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Omen
Es war also Krieg. Sie hatte dieses Verhalten modelliert und die Signale erkannt – und doch überraschte sie die Schnelligkeit des Angriffs. Vielleicht musste ja das Tempo der stigmergischen Nachrichtenverbreitung nachjustiert werden.
Professor Linda McKinney blickte konzentriert auf eine Prozession von lachsfarbenen, dunkeläugigen Weberameisen, die wie Blutkörperchen verzweigte Bahnen entlangströmten. Sie eilten vor einem craquelierten Hintergrund von Mangobaumrinde dahin, auf Schnellstraßen, die nur sie sehen konnten, und fluteten im Schwarmangriff auf schwarze Ameisen ein, die ein Mehrfaches ihrer eigenen Größe maßen. Die Videoaufnahmen zeigten das Gemetzel in Ultrahochauflösung. Die Toten begannen sich zu stapeln.
Weberameisen – Oecophylla longinoda. Wie auch die Menschen gehörten sie zu den wenigen Extirpatorenspezies auf dieser Welt, was hieß, dass sie gezielt auf Rivalen-Lebewesen (auch solche der eigenen Spezies) losgingen und sie vernichteten, um die absolute Kontrolle über ihr Territorium aufrechtzuerhalten.
McKinney zoomte auf ein wachsendes Knäuel von Weberameisen, beobachtete, wie Dutzende Arbeiterinnen auf eine wesentlich größere schwarze Ameise eindrangen – einen Dorylus-Soldaten, aus der Kriegerkaste der Treiber- oder Heeresameisen, die die Einheimischen Siafu nannten. Die monströse schwarze Ameise hielt eine der Weberameisen zwischen ihren Kieferzangen, doch die viel kleineren und schnelleren Weberameisen packten – einem überzeitlichen Skript folgend –, den mächtigen Gegner, immobilisierten ihn zunächst und rissen ihm dann die Beine ab. Sie ließen ihn zwischen den Toten liegen und wandten sich dem nächsten Opfer zu.
Eine Kolonie von Siafu-Heeresameisen in der Schlacht zu besiegen war keine geringe Tat. Hier in Afrika hüteten sich sogar die Menschen vor den Siafu, die gelegentlich in Völkern von zwanzig Millionen Hütten oder Gehöfte überschwemmten. Alles, was ihrem Zangengriff nicht entkommen konnte, war zum Tode verurteilt. Es gab authentifizierte Berichte über tödliche Siafu-Attacken auf eingeschlafene Betrunkene, unbeaufsichtigte Säuglinge und angepflockte Ziegen oder Kühe. Durch Tausende in Rachen und Lunge eindringender Ameisen erstickt, wurden die Opfer innerhalb von Stunden bis auf die Knochen abgenagt. Aufhalten konnte man den Schwarm nicht. Die einzige Möglichkeit bestand darin, ihm aus dem Weg zu gehen. Doch selbst die gefürchteten Siafu flohen vor den Weberameisen.
Weberameisen waren so aggressiv, dass McKinney, wenn sie durch die Mangoplantagen ging, hören konnte, wie sie ihre Truppen zusammenriefen: Sie trommelten mit den Beinen auf Blätter, ein Geräusch wie von Regentropfen. Kollektiv beherrschten sie die Baumkronen Afrikas so wie ihre nahen Verwandten Oecophylla smaragdina die Bäume Asiens und Australiens. Noch mehr aber faszinierte McKinney die Tatsache, dass ihre Herrschaft schon siebenundvierzig Millionen Jahre andauerte. Die menschliche Zivilisation war gerade mal ein Flackern auf ihrem Radarschirm.
Die Weberameisengesellschaft war so anpassungs- und widerstandsfähig, dass diese Insekten Eiszeiten ebenso überlebt hatten wie Massenextinktionsereignisse – etwa den Asteroideneinschlag, der am Ende der Kreidezeit, vor sechsundsechzig Millionen Jahren, das Aus für die Dinosaurier bedeutet hatte. Und die Weberameisen hatten nicht nur überlebt, sondern sich munter verbreitet. In Biomasse gemessen, machten sie inzwischen der Menschheit Konkurrenz. Zahlenmäßig gingen sie in die Billiarden. Sie waren eine der erfolgreichsten und robustesten Spezies auf Erden. Das war einer der Gründe, warum McKinney ihr Leben der Erforschung dieser Kreaturen widmete. In ihnen verkörperte sich ein uraltes Wissen um Zukunftsfähigkeit, wie es sich die Menschen nur erträumen konnten. Und sie waren noch auf so vielen anderen Ebenen faszinierend.
Was McKinney ursprünglich bewogen hatte, sich der Myrmekologie – der Ameisenkunde – zuzuwenden, war die einzigartige evolutionäre Strategie der sozialen Insekten: Während die meisten Organismen nur einen Körper hatten, waren die Hymenoptera – die Hautflügler, zu denen unter anderem Wespen, Bienen und Ameisen zählten – letztlich ein einziger Organismus, der aus Millionen einzelner Körper bestand. Der Physiker Lewis Thomas hatte Ameisen einmal «ein Gehirn mit einer Million Beinen» genannt. Es war, als könnte man seine Hand losschicken, etwas zu holen, während man gleichzeitig woanders etwas anderes machte. Laut dem großen Myrmekologen E. O. Wilson waren die Ameisen ein «Superorganismus» – ein Organismus, der die begrenzten Fähigkeiten der einzelnen Körper transzendierte, um einen kollektiven Willen umzusetzen. Und der über eine Intelligenz verfügte, die der Intelligenz der einzelnen Ameise weit überlegen war. Wie genau das vor sich ging, war noch unbekannt, ein Mysterium, das zu ergründen McKinney sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte.
Sie blickte auf den Bildschirm und tippte dabei Beobachtungen in ihren Laptop und sprach per Freisprechtelefon mit einem mehrere Meilen entfernten Doktoranden. «Mike, checken Sie mal die Linse von Kamera neun. Da ist eine Okklusion, die die Tracking-Software irritiert.»
«Mach ich. Rich, kannst du mal den Lift zu mir fahren?»
Eine andere Stimme war zu hören. «Kommt.»
«Danke.»
McKinney zoomte aus. Auf dem Panorama-HD-Monitor erschienen Dutzende Video-Thumbnails, die, sobald sie sie zusammenfügte, das dreidimensionale Modell eines ganzen Mangobaums bildeten. Sie drehte das Modell wie in einem Videospiel – nur dass der Baum tatsächlich existierte und es sich um Echtzeitbilder handelte. Der Baum stand an einem der grünen Hänge nahe der Marikitanda-Forschungsstation, wo sich McKinneys Feldlabor befand. Die gesamte Oberfläche des Mangobaums wurde von Dutzenden Digitalkameras gefilmt, die auf Gerüsten ringsum montiert waren. Software fügte die Bilder zu einem einzigen um den Baum gelegten Live-3-D-Bild zusammen. Es war nur einer der zwölf Bäume, die die Domäne dieser Kolonie bildeten – einer knappen halben Million Ameisen, verteilt auf einem Areal von etwa achthundert Quadratmetern. Es hatte jahrelange Arbeit und diverse Forschungsmittelanträge gebraucht, dieses System auf die Beine zu stellen und derart detaillierte und vollständige Bilder einer ganzen Weberameisenkolonie in Echtzeit zu erhalten. Aufnahmen des Superorganismus in Aktion. Und das alles, um zu überprüfen, ob ihr Softwaremodell der Weberameisengesellschaft korrekt war. Und ob es seinerseits die Grundlage für ein generelles Modell der Hymenoptera-Intelligenz bilden konnte. Was im Idealfall wiederum Einblicke in das Wesen der Intelligenz selbst liefern würde.
McKinney aktivierte das Tracking-Overlay und sah jetzt leuchtend rote Punkte über einzelnen Weberameisen schweben. Sie wollte sich vergewissern, dass die Computer-Vision-Software Weberameisen richtig erkannte und von ihren größeren und dunkleren Siafu-Feinden unterschied. Die Siafu wurden von der Tracking-Software mit blauen Punkten markiert. Mit der Unterscheidung schien es ganz gut zu klappen. Die roten Punkte aus dem Datensatz würde McKinney benutzen, um den Schwarmangriff der Weberameisen zu analysieren. Der Plan war, die Bewegungen der Weberameisen geometrisch zu erfassen, ihr kollektives Agieren aufzuzeichnen, um es mit ihrem Myrmidon-Computermodell zu vergleichen. Es würde interessant sein zu sehen, wie gut sich ihre Verhaltensalgorithmen schlugen.
Sie lächelte. Wie auch immer, das hier war super. Endlich bekam sie die Rohdaten, die sie brauchte, um ihr Modell zu verfeinern. Um zu verstehen, wie die Verarbeitungsleistung von Insektengesellschaften zustande kam. Wie Intelligenz aus vergleichsweise unintelligenten Agenten emergieren und ein kollektives Denken ergeben konnte.
Die einzelne Ameise «wusste» sehr wenig, ihr Gehirn hatte gerade mal eine Viertelmillion Neuronen – gegenüber den hundert Milliarden Neuronen des durchschnittlichen menschlichen Gehirns. Doch bei einer halben Million Ameisen in einer Kolonie stand deren Neuronenzahl der schieren Prozessorleistung des Menschengehirns nicht mehr nach.
Natürlich besaß eine Ameisenkolonie nichts, was menschlichem Intellekt nahekam, aber es gab da eindeutig eine spezialisierte Intelligenz. Eine, die planen und gezielt handeln konnte. Sie hatte das bei anderen Ameisenarten gesehen, etwa bei Atta laevigata, deren riesige Kolonien, die man in Brasilien freigelegt hatte, acht Meter unter die Erde reichten: regelrechte Großstädte mit einer Millionenpopulation, die in der Lage war, Sauerstoffzufuhr und Temperatur zu regulieren, Pilzfarmen zu betreiben und eigene Ausscheidungsprodukte zu entsorgen.
Aber die deutlichsten Ausdrucksformen kollektiver Intelligenz hatte McKinney in den staatsartigen Domänen der Weberameisen gefunden, wo diese gleich Dutzende aus Blättern zusammengewebte Nester an strategischen Punkten ihres gesamten Territoriums betrieben und «Melkkühe» in Gestalt von Schmierläusen (Cataenococcus hispidus) hielten. Vorgelagerte Nester dienten als «Garnisonen», um Eindringlinge schon an der Grenze des Territoriums zu bekämpfen. Wenn ein Feind auftauchte, riefen Arbeiterinnen Verstärkung aus diesen Forts herbei, und selbst wenn der Eindringling tausendmal so groß war wie eine einzelne Weberameise, wurde er innerhalb von Minuten umstellt, immobilisiert, zerrissen und anschließend gefressen. Noch interessanter aber waren die Präventivkriege gegen Artgenossen. Das war ein Verhalten, das nur die hochkomplexen Gesellschaften der Menschen und der Ameisen zeigten.
War das kollektive Processing einzelner Ameisengehirne ein Quantensprung – eine kollektive Intelligenz, die immer dann entstand, wenn Informationsverarbeitung eine kritische Masse erreichte? Diese und ähnliche Fragen faszinierten McKinney – und mit dem Myrmidon-Computermodell war sie auf dem Weg, etwas zu ihrer Beantwortung beizutragen.
Es klopfte an ihre Labortür.
«Bin beschäftigt. Was ist?»
Die Tür wurde geöffnet, und sie hörte die Alltagsgeräusche der Forschungsstation. Eine vertraute Männerstimme sagte hinter ihr: «Hey, ich weiß ja, es geht mich nichts an, aber wollten Sie heute nicht mit Adwele auf E-39 steigen?»
McKinney erstarrte an ihrer Tastatur. «O Gott …» Sie sah auf die Uhr.
«Keine Panik. Sie haben gesagt, um eins, und es ist erst fünf vor.»
McKinney drehte sich zu dem gutaussehenden jungen Entomologen im fleckigen Bowlingshirt um. «Verflixt, ich habe vollkommen die Zeit vergessen.» Sie stand auf und begann, aus einem Metallregal Seilsäcke, Rucksäcke, Helme und anderes Kletterzubehör zusammenzusuchen.
«Gern geschehen.»
Sie warf ihm einen Seitenblick zu. «Sorry, Haloren. Danke für die Erinnerung.»
«Hab’s nicht für Sie getan, sondern für den Jungen.» Er deutete auf die Monitore. «Ich weiß doch, wie Ihre brutalen kleinen Freunde Sie vereinnahmen können. Geht mir ja genauso mit meinen Mistkäfern.»
Sie lachte. «Das glaube ich nicht.»
«Falls Sie damit andeuten wollen, ich hätte mir dieses Spezialgebiet nicht ausgesucht, wenn ich gewusst hätte, dass ich den ganzen Tag Larven aus Affenscheiße klauben würde, liegen Sie falsch. Es ist verdammt spannend. Kommen Sie doch mal abends rüber in meine Hütte, dann zeig ich’s Ihnen.»
«Ach, danke, ich verzichte lieber.» Sie wusste, die meisten Frauen in seinem Umfeld flogen auf Halorens sarkastische und selbstironische Art. Er war ein paar Jahre jünger als McKinney, Ende zwanzig, und auf lässige Art gutaussehend, aber auch frech und ein bisschen zu selbstverliebt. Er mokierte sich über alles und, was das Aufreizendste war, hatte oft recht in Bezug auf Dinge, die ihr gar nicht bewusst waren.
«Wer ist denn Ihr Freund da?»
McKinney folgte Halorens Zeigefinger zum Fenster neben ihrer Workstation. Dort draußen, in einer prächtig blühenden Bougainvillea, saß ein großer, schwarzer Rabe und betrachtete sie gelassen. «Den habe ich gar nicht gesehen.»
«Schauen Sie mal, er ist getaggt.»
McKinney sah jetzt am Bein des Vogels einen Lederring und einen winzigen Transponder, der in der Sonne glitzerte. «Da hat jemand Forschungsgelder.»
«O glückliche Minderheit.» Haloren lehnte sich an ihren Schreibtisch. «Die Araber sagen ja, Raben sind Schicksalsboten.»
«Sparen Sie sich das für Ihre Studenten auf.» McKinney beugte sich zu dem Freisprechtelefon auf ihrem Tisch. «Leute, ich bin in ein paar Stunden wieder da. Hatte ganz vergessen, dass ich einen Termin habe. Lasst so lange das Video laufen und bügelt Glitches aus, so gut ihr könnt.»
Vom anderen Ende kam leises Lachen. «Kein Problem, Prof.»
Haloren sah sie an. «Die haben die ganze Zeit mitgehört?»
McKinney legte achselzuckend auf. Dann beugte sie sich hinaus, um an den Fenstergriff zu kommen, und musterte noch einmal den seltsam ruhig wirkenden Raben, nur zwei, drei Meter von ihr entfernt. Sie hatte gar nicht gewusst, dass Raben so groß waren. Er hatte gut und gern die Größe eines Raubvogels und einen dicken, kräftigen Schnabel, der aussah, als könnte er Walnüsse knacken. Schwarze, eindringliche Augen, die sie aufmerksam ansahen. Über seinem Kopf schwebte ein fast wie eine Feder aussehendes winziges Gebilde, etwas an einem feinen Draht, der irgendwo in seinem Nackengefieder verankert schien.
Er legte den Kopf schief und sah sie merkwürdig intensiv an.
Sie studierte den Transponder an seinem Bein genauer und erkannte ein Raster von winzigen, metallenen Punkten. Ihr Blick wanderte wieder höher: Der Rabe musterte sie immer noch eingehend. «Hallo. Wo kommst du denn her?»
Der Vogel legte wieder den Kopf schief und ließ die perfekte Imitation einer Kettensäge los.
McKinney lachte und sah Haloren verblüfft an. «Ich wusste gar nicht, dass Raben Soundeffekte produzieren können.»
«Doch, die sind groß in akustischer Mimikry. Mein Doktorvater hatte einen Raben. Eine absolute Plage. Verwüstete regelmäßig das Büro des guten Mannes und hat mich von ganzem Herzen gehasst.» Haloren wedelte mit den Händen.
«Dann ahmt er wohl die Geräusche von Holzfällern nach?»
«Vermutlich.»
Sie sah wieder nach draußen, aber der Rabe war weggeflogen, da war nur noch ein wackelnder Ast. «Warum haben Sie ihn verscheucht?» Sie zog das Fenster zu und verriegelte es.
Haloren hielt ihr die Tür auf, machte aber keinerlei Anstalten, ihr etwas von dem schweren Kletterzeug abzunehmen. «Nach Ihnen …»
McKinney ging hinaus. «Schließen Sie ab.»
«Sehr wohl.»
Gleich darauf marschierten sie zügig die belebte unbefestigte Straße entlang, die mitten durch die Forschungsstation führte. Massai in westlicher Kleidung wie auch im traditionellen Kanga nickten ihnen lächelnd zu. Haloren sprach sie auf Suaheli an und erntete einige Lacher. Manche der Massai tippten auf Handys herum, besorgten sich die aktuellen Vieh- und Mango-Marktpreise aus der Stadt – eine seltsame Mischung aus Moderne und Tradition.
Haloren federte leichtfüßig neben ihr her, während sie schwer schleppte.
«Könnten Sie mir vielleicht tragen helfen?»
«Würde ich ja, aber ich glaube nun mal an die Gleichberechtigung von Frauen in der Wissenschaft. Apropos: Hat Adwele nicht schon eine Mutter?»
«Doch, aber ihm fehlt der Vater.»
«Und Sie wollen sich um die Position bewerben?»
«Er ist ein intelligenter Junge, und er wird jede Hilfe brauchen, die er kriegen kann. Babu hat nicht viel hinterlassen.»
«Ich frage mich ja nur, ob Sie das für Adwele tun oder für sich selbst. Sie gehen irgendwann von hier weg, das wissen Sie doch.»
McKinney musterte Haloren einen Moment und nickte dann, als sie merkte, dass es ihm wirklich um Adweles Wohl ging. «Ich verstehe, was Sie meinen, aber Babu war ein guter Freund von mir. Er hat auf mehr als einer Expedition für meine Sicherheit gesorgt. Ich werde für seine Familie tun, was ich kann. Auch wenn ich wieder zu Hause bin.»
Haloren musterte sie, dann blieb er abrupt stehen. «Okay. Dann lasse ich Sie jetzt machen.»
«Hey!»
Haloren drehte sich um.
«Ich verspreche, niemandem zu sagen, dass Sie gar nicht so ein Arschloch sind.»
Er salutierte kurz. «Ich weiß es zu schätzen.»
Sie grinste und sah ihm kopfschüttelnd nach, als er sich an die Seite einer anderen Wissenschaftlerin heftete, die in die Gegenrichtung ging.
McKinney hing in einem Baumklettergurt zwanzig Meter über dem Dschungelboden. Aus den Bäumen ringsherum kam eine Kakophonie von Schreien tropischer Vögel und grüner Meerkatzen. Sie beschirmte die Augen gegen die Sonne, die durchs Blattwerk herabgleißte, und suchte die Baumkrone auf Weberameisennester ab. Zum Glück war keins zu entdecken.
Die tiefsten Äste dieses Outeniqua-Gelbholzbaums – Afrocarpus falcatus – waren immer noch sieben Meter über ihr. Ihr Seil hing über einem noch höheren Ast. Sie hatte mit der Armbrust eine Wurfleine darübergeschossen, ihr Kletterseil hinterhergezogen und dann, entsprechend der Doppelseiltechnik, die sie während des Studiums gelernt hatte, ihren Klettergurt am einen Strang fixiert und mit dem anderen durch einen Klemmknoten verbunden.
McKinney veränderte ihre Position so, dass ihr Blick von diesem Baum auf der Hügelkuppe über den Dschungel bis zu den nebelverhangenen, dichtbewaldeten Gipfeln der Usambaraberge ging. Es gab so viel zu sehen, so viele verschiedene Gerüche in der Luft – es war immer atemberaubend hier oben. Ihr entging nie, wie schön diese Berge waren, eingehüllt in Dschungelgrün und tiefhängende Wolken, feucht und voller Leben. Diese Natur auf sich wirken zu lassen war für McKinney das, was einer spirituellen Erfahrung am nächsten kam. Sie wusste, hier auf diesem Kontinent – womöglich sogar in diesem Dschungel – waren die ersten Hominiden entstanden, hatte die lange Reise der Menschheit begonnen, hin zu dem, was sie von den anderen Tieren unterschied: einem Bewusstsein von sich selbst. Sie fühlte sich winzig beim Gedanken an die ganze lange Strecke der Geschichte, die diese Landschaft gesehen hatte.
Sie blickte hinab zu ihrem Klettergefährten, einem sehnigen afrikanischen Jungen von etwa zehn Jahren. Auch er trug einen Kletterhelm und saß in einem Gurt an einem eigenen Seil. Er arbeitete sich mühselig voran, den bestiefelten Fuß in einer Trittschlinge. Ächzend stemmte er sich mit dem Bein ein weiteres Stückchen rauf, justierte dann seine Knoten neu.
McKinney zeigte mit dem Finger hinab. «Nicht am Blake-Knoten halten, so verlierst du Höhe. Lass die Hände drunter. Ja, so ist es besser, Adwele. Prima.» Sie lächelte ihn an. «Wie sieht’s aus? Brauchst du mal eine Pause?»
Er schüttelte den Kopf. «Nein, Miss. Von mir aus kann’s weitergehen.»
Sie nickte. Adwele war immer mit Eifer bei der Sache, immer bereit, etwas Neues zu lernen. Unerschrocken. «Übertreib’s nicht. Lass dir Zeit und achte darauf, wie du’s machst.»
Er blickte runter. Dann zu ihr hinauf, ein strahlend weißes Lächeln im Gesicht. «Gucken Sie mal, wie hoch wir schon sind!»
«Schau, da …» Sie lehnte sich ins Seil und zeigte auf die Berge. «So sehen Vögel die Amani.»
Adwele blickte auf ein Panorama, das er noch nie gesehen hatte, obwohl er hier geboren war.
McKinney sah das Staunen in seinen Augen, seine wachsende Begeisterung für die Natur. Sie erkannte so viel von sich selbst in ihm wieder. Es gab ihr zu denken.
Ein Anfall von unausgelebter Mütterlichkeit, das war ihr klar. Das verlorene Jahrzehnt ihrer Postdoc-Tätigkeit, die langen Arbeitstage und die schlechte Bezahlung als Associate Professor. Während andere bodenständig wurden, war sie in fernen Weltgegenden herumgereist und hatte Feldforschung betrieben. Es war ein abenteuerliches Leben, aber keins, das sich mit Mutterschaft vertrug. Außerdem gab es sowieso genug Menschen auf der Welt, und was sie einmal hinterlassen würde, waren ihre Forschungsergebnisse. Sie atmete tief durch.
«Lass mal sehen, wie deine Knoten halten.» Sie ließ sich mit den Sohlen am Baumstamm zu ihm hinab. Kontrollierte Adweles Gurt- und Seilzeug Punkt für Punkt. «Stopperknoten ist noch fest. Einbindung ist super. Der Achter sieht toll aus.»
Sie inspizierte den Prusik-Knoten am Hauptseil und schob die Schlingen näher zusammen. «Ist der gerutscht, wenn du ihn belastet hast?»
«Bisschen.»
«Lass ihn schön eng zusammen, dann rutscht er nicht mal, wenn das Seil nass wird.» McKinney blickte nach unten. «Wird Zeit, einen neuen Fangknoten zu machen. Alle drei Meter. Nicht vergessen.»
«Ja, Miss.» Adwele nickte und schlang geschickt einen Slipstek in das unter ihm hinabhängende Seilende, in dem sich in regelmäßigen Abständen bereits mehrere Knoten dieser Art befanden.
Sie klopfte ihm mit der behandschuhten Hand auf den Helm. «Du wirst langsam ein richtiger Profi. Also, denk immer dran, es ist wichtig, jeden Schritt genau einzuhalten. Was droht einem, wenn man leichtsinnig wird?»
«Krankenhaus mindestens.»
McKinney nickte. «Sehr gut.»
«Warum benutzt Professor Haloren zum Klettern so ein Metallding statt all dieser Knoten?»
«Du meinst eine Steigklemme? Weil Professor Haloren faul ist.»
Adwele lachte. «Er sagt, Sie sind geizig.»
«Mechanische Geräte können versagen, und wenn das passiert, sollte man wissen, wie man ohne sie auskommt. Wenn du die Knoten erst mal im Schlaf kannst, dann kannst du von mir aus eine Steigklemme benutzen.»
Adwele blickte an ihr vorbei in die Baumkronen. Er zeigte hinauf. «Da, ein Kikepeo.»
McKinney folgte seinem Finger und sah auf einem Blatt eines Nachbarbaums einen pergamentartigen rosa Schmetterling die Flügel auf- und zuklappen. «Salamis parhassus. Auch Perlmuttfalter genannt.»
Adwele zog ein kleines Notizbuch mit Stift hervor, das mit einer kurzen Schnur und einem Karabiner an seinem Klettergurt befestigt war. Er blätterte und machte einen Strich. Zählte dann. «Schon vierzehn mehr als letztes Jahr, und es ist ja noch ein Monat. Kommt das von den Schmetterlingszüchtern in Marikitanda?»
«Kann sein. Kann aber auch daran liegen, dass du einfach genauer beobachtest.»
Adwele nickte, während er das Notizbuch wegsteckte. «Meine Schwester sagt, ich kann kein Wissenschaftler werden. Sie sagt, das können nur weiße Männer, aber ich hab ihr gesagt, Sie sind doch eine Frau und machen trotzdem Wissenschaft.»
McKinney sah ihn ernst an, stemmte dann die Füße fest gegen den Stamm, hoch über dem Dschungelboden. «Weißt du, warum ich die Wissenschaft so liebe, Adwele?»
Er schüttelte den Kopf.
«Weil die Wissenschaft unser bestes Mittel ist, die Wahrheit zu erkennen. Wir beide zum Beispiel sehen, mit bloßem Auge betrachtet, ganz verschieden aus, aber die Wissenschaft hat gezeigt, dass es zwischen uns fast keinen genetischen Unterschied gibt. Und das ist eine wichtige Wahrheit. Denk immer dran.» Sie patschte ihm auf den Helm. «Was man da drin hat, zählt.» Sie bohrte ihm den Zeigefinger in die Brust. «Und da drin. Lass dir nie von irgendjemandem sagen, du könntest irgendwas nicht versuchen, Adwele. Niemand weiß, was du alles erreichen kannst – noch nicht mal du selbst.»
«Ja, Miss.»
«Zeit, nach Hause zu gehen.»
Er nickte.
«Was ist der erste Schritt beim Abseilen?»
Adwele dachte kurz nach, blickte dann zum Fuß des Baumes hinab. Die behandschuhte Hand wie einen Trichter am Mund, rief er: «Die Personen unten warnen!»
McKinney blickte hinab und sah einen Ranger des Amani-Naturschutzgebiets, einen Mann namens Akida, hinaufwinken und das Daumen-hoch-Zeichen machen.
«Frei!»
Sie sah wieder Adwele an. «Okay, gut. Denk dran, wir machen es langsam und stetig, damit das Seil nicht zu heiß wird. Zwei Finger über dem Blake-Knoten, die Kontrollhand ums Seil. Den Blake-Knoten leicht runterdrücken und unterwegs die Fangknoten lösen …»
Auf dem Rückweg ins etwa eine Meile entfernte Forschungscamp trug Akida einen Teil von McKinneys Ausrüstung, aber Adwele bestand darauf, sein Kletterpack selbst zu tragen, sosehr er auch zu kämpfen hatte. McKinney, die nur eine zur Seilpuppe gewickelte Wurfleine auf dem Rücken trug, drehte sich um, um nach Adwele zu sehen.
Er versuchte gerade, über einen umgefallenen Baumstamm zu klettern, und wurde von seiner Last aus dem Gleichgewicht gebracht. «Hilfe, Miss!»
McKinney packte ihn, kurz bevor er nach hinten kippte, und half ihm, seinen Seilsack günstiger zu positionieren. «Geht’s?»
«Alles klar.»
Sie und Akida, der Amani-Ranger, der das Schlusslicht bildete, grinsten sich an. Sie sahen beide etwas von Babu in dem Jungen.
Als sie weitergingen, sagte Adwele hinter ihr: «Meine Mutter meint, Sie sind zu hübsch, um Ihr Haar kurz zu tragen. Sie sollten es wachsen lassen, damit Sie einen Mann finden.»
«Oh, danke für den Rat, aber ich bin hierhergekommen, um zu forschen. Und da, wo ich herkomme, brauchen Frauen keinen Mann, der sie ernährt.» Sie zeigte auf Treiberameisen, die in einem breiten Strom den Wegrand entlangkrabbelten. «Schau, da.»
Adwele blieb stehen, um den Schwarm zu betrachten. «Siafu.»
«Ja.» McKinney zeigte wieder hin. «Weißt du, dass fast alle Ameisen, die du siehst, weiblich sind?»
«Auch die Siafu-Soldaten?»
McKinney nickte. «Auch sie. Die Arbeiterinnen, die Soldaten und die Königin – alles Weibchen. Die Brutpflegerinnen bestimmen die Kaste, der die fertigen Ameisen angehören werden, dadurch, wie sie die Brut füttern. Aber Ameisenjungs produzieren sie nur, wenn sie eine neue Kolonie gründen wollen.»
«Manchmal braucht man eben doch Jungs, stimmt’s?»
McKinney lachte. Adwele entging nichts. «Stimmt wohl. Komm, kluges Kerlchen …» Sie machte eine auffordernde Armbewegung. Dabei fiel ihr Blick zufällig auf einen großen Raben, der sie von einem Ast aus beobachtete. Sie war kurz verdutzt, sagte sich dann aber, dass es im Amani-Naturschutzgebiet bestimmt nicht wenige Raben gab. Vielleicht fielen sie ihr ja nur jetzt erst auf.