendreher.»
Hoov gab sich milde ungehalten. «Er meint Nachrichtenoffizier; ich war bei der Siebenhundertvierten –»
«Hoov, das ist hier kein gottverdammtes Klassentreffen.»
Hoov nickte und klappte den Mund zu.
Odin deutete jetzt auf den hübschen Inder, der im Flugzeug das Stethoskop umgehabt und ihre Handfesseln durchgeschnitten hatte. «Mooch, Teamarzt.»
McKinney und er nickten sich höflich zu.
Dann zeigte Odin auf den Rotbärtigen, den sie im Flugzeug nicht gesehen hatte. «Und das ist Tin Man. HUMINT.»
Odin wandte sich McKinney zu. «In den Staaten treffen wir noch die beiden letzten Teammitglieder, Troll und Smokey. Sie machen SIGINT und HUMINT.» Er ergriff die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. «Okay, aufgepasst. Ich will, dass alle abflugbereit sind, sobald die Kennzeichen wieder auf der C-37 angebracht sind.» Er sah auf die Uhr. «Nutzt die Zeit unterwegs, um jedes bisschen Aufklärungsmaterial von der Operation letzte Nacht zu analysieren. Ich will ausführliche Berichte und Empfehlungen, sobald ich wieder da bin.»
McKinney sah die anderen an, dann Odin. «Sie fliegen nicht mit in die Staaten?»
Odin schüttelte den Kopf. «Hoov und ich stoßen später wieder zum Team. Wir müssen zuerst noch woandershin.»